Lebensdaten
1749 – 1832
Geburtsort
Frankfurt/Main
Sterbeort
Weimar
Beruf/Funktion
Dichter ; weimarischer Staatsmann ; Naturforscher ; Jurist ; Zeichner ; Theaterleiter
Konfession
evangelisch
Normdaten
GND: 118540238 | OGND | VIAF: 24602065
Namensvarianten
  • Goethe, Johann Wolfgang (bis 1782)
  • Goethe, Johann Wolfgang von (seit 1782)
  • goethe, johann wolfgang von
  • mehr

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Zitierweise

Goethe, Johann Wolfgang von (seit 1782), Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118540238.html [19.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Caspar (s. 1);
    M Elisabeth Textor (s. 2);
    Schw Cornelia (1750–77, 1773 Joh. Gg. Schlosser, 1739–99, Jugendfreund G.s, Oberamtmann in Emmendingen/Baden, Hofgerichtsdir. in Karlsruhe, Herr auf Stift Neuburg b. Heidelberg, Schriftsteller, heiratet in 2. Ehe 1778 Johanna Fahlmer, 1744–1821, Freundin G.s u. dessen Elternhauses) (s. G. Witkowski, Cornelia, 1903, ²1924);
    Weimar 19.10.1806 Christiane (1765–1816, s. Wolfg. Vulpius, Christiane, 1949, ²1953 [P]), T d. sachsen-weimar. Amtsarchivars Joh. Frdr. Vulpius (1725–86) u. d. Kaufm.-T Christiane Marg. Riehl (1742–71); Schwager Chrstn. Aug. Vulpius ( 1827), Schriftsteller;
    5 K (4 früh †) August (1789–1830), sachsen-weimar. Kammerherr u. Kammerrat (s. Gen. 4);
    Schwieger-T Ottilie v. Pogwisch (s. 4);
    N Louise Schlosser (1774–1811, 1795 Ludw. Nicolovius, 1767–1839, preuß. WGR, Abt.dirigent im Kultusmin., s. ADB 23);
    E Walther (s. Gen. 5), Wolfgang (s. 5).

  • Biographie

    G., der bedeutendste Dichter in deutscher Sprache und einer der universellsten Geister, war vom Erscheinen seiner ersten größeren Dichtungen an Mittelpunkt der literarischen, dann überhaupt der geistigen Welt Deutschlands; er erhielt sich diese Stellung in seinem langen Leben, und sie wirkt bis in die Gegenwart fort.

    G. hat aus der dichterischen Begabung und Tätigkeit eine Lebensform erwachsen lassen, sich aber nach einer stürmischen Zeit der Unruhe und des Erprobens davor gehütet, die Dichtung zum einzigen Lebensinhalt zu erklären. Dichtung und Lebensgang hat er in einer neuen Weise aufeinander bezogen; er ging in dieser Hinsicht über das Vorbild der antiken Dichter hinaus und brachte Tendenzen der Renaissancepoesie zum vollendeten Abschluß. Selbst wo seine Poesie sich an älteste Symbole anlehnt und sie ganz frei entfaltet, gibt sie die innere Erfahrung und Lebensansicht des Dichters so wieder, daß der Sinn des Lesers auf den Lebensgang zurückbezogen wird. Der individuelle Lebensweg des Dichters wird aus poetischer Distanz ironisch gesehen und dadurch in ein Exempel des menschlichen Daseins selber verwandelt. G. hat damit für seine Leser die Bedeutsamkeit menschlicher Lebenswege durchsichtig gemacht; und durch alle historischen und psychologischen Bedingnisse des einzelnen Lebens hindurch spiegelt sich die Welt selber und leuchtet die Farbenfülle des Lichts hinein.

    Seit die Enkel des Dichters in ihrem Testament den gesamten von ihnen gehüteten Nachlaß zum Nationalbesitz gemacht haben, ist um dieser einzigartigen Stellung willen das Leben G.s Gegenstand einer ausgedehnten Forschung und bildender Beschäftigung der Literaturfreunde geworden.

    Vaterhaus und Kindheit

    Die Welt, in der G. aufwuchs, war die der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main, die im Mittelpunkt des alten ostfränkischen Reiches lag, noch Stätte der Königswahl und Kaiserkrönung, aber seit langem keineswegs mehr politisch und gesellschaftlich von Bedeutung, sondern in ihrem altfränkischen Gewand seitab von den neuen Zentren im Osten. Ihre Atmosphäre wird in „Dichtung und Wahrheit“ als ein bildendes Moment von größter Bedeutung hervorgehoben, als eine interessante Welt, die das Gemüt beschäftigt und den Sinn historisch stimmt.

    Die Familie G.s stammte von Vaterseite aus dem unteren und mittleren Bürgertum; die Vorfahren der Mutter waren angesehene Juristen, ihr Vater war der oberste Beamte der Stadt. Die im Temperament sehr unterschiedenen, aber praktisch harmonierenden Eltern hielten ein Haus, das zunächst vor allem der Erziehung und universellen Ausbildung der beiden Kinder gewidmet blieb, später einen Mittelpunkt künstlerischen Lebens bildete, in dem die Musik gepflegt wurde, der Vater Maler beschäftigte, die Mutter Schauspieler und Poeten begünstigte und gern die Jugend um sich versammelte. Fast ohne Zuhilfenahme von öffentlichen Schulen und auch ohne einen Hofmeister vollzog sich die Ausbildung des jungen G. durch Privatlehrer unter der Oberleitung des Vaters; dessen humanistisch-gelehrte Studien wurden jedoch in der Richtung einer modern-weltmännischen Ausbildung in freierer Art fortgeführt, wie auch die pietistisch-herrnhutische Frömmigkeit der Mutter in freieren Formen von Susanne von Klettenberg, der nächsten Freundin der Mutter, verstanden wurde.

    Der Unterricht wurde so universal eingerichtet, wie es die Lern- und Wißbegier des hochbegabten Sohnes erlaubte. Der Vater sah darauf, daß jede Studie zu Ende geführt, alles Geleistete geordnet aufbewahrt wurde. Anderseits wurde die freie Entwicklung der Interessen nirgends gehemmt, immer gefördert. Mit dem Lateinischen wurde der Sohn gründlich vertraut, im Griechischen erwarb er so viel Kenntnisse, daß der Sinn für die künstlerische Atmosphäre der griechischen Dichter erwachen konnte. Das Hebräische wurde begonnen, das Französische sorgfältig betrieben; aber auch, was damals noch selten war, das Englische erlernt und das Italienische in den Anfängen erworben. Die erste Bildung der Kinder beruhte auf der Kenntnis der Bibel; sie blieb für G. zeitlebens ein Quell sprachlicher Kunst und poetischer Motive.

    Dazu erschloß sich ihm früh die Weltgeschichte, und die europäischen Literaturen beschäftigten ihn, besonders die französische.

    Als eine auf- und anregende Epoche beschreibt G. in „Dichtung und Wahrheit“ den Siebenjährigen Krieg und die Besetzung Frankfurts durch die Franzosen. Im Vaterhaus war, zum Verdruß des Vaters, der Königsleutnant Graf Thoranc einquartiert; der junge Wolfgang genoß die Unruhe, den Verkehr mit den Malern, die für den Grafen arbeiteten, den häufigen Besuch des französischen Theaters und die Bekanntschaft mit den Schauspielern und dem Regelwerk der französischen Dramatiker. Ein Jahr nach dem Friedensschluß wurde die Stadt zum Schauplatz der Kaiserkrönung Josephs II., die G. mit historischem Sinn und wohlvorbereitet erlebte. In die festlichen Tage verlegt er einen ersten Herzensroman, der ihn, ohne daß er es ahnte, in zweifelhafte Gesellschaft brachte; und die Aufdeckung dieses geheimgehaltenen Umgangs warf ihn in eine ernste, für die Übergangsjahre bezeichnende Krise, die in eine Krankheit ausmündete.

    In diese Epoche fällt, wie G. in seiner Autobiographie datiert, der erste Ansatz eines eigenen Lebensplanes. Dem Vater schwebte vor, der Sohn solle denselben Weg erfolgreich gehen, den er mit nur halbem Erfolg beschritten hatte; und in der Tat hat der Sohn äußerlich gehorchen müssen: er mußte in Leipzig studieren wie der Vater, die Jurisprudenz wählen, doktorieren, das Reichskammergericht aufsuchen und sich in der Vaterstadt als Jurist niederlassen. Aber im stillen wuchsen andere, entschiedenere Neigungen: seit seinem 7. Jahre versuchte er sich in der Poesie. Das Märchen vom „Neuen Paris“, das in die Autobiographie als Beispiel frühen Fabulierens eingefügt ist, muß in der Tat in jenen Jahren entstanden sein, in denen Graf Thoranc sich Tapeten für sein provençalisches Schloß malen ließ; man konnte dort in den Tapetenbildern eine Reihe von Szenen und Motiven des Parismärchens wiederfinden! Die Lust am Dichten und am Schauspiel war schon sehr früh erwacht, seit den Kindern von ihrer Großmutter (Weihnachten 1753) ein Puppenspiel geschenkt worden war. Die poetischen Versuche des Knaben folgten zunächst dem Vorbild der geistlichen Dichtung des vorangegangenen Jahrhunderts und waren, nach dem wenigen Erhaltenen zu urteilen, durch eine unrhetorische Schlichtheit und flüssige, klangvolle Form ausgezeichnet, wenn auch sonst nicht originell. Einen Vorrat solcher Poesie nahm der Sechzehnjährige mit, als er im Herbst 1765 zur Akademie ging.

    Die Leipziger Studienjahre

    Die Jahre 1765-68 hat G. als Student der Rechte in Leipzig zugebracht, nachdem ihm der Wunsch, in der 1734 gegründeten, für ihre Philologie berühmten Universität Göttingen zu studieren, vom Vater versagt worden war. Ohne einen Hofmeister wurde der Knabe (in Begleitung eines zur Messe reisenden Buchhändlers) mit Empfehlungsbriefen an bekannte Familien in die fremde Stadt geschickt und am 19.10.1765 immatrikuliert. Es berieten ihn vor allem der Professor der Geschichte Johann Gottlieb Böhme und dessen Frau, aber bald fand er einen eigenen Verkehrskreis junger Leute, die ihn gegen die Universitätslehrer Gottsched und Gellert kritisch stimmten, aber auch sein selbstbewußt aus Frankfurt mitgebrachtes altfränkisches Auftreten bespöttelten. Er mußte seine Tracht ändern und „Lebensart“ lernen; seine Aussprache wurde getadelt, seine Poesien verworfen. Der um Jahre ältere Freund Behrisch ermutigte ihn jedoch zu neuen Gedichten, schrieb sie ins Reine, mochte sie aber nicht drucken lassen. Zuletzt förderte das Verhalten seines Freundes eine entschiedene Selbstkritik. Alles Mitgebrachte wurde verbrannt; eine quälende „Geschmacks- und Urteilsungewißheit“ plagte den jungen Poeten. Anregend wirkten die medizinischen Interessen in der Tischgesellschaft des Studenten; Familienverkehr entwickelte sich im Hause des Musikverlegers Breitkopf, im Haus Obermann mit seinem Liebhabertheater, in der Familie des Kupferstechers J. M. Stock und des Akademiedirektors Friedrich Oeser, der ein Freund Winckelmanns war und G. im März 1768 zu einem Besuch der Dresdener Kunstschätze veranlaßte.

    Durch seinen späteren Schwager Schlosser, der ihn durchreisend auf einige Wochen aufsuchte, wurde G. Ostern 1766 in die Tischgesellschaft des Wirtes Schönkopf eingeführt und verliebte sich in die Tochter Anna Katharina, die drei Jahre älter als er war, aber seine Liebe erwiderte. Nach einer Zeit glücklichen Einverständnisses kamen Zeiten der Verstimmung, der Eifersucht, an denen sich G. später selbst die Schuld zuschrieb; grillenhaft, störrisch, launenhaft und wirrig sei er damals gewesen. Seine Leidenschaft zu dem Mädchen wuchs, aber die Unmöglichkeit eines ehelichen Verhältnisses ebenso, und die Unruhe seines Gewissens ließ sich nicht stillen. Aus den Briefen dieser Jahre wie aus der 1811 niedergeschriebenen Erinnerung in der Autobiographie läßt sich entnehmen, daß der junge Liebhaber wechselnden Stimmungen unterlag. Die aus jener Zeit erhaltenen Gedichte – das Buch „Annette“ (1767), die Sammlung „Neue Lieder“ (anonym erschienen 1769, vertont von Breitkopfs Sohn Bernhard) und das Schäferspiel „Die Laune des Verliebten“ (1767/68, veröffentlicht 1806) – sind noch Dichtungen im „vorgoetheschen“ Stil; die Situationen wirken ausgedacht, der Gefühlsausdruck mit Reflexion durchsetzt, in anakreontischer Manier voller Sentenzen und in epigrammatische Schlußwendungen auslaufend. Die Beziehung der Poesie auf das eigene Erleben ist noch undeutlich, geht auch nicht in die Tiefe. Dennoch hat G. in seiner Autobiographie den Anfang seines neuen poetischen Prinzips in jene Zeit verlegt: die Poesie, schreibt er, habe ihm damals geholfen, über die leidenschaftliche Unruhe seines Wesens und über seine innere Zerrissenheit hinwegzukommen, weil er „wahre Empfindung“ in seinen Gedichten angestrebt habe. Er fügte diesem Bericht eine grundlegende Bemerkung hinzu, die das Bestimmende seiner späteren Poesie beschreibt und den Schlüssel zur Lebensdarstellung von „Dichtung und Wahrheit“ enthält. Die vielbeachtete Stelle lautet: „Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extrem in das andere warf. Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession …“

    Diese Wendung zur existenzbezogenen Poesie dürfte zu früh datiert sein, wenn sie für die Leipziger Jahre gelten soll. Die Briefe jener Zeit haben mehr „wahre Empfindung“ als die Poesien.

    Der Konflikt mit Käthchen Schönkopf wurde im April 1768 durch eine Aussprache beruhigt; immerhin blieb die innere Lage kritisch. Die Herzensneigung war fehlgegangen, das Studium leer geblieben; die Unsicherheit in den geistigen Fundamenten hatte sich inmitten einer kritiklustigen Umgebung meist älterer, reiferer Tischgenossen deutlich gezeigt; der unruhig strebende Jüngling fiel 1768 in eine schwere Krankheit.

    Schon auf der Hinfahrt nach Leipzig hatte sich G. beim Wiederaufrichten des umgestürzten Reisewagens überanstrengt, dabei war eine Verletzung der Brust eingetreten; durch einen Sturz vom Pferde scheint sie|im Oktober 1767 wieder aufgelebt. Im folgenden Jahre aber erfolgte ein Blutsturz, der ein langes Krankenlager verursachte. In dieser Zeit hat sich Theodor Langer als Freund und Tröster erwiesen; er, der entschieden pietistisch Gläubige, führte auch den skeptisch gewordenen jungen Dichter wieder zu einer christlichen Glaubenshaltung zurück. Der noch nicht von der Krankheit Genesene verließ am 28.8.1768 die Universität und kehrte „als ein Schiffbrüchiger“ ins Elternhaus heim.

    Genesung im Vaterhaus

    Die neunzehn Monate, die G. nun wieder in Frankfurt verbrachte, waren eine Zeit der Krankheit, wiederholter Rückfälle und langsamer, aber gründlicher Genesung. Die enge Vertrautheit mit Mutter und Schwester kehrte wieder; der Vater war duldsam, wenn er auch seine Enttäuschung über die Veränderung im Gemüt des Sohnes, über das Stocken seines Ausbildungsganges nicht verbergen konnte. Mit den Leipziger Freunden blieb der briefliche Verkehr erhalten; am Gesellschaftskreis der Schwester beteiligte G. sich wieder. Vor allem aber trat er in enge Beziehung zu dem herrnhutisch gestimmten Kreis um Susanne von Klettenberg. Diese suchte G. auf die Gnadenerfahrung der Gläubigen hinzulenken und die Heilkraft des Urvertrauens in ihm zu entwickeln. Sein lebhafter Geist nahm diese Motive nicht nur als etwas Fremdes auf. Mit dem Legationsrat Moritz besuchte G. die Synode der Herrnhuter im nahen Marienborn, auch zum Abendmahl ging er wieder. Die Spekulationen, mit denen diese mystischen Frommen beschäftigt waren, eröffneten ihm jene philosophierende Weltandacht, die in der alchemistischen und neuplatonischen Literatur überliefert ist. Vor allem gewann er Verständnis für ihre Naturbetrachtung, wie sie von Paracelsus und van Helmont erneuert worden war.

    Straßburg

    Erholt von der Krankheit, ging G. Ende März 1770 nach Straßburg, um dort sein Studium abzuschließen, in eine nach französischer Art eingerichtete Universität. Ein Repetent führte den leicht lernenden Dichter schnell zum Ziel. G. verfaßte eine Dissertation „De Legislatoribus“, die das Verhältnis von Staat und Kultus behandelte, wobei im Anschluß an Rousseaus contrat social der Obrigkeit die Festlegung des Kultus als Recht zugesprochen wurde und die persönliche Gewissensfreiheit zugleich erhalten werden sollte – die Fakultät nahm sie nicht zum Druck an, sondern gab den Rat, Thesen einzureichen und durch eine Disputation die Lizentiatenwürde zu erstreben, die in Deutschland der Doktorwürde gleichgeachtet wurde. G. folgte dem Rat und reichte 56 Thesen ein, disputierte, auf lateinisch natürlich, aber „mit großer Leichtigkeit und Leichtfertigkeit“, wobei ihm sein Freund Lenz heftigen Widerpart leistete; er schloß damit am 6. August 1771 sein Studium ab.

    Wurden so die juristischen Studien mehr dem Vater als der Sache zuliebe zum Ziel getrieben, so begegneten G. in diesen anderthalb Jahren elsässischen Aufenthalts andere Geistesmächte, die ihn auf einen neuen Boden stellten und den Durchbruch zu seinem dichterischen Stil ermöglichten.

    Die Autobiographie erwähnt wieder medizinische Interessen, den Besuch der Anatomie, der Kliniken; sie bezeugt vielseitigen Umgang in den Familien der Stadt, Ausflüge im schön bebauten, fruchtbaren elsässischen Land, Ausritte, gesellige Lustpartien und Wanderungen. Sie hält den gewaltigen Eindruck des Münsters fest. Sie läßt erkennen, wie der nun Einundzwanzigjährige durch seine ausgebreitete Bildung und seinen lebhaften Geist auffällt und geselliger Mittelpunkt wird, – wie von nun an in jedem Lebenskreis, in den er eintrat. Briefe und Erinnerungen seiner Freunde zeigen aber auch, welche Herzensgüte und Ritterlichkeit ihm eigen war. So denkt Jung-Stilling mit Dankbarkeit des Beistands, den ihm G. damals bot, wenn ihn, den empfindsamen Pietisten, die aufgeklärten Moralisten verspotten wollten.

    Denn von seinem Frankfurter Kreis her hatte sich G. das Verständnis der frommen Empfindsamkeit bewahrt, wenn er sich auch wiederum aus der Enge solcher Kreise löste. Von da an ist seine Frömmigkeit geöffnet; allem Dogmatismus und aller liturgischen Konvention fühlt er sich entwachsen. Dieser religiösen Wendung ins Offene, aber Unbestimmte, gaben zwei Begegnungen Nahrung und Gehalt: die Liebe zu Friederike und die kurzen Wochen des Zusammenseins mit Herder.

    Friederike Brion war die Tochter des Pfarrers im benachbarten Dorfe Sesenheim. G. besuchte das Pfarrhaus im Oktober 1770 auf einem Ausflug mit seinem Freunde Weyland, der mit den Pfarrersleuten verwandt war. Es erschien mit seinem inneren Frieden und seiner gesellig-ländlichen Lustbarkeit wie eine Illustration zu Goldsmith' Vicar of Wakefield, und für die etwa 20jährige zweitjüngste Tochter erwachte sogleich wechselseitige Sympathie, die bei wiederholten Besuchen zu entschiedener Liebe wurde. Briefe und|Lieder befestigten schnell das Band mit dem beweglich-zierlichen Mädchen, das in seiner elsässischen Tracht halb ländliches, halb städtisches Wesen verkörperte und sein Herz uneingeschränkt und für immer an den Fremden verschenkte. Wahrscheinlich suchte er sie zu Ostern 1771 wieder auf, und als sie erkrankte, quartierte er sich 4 Wochen lang im Pfarrhaus ein. Aber wenn sein Herz nun auch von tiefer Liebe erfüllt war, so wurde es ihm sogleich bewußt, daß er nicht Treue halten, das Mädchen nicht zu seiner Frau machen könne, daß weder sein Elternhaus noch sein Lebensplan damit verträglich wären.

    Eine Reihe von Liedern G.s aus dieser Zeit sind an Friederike gerichtet oder schildern das Glück und die Situation dieser Liebe. Sie haben gegenüber allen früheren Dichtungen einen neuen Ton und Gehalt; sie entsprechen den Auffassungen, die Herder sich von dem Wesen der Poesie gebildet hatte.

    Der fünf Jahre ältere, noch jugendliche, aber schon in seiner vollen Schaffenskraft sich entfaltende Denker und Schriftsteller hatte bereits erfolgreiche Amtsjahre als Domprediger in Riga hinter sich, hatte sich davon gelöst, eine Schiffsreise nach Frankreich gemacht, war als Reisebegleiter eines holsteinischen Prinzen nach Italien unterwegs, aber in Straßburg für einige Monate festgehalten, weil er sich bei dem berühmten Augenarzt Lobstein einer Operation unterziehen wollte. Den Dienst für den Prinzen hatte er gerade aufgegeben und beabsichtigte, sich in Darmstadt mit Caroline Flachsland zu verloben und die Stelle eines Konsistorialrats und Oberhofpredigers in Bückeburg anzunehmen. Den Literaturfreunden war er durch seine „Fragmente zur deutschen Literatur“ und die „Kritischen Wälder“ bekannt, so auch der Tischgesellschaft G.s, die von seiner Ankunft in Straßburg hörte. Der junge Dichter sprach ihn an, und beide fanden schnell Gefallen aneinander; ein täglicher Umgang verband sie von Mitte September 1770 bis Ostern 1771. Die Autobiographie, in später Rückschau und nach Herders Tod geschrieben, deutet den gewaltigen Eindruck dieser Begegnung sehr lakonisch an. Sie schildert den kritischen, beunruhigenden, oft sarkastischen Geist Herders, der nicht nur in dieser Leidenszeit hervortrat, und bezeichnet in knappen Formeln, welchen Umschwung in der Auffassung von Poesie und Geschichte, Religion und Weltsicht diese wenigen Monate eingeleitet haben. Die gegenwärtige Literatur und die gängigen Urteile über die bildenden Künste wurden an einem neuen Maßstab gemessen und alles Halbe, Unechte oder Kleingeistige mit Gründen verworfen. Überepochale Normen hatte Herder für die Beurteilung zur Verfügung: sie waren in der Urzeit und in den großen kultivierten Epochen in gänzlich verschiedenem historischem Stoff lebendig gewesen und noch verständlich. Homer enthielt sie, die Bibel und die in den Volksliedern noch lebendige „Volkspoesie“. Die unaufgeklärten, mythisch denkenden alten Zeiten kannten echte Poesie und sprachen in ihr ein unvergänglich Wahres aus. Die kultivierten Zeiten, die der Reflexion großen Einfluß gestatten, haben es schwerer, sich von toter Nachahmung und einem gehaltlosen Formenwesen freizumachen; aber auch sie können zum Ursprung des poetischen Schaffens zurückkehren und originale Poesie hervorbringen; Shakespeare ist dafür das größte Beispiel. Herder schrieb in dieser Zeit an seiner Preisschrift über den Ursprung der Sprache und gab G. das Manuskript zu lesen, in dem der Grund seiner philosophischen Anthropologie bereits im Keim enthalten war.

    Die Frankfurter Jahre von 1771 bis 1775

    Die Frankfurter Jahre 1771–75, im Elternhaus verbracht, nur durch kurzen Aufenthalt in Wetzlar und einige Reisen unterbrochen, sollten die Frage der bürgerlichen Existenz klären, brachten aber den entschiedenen Durchbruch der dichterischen Begabung. G. ließ sich als Anwalt eintragen und leistete am 3. September 1771 den Bürgereid. G. begann eine juristische Praxis, bei der sein Vater den „geheimen Referendarius“ abgab. Er schien sogar ein erstes Mal vor der Verlobung zu stehen (im Frühjahr 1774, mit einer Tochter des Frankfurter Kaufmanns und Börsenvorstehers Philipp Anselm Münch), und die Mutter wollte ihm schon das Haus zurichten. Aber die Praxis blieb dürftig, und das halbe Verlöbnis löste sich bereits im Herbst wieder; es wurde deutlich, daß eine andere Lebensaufgabe gesucht werden mußte.

    Der Anstoß, den G. durch Herder empfangen hatte, bewirkte eine innere Revolution, auf welche die jungen Leute in Deutschland und der Schweiz gewartet zu haben schienen. Sie führte die Gedanken weiter, die von den englischen Präromantikern und Rousseau aufgewühlt worden waren und die sich nun zu neuen religiösen, philosophischen, literarkritischen Motiven zu kristallisieren begannen. Herder benutzte seine Bückeburger Amtszeit, um seine und Hamanns Konzeption in Prosaschriften auszuführen; G. rang in diesen fünf Frankfurter Jahren mit der neuen Gefühls- und Gedankenmasse der „Geniezeit“ und suchte sie poetisch auszusprechen. In der|Dichtkunst gelangte das neue Prinzip am ersten deutlich zur Geltung: die Poesie sollte „ursprünglich“ werden, indem sie die wahre Empfindung gestaltet, Selbsterfahrenes in Bild und Wort bannt; sie sollte wie in der Urzeit die Sprache des Herzens und des metaphorischen Symbolisierens vereinen. Die bloß reflektierende und malende Dichtweise sollte verschwinden, die vom Pietismus erweckte Sprache des andächtigen Innern auch in weltlichen Gesängen zum Tönen gebracht werden.

    In Straßburg hatte G., an das Volkslied sich anlehnend und nach dem Lessing-Herderschen Grundsatz verfahrend, daß alle Zustandsschilderung in anschaubare Handlung umzusetzen sei, den neuen Ton der Lyrik gefunden. Dramatische Stoffe wurden nun neu lebendig, so die „Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der Eisernen Hand“ und das Spiel vom Doktor Faust. Der Blick auf Shakespeare war durch Herder gewonnen; die Antike und alle großen Gegenstände der Menschheit boten nun dramatische Stoffe für eine noch unbestimmte neue Behandlungsart: Sokrates, Cäsar, Mohamed, Prometheus und Ahasverus, der ewige Jude. Der Vater wollte die von Straßburg mitgebrachten Entwürfe ausgeführt sehen; aber die neuen inneren Bilder bedurften einer langen Verarbeitung. Nur die Geschichte des Götz ließ sich in die Lebensstimmung der „Geniezeit“ umdenken. G. faßte sie als das Exempel einer individualistischen Kraftnatur von biederer, treuherziger Derbheit, aus der Übergangszeit des Rittertums. Die altfränkische Gestalt inmitten ihrer vaterländischen Umgebung ließ sich in einem Ton vortragen, der dem graziösen und reflektierten Stil des französischen Geschmacks bewußt gegenübergestellt werden konnte. Tatkräftige, mutige und ehrliche Naturen erschienen als Gegenspieler weichlicher und schwankender Hofleute. G. begann also, die Geschichte seines bäurisch-ritterlichen Helden zu dramatisieren und seiner Schwester aufzusagen; sie aber reizte ihn durch ihre Zweifel, das angefangene Stück in sechs Wochen noch 1771 in einer ersten Fassung zu vollenden. Ende 1771 wurde das Manuskript an Herder gesandt, 1773 überarbeitet und mit Mercks Hilfe und auf dessen Drängen unter dem Titel „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel“ im Selbstverlag veröffentlicht. Es war neben Lessings drei großen Stücken der Anfang eines neuen deutschen Dramas, dessen Form aus dem Versuch hervorging, die drei Einheiten der französischen Bühne zu vermeiden und Geschichte großer Kraftnaturen im Sinne Shakespeares, so wie dieser von den „Genies“ aufgefaßt wurde, zu dramatisieren. Die Absicht war, Vollblutmenschen darzustellen in ihrer „Größe“, ganze Geschöpfe, die aus gut und böse gemischt sind, deren „edle Natur“ in ihrem Lebensmut und unabhängigen Sinn sichtbar wird und die sich in den Formen einer „charakteristischen Kunst“ darstellen lassen. Auch die Deutschheit des Gegenstandes war bahnbrechend und zog eine lange Reihe „altdeutscher“, historisierender Dramen nach sich. In der Nebenhandlung, die nach Shakespearischem Grundsatz eingebaut wird, ist die innere Tragödie Weislingens geschildert, eines ungetreuen Liebenden, durch den G. eine stille Selbstanklage ausspricht. Trotz der Bühnenfremdheit des Götz wurde er aufgeführt; von Wieland, Klopstock und der jungen Generation wurde das Stück als eine sprachgewaltige und national hochbedeutsame Leistung begrüßt.

    Weitere Arbeiten folgten nun in stürmischer Produktion: „Mein nisus vorwärts ist so stark, daß ich selten mich zwingen kann, Atem zu holen“ (An Salzmann November 1771). Es entstand die „Rede zum Shakespearestag“ (14.10.1771) und eine Flugschrift über Erwin von Steinbach, dessen Münsterbau als „Riesenwerk“ eines Genies gepriesen wurde. Die Flugschrift veröffentlichte Herder in seinen „Blättern von deutscher Art und Kunst“. Übersetzungsversuche nach Ossian und Pindar deuten darauf, daß die Entdeckung des „altdeutschen“ Nationalgeistes mit den ursprünglichen Produkten anderer Völker im Sinne Herders sich in eine Gesellschaft der Weltliteratur eingliedern ließ. Die eigenen Gedichte folgten diesen neuen Vorbildern: wie die Liebeslyrik dem Volkslied, so die Hymnen und Dithyramben, die sich der Dichter auf seinen Wanderungen vorsang, dem Beispiel Pindars, wie man ihn damals verstand. „Wanderers Sturmlied“ ist aus dieser Gruppe erhalten; es ist eine Art Gebetshymne an den Genius, der den Dichter leitet. Auch Rezensententätigkeit wurde mit Eifer ergriffen. Der Verleger Deinet bot dem Kriegsrat Johann Heinrich Merck, der dem Darmstädter Hof nahestand, die Leitung der „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ an, und Herder gewann G. dafür; durch ihn wurde auch Georg Schlosser mit interessiert. Die vom 1.1.1772 an wöchentlich zweimal erscheinenden Anzeigen dieses Rezensionsorgans wurden gemeinsam von den Freunden erörtert und danach von einem aus dem Kreis niedergeschrieben, viele darunter von G., im Stil ungeordneter Herzensergießungen und durchsetzt mit heftigen Invektiven, wild und dunkel. Aber nicht länger als ein Jahr konnte dieser Kreis die Zeitschrift versorgen; sie|hatte nur ein kleines Publikum gefunden und wurde unbedeutend, als die Redaktion an Karl Friedrich Bahrdt in Gießen überging.

    Das Hauptwerk jener Jahre, das G.s schriftstellerischen Ruhm begründete, ist der Roman „Die Leiden des jungen Werthers“. Hier spiegeln sich persönliche Erlebnisse, tragische Herzenswirrnisse des Verfassers und Stimmungen sämtlicher Generationsgenossen im Gefüge eines kunstvoll aufgebauten Romans.

    G. war als Praktikant beim Reichskammergericht seit Mitte Mai 1772 in Wetzlar und verließ das Städtchen am 11. September; er erlebte in diesen Frühlings- und Sommermonaten ein Idyll, „zu dem das fruchtbare Land die Prosa, eine reine Neigung die Poesie hergab“. Charlotte Buff, verlobt mit dem braunschweigischen Legationssekretär Johann Christian Kestner, führte mit einer älteren Schwester den Haushalt ihres Vaterhauses und vertrat Mutterstelle an ihren jüngeren Geschwistern. An ihrem idyllischen Leben nahm G. teil, bis die „reine Neigung“ zu dem Mädchen ins Leidenschaftliche anwuchs und er die Flucht ergriff.

    Das Jahr 1773 lud dem Dichter Abschiedsschmerzen und Vereinsamung auf. Zum Palmsonntag heirateten Kestner und Charlotte Buff; der Freund Merck trat den Sommer über eine Reise nach Berlin und Petersburg an, die ihn bis in den Dezember fernhielt; die Schwester Cornelia, die sich im Herbst 1772 mit Schlosser verlobt hatte, heiratete am 1.11.1773 und siedelte nach Karlsruhe über. In dasselbe Jahr 1773 fällt die Neigung zu Maximiliane Brentano geborene Laroche, die zu einem Zwist mit ihrem Mann, dem Handelsherrn Peter Anton Brentano führte. Die Arbeit in der Advokatur nahm zwar zu, blieb aber unbefriedigend. Diese schmerzlichen Erlebnisse und die Teilnahme am Schicksal des jungen Jerusalem, der sich das Leben nahm, verdichteten sich nun zur Geschichte des Romanhelden Werther, dem die Leidenschaften und Hoffnungen der Geniezeit eigen sind, der sie nicht bewältigen kann und darüber in Schwermut versinkt. Am 1.2.1774 begann G. die Ausarbeitung des Romans; „wie ein Nachtwandler“ schrieb er ihn in sechs Wochen nieder und veröffentlichte ihn im selben Herbst.

    „Die Leiden des jungen Werthers“ sind das einzige epische Werk des jungen G., ein Roman in Briefen, in dem der Held seine leidenschaftliche Freud- und Leidgeschichte seinem Vertrauten Wilhelm berichtet, bis der Erzähler am Schluß in lakonischer Form den tragischen Ausgang bekanntgibt. Sprachkräftig, in oft dithyrambischer Rede, äußert sich der Held sentimentalisch wie in Richardsons und Sternes Romanen, naturschwärmend in Rousseaus und Youngs Tönen, im ersten Teil mit homerischen, im zweiten Teil mit ossianischen Stimmungen und Gedanken beschäftigt. Der Roman stellt so den Konflikt eines jungen Menschen dar, welcher die „Disproportion des seelenhaften, gotterfüllten“ Daseins mit den sozialen und sittlichen Ordnungen der Welt durchleidet. Der Selbstmord Werthers wurde als eine seelische „Krankheit zum Tode“ geschildert und mitleiderweckend entschuldigt.

    Das Buch – das 1786 eine zweite, mit wichtigen Zusätzen versehene Fassung erhielt – hat eine weitreichende Wirkungsgeschichte und begründete den Weltruhm G.s. Es entschied auch über seine Berufung zur Poesie. Nach dem Abschluß des Werther entstand innerhalb einer Woche das Drama „Clavigo“, die Dramatisierung und Umdeutung einer Geschichte, welche in den Memoiren von Beaumarchais enthalten war. Es erschien noch im August 1774, als erstes Werk unter G.s Namen. Sein Thema war eine „Herzenswahrheit“, der Konflikt zwischen der Frauenliebe, die ein Mann aufweckt und der er die Treue nicht halten kann, wenn er die eigene Werterfüllung nicht preisgeben will. Das Stück enttäuschte die Shakespearefreunde und auch Wieland wie Merck wegen seiner traditionellen Form; es erwies sich aber als bühnenwirksam; Iffland und Ekhof spielten es meisterhaft. Auch durch seine die Wertherstimmung fortführende tragische Weltauffassung blieb es wirkungsvoll.

    Aber an einem gewaltigen Torso hat der Dichter in jener Epoche noch gearbeitet, von dem er wohl einzelnes mitteilte, der aber als Ganzes erst dem Weimarer Kreis bekannt wurde. Von dort aus ist er spät – 1887 durch eine Abschrift aus dem Nachlaß der Luise von Göchhausen – in der Öffentlichkeit bekannt geworden: der „Urfaust“.

    Er enthielt die Dramatisierung des Volksbuchs vom Doktor Faust, dem Erfurter Zauberkünstler des 16. Jahrhunderts, verbunden mit der tragischen Geschichte einer Kindesmörderin, der K. Elisabeth Brandt, die in Frankfurt 1772 mit barockem Pomp hingerichtet worden war. Der Zauberer wurde zum philosophierenden Menschen der Geniezeit umgedichtet, der erfüllt ist von dem Überdruß an bloß beschaulicher Gelehrsamkeit und hindrängt zu einem großen Tatleben im universalen Sinne der Renaissance. Weltschmerzlich an der Erkenntnis und an der Enge menschlicher Existenz verzweifelnd, übergibt sich Faust dem|Teufel, der ihm dienen muß, um die großen menschlichen Möglichkeiten zu verwirklichen. Unter ihnen besteht aber auch die Tendenz, Schönheit zu suchen – eine Tendenz, die im Widerstreit mit jenen egozentrischen Genußtendenzen steht, denn sie macht wieder beschaulich und verpflichtet gegenüber dem Mitmenschen. In diesem Zwiespalt wird Faust schuldig; er verursacht die ergreifende Tragödie Gretchens, auf deren Schicksal sich das Fragment konzentriert.

    Dieses Faustspiel mit seiner Shakespeare nachbildenden Form war nicht für die Bühne, sondern als Gedicht gedacht; in altdeutschen Knittelversen geschrieben und damit an Hans Sachs erinnernd, spielt es auf einer halb historischen, halb phantastischen Ebene. Dennoch enthält es Szenen von großer dramatischer Frische, von lebenswahrem Kontrast der Charaktere, höchster Plastik der Sprache, treffender Kürze des Versbaus und einer symbolischen Kraft, durch die es schon in seinem fragmentarischen Zustand unter die stärksten dramatischen Gedichte aller Zeiten zu rechnen ist.

    Daneben lief die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Studien. G. schrieb Beiträge zu Lavaters „Physiognomischen Fragmenten“ und brachte den 1. Band des Werkes 1775 zum Druck; auch der Knochen- und Schädellehre wandte er sich zu.

    Zahlreich kamen in den Jahren 1774/75 Besucher, um den Dichter kennenzulernen; sie wurden im Elternhaus gastlich aufgenommen, viele auch dort einquartiert. Die Mutter freute sich nicht nur am Ruhm des Sohnes, sie ging auch auf den genialischen Ton der jugendlichen Freunde ein. Im Sommer 1774 kamen Lavater und Basedow; mit ihnen unternahm G. von Ems aus eine Rheinreise, die ihn bis Düsseldorf zu Friedrich Heinrich Jacobi in Pempelfort führte und die Freundschaft mit dem Philosophen begründete. Der Arzt Zimmermann aus Hannover und Klopstock suchten das G.sche Vaterhaus auf; G. las dem Dichter des Messias Szenen aus seinem Faustfragment vor. Fastnachtsspiele und Farcen wurden geschrieben und die dramatische Produktion mit kleineren Stücken zu Resultaten gebracht. Es entstanden 1774/75 außer dem „Clavigo“ das Schauspiel „Stella“, eine Dramatisierung von Sternes Ehe- und Liebesschicksal, und die Singspiele „Erwin und Elmire“ und „Claudine von Villa Bella“ (erschienen 1776). Auch eine Tragödie war in Arbeit, die Geschichte des Grafen Egmont, und sie war schon weit gediehen, als durch den Besuch der Weimarer Prinzen Carl August und Konstantin das Lebensschicksal des Dichters in eine neue Bahn gelenkt wurde. Am 11.12.1774 war der militärische Erzieher des Prinzen Konstantin, Karl Ludwig von Knebel, auf der Durchreise bei G. erschienen. Als Kenner der Literatur kamen beide in ein fesselndes Gespräch, und Knebel forderte den Dichter auf, den Prinzen seine Aufwartung zu machen. Es kam auch da zu einer lebhaften Unterhaltung mit dem Erbprinzen Carl August und dem Grafen Görtz und zu einer Einladung, die Hofgesellschaft für einige Tage nach Mainz zu begleiten. G. reiste mit; es waren die Tage, in denen Susanne von Klettenberg in Frankfurt starb.

    Das Jahr 1775 ist durch die Liebe zu Lili Schönemann ausgezeichnet. Zu Beginn des Jahres wurde G. durch einen Freund bei der verwitweten Frau Schönemann eingeführt und traf dort einen musikliebenden, durch den Komponisten Johann André belebten gesellschaftlichen Kreis eines reichen reformierten Hauses, das ein bedeutendes Bankgeschäft am Kornmarkt innehatte. Die Tochter Elisabeth stand im 17. Lebensjahr und war Mittelpunkt der Hausgeselligkeit, in die G. hineinbezogen wurde. Die jungen Leute zogen sich wechselseitig an, eine Reihe tief empfundener Lieder an Lili sind dessen Zeugnis. Einem Verlöbnis gab jedoch der Vater Goethe nur halb seine Zustimmung. Die „Staatsdame“ aus reformiertem Haus schien ihm von vornherein für sein altbürgerliches lutherisches Haus nicht schicklich, und der junge G. selbst wurde schwankend, ob es möglich sei, die im Lebensstil so verschiedenen Familien zu verbinden. Er versuchte sich zu lösen und benutzte dazu eine Reise in die Schweiz (Mai/Juli), zu der er von durchreisenden Besuchern aufgefordert wurde, den „zwei Grafen“ Christian und Friedrich Leopold Stolberg und Christian August Freiherr von Haugwitz. Es war eine Reise im Stil der jungen Rousseauanhänger, die sich in einer idyllischen Berghirtenwelt von den Fesseln gesellschaftlicher Bindungen zu befreien dachten. Die großen Natureindrücke konnten die Liebe zu Lili nicht verdrängen; aber auch der Gedanke eines Ehebundes wollte nicht reifen. Wieder überfiel G. die Scheu vor einer ehelichen Bindung. Er blieb in einer zwiespältigen Lage, der er sich durch eine Italienreise zu entziehen versuchen wollte.

    Da kam im September 1775 Carl August wieder durch Frankfurt. Die Herzogin Anna Amalia war gerade von der Regentschaft zurückgetreten, und der erst 18jährige Erbprinz hatte die Herzogswürde übernommen; nun reiste er nach Karlsruhe, um sich mit Prinzessin Luise von Hessen-Darmstadt zu verheiraten. G. begrüßte ihn am 22. September und wurde eingeladen,|nach Carl Augusts Rückkehr nach Weimar ihn dort zu besuchen. Am 12. Oktober kam das neuvermählte Herzogspaar über Frankfurt, die Einladung wurde erneuert. Der Kammerjunker Johann August von Kalb sollte in einem aus Landau erwarteten Wagen mit G. nachkommen. Er verzögerte sich. Schon dachte G. an Flucht nach Italien und brach auf; in Heidelberg holte ihn ein Kurier ein, und er sah darin einen Wink des Schicksals; über Weimar gedachte er nun nach Berlin und Hamburg zu reisen.

    Das erste Jahrzehnt in Weimar

    G. traf am 7.11.1775 in Weimar ein. Er hatte an einen kurzen Besuch bei Hofe gedacht, für seine ganze Lebenszeit ist er dem „edlen Weimarer Kreis“ treu geblieben. Das poetische Kraftgenie wurde in die Hofgesellschaft eingeführt, ein reichsstädtischer Bürgersohn in den Adelskreis, er wurde Freund und Günstling des jugendlichen Herzogs und trat, nachdem er als eine Art maître de plaisir angesehen worden war, bald in die engsten Regierungsgeschäfte des kleinen Landes mit ein. Das Mißtrauen einiger Adliger und vor allem des Staatsministers von Fritsch ließ sich überwinden.

    Die kleine thüringische Residenz, in welcher der abgesetzte Kurfürst Johann Friedrich mit seinem Hofmaler Cranach gelebt, aus der Bernhard von Weimar, der Feldherr, hervorgegangen, wo Johann Sebastian Bach eine Zeitlang gewirkt hatte, war ein altes Städtchen von nur 6000 Einwohnern neben einem großen Schloß, das kurz vorher ausgebrannt war und erst um 1800 wieder aufgebaut werden konnte. Mit einigen Palais und einem Schloßgarten lag es am Fuß des Ettersberges am Ilmufer, das G. und der Herzog durch weiträumige Parkanlagen im englischen Stil verschönten. Es wurde die Stätte, wo G.s Leben und Wirken sich nach und nach in großartiger Weise erfüllen sollte. Weimar wurde zu einem geistigen Mittelpunkt im zersplitterten Deutschland und hat sich noch ein Jahrhundert lang nach G.s Tod im Glanz dieser Funktion erhalten.

    Die Herzoginwitwe Anna Amalia hatte sich einen bescheidenen Musenhof im Stile der Renaissancefürsten geschaffen. Früh verheiratet und verwitwet, führte sie klug die Regentschaft, berief den Dichter Wieland von der Universität Erfurt als Prinzenerzieher, den literarisch tätigen Offizier Karl Ludwig von Knebel als Hofmeister ihres zweiten Sohnes und hatte auch sonst künstlerische Talente um sich, wie den Oberhofmeister der Herzogin Luise, Friedrich Hildebrand von Einsiedel, der als Übersetzer und Bühnenfreund tätig war, den Kammerherrn Siegmund von Seckendorff, der, wie sie selbst, komponierte; auch bürgerliche Künstler standen dem Hofe nahe, so der Bildhauer Klauer, die Maler Melchior Kraus und Conrad Horny, die Komponisten Ernst Wilhelm Wolf und Anton Schweitzer. Als das junge Herzogpaar seine Hofhaltung im Fürstenhaus errichtete, siedelte Anna Amalia in das Wittumspalais, sommers erst nach Belvedere oder Ettersburg, später nach Tiefurt über. Diese einfachen Schlösser wurden Stätten einer kultivierten Geselligkeit, in der nun G. seine poetischen und unterhaltenden Talente entfalten konnte. Er selbst, der sich im Bilde des unsteten und unbehausten Wanderers verstand, wurde nach einigen Provisorien durch ein Gartenhaus an der Ilm gefesselt, das ihm der Herzog schenkte; seit dem Juni 1782, kurz nach seines Vaters Tode, schlug er sein dauerndes Domizil in dem Haus am Frauenplan auf, das er zunächst (bis 1789) mietete, 1792 nach dem Feldzug wiederbezog, nachdem er es vom Herzog als Geschenk erhalten hatte, und das nun selbst zu einem geistig-geselligen Mittelpunkt wurde.

    Das erste Auftreten G.s auf diesem Schauplatz wird gern als eine Zeit herausfordernder Tollheit und wilden Genusses beschrieben. Verwegene Ritte, Jagden, Ausflüge, Liebesabenteuer, Tanz auf den Dörfern wechselten mit Komödienspiel, Maskeraden, Eislauf und Schlittenfahrten. Der literarische Sturm und Drang wurde ins Leben übertragen. Der Dichter gab in dem Gedicht „Ilmenau“, das er dem Herzog 1783 zu dessen 26. Geburtstag widmete, einen Rückblick auf diese erste Weimarer Zeit. Er verstand es, die Neigungen des noch jugendlich ungefestigten Herzogs gewähren zu lassen und ihn dabei an die ernsten Aufgaben seines Amtes heranzuführen; er vermochte „Disharmonien“ unter den Höfen und Beamten „in Harmonien zu binden“, wie ihm Carl August später nachrühmte. Und Wieland dichtete damals und veröffentlichte im „Teutschen Merkur“: „Auf einmal stand in unsrer Mitten Ein Zaubrer … Mit einem schwarzen Augenpaar … Gleich mächtig, zu tödten und zu entzücken.“ Als eine Art Hofregisseur verlieh der leidenschaftlich gestaltungsfrohe und belebende Jüngling den Festen der adligen Gesellschaft einen geistreichen und persönlichen Gehalt und verhalf der Herzoginwitwe zu einer neuen künstlerischen Lebensaufgabe. In ihrem Liebhabertheater wurden G.s Stücke gespielt, so „Die Mitschuldigen“, „Erwin und Elmire“, am 6.4.1779 in Ettersburg die Iphigenie in erster Prosafassung mit Corona Schröter in|der Titelrolle und G. als Orest. Im Mai desselben Jahres wurde der Redoutensaal in Weimar interimistisch, am 7.1.1780 als ständiges „Redouten- und Comödienhaus“ eröffnet; 1784 zog dort die Bellomosche „Deutsche Schauspielergesellschaft“ ein.

    Die Beteiligung G.s an den Regierungsgeschäften litt unter diesem geselligen Treiben nicht. Am 11.6.1776 wurde er zum Geheimen Legationsrat mit Sitz und Stimme im „Geheimen Consilium“ ernannt und bald danach vereidigt (1779 Geheimer Rat, 1804 Wirklicher Geheimer Rat und damit „Exzellenz“). Auf Antrag des Herzogs erhielt er am 10.4.1782 vom Kaiser das Adelsdiplom, das ihm sein Wirken am Hof und in Staatsgeschäften erleichtern sollte.

    Seine Beamtentätigkeit erstreckte sich anfangs auf den Wegebau, auf Rekrutierungen und vor allem auf die Erneuerung des Ilmenauer Bergbaus. Diese Bemühungen machten ihn zu einem Freund des Thüringer Waldes, brachten aber die Enttäuschung, daß 1796 durch einen Stollenbruch das Bergwerk vernichtet wurde und der Abbau nach einigen weiteren Jahren ganz eingestellt werden mußte.

    Durch Reisen mit dem Herzog machte sich G. mit Land und Leuten vertraut. Einige Fahrten gingen auch außer Landes: so 1777 ein einsamer Ritt in den Harz, den er in dem hymnischen Gedicht „Harzreise im Winter“ poetisch dargestellt und später kommentiert hat; im Frühjahr 1778 eine Reise nach Dessau und Berlin in Begleitung des Herzogs; vom September 1779 bis Januar 1780 eine Schweizerfahrt mit dem Herzog und dem Oberforstmeister Otto Joachim Moritz von Wedel. Auf dieser Reise wurden Frankfurt, dann Friederike Brion in Sesenheim und Lili Schönemann, jetzt Frau von Türckheim in Straßburg, sowie Schlossers in Emmendingen besucht, ferner Lavater und Bodmer in Zürich, rückwärts Stuttgart und die Karlsschule, auf der sich damals Schiller als Student befand. Zwei weitere Harzreisen folgten 1783 und 1784.

    Auf diesen Fahrten standen kameralistische Interessen zunächst voran, mehr und mehr traten aber die geologischen und allgemein naturwissenschaftlichen hervor, die das ganze Leben hindurch anhielten und denen G. einen beträchtlichen Teil seiner Zeit gewidmet hat. Von Anfang an war dieses naturforschende Interesse aufs stärkste künstlerisch gelenkt und von spekulativen, metaphysischen Impulsen befeuert. Es handelte sich für G. um die Anschauung der schaffenden Natur, in der künstlerische Gestaltungsprinzipien vorausgesetzt werden, und um die Darstellung des Wechselbezugs von Mensch und Natur, von Subjekt und Objekt; im Schaffen und Gestalten offenbaren sich göttliche Kräfte.

    Alchemistische, physiognomische und schädelkundliche Studien der Frankfurter Zeit hatten bereits diesen Hintergrund. In den Weimarer Jahren schärfte G. seinen Blick für die Phänomene und versuchte, den Urphänomenen auf die Spur zu kommen. Er fand 1784 den Zwischenkieferknochen des menschlichen Schädels, betrieb ein eingehendes Studium Linnés und gewann 1786 die Idee einer Metamorphose der Pflanzen aus einer Grundform heraus. Die Studien brachten ihn in Verbindung mit den Naturkundigen an der Universität Jena; sie veranlaßten zahlreiche Besuche, bei denen G. im Jenaer Schloß, später auch manchmal im Gärtnerhaus des Botanischen Gartens wohnte; er hörte anatomische Vorlesungen bei Loder und legte den Grund für mineralogische und geologische Studien. Umgang mit Förstern, Gärtnern, Apothekern und Bergleuten war ihm immer willkommen.

    Die Breite dieses Wirkens wurde möglich, seit er es als Aufgabe auf sich nahm, sich selbst zu zähmen und zu läutern und den Herzog in diesen Selbsterziehungsprozeß hineinzuziehen. Diesen inneren Umschwung verdankte G. auch der 7 Jahre älteren Charlotte von Stein, Frau des herzoglichen Oberstallmeisters und Hofdame der Herzogin. Vom Januar 1776 datiert der Freundschafts- und Liebesbund, den eine große Zahl G.scher Briefe bezeugt. Die ältere Frau ließ den leidenschaftlichen und unsteten Jüngling zum Manne heranreifen, indem sie ihm Entsagung auferlegte. Züge dieser Freundschaftsliebe sind in den Dramen und den schönsten lyrischen Gedichten jener Jahre wiederholt dargestellt.

    Denn inmitten der Unruhe von Hof- und Staatsgeschäften, Wanderungen und Reisen war die dichterische Produktivität nicht erloschen; G. dichtete an vielen Entwürfen, vollendete aber fast nichts außer den Gelegenheitspoesien für die Geselligkeit. Von den Frankfurter Entwürfen wurde am Egmont fortgearbeitet, die Iphigenie in einer Prosafassung fertig geschrieben; dann wurde die Dramatisierung der Lebensgeschichte des Dichters Tasso 1780/81 in eine erste Fassung gebracht. Neu aber entstand, vielleicht aus einem Frankfurter Keim erwachsen und die Weimarer Theaterleidenschaft spiegelnd, das Romanfragment „Wilhelm Meisters Theatralische Sendung“, der erst 1910 in einer Abschrift von Barbara Schultheß ans Licht getretene „Urmeister“.

    Für die Weiterentwicklung der G.schen Dichtkunst ist außer Frau von Stein Herder von Bedeutung gewesen. Auf G.s Vorschlag war Herder 1776 zum Generalsuperintendenten nach Weimar berufen worden und ist dort bis zu seinem Tode geblieben, anfangs in enger Freundschaft mit G., später in wachsender Distanz zu ihm. G. nahm an Herders Hauptwerk aus jener Zeit, den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, lebhaften Anteil, besonders an den ersten Teilen, welche die Geschichte der Natur mit der des Menschen in organischer Verbindung zeigten, aber auch an der welthistorischen Blickrichtung, die zwar den Griechen eine hervorragende Stelle anwies, andere hohe Kulturen aber in ihrer Eigenart würdigte, besonders die orientalischen. Herder drang auf die Ausführung der großen poetischen Entwürfe G.s, die über dem zerstreuenden Leben dieser Weimarer Jahre zu verkümmern drohten.

    Es ist ein eigentümlicher Wesenszug G.s, daß er zwar seiner dichterischen Berufung früh inne ward, einer rein künstlerischen Lebensform aber immer wieder auswich und erst durch Lebenskrisen erneut auf die Poesie hingeführt wurde. Lange schwankte er auch, ob er unter den Künsten nicht der Malerei den Vorzug geben solle; dann suchte er in Weltgeschäften sicher zu werden, dann bildete wieder die Tätigkeit eines Gelehrten, besonders in den Naturwissenschaften, das Zentrum. Nach zehn Jahren der Weimarer Existenz wurde ihm das Unbefriedigende seiner Vielseitigkeit unerträglich, und er suchte nach einem Ausweg, der ihn eindeutig auf die Bahn künstlerischer Lebensarbeit bringen sollte. Er kam auf den alten Plan der Italienreise zurück, zu der ihn sein Vater gedrängt, von dem er 1775 durch die Einladung nach Weimar abgehalten worden war. Dazu trug bei, daß er mit Herders Unterstützung sich zu einer ersten Gesamtausgabe seiner Schriften entschloß und mit dem Verleger Göschen in Leipzig darüber 1786 einen Vertrag einging. Neben dem bisher Erschienenen sollten die Singspiele, Egmont, Iphigenie, Tasso und Faust abgeschlossen und in diese Ausgabe aufgenommen werden. So entstand der Entschluß, vom Karlsbader Sommeraufenthalt aus nach Italien aufzubrechen und sich dort ganz auf die künstlerischen Aufgaben zu konzentrieren. Der Herzog gab ihm freie Hand, sonst hielt G. den Entschluß geheim, auch vor Charlotte von Stein, die wie Carl August und Herder mit in Karlsbad weilte und der er noch ein Stück das Geleit gab. G. brach am 3. September auf; er führte ein Reisetagebuch für die geliebte Frau, aber dies erreichte sie verspätet, und die heimliche Flucht kränkte sie tief; das alte Verhältnis ist nicht wiederhergestellt worden.

    Italienische Reise (September 1786-Juni 1788)

    Die Reise führt durch Bayern über Mittenwald und den Brenner zum Gardasee und über Verona und Vicenza nach Padua und Venedig, wo G. drei Wochen bis zum 14. Oktober bleibt; von da schreibt er an den Herzog, Herder und Charlotte von Stein und schickt sein Tagebuch ab. Dann durcheilt er das mittlere Italien und gelangt am 29. Oktober nach Rom. Hier sucht er den Maler Wilhelm Tischbein auf, den der Herzog von Gotha auf G.s Empfehlung hin nach Italien hatte reisen lassen. Mit ihm wohnt er am Corso, nahe der Piazza del Popolo, bald in Verkehr mit anderen deutschen Malern, so mit J. G. Schütz und Friedrich Bury sowie dem Schweizer Heinrich Meyer, mit dem Schriftsteller Karl Philipp Moritz, dem Bildhauer Alexander Trippel und der Malerin Angelika Kauffmann.

    Den Winter bleibt er in Rom. Am 22.2.1787 reist er mit Tischbein nach Neapel, wo er die Bekanntschaft Philipp Hackerts macht, den Vesuv, Pompeji und Paestum besucht und die Pflanzen- und Steinwelt durchforscht. Zu Schiff bricht er am 29. März nach Sizilien in Begleitung des Hildesheimer Landschafters Chr. H. Kniep auf; von Palermo über Agrigent bis Messina durchstreift er die Insel und kehrt nach stürmischer Seefahrt nach Neapel zurück. Vom 6.6.1787 ab wieder in Rom, setzt er seine Ausbildung im Zeichnen fort, macht Ausflüge in die Umgebung und arbeitet an der Vollendung seiner poetischen Fragmente ein weiteres volles Jahr. Am 23.4.1788 verabschiedet er sich unter heftigem Trennungsschmerz von Rom und kehrt über Florenz, die Lombardei und die Schweiz am 18. Juni nach Weimar zurück. Über den ersten und zweiten Römischen Aufenthalt und die dazwischen liegende Reise nach Neapel und Sizilien berichten die beiden Bände der „Italienischen Reise“. Sie sind auf Grund der Briefe und Tagebücher jener Jahre kunstvoll bearbeitet 1816 und 1817 als Teile seines autobiographischen Werkes erschienen.

    Die Reise ist dank ihrer anschaulichen und gedankenreichen Darstellung als das Musterbeispiel einer „Bildungsreise“ in die deutsche Literatur eingegangen. Land und Leute, Kunstschätze und Sehenswürdigkeiten Italiens werden beschrieben, wie es seit Montaignes Zeit viele Reisetagebücher und Memoiren gab. Sie unterscheidet sich aber von ihren Vorgängern durch die individuelle Bedeutung, die G. dem Italienerlebnis zuschrieb und durch die ethischen und ästhetischen|Folgerungen, die er einmischte. Der „Bau der Pyramide meines Daseins“, von dem G. in einem Brief an Lavater (21.9.1780) gesprochen hatte, wird hier in einer entscheidenden Phase geschildert, als ein bewußtes Bauen, das sich zugleich als ein charismatisches Von-Selber-Wachsen empfindet. Eine exemplarische innere Wandlung wird durchlebt. Der universal tätige und in der Zerstreuung lebende Dichter sammelt sich in diesen Jahren auf seine künstlerische Berufung – wobei anfangs noch nicht geklärt erscheint, ob es sich um die poetische oder bildkünstlerische Tätigkeit handeln soll; bald aber entscheidet er sich eindeutig für die poetische. Zugleich wird ihm deutlich, daß die Poesie einem „wahren“ Gehalt verpflichtet ist; daß sie eine moralische Aufgabe im weitesten und tiefsten Sinne enthält, daß sie ihre eigenen Gesetze hat und darin einer Norm folgt, die alle Künste verbindet. Diese Norm ist auch in der Natur regulierend tätig und in ihr anschaubar; und sie hat ihre Parallele in der Sittenwelt.

    Es formt sich in jenen Monaten das Weltbild G.s, in engem Austausch mit Herders Ideen zur Geschichte der Menschheit, die jetzt bandweise fertig und G. mitgeteilt werden. Dem Gesetz der Naturgebilde geht G. auf der Reise besonders vom botanischen Stoffgebiet aus nach. In Padua zeigt ihm eine Fächerpalme die Stufenleiter der Metamorphosen an der Pflanze, und am Golf von Neapel klären sich ihm die Vorstellungen von der „Urpflanze“, die er als Anschauung eines Urphänomens erfaßt.

    Es formen sich daneben die Vorstellungen vom Wesen des Künstlerischen: in welchem Sinne die alte Formel gelten solle, daß die Kunst Nachahmung der Natur sei: indem Allgemeines im Besonderen, ethisch Wesenhaftes in der Sinnlichkeit erscheint, wobei, wie in der Natur, höchste Freiheit der Phantasie und strenges Maß einander bedingen und dadurch die großen Symbole des Wahren möglich werden.

    Die innere Arbeit während der Reise ist gesammelt auf dieses zentrale Thema gerichtet. Aus reicher Anschauung sucht G. die Norm zu gewinnen, welche die innere Natur des Schönen bestimmt, aber auch die Regeln zeigt, nach denen die Natur schafft und nach der die Menschen gesittet leben sollen. Die Vorherrschaft dieses Themas erklärt die Einseitigkeit des Hinsehens, die später oft getadelt worden ist. G. ist bestrebt, mit Winckelmanns Augen zu sehen. Er trifft eine idealisierende Auswahl, wenn er Kunstwerke betrachtet, das naiv-geistreiche Volksleben schildert und die Farbenfülle und Üppigkeit südlicher Landschaft beschreibt. Quatrocentisten und mittelalterliche wie byzantinische Kunstwerke finden geringe Beachtung, auch das Barock wird nur mit Einschränkungen gewürdigt. Als exemplarisch und klassisch aber erscheint Palladios Architektur in Vicenza, die antiken Überreste in Rom und was von griechischer Plastik erreichbar war, wobei das Hellenistische dem Empfinden näher bleibt als das Archaische. Paestum weckt keine Begeisterung. Raffael gilt als Musterbild in der Ausgewogenheit von Form und Gehalt, von Reichtum und Ökonomie, Naturtreue und Realität. Der Verkehr mit den Malern in Rom und Neapel, besonders mit Tischbein, Bury, Heinrich Meyer und Philipp Hackert, und die eigenen Zeichenstudien gelten der Verdeutlichung dieses Ideals.

    So wenig diese klassizistische Ästhetik im Bereich der bildenden Künste an das Ursprunghafte des Kunstschaffens heranreichte, so voll konnte sie auf dem poetischen Felde den schöpferischen Prozeß inspirieren.

    Es gelang, den Egmont abzuschließen, der noch in Frankfurt begonnen war – die Tragödie eines genialischen Mannes im Sinne der Sturm- und Drangzeit. Menschen dämonisch anziehend, „in grenzenlosem Zutrauen zu sich selbst“ nur dem Augenblick lebend, befindet sich der Held des Dramas in einem Mißverhältnis zwischen seinem leichtsinnigen Wesen und der politischen Aufgabe, die ihm zufällt. Er rettet sich, indem er sein tragisches Schicksal annimmt. – Dann wird in Italien die endgültige Fassung der Iphigenie vollendet. Das Drama war 1779 entstanden und in einer Prosa verfaßt, deren Rhythmen sich gebundener Rede näherten. Eine Umarbeitung von 1780 befriedigte den Dichter nicht; auf der Reise nach Rom und in Rom selbst erhielt das Drama seine endgültige Fassung und die Versform des fünffüßigen Jambus. – Vom Faust gelangen in Rom einige Szenen, so die Hexenküche. – Der Tasso schließlich, der 1780 „erfunden“ und mit zwei Prosaakten 1781 vorgerückt war, wurde nun ebenfalls in Versform gebracht, aber erst am Schluß des Römischen Aufenthaltes, auf der Heimreise und im Sommer 1789 abgeschlossen; er erschien 1790. Iphigenie wie Tasso verarbeiten persönliche Erlebnisse, haben aber ihr inneres Gewicht in den allgemeinmenschlichen Aussagen, die sie ihrer Fabel abgewinnen: im einen Fall dem griechischen Mythos vom Fluch über die Tantaliden, der im Sinne der G.schen Humanität durch „reine Menschlichkeit“ gelöst wird, im anderen der tragischen Biographie des großen Renaissancedichters Der Tasso dürfte das ausgewogenste und am subtilsten durchgearbeitete Drama G.s sein; auch von ihm gilt (wie vom Faust), daß es „inkommensurabel“ für den Verstand ist. Das Gedicht ist das erste spezifische Künstlerdrama der abendländischen Literatur; die dramatische Aktion ist ganz hineingenommen in den geistig-seelischen Bereich. Wie ein großer Klagegesang drückt es die Qual des leidenschaftlichen und empfindlichen Dichtergemütes aus, das an seinen Konflikten mit den Normen der Sittenwelt leidet und nur darin seinen Trost findet, daß es sagen kann, wie es leide.

    Die Weimarer Jahre 1789 bis 1806

    G. kehrte als ein Verwandelter aus Italien heim, in der Hoffnung, seine Weimarer Freunde würden seine Erfahrungen mitvollzogen haben. Es zeigte sich jedoch, daß der alte Kreis ihm fernegerückt war. Anna Amalia und Herder reisten selbst nach Italien; Carl August hielt sich oft außer Landes auf, da er in preußischen Militärdienst getreten war und als General auf lange Zeit in die politischen Wirren und die Kriegsereignisse hineingezogen wurde. Vor allem vermißte Charlotte von Stein „den alten Geist“, sie verzieh G. den heimlichen Aufbruch aus Karlsbad nicht, wurde argwöhnisch und brach für einige Jahre völlig mit G. Sein letzter Brief an Charlotte aus dieser Zeit stammt vom 8.6.1789.

    Den Anstoß zum völligen Zerwürfnis gab das Verhältnis des Dichters zu der 22jährigen Christiane Vulpius, die, wie andere Bürgertöchter, in der Bertuchschen Blumenfabrik tätig gewesen war und die ihn mit einem Gesuch zugunsten ihres Bruders aufgesucht hatte. Aus einer Liebschaft wurde eine Lebensgemeinschaft mit dem höchst einfachen, häuslich tätigen und warmherzigen Mädchen, ein Verhältnis, das sich zwar mit G.s Ehescheu vertrug, aber nicht als gesellschaftsfähig gelten konnte. G. siedelte für einige Jahre in das „Jägerhaus“ über, 1792 in das Haus am Frauenplan zurück, und Christiane übernahm die Leitung seines Haushalts. Weihnachten 1789 wurde ihm sein Sohn August geboren, der als sein einziges Kind am Leben blieb. Von seinem geistigen Leben war Christiane völlig geschieden, und gesellschaftlich isolierte sie ihn so, daß Schiller von den „elenden häuslichen Verhältnissen“ G.s sprechen konnte. G. verlor darüber oft die Arbeitsstimmung zuhause und flüchtete dann auf Wochen oder Monate nach Jena.

    Nach der Rückkehr aus Italien begann G. seinen ersten Gedichtzyklus, die „Römischen Elegien“, die in Stil und Haltung bewußt an Properz, Tibull und Martial anknüpfen. Sie verbinden die gegenwärtige Liebe und G.s – moderne – Erfahrung des ewigen Rom mit den Mythen der alten Welt in unbefangener, festlicher Klarheit.

    1790, nach dem Abschluß des Tasso und dem Druck des „Faust. Ein Fragment“, ist G. nochmals nach Italien gereist, um die Herzoginmutter auf ihren Wunsch in Venedig abzuholen. Sie traf dort mit dem Maler Bury ein, Heinrich Meyer ebenfalls, und man studierte gemeinsam die venezianische Malerei. Das Erlebnis der ersten Reise ließ sich jedoch nicht wiederholen, und G. sah das italienische Leben diesmal ohne Idealisierung und sogar etwas grimmig. In den „Venezianischen Epigrammen“ schildert er Mißmut und Laune im Kontrast zu der erotischen Stimmung dieses Aufenthalts. Schiller veröffentlichte 1795 die Epigramme in seinem Musenalmanach für das Jahr 1796, die Römischen Elegien in den Horen.

    Sind so Abbrüche alter Freundschaft, Vereinsamung und Leidenszustände die Kennzeichen der nachitalienischen ersten Jahre, so bildete sich in der Epoche, die durch den revolutionären, von Paris ausgehenden Umbruch der Gesellschaft Europas und durch die kriegerischen Ereignisse von 1792 bis 1814 gekennzeichnet ist, G.s Gesamtanschauung neu aus. Nach vielen Krisen und in der Verarbeitung der italienischen Epoche entstand von nun an die Welt-, Kunst- und Sittenauffassung seiner männlichen mittleren Jahre. Die Revolution spielte sich zwar zunächst in der Ferne ab, wirkte aber überall hin. Die höfische Rokokokultur zerstob, in die kriegerischen Ereignisse wurde G. im Gefolge seines Herzogs hineingezogen. So fuhr er 1790 im Herbst zu den Manövern nach Schlesien, durch welche der Kongreß von Reichenbach flankiert wurde. 1792 begleitete er auf Wunsch des Herzogs dessen preußisches Regiment in den Koalitionskrieg bis zur Kanonade von Valmy und machte den verregneten elenden Rückzug mit. Er hat in seinen autobiographischen Schriften diese „Campagne in Frankreich“ später (1822) beschrieben: wie er den welthistorischen Ereignissen als Zuschauer beiwohnt, menschliche Beziehungen beobachtet, das Verhalten von Licht und Farbe und die Struktur der Erden und Gesteine studiert.

    Nach dem Rückzug aus Frankreich besucht er Jacobi in Pempelfort und die Fürstin Gallitzin in Münster. Er erneuert die Freundschaft, wird sich aber der Differenz in den metaphysischen Vorstellungen deutlicher bewußt; der Bruch mit Jacobi bereitet sich vor.|Im Januar 1793 beginnt G. die Arbeit an dem Tierepos Reineke Fuchs, das er nach einem Neudruck des niederdeutschen Textes von 1498 und nach Gottscheds Prosaübersetzung in eine neue Fassung umgießt; als Versmaß wählt er den Hexameter. Die grimmige Satire der politischen Welt ist mit eleganter Ironie geschrieben; an ihrer Ausfeilung arbeitet er in dem Feldlager vor Mainz weiter. Vom 12. Mai bis in den August hinein nimmt er als Begleiter des Herzogs an der Belagerung von Mainz teil, nachdem er auf der Reise seine Mutter besucht hat. Er erlebt die Zerstörung des alten Reichsmittelpunktes und die Kapitulation der Revolutionsbesatzung.

    Die Ereignisse in Paris und ihre gesamteuropäischen Folgen beschäftigen seinen Geist, aber es gelingt ihm nicht, diese Erfahrungen dichterisch zu gestalten. Die Lustspiele „Der Groß-Cophta“, eine Dramatisierung der Halsbandgeschichte, mit der er die Figur des Abenteurers Cagliostro in Verbindung bringt, und „Der Bürgergeneral“ sind dem Gegenstand keineswegs gemäß und zudem dichterisch schwach. Der Sinn G.s richtet sich desto entschiedener zur Natur; den Motiven der Revolution wird er erst allmählich und in einer größeren Gemütstiefe in seiner Weise gerecht. Erst in späteren Jahren – im Wilhelm Meister und im zweiten Teil des Faust – ist der Bezug auf die große Revolution so verarbeitet, wie es der Haltung G.s gegenüber diesem die neuere Welt bestimmenden Phänomen entsprach. Weder den Enthusiasmus der Rousseauisten und vieler führender Geister noch die Enttäuschung, die ihm allgemein 1792 folgte, hat G. mitgemacht; er bewahrte sich seinen Abstand und war sich der weithinwirkenden Bedeutung dieser Vorgänge bewußt, in denen er eine Epoche zu Ende gehen, eine neue heraufkommen sah, ohne zu meinen, daß sie sich rational übersehen lasse.

    Von den Regierungsaufgaben, die G. nach der Italienischen Reise behalten hatte, stand neben der Aufsicht über das Theater die über die wissenschaftlichen Anstalten in Jena. Mit dem Ausbau und der Ordnung der dortigen Sammlungen, der Bibliothek und des botanischen Gartens blieb er nun mit Vorliebe beschäftigt. Die Jenaer Naturforscher waren wieder sein ständiger Verkehr. 1790 veröffentlichte er seinen „Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären“. Im selben Jahre begannen die Versuche zur Farbenlehre, die von dem „Aperçu“ bestimmt waren, das weiße Licht sei als Urphänomen, die Farben und Schatten als Modalitäten des Lichts, als seine „Taten und Leiden“ anzusehen. Die These verwickelte ihn in eine von ihm mit Hartnäckigkeit und zeitweise mit Erbitterung geführte Polemik gegen die Newtonsche, allgemein angenommene Lehre von der Farbenentstehung; sie beschäftigte ihn viele Jahre hindurch. 1791 und 1792 veröffentlichte er seine „Beiträge zur Optik“. In das Jahr 1790 fällt auch die Entdeckung, daß die Schädelknochen der Wirbeltiere eine Metamorphose der Wirbelknochen darstellen; beim Fund eines Schafschädels war ihm am Lido von Venedig der Zusammenhang bewußt geworden.

    Naturwissenschaftliche Probleme, in denen künstlerische und spekulative Motive auf liebhabermäßige Art eingemischt waren, haben dann auch 1794 die Annäherung an Schiller herbeigeführt. Der Dichter der „Räuber“ war G. bereits 1788 in Rudolstadt begegnet, eine innere Annäherung, nach der Schiller leidenschaftlich strebte, war aber nicht eingetreten. Immerhin hatte G. die Berufung Schillers an die Universität Jena veranlaßt und ihm im Juni 1794 die Mitarbeit an dessen Zeitschrift „Die Horen“ zugesagt. Ende Juli kam es nach einer Sitzung der Jenaer Naturforschenden Gesellschaft unversehens zu einem Gespräch zwischen den beiden über die Idee einer „Urpflanze“; G. hat es später als „Glückliches Ereignis“ geschildert, da es zu einem beidseits förderlichen Gedankenaustausch geführt habe. Der Kantisch denkende Ästhetiker und Ethiker Schiller und der vom anschauenden Denken bestimmte, von der Wechselwirkung des Subjekts und Objekts ausgehende Denker G. trafen sich. Es entstand die Freundschaft der beiden so verschiedenen Geister, die in erster Linie Künstler waren, sich nun in ihrer Eigenart wechselseitig anerkannten und förderten, sich literarisch verbündeten und einander inspirierten. Der Briefwechsel, den G. später im hohen Alter (1828/29) herausgab, ist eines der großen Dokumente unserer Literatur geworden.

    G. besonders ließ sich durch die wache, kritisch-positive Teilnahme Schillers zu neuem poetischen Schaffen antreiben, wenn er auch vieles vor ihm verborgen hielt, das nur im Stillen wachsen konnte. Der Differenz ihrer Denkungsart und ihres poetischen Verfahrens blieben sich beide bewußt. Im September 1794 war Schiller 2 Wochen zu Besuch in G.s Haus, mehrere Tage zugleich mit W. von Humboldt. Um Schillers willen wurde nun Jena häufiger, oft für mehrere Wochen aufgesucht; auch Wilhelm von Humboldt zog einige Zeit nach Jena und war beider häufiger Umgang.

    Die Universität Jena erlebte in diesen Jahren ihre Glanzzeit und brachte für G. die nähere Bekanntschaft mit den führenden Geistern der nachwachsenden Generation. Seit 1787 wirkte als Philosoph der Kantianer Reinhold, seit 1794 als sein Nachfolger Fichte in Jena; 1798-1803 war Schelling und später Hegel dort tätig; als Theologe war Paulus führend; neben Griesbach und dem Juristen Hufeland stand dessen Bruder, der berühmte Arzt; zeitweise wohnten Tieck, die Brüder Schlegel, Hölderlin und Novalis in Jena.

    Kaum sind jemals so viele produktive, zum Teil genialische Geister in Deutschland auf so dichtem Raum und in geistigem Verkehr untereinander verbunden gewesen, wobei den Frauen ein bedeutender Anteil zukam. Unter ihnen ragte Karoline Schlegel geborene Michaelis hervor, seit 1796 verheiratet mit August Wilhelm Schlegel, 1803 mit Schelling. Die Frauen des romantischen Kreises bildeten den für G.s Schaffen verständnisvollsten Leserkreis und verbreiteten seinen Ruhm. Die G.sche Poesie wurde in diesen Jahren von den Brüdern Schlegel und von W. von Humboldt in einer neuen Weise interpretiert; es entstand das „romantische“ Verständnis der Poesie und die geisteswissenschaftliche Literaturkritik, und sie bezogen sich auf G. als den exemplarischen modernen Fall. Von den Philosophen befreundete sich Schelling mit dem Dichter; er übersetzte die Naturanschauung G.s ins Philosophische, indes Alexander von Humboldt sich durch sie zur umfassendsten Forschungsarbeit inspirieren ließ.

    Die nun einsetzenden arbeitsreichen und bald poetisch wieder höchst fruchtbaren Jahre wurden vom Juli bis zum November 1797 durch eine dritte Schweizerreise unterbrochen. Sie führte zu einem letzten Besuch bei der Mutter – von da an bis zu ihrem Tode blieb das Rhein-Maingebiet kriegsgefährdet – und zu einem abermaligen Besuch des Sankt Gotthardpasses – den Übergang nach Italien hemmte der Krieg. Die Böhmischen Bäder, die schon 1785 und 1786 wohltuend gewirkt hatten, wurden im Sommer 1795 wieder aufgesucht, danach erst nach Schillers Tod wieder. Die Verbindung mit Schiller erfolgte in einem höchst fruchtbaren Moment in der Geschichte G.s. In Italien war die tumultuose Geniezeit überwunden worden; eine andere Auffassung vom Weltgebäude, vom Sittenkosmos und von den Kunstformen hatte sich zu bilden begonnen; aber die Krisen der ersten Jahre nach der Rückkehr hatten den Ausbau jener Ideen gehemmt. Daß sie nun im Ausreifen waren, zeigte die Neubearbeitung des „Wilhelm Meister“. An ihr wie an allen anderen Produktionen nahm Schiller Anteil. Sein genialisches Mitempfinden gab ihm die Möglichkeit, in die Entwürfe des ihm fremden Geistes einzugehen und ihnen vorwärtszuhelfen, indem er das hinzubrachte, was seine Stärke war: er nötigte G., die ideelle Klarheit seiner Poesie herauszuarbeiten, und damit drängte er G. in die Richtung seiner klassischen Ästhetik.

    Unmittelbar spornte Schiller zu Beiträgen für seine Zeitschrift und für die Musenalmanache an. So wurden die „Römischen Elegien“ abgeschlossen und die Rahmenerzählung „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter“ samt den darin eingesetzten Novellen. Es folgte die gemeinsame Arbeit an den „Xenien“ – epigrammatischen Distichen, in denen Autoren und Zeitschriften der Zeit, nach dem Muster Martials, charakterisiert und meist auch ironisiert werden. Neunhundert solcher Kampfgedichte der beiden Dichter entstanden, und eine Auswahl wurde ohne Unterscheidung der Urheberschaft 1796 im „Musenalmanach für das Jahr 1797“ veröffentlicht. Sie enthielten eine Geißelung alles Mittelmäßigen, manches Persönliche, wenig Lob, ganz entgegen G.s sonstiger Abneigung gegen literarisches Polemisieren. Auf den Xenienkampf folgte ein Balladenjahr, das den nächsten Musenalmanach versah. Die von Herder und Bürger neu belebte Gattung der Ballade wurde von Schiller zur Veranschaulichung ethischer und philosophischer Motive genützt, von G. mit mythischen und volkstümlich-sagenhaften Stoffen bereichert; „Erlkönig“, „Zauberlehrling“, „Die Braut von Korinth“, „Der Gott und die Bajadere“ entstanden.

    Die bedeutsamste Förderung Schillers galt aber den drei größten poetischen Leistungen G.s in diesen Jahren. Am Wilhelm Meister G., als er Schiller näher trat; er gab ihm das Manuskript zu lesen und ließ seinen künstlerischen Rat zu. Aus der „Theatralischen Sendung“ war jetzt ein universaler „Bildungsroman“ geworden. Er schildert die Erfahrungen eines Lehrlings, der sich auf den Weg zur Bemeisterung des Lebens begibt, etwa in der Situation der 1770er Jahre. Der Held sucht nach einer freien gesellschaftlichen Form und einem bedeutenden Lebensinhalt inmitten der Lebenskrise seiner Zeit – Bürger, Komödianten, Adel, freimaurerähnliche Bünde, ernstes Nationaltheater und schließlich ein werdender, überständischer Weltbund human gebildeter Menschen nehmen den anpassungswilligen Helden nacheinander auf und lassen ihn die Bedingungen|reifer Lebensbemeisterung sehen. Die revolutionäre Bedrohung ruft eine welttüchtige Bildung hervor; der Ethik des Geniewesens wird eine der Selbstbeschränkung und des Gemeinsinnes entgegengestellt; in einem hochgesitteten Kreis wird zuletzt sichtbar, wie ein „klassischer“ Charakter das Leben zu führen vermöchte.

    „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ erschienen 1795, der letzte Band im Oktober 1796. Vom Herbst desselben Jahres bis in den Frühsommer 1797 dichtete G. das deutsche bürgerliche Epos „Hermann und Dorothea“, ein Versepos, in dem antike epische Dichtung auf einen Stoff der deutschen Gegenwart übertragen wird – auf Flüchtlingsschicksale, die von der französischen Invasion hervorgerufen sind. Das Motiv entnahm G. einem Bericht über die Salzburger Emigranten. Die vor langem begonnene Auseinandersetzung mit der Formenwelt des Homer erzeugte die einzigartige Schönheit, Abrundung und das prächtige Detail sowohl der Seelenschilderung wie des epischen Raumes in diesem vollendeten Gedicht.

    Ein weiteres Versepos, die Achilleïs, sollte folgen. Häufige Iliasstudien bereiteten es vor, bis 1799 wurde daran gearbeitet, das Werk dann aber fallen gelassen. Sein Thema machte es zu einer Art Gelehrtenpoesie; Hermann und Dorothea dagegen geriet als ein kunstvolles und doch volkstümliches Gedicht.

    Dank Schillers Hilfe wurde dann im Juni 1797 auch der Faust wieder vorgenommen. Es entstanden die „Zueignung“ und der „Prolog im Himmel“. Die Dichtung gewann nun im Entwurf ihr größtes Format, wodurch aus dem Thema des Teufelsbündners, der nach Erkenntnis strebt, das kosmische Mysterium von dem strebenden Menschen überhaupt, Fausts Seele zum Schauplatz der um den Menschen ringenden Mächte wird. Nachdem die Idee (im Schillerschen Sinne) den Stoff einheitlich organisieren konnte, wurde in planmäßiger Arbeit in vier Jahren bis 1801 „der Tragödie erster Teil“ weit gefördert, 1806 vollendet und erschien 1808, zugleich als 8. Band der Cottaschen Ausgabe von G.s „Werken“ (13 Bände, 1806–10).

    War demnach die „klassische“ Epoche im Zusammenwirken beider Dichter höchst ergiebig, so erfuhren auch G.s Bemühungen um das Theater einen Aufschwung. Seit Corona Schröter von G. aus Leipzig nach Weimar geholt worden war und die Iphigenie verkörpert hatte, gab es ein Vorbild für eine Bühnenkultur, die sich an das antike Theater anlehnen konnte. Sie gab dem gesprochenen dichterischen Wort Raum und entwickelte eine Mimik und Gestik, welche die Alltäglichkeit durchbrach, nachdem die Shakespearenachahmung der Geniezeit in einen trivialen Realismus ausgelaufen war. Nun galt es, das Nationaltheater, für das Lessing gestritten hatte, das in den „Lehrjahren“ diskutiert wurde, als eine „moralische Anstalt“ der gebildeten Nation mit den „großen Gegenständen der Menschheit“ zu erfüllen. In diesem Sinne faßte nun G. seine Theaterleitung auf, als 1791 die Bellomosche Truppe nach Graz übersiedelte und der Herzog wie Anna Amalia ein eigenes ständiges Theater einzurichten beschlossen. Gemeinsam mit dem Hofkammerrat Kirms leitete G. dieses „Hoftheater“, bis im Jahre 1817 ein Konflikt mit der Schauspielerin Karoline Jagemann, der Geliebten Carl Augusts, seine Absetzung veranlaßte – es blieb der einzige Fall, in dem der Herzog seinem alten Freund die Treue brach.

    In den ärmlichen Verhältnissen dieses kleinen Theaters einer kleinen Stadt hat G., der praktischen Theaterarbeit viel Zeit und Kraft zuwendend, mit größter Geduld und Mühe allmählich einen bedeutenden Gehalt und einen eigenen Stil durchgesetzt. Schauspiel, Singspiel und Oper mußten mit wenigen Spielern zugleich gepflegt werden. Neben den Lustspielen und Familienstücken in der Manier Kotzebues und Ifflands, die für ein echt komödiantisches Spiel geeignet waren, sollte nun das hohe Drama gepflegt werden. Dafür galt es Schauspieler zu bilden, die großes Theater in poetischer Sprache aufführen konnten. G. unterrichtete nach neuen Regeln dieses klassizistischen Stils, der sich wieder mehr an die französische Bühne anlehnte und die Linie verließ, die mit der Shakespeareerneuerung möglich gewesen wäre und erst durch Ludwig Tieck und Otto Ludwig wieder gesichtet wurde. Zuerst unterrichtete G. die dreizehnjährige Christiane Neumann, der er, als sie 1797 starb, den Nachruf des Gedichtes „Euphrosyne“ widmete; 1803 eröffnete er mit 12 Schülern eine Art Theaterschule. Um seine Schauspieler an ein breiteres Publikum zu gewöhnen und die Finanzlage zu bessern, führte er auswärtige Vorstellungen ein und errichtete in Bad Lauchstädt bei Halle eine Sommerbühne, für die 1802 ein eigenes Haus eröffnet werden konnte. 1798 wurde auch die Weimarer Bühne im Redoutenhaus umgebaut. Mit Schiller bemühte sich G. um Erweiterung des Repertoires und um bühnegerechte Einrichtung bedeutender älterer Dramen. Auf Wunsch Carl Augusts übersetzte er Voltaires Mahomet|für eine Weimarer Aufführung. Die große Zeit des Theaters begann, als Schiller 1799 seinen Wohnsitz von Jena nach Weimar verlegte und als Dramaturg und Dichter ganz für die Bühne arbeitete. Mit dem Wallenstein beginnend, wurden nun die Tragödien Schillers neben den Schauspielen G.s in dem Stile aufgeführt, der beiden vorschwebte. Am 2.4.1803 war die Erstaufführung der „Natürlichen Tochter“, der letzten formvollendeten, aber fragmentarisch gebliebenen Dichtung G.s im klassizistischen Geschmack. In Prologen und Szenen bei der Eröffnung der Theaterumbauten und im „Vorspiel auf dem Theater“ im Faustprolog entwickelte G. seine Lehren und Erfahrungen über Sinn und Stil des Schauspiels im klassischen Sinne.

    Im Zusammenhang mit diesen Bemühungen standen auch die Preisausschreiben und Ausstellungen der „Weimarer Kunstfreunde“, zu denen außer Schiller (und später Fernow) Heinrich Meyer gehörte, den G. in Rom kennengelernt und an die Weimarer Zeichenschule geholt hatte. Er war ein mittelmäßiger Maler und sehr einseitig auf Winckelmanns Kunsttheorie festgelegter Kunstkritiker, lange G.s Hausgenosse und für zeitlebens sein Freund, der mit ihm die „Propyläen“ und als eine Art Hauszeitschrift die Hefte „Kunst und Altertum“ herausgab. Die Tätigkeit dieses Kreises blieb jedoch provinziell, wenn auch Peter Cornelius, Runge und C. D. Friedrich Werke einsandten und von G. geschätzt wurden; der vorwärtsdrängenden Malerei Deutschlands öffneten sich die Kunstfreunde nur zögernd, ja widerwillig.

    Im übrigen hatte der Klassizismus dieser Jahre eine bewußt antipolitische Note. Die „Horen“ sollten eine Welt im Geiste aufbauen helfen, die sich von den Zeitstimmungen befreit. Die beiden Dichter begegneten sich in dem Entschluß, das kriegerische Gewitter vorüberziehen zu lassen und sich in die Stille der Werkstatt zurückzuziehen, um „das heilige Feuer der Wissenschaft und Kunst, und wäre es auch nur als Funken unter der Asche, sorgfältig zu bewahren, damit nach vorübergegangener Kriegsnacht bei einbrechenden Friedenstagen es an dem unentbehrlichen Prometheischen Feuer nicht fehle“.

    Von Schillers Tod bis zum Ende der Freiheitskriege

    Periodisierungen eines Lebenslaufes haben immer etwas Künstliches; der Einschnitt, den G. um das Jahr 1806 erlebte, erwies sich aber als eine tiefe Verwandlung. Die Krankheit, die ihn in den Tagen befiel, als Schiller starb, erschütterte ihn zwiefach. Bald danach brach die politische Katastrophe auch über das mittlere Deutschland herein. 1805 unterlag Österreich dem französischen Eroberer; im folgenden Jahr vernahm G. auf der Rückfahrt aus Karlsbad, daß das Römische Reich aufgehört habe zu existieren. Preußen unterlag in der Schlacht von Jena, die am Abend des 14. Oktober bis in die Straßen von Weimar hinein tobte. G. war anwesend, als die Stadt mit Brand und Plünderung gepeinigt wurde und erlebte, wie sich Christiane den Marodeuren beherzt entgegenstellte, um ihn zu schützen. Er vollzog nun den oft erwogenen Schritt, Christiane zu seiner Ehefrau zu machen; er ließ sich am 19. Oktober in der Sakristei der Hofkirche durch den Hofprediger W. C. Günther trauen. Um das Schicksal des herzoglichen Hauses mußte er besorgt sein. Napoleon hätte den preußischen General Carl August, der die Pässe bei Ilmenau gedeckt hatte und nun mit dem geschlagenen Heer über die Elbe zurückging, gern bestraft; sogar seine Residenz hatte er vernichten wollen. Nur die Fürbitte der Herzogin Luise, die im Schloß geblieben war, soll damals das Herzogtum gerettet haben. Aber es wurden dem Land drückende Kriegssteuern auferlegt.

    Auch im engeren Lebensbereich G.s traten Veränderungen ein. 1803 war Herder gestorben; die Universität Jena war schon seit einigen Jahren in eine Krise geraten. Bald nach Fichtes Abgang, den G. vergeblich zu hindern suchte, verließen auch Schelling, Schlegel, Paulus, die beiden Hufeland die Akademie. Schütz, der Herausgeber der „Allgemeinen Literaturzeitung“, ging nach Halle und nötigte G., mit Eichstädt als Schriftleiter eine neue Jenaische Allgemeine Literaturzeitung zu begründen, für die er die Mitarbeit F. A. Wolfs gewann. Anna Amalia, G.s alte Gönnerin und Freundin, war vor der Schlacht geflohen, kehrte krank zurück und starb am 10.4.1807; anderthalb Jahre später, am 13.9.1808, verlor G. auch seine Mutter.

    Inmitten der Kümmernisse und öffentlichen Nöte hielt sich G. an seine oft ausgesprochene Lebensregel, durch gesteigerte innere Tätigkeit und Arbeit das Gleichgewicht in sich wiederherzustellen. Seine Schöpferkraft lebte in diesen Jahren bis zu Napoleons Sturz wieder auf; sie wurde nun um so ertragreicher, als G. seinen Lebensgang stetig hielt und durch konzentriertes Arbeiten an weit auseinander liegenden Interessen sich eine rege Teilnahme verschaffte, einen immer wachsenden Bekannten- und neuen Freundeskreis gewann, sein Haus am Frauenplan zu einem|geselligen Mittelpunkt machte und sein poetisches Schaffen in einer neuen Weise fruchtbar hielt. Als Hauslehrer des Sohnes zog Wolfs Schüler Fr. Wilhelm Riemer in das G.sche Haus ein und blieb dort bis 1812; auch danach war er ständiger Gast und Mitarbeiter. Er redigierte die Cotta-Ausgabe der Werke und begleitete G. 1806 nach Karlsbad; seine Tagebücher zeichneten Gespräche und gelegentliche Äußerungen G.s auf und sind eine wichtige Quelle für die Biographie G.s geworden. In der Arbeit an der neuen Ausgabe der Werke wird eine Tendenz sichtbar, die nun die literarische Werkstatt G.s bestimmt: die sämtlichen Schriften als ein Gesamtwerk aufzufassen und als ein vielseitiges, wenn auch „inkommensurables Ganze“ abzurunden.

    Für diese gewaltige Tätigkeit war es günstig, daß der Hof G. nur noch wenig in Anspruch nahm und der Anteil an der Staatsverwaltung weiterhin auf die wissenschaftlichen und künstlerischen Aufgaben eingeschränkt blieb. Ohnedies war in der Zeit Napoleons das politische Wirken nichtig. Die Begegnung G.s mit Napoleon anläßlich des Erfurter Fürstentreffens hatte keinen politischen Charakter. Bei der ersten Audienz am 2.10.1808 in Gegenwart Talleyrands wurde über Werther, Voltaire und die Tragödie gesprochen, bei der zweiten, am 6. Oktober, G. aufgefordert, einen Brutus zu schreiben und nach Paris zu kommen. G. blieb von der dämonischen Persönlichkeit Napoleons beeindruckt. Er hatte ihn bewundert, weil er dem Chaos der Revolution ein Ende gesetzt hatte; später bedrückte ihn die herrschsüchtige und zerstörerische Art des napoleonischen Daseins, und er schloß sich mehr dem Urteil der Kaiserin Maria Ludovica von Österreich an – mit ihr war er im Juni 1810 in Karlsbad in freundschaftlichen Verkehr gekommen, der im Juli und August 1812 in Teplitz fortgesetzt wurde. Aus dem Heros Napoleon wurde der Timur der Divangedichte. Wie von der Revolution, so distanzierte sich G. nun von ihrem Besieger und in der Folge dann auch von den Siegern über Napoleon. Nationalhaß, wie er in Deutschland im Anwachsen war, duldete er nicht. So äußerte er noch am 14.3.1830 zu Eckermann: solcher Haß sei nur auf den untersten Stufen der Kultur zu finden; „es gibt aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht und man ein Glück oder Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet“.

    Diese Distanzierung vom Wirken im Staat kam der poetischen Produktion entgegen, die nach Schillers Tod andere Formen annahm. Als letzte Höhepunkte der „klassischen“ Periode G.s waren um 1800 der Anfang der Helenaepisode im zweiten Teil des Faust und 1802/03 jenes fragmentarisch gebliebene Drama entstanden, welches noch einmal die Revolutionsschicksale gestalten sollte: der erste Teil einer geplanten Trilogie, „Die natürliche Tochter“, ein Glanzstück G.scher Verskunst von verhaltener innerer Bewegtheit. Nun aber nimmt G.s Dichten andere Formen und einen anderen Gehalt an: sein Altersstil entsteht, die neuen Rythmen, Wortbildungen und Darstellungsweisen seines Spätwerks. Die klassizistische Epoche liegt hinter ihm – jenes Wirken in Verbindung mit Schiller und W. von Humboldt, die ihren Rückhalt in der Philosophie Kants hatten und deren Blick auf das idealisierte griechische Musterbild gerichtet war. Zwar hat gerade diese Epoche die literarische Stellung G.s in der deutschen Bildungs- und Geistesgeschichte begründet; eine bis dahin nicht sichtbare idealische Humanität wurde anschaubar gemacht. Der weitere Weg G.s führte aber in eine andere Region, für die das breitere Verständnis nur langsam, vielleicht erst im 20. Jahrhundert, erwachsen ist. Und nur halb löste sich G. selbst von dem bildkünstlerischen Klassizismus, an dem Heinrich Meyer immer festhielt; nur mühsam vermochte der junge Heidelberger Freund Sulpice Boisserée dem Dichter das Verständnis für den Kölner Dom, für die gotische Architektur und die altniederländische Malerei abzugewinnen. Aber auf literarischem Gebiet haben Jenaer und Heidelberger Romantiker, haben die Erforscher des germanischen Altertums G.s Interesse für mittelalterliche Dichtung wachrufen können: für von der Hagens Ausgabe des Nibelungenliedes, Arnim-Brentanos Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“, die G. gewidmet wurde, für Calderon und schließlich für die orientalischen Dichter des Mittelalters, vor allem für den Perser Hafis. Der Satz aus Herder-Goethes frühen Jahren, daß die Poesie eine allgemeine Völkergabe sei, wurde neu lebendig; die Verschmelzung antikischer Versmaße mit romantischen ist für G.s Spätstil bezeichnend geworden.

    Die poetische Arbeitsweise nimmt in diesen Jahren eine andere Gestalt an. In seiner früheren Epoche wartete G. die für bestimmte Dichtungen geeignete poetische Stimmung ab, produzierte dann wie in einer Besessenheit und brach ab, wenn diese Konzentration gestört wurde oder aufhörte; daher unausgeführte Entwürfe und Fragmente sich anhäuften. In seiner späteren Zeit gelangt er zu einer Art künstlerischer Werkstattarbeit, in|die er Mitarbeiter und Schreiber einbezieht. Er meint nun, der Dichter müsse die poetische Stimmung zu kommandieren verstehen. In den glücklichen Stunden der Aperçus und der Erfindung werden Schemata entworfen und durchdacht, die dann eine stetige Ausführung ermöglichen. Es treten nun die Entwürfe für die großen Hauptwerke der Spätzeit auf: für die Wanderjahre, die autobiographischen Schriften, für die autobiographisch eingeleitete Darstellung seiner Naturbetrachtungen, für den zweiten Faust, bald auch für den „Westöstlichen Divan“. In bewundernswerter Konzentration werden diese Werke im Stillen nebeneinander fortgebildet, bis die Epochen der Ausarbeitung heranrücken.

    Der Arbeitskonzentration dienen häufige Abstecher nach Jena, dann die regelmäßigen Sommeraufenthalte in den Böhmischen Bädern. Mit Ausnahme des unruhigen Kriegsjahres 1809 war G. 1806-12 allsommerlich in Karlsbad, in Franzensbrunn oder Teplitz, 1813 nur in Teplitz. Einige dieser Jahre blieb G. bis zu 122 Tagen in Böhmen und genoß den reichlichen Umgang mit heimischen Bekannten – Riemer, Fernow, von Ziegesars, Pauline Gotter, – mit Gelehrten wie Fichte, Gentz, F. A. Wolf, den Bergräten Werner und von Trebra, mit Humboldt und L. F. Graf Stolberg (1812), mit Damen, denen er huldigte wie Eliza von der Recke, Marianne von Eybenberg und Sylvie von Ziegesar (1800), mit Zelter (1810) und mit zahlreichen Mitgliedern des böhmischen, polnischen und österreichischen Adels. Diese Gesellschaft bildete das Publikum für poetische Mitteilungen – G. las gern vor – und nahm an seinen geologischen und mineralogischen Studien teil. Auch die Begegnung mit Beethoven erfolgte 1812 während der Badekur in Teplitz.

    G. erkannte wohl Beethovens einsame Größe, schreckte jedoch vor dessen ungebändigter Persönlichkeit und vor der „alles zersprengende(n), ins Unendliche sich verlierende(n) Sehnsucht und Unruhe“ seiner Werke zurück. Lied, Chor und Oper lagen ihm näher als Instrumentalmusik, die er sich aber in wachsendem Maße mit Hilfe sachverständiger Berater erschloß (so Bachs Klaviermusik). Von der Leipziger Zeit an stand er zu Komponisten in Beziehung; er arbeitete seit den siebziger Jahren (bis 1788) mit Ph. Chr. Kayser zusammen (nicht nur bei den Singspielen), dann wurde Friedrich Reichardt sein Berater, der auch viele G.sche Lieder komponierte, seit 1799 schließlich Zelter, der darüber hinaus sein Freund und Vertrauter wurde. G.s Lieder boten sich durch ihre immanente Musikalität der Vertonung von selbst an. Viele Werke opernhaften Charakters bis zum zweiten Teil des „Faust“ wurden im Hinblick auf musikalische Ergänzung geschrieben; im frühverstorbenen Mozart hätte G. den idealen Komponisten für sie gesehen. Die literarische Arbeit, die seit Schillers Tod aufs Fertigmachen und Abschließen der Fragmente gerichtet wird, wendet sich zunächst der „Farbenlehre“ zu. In drei Teilen, einem didaktischen, historischen und polemischen, wird sie zwischen 1805 und 1810 beendet. Vom 17.5.1807 an taucht dann der Titel „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ in den Tagebüchern auf. Die ersten Kapitel – die „Geschichte von Sankt Joseph dem Zweiten“ – und einige Novellen, so „Die neue Melusine“, entstanden 1807, 1810 die Pläne zur Haupthandlung. Eine der Novellen wuchs sich zu einem selbständigen Gebilde aus, den „Wahlverwandtschaften“, die im arbeitsreichen Sommer 1809 vollendet wurden und als Roman erschienen.

    Aber die Wanderjahre blieben liegen, weil sich die Autobiographie in den Vordergrund drängte. Der Gedanke dazu wurde durch die Gesamtausgabe der Werke angeregt; diese bedurften, so empfanden G. und Riemer, einer Interpretation von der Lebensgeschichte her. Am Vorabend seines Geburtstages versprach G. seinem Mitarbeiter, daß er in seinem 60. Jahr damit beginnen werde. Auf der Reise nach Karlsbad wurde dann vom 16. bis 18.5.1810 die Form dieser Selbstbiographie als „Dichtung und Wahrheit“ konzipiert, und die Grundsätze für die Gestaltung wurden nach der Ankunft in Franzensbad in das Tagebuch eingetragen. Die Ausarbeitung begann im November 1810, der erste Teil erschien bei Cotta 1811, der zweite und der dritte folgten jahrweise; nur der vierte, der das Verhältnis zu Lili Schönemann bis zum Abschied aus Frankfurt behandelt, wurde erst 1830 diktiert und im Nachlaß veröffentlicht.

    In die gleichen fruchtbaren Jahre fallen noch das Festspiel „Pandora“ (1807/08) und die „Sonette“ (1807/08). Die Pandora lehnt sich an die barocke Oper an, in Wortwahl und Versmaß blüht hier der Stil der Spätzeit auf, der sich dann in der „Klassischen Walpurgisnacht“ und im Schlußakt des zweiten Faust vollendet. Die Sonette sind inhaltlich von der verborgenen leidenschaftlichen Neigung G.s zu Minna Herzlieb erfüllt, der achtzehnjährigen Pflegetochter des Jenaer Buchhändlers Frommann. Im November und Dezember 1807 verkehrte G. häufig in dessen Haus.

    Die formal vollendetste größere Dichtung jener Epoche sind die „Wahlverwandtschaften“. Sie gestalten eins der Motive, die in|den Novellen der „Wanderjahre“ behandelt werden: die Unangemessenheit menschlicher Situationen im Verhältnis zu den Charakteren und Altersstufen. Es wird in diesen Novellen das Leiden an Zeitkrankheiten geschildert, in denen das Wahre des menschlichen Sittengefüges im Kontrast sichtbar wird. In der Haupthandlung der Wanderjahre werden dann die Stufen dieses sittlich Wahren dargestellt.

    In den Wahlverwandtschaften handelt es sich um das Motiv der Untreue im Rahmen scheinbarer ehelicher Treue. Die gesunde „Gegenwart“ der Liebe geht verloren, und eine wahnhafte Sehnsucht führt den Untergang der Liebenden herbei. Die wahrheitserfüllte, jugendlich reine Ottilie entzieht sich der Welt und sühnt ihre Schuld „wie eine Heilige“; der optimistisch leichtlebige Eduard erleidet den Zusammenbruch seines Selbstgefühls. Der distanzierte Ton des Erzählers hält eine schwebende Mitte zwischen Ernst und Ironie; legendäre und novellistische Züge verquicken sich mit einer psychologisch fein ausgearbeiteten Romanform; das Ganze unklassisch dank dieses Mischcharakters, unromantisch dank seiner klassischen Grundanschauung vom Sittlich-Wahren.

    Die Erneuerung seit 1814 bis zum Abschied aus Marienbad

    Die Freiheitskriege gingen zu Ende – G. hatte seinem Sohn die Teilnahme verweigert –, und Iffland rüstete zu einer Friedensfeier mit dem Berliner Theater, für die er G. um ein Festspiel bat. Nach anfänglicher Weigerung fand sich der Dichter bereit und schrieb „Des Epimenides Erwachen“. Als er es im Juli 1814 abgesandt hatte, fühlte er sich wie zu neuem Leben geboren, erfrischt durch Besuche seiner Freunde F. A. Wolf und Zelter, und von einem neuen poetischen Interesse erfüllt; angeregt durch die Gedichte des Hafis, die in Hammers Übersetzung vor kurzem erschienen waren.

    Mit diesem Perser des 14. Jahrhunderts sucht sich G. poetisch gleichzusetzen – lebensfroh im Alter, erscheint er ihm einfach und tief, freigeistig und wahrhaftig, leidenschaftlich, gedankenklar und zugleich mystisch fromm. In der Maske eines Orientalen öffnet sich ihm nun ein „neues Leben“, eine „erneute Pubertät“, eine wiedergewonnene lyrische Sprache: die des „Westöstlichen Divan“. Im Vorgefühl wiederzugewinnender Jugend nach Jahren der Kriegsnot und häufiger Krankheit sucht G. seine Vaterstadt nach 17 Jahren zum erstenmal wieder auf, geht nach Wiesbaden zur Kur, trifft den Herzog in Mainz und nimmt am Rochusfest bei Bingen teil; er besucht den Minister Freiherrn vom Stein in Nassau, in Frankfurt Fritz Schlosser und den Handelsherrn von Willemer, bei dem ihm Marianne Jung begegnet, die bald danach von Willemers Frau wird. Die Brüder Boisserée, seit 1810 mit ihm bekannt, zeigen ihm in Heidelberg ihre Sammlung altdeutscher und altniederländischer Gemälde. Unter den Freudenfeuern des 18. Oktober 1814 wird in Willemers Hause der Freundschafts- und Liebesbund zwischen Marianne Jung-Willemer und G. manifest. Wie auf der bisherigen Reise dichtet G. in innerer Beschäftigung mit der persischen Poesie Divanlieder; den Mittelpunkt bilden nun die Liebesgedichte, die Marianne gewidmet sind; besonders seit im Sommer 1815 der Besuch G.s am Main und Rhein und die Kur in Wiesbaden wiederholt werden. In diesem Jahr besucht G. mit dem Freiherrn vom Stein den Dom von Köln, verbringt einen Monat auf Willemers Landhaus, der Gerbermühle bei Frankfurt, dann eine Zeit in Willemers Stadthaus und bei Boisserées in Heidelberg. Die schönsten Liebesgedichte des Divan entstammen dieser Zeit, sie werden unter den Namen Hatem und Suleika maskiert. Einige vollendete Suleikagedichte sind von Marianne verfaßt und in G.s Sammlung aufgenommen worden; der deutschen Literatur wurde dadurch eine ihrer bedeutendsten Lyrikerinnen aufbewahrt.

    Die Heimreise G.s, auf der Sulpice Boisserée bis Würzburg das Geleit gab, muß als eine Flucht vor erneuter Liebesbindung erscheinen, die den Dichter zu überwältigen drohte und in eine Krise brachte, die Sulpice Boisserée geschildert hat. In dem Abschiedsbrief an Willemer beruhigt er sich unter Schmerzen, daß er nun „ohne Willkür und Widerstreben den vorgezeichneten Weg wandle“ – es ist der Weg der Entsagung um der eigentlichen Lebensaufgabe willen – damit ich „um desto reiner meine Sehnsucht nach denen richten kann, die ich verlasse“. Marianne freilich litt Jahre hindurch schwer unter dem jähen Abschied.

    Die nächsten Jahre brachten große Veränderungen im G.schen Hause. Christiane starb nach kurzer Krankheit am 6.6.1816. Der Sohn übernahm die Sorge für den Hausstand; er verheiratete sich am 17.6.1817 nach des Vaters Wunsche mit Ottilie von Pogwisch, die von da ab den Haushalt führte und eine liebenswürdige Geselligkeit pflegte. Sie gebar zwei Knaben, Wolfgang und Walther, und eine Tochter Alma. Mit Liebe hing sie an dem Dichter, harmonierte aber wenig mit August, dessen Leidenschaftlichkeit und Neigung|zum Trunk den Frieden im Haus gefährdeten, wenn er auch mit seinem praktischen Sinn dem Vater eine Hilfe blieb. 1817 wich G. vor diesen Schwierigkeiten eine längere Zeit nach Jena aus; nach Frankfurt und dem Rhein kehrte er aber nicht wieder zurück. Statt dessen suchte er sommers zwischen 1818 und 1823 wieder regelmäßig die Böhmischen Bäder für monatelange Aufenthalte auf.

    Die Gedichtsammlung des Divan füllte sich nun, wurde sorgfältig komponiert und erschien 1819. In Noten und Abhandlungen, die unter dem Titel „Zum besseren Verständnis“ beigegeben waren, wurden die Anspielungen auf die persischen Dichter erläutert, ein Abriß der persischen Literaturgeschichte eingefügt und der Einblick in die Gedankentiefe der Gedichte erschlossen.

    Danach entstanden ohne die orientalische Einkleidung und wieder reich an Anspielungen auf antike Denker die Weisheitssprüche und Weltgedichte der Sammlung „Gott und Welt“. Die fragmentarischen Schriften zur Naturwissenschaft wurden gesammelt, mit einem autobiographischen Mantel versehen und veröffentlicht als „Hefte zur Naturwissenschaft überhaupt, insbesondere zur Morphologie. Erfahrung, Betrachtung, Folgerung, durch Lebensereignisse verbunden“. Die autobiographischen Schriften wurden nach dem vorläufigen Abschluß von „Dichtung und Wahrheit“ fortgesetzt durch die „Italienische Reise“ (1816/17) und ihre späte Ergänzung, den „Zweiten Römischen Aufenthalt“ (1829), durch die Schilderung des Rochusfestes bei Bingen (1817) sowie 1822 durch die „Campagne in Frankreich“ und die „Belagerung von Mainz“. Über die literarische Produktion, die naturwissenschaftlichen Studien, über Reisen, Besuche und Lektüre orientierten die „Tag- und Jahreshefte“ oder „Annalen“ 1749-88 in großen Zügen, danach jahrweise bis 1822. 1821 konnte die fragmentarische Erstausgabe der „Wanderjahre“ erscheinen.

    Noch einmal wurde der Dichter in seinem 72. Lebensjahr von einer leidenschaftlichen Liebe erfüllt, als ihm in Marienbad 1821 die anmutige Ulrike, Tochter seiner Freundin Frau von Levetzow, begegnete und er sie in den Sommern von 1822 und 1823 dort wiedertraf und im Kreis dieser Familie vorwiegend verkehrte. Sogar an Wiederverheiratung dachte G. und ließ den Herzog als Brautwerber um die damals Siebzehnjährige bei der Mutter vorsprechen. Eine Zusage ergab sich nicht; ob eine klare Absage der Mutter oder der Tochter erfolgt ist, bleibt unbekannt. G. kehrte 1823 in der Stimmung eines Verzweifelten aus Marienbad heim und strömte seinen Abschiedsschmerz in der großen Elegie „Trilogie der Leidenschaft“ aus. Einen tröstlichen Nachgesang dazu enthalten die der Heilkraft der Musik gewidmeten, an die Petersburger Pianistin Marie Szymanowska gerichteten Strophen der „Aussöhnung“.

    Das letzte Jahrzehnt

    Die Jahre nach dieser schmerzlichen Erfahrung des Entsagenmüssens hat G. in fast klösterlicher Beschränkung auf sein Haus am Frauenplan ohne Bäderreisen und ohne die bisherigen Besuche in Jena zugebracht. Die Intensität seiner Tätigkeit in diesen Jahren hat er selbst 1828 als „grenzenlos, ja fast lächerlich“ bezeichnet. Ein Stab von Mitarbeitern und Helfern unterstützte ihn. Außer dem gelehrten Riemer und seinem zum Kammerherrn ernannten Sohn zog er den poetisch fühlsamen und ganz auf seine dichterische Arbeitsweise eingehenden Dr. Eckermann heran, der ihm 1823 Arbeiten vorgelegt und ihn dann besucht hatte. G. weihte ihn in seinen gesamten Werkstattvorrat ein und hat in ihm einen verständnisvollen Gehilfen und Nachlaßverwalter gefunden. Auch Heinrich Meyer arbeitete in den künstlerischen Schriften weiter mit G. zusammen, und drei bis fünf Schreiber waren dauernd von ihm beschäftigt.

    Der Interessenkreis G.s dehnte sich in diesen letzten Jahren noch immer aus. G. nahm Anteil an den Neuerscheinungen in der englischen, französischen und italienischen Literatur und prägte den Begriff der „Weltliteratur“. Mit den Naturforschern der ganzen Welt trat er in Briefverkehr, viele besuchten ihn. Seine Sammlungen ordnete er und baute sie aus: neben den naturwissenschaftlichen vor allem die der Kupferstiche und Münzen. Zu Tisch und des abends waren bei ihm fast immer Gäste; Besuche aus aller Welt fanden Zutritt und wurden dann unter Umständen eingeladen. G. und sein Haus wurde zu einem geistigen Mittelpunkt für die jüngere, die „romantische“ Generation nicht nur in Deutschland, sondern auch in England, wo Lord Byron und Carlyle für ihn eintraten. Die Gegnerschaft, die er in der Gruppe des „Jungen Deutschland“ fand, focht seinen Ruhm nicht an; schmerzlich war ihm nur der Widerstand mancher Naturforscher gegen seine Farbenlehre.

    Bis in seine letzten Lebenstage arbeitete er an der Vollendung seiner Hauptwerke und an der Ordnung seines Gesamtwerkes für den Nachlaß. Indem er den vierten Teil von „Dichtung und Wahrheit“ abschloß, rundete sich seine Autobiographie. Nur die Weimarer Jahre vor der Italienischen Reise wollte er nicht in|Prosa schildern; wie ein Mythos war ihm diese Epoche in der Erinnerung. Über das letzte Jahrzehnt aber konnten seine Mitarbeiter und Freunde Auskunft hinterlassen, und sie taten es. Neben den Tagebuchaufzeichnungen Riemers stehen die des Kanzlers von Müller, ferner die Unterhaltungen, die Soret, der Erzieher des Erbprinzen Carl Alexander, aufgeschrieben hat. Die bedeutendste Ergänzung der Autobiographie sind aber Eckermanns „Gespräche mit G.“ geworden, die mit G.s Wissen aufgezeichnet wurden. Bei großer Treue der Wiedergabe sind sie dank ihrer idealischen Stilisierung ein Meisterwerk der deutschen Literatur geworden.

    1829 wurden die „Wanderjahre“, nachdem sie wieder aufgelöst, ergänzt und neu komponiert worden waren, in endgültiger Fassung veröffentlicht in der „Ausgabe letzter Hand“, die 1827-30 in 40 Bänden erschien und zu der aus dem Nachlaß 20 weitere Bände von Eckermann und Riemer 1832-42 hinzugefügt wurden.

    Das letzte Hauptwerk, der zweite Teil des Faust, von dem nur Bruchstücke veröffentlicht waren, wurde noch 1831 vollendet und vom Dichter versiegelt; es sollte als Ganzes erst aus dem Nachlaß erscheinen. Wenige Wochen vor dem Tode brach G. das Siegel noch einmal auf und änderte einige Stellen.

    Der Plan war seit Schillers Tod bestimmt gewesen; hinsichtlich der Form hat G. den Freundesrat befolgt und an seinem „Faustrecht“ festgehalten. Die fünf Akte des zweiten Teils haben je ihre eigene poetische Stimmung. Der erste beginnt lyrisch und fährt dann in scharfem Kontrast satirisch-politisch fort; zuletzt wird ein phantasievoller Maskenzug revueartig vorgeführt. Der zweite bringt wieder einen Gestalten-Vorbeizug: die „Phantasmagorie“ des Besuchs in der klassischen Walpurgisnacht mit Homunculus im Mittelpunkt, mit einem opernartigen Schluß. Der dritte entfaltet die Helenaepisode zunächst im Stil einer antiken Tragödie, die aber in ein dramatisches Zauberspiel umschlägt. Der Ton des vierten Aktes – die Schlacht mit dem Gegenkaiser – hat Balladenton; und der Schlußakt bringt außer der Philemon-Baucis-Tragödie – ebenfalls im Stil einer dramatischen Ballade – die opernhafte Szenenfolge Palast – tiefe Nacht – Mitternacht – Grablegung und Himmelfahrt. Im ganzen Werk wechseln die satirischen, das trügerische Menschendasein sarkastisch schildernden Stellen mit hochpoetischen und positiven von metaphysischem Gehalt. Sie drücken durch ihren Kontrast eine Lebenssymbolik aus, die das Hauptthema – den Erlösungsgedanken – mannigfaltig umrankt. Faust altert, indem er dreimal verjüngt wird. Er steigert die Erfahrung der Lebensbedeutsamkeit, obgleich er zweimal die schwerste Schuld auf sich lädt. Er ist mit dem Satan und mit dem Häßlichsten – Phorkyas – im Bunde, indem er die Schönste – Helena – und das Reinste zu erwerben sucht. Die läuternde Liebe, die ihm alle Tatimpulse spendet, erweist sich dennoch als Nichterfüllung. Wie im ersten Teil Gretchen tragisch untergeht, so schwindet im zweiten Helena als Phantom dahin. Dennoch ist durch die Liebe zum klassischen Idol der Seelenkern Fausts gsewachsen und hat sich so verdichtet, daß er im Jenseits von unten auf sich in Mühe und Streben erneut entfalten kann. Daß dieser künftigen Entwicklung die Entfaltung aus Urzeiten entspricht, welche das Heutige erst ermöglicht, wird durch die Geschichte des Elementargeistes Homunculus abgebildet. Naturgeschichte und personale Entfaltung stehen aufeinander; der Eros verbindet sie. Es wird im ganzen Gedicht deutlich, wenn auch nur in wiederholter Andeutung, daß der „erfüllte Augenblick“, auf den sich der Teufelspakt bezog, nur als Vergöttlichung zu erwarten ist. Der Sinn erst des naturhaften, dann des geistigen Eros ist diese Erfüllung des Lebens in der Gotteseinung – aber sie ist im Irdischen nicht möglich. Das Dasein erhält Wirklichkeit und Gehalt nur durch die Sehnsucht nach der Fülle: in den vergänglichen Momenten, die der Teufel als nichtige ansieht. Selbst im Jenseits, in dem die Begnadung des sündhaften, aber sehnsüchtigen (strebenden) Menschen möglich ist, muß erneutes Wachstum, Arbeit und steigende Verdichtung des Seelenkernes weitergehen. Der erfüllte Augenblick und die Gottesnähe rücken abermals in die höchste Ferne, und die emporziehende Liebe wirkt dort reiner und intensiver weiter. Der Tod ist die letzte Verjüngung.

    In diese Leitgedanken ist eine Fülle naturphilosophischer und geschichtlicher Motive durch Symbole eingeflochten. Es wird die Atmosphäre des Römischen Reiches deutscher Nation geschildert, das Lernen von den Alten, die Vermählung antiker und moderner Poesie, die Geburt der romantischen Seele, deren tragisches Schicksal sich an Euphorion (mit Anspielung auf Lord Byron) beispielhaft erfüllt. Das Gedicht ist so zu einem Welt- und Lebenssymbol geworden, welches den Geist beschäftigt, ohne sich in rationalen Formeln erschöpfen zu lassen – freilich um den Preis, daß es die Verständlichkeit des ersten Teils nicht erreicht. Es ist gelehrte|Poesie und fast wie ein poetisches Selbstgespräch des Dichters. Aber es hat Symbole von einer in deutscher Dichtung zuvor nie erreichten Kraft geschaffen. Es ist von einer Phantasiefülle und im einzelnen von einer anschaulichen Plastik, die mit den höchsten Schöpfungen G.s gleichen Rang hat.

    Das gewaltige Arbeitspensum wurde durch einen rhythmisierten Tageslauf möglich. Die Arbeit begann morgens gegen 5 oder 6 Uhr mit Vorbereitungen und setzte dann, wenn der Schreiber kam, mit dem Diktat ein. In seinem schlichten Arbeitszimmer auf- und abschreitend hat G. später fast alle seine Schriften diktiert. Die Arbeit half auch über Krankheiten und schweren Abschiedsschmerz hinweg, als die nächsten Lebensgefährten vor ihm dahingingen. Am 6.1.1827 starb Charlotte von Stein, am 14.6.1828 Carl August, am 14.2.1830 die Herzogin Luise und am 26. Oktober desselben Jahres in Rom sein einziger, unglücklich an seinen Leidenschaften leidender Sohn. G. selbst erkrankte tödlich am 16.3.1832, nachdem er am Morgen noch einen Brief an Wilhelm von Humboldt diktiert hatte; er äußerte sich darin über den Zweiten Faust, dessen Veröffentlichung er scheute, weil er fürchtete, der „Dünenschutt der Stunden“ werde ihn zunächst überschütten – denn „verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt, und ich habe nichts angelegentlicher zu tun, als dasjenige, was an mir ist und geblieben ist, womöglich zu steigern und meine Eigentümlichkeiten zu kohibieren“.

    G. starb am 22.3.1832 halb zwölf mittags und wurde am 26. in der Fürstengruft neben den Särgen Schillers, Carl Augusts und der Herzogin beigesetzt.

    Literaturgeschichtliche Stellung

    Mit diesem Datum beginnt die postume Wirkungsgeschichte nicht nur der G.schen Schriften, sondern auch der Persönlichkeit als einer Gesamterscheinung. Das Phänomen G. kann zeigen, was Literatur für ein Sprachvolk, was sie darüber hinaus zu bedeuten vermag. Die Stellung, welche der Dichter den großen Lebensfragen gegenüber eingenommen hat, wirkte als eine durchgearbeitete Möglichkeit des Menschlichen weiter. Alle Völker Europas haben daran Anteil gehabt, wenn auch in verschiedenem Umfang, ihren nationalen Überlieferungen entsprechend. Vor allem ist die deutsche Bildung seither auf die geistige Gestalt G.s bezogen geblieben. Schon zu Lebzeiten des Dichters gab es einen großen Kreis persönlicher Verehrer; nach seinem Tode bildeten sie eine Art Gemeinde, die später (1885) durch die Goethe-Gesellschaft auch einen organisatorischen Halt bekam. Indes, eigentliche Popularität haben G.s Schriften bis auf einige nicht erreicht, und G. hat es selbst voraus gewußt: „Meine Sachen können nicht populär werden… Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind“ (zu Eckermann 11.10.1828). Für solche Einzelnen haben G.s Schriften ihre bildende Funktion entfaltet, und vielleicht Die Möglichkeit dazu liegt in der G.schen sogar in steigendem Maße.

    Auffassung von Poesie und Literatur begründet. Seine Schriften sind persönliche „Mitteilung“; sie beziehen sich auf Erlebtes; darin haben sie die eine Seite ihrer Wahrheit. Aber von der anderen Seite her gesehen, liegt „das Wahre“, das sie mitteilen wollen, in der Formung, im Erdichteten. Der Dichter steuert seine Lebensbahn so, daß alles Erlebte Form der Mitteilung gewinnen kann. Alles, wozu der „Dämon“ im Menschen drängt, was ihm durch den Zufall und das Schicksal zugeworfen wird, was Liebe weckt und zur schaffenden Hoffnung leitet – wie es in den „Urworten. Orphisch“ ausgesprochen ist –, das wird vom Dichter auf Formung hin verstanden. Das Leben wird selbst zum Gedicht. Das wach fühlende und gleichsam ständig auch denkende Herz erfaßt das Bedeutsame im Vorüberfluß des Lebens. Dies wird als „Wahrheit“ durch die Form offenkundig. Alle literarischen Gattungen stehen G. dabei zu Gebote: Lied, Hymne und Spruch, Drama, Novelle, Roman und Epos, Satire und Elegie, Aphorismus und Essay, Tagebuch und Brief. Jede Form erfaßt spezifische Möglichkeiten des Lebensaspektes. Einen reichen Schatz von Symbolen übernimmt der Dichter aus allen Traditionen, die er erreichen kann; aber er bildet sie selbständig weiter oder erfindet neue. Dabei zeigt sich vor allem die Tendenz, naturwahre, dem gegenwärtigen Leben entnommene Eindrücke in symbolische Gestalten oder Situationen zu verwandeln; umgekehrt auch alte symbolische Figuren in naturwahre, gegenwärtige Gebilde zurück zu übersetzen. So wenn G. sich als „Wanderer“ bezeichnet, wenn er seine Frauengestalten wie zeitgenössische Menschen schildert und sie zugleich als mythische oder legendäre Figuren erscheinen läßt: Gretchen, Mignon, Pandora, Ottilie, Makarie. In seiner Sprache zeigt sich der gleiche Zug. Der Vers nähert sich dem Umgangston und lebenswirklicher Herzenssprache, verläßt aber in den vollendeten Werken niemals die Region des|Poetischen, einer in der Phantasie gestifteten anderen Wirklichkeit.

    Von daher ist G.s literargeschichtliche Stellung bestimmbar. Die Impulse der Renaissance haben seit dem Trecento nach und nach die europäischen Sprachen zu modernen Literatursprachen werden lassen, wobei lateinische Formkraft und griechisches Denken das neue Schaffen inspirierten. In Deutschland war diese Wirkung noch nicht zur Fülle und erst recht nicht zur Reife gelangt, wie nacheinander im Italienischen, Spanischen, Holländischen, Französischen und Englischen. Die Werke der deutschen Barockdichter veralteten schnell. Die ihr folgenden Formgruppen, die der Aufklärung und des pietistischen Methodismus, hatten zwar bedeutende Denker, aber nur wenige Dichter hervorgebracht, die mit den westlichen vergleichbar gewesen wären. Lessing, Wieland, Klopstock und Herder begründeten zwar eine moderne deutsche Literatur; aber weder die Wiedererweckung antiken Formgefühls noch die Freiheit der Poesie im Erfinden neuer Symbole waren in Deutschland in voller Kraft zur Blüte gelangt. Die Reformation hatte die Geister zu tief aufgewühlt und sie in ernstere Empfindungen und Lebensprobleme gedrängt; das Spielen zog sich in die Musik zurück. Erst die Generation Herders und G.s bis hin zu Humboldt, Schiller, Fichte und den Romantikern konnte sich spät noch jener Renaissanceimpulse bemächtigen, sie mit den Erfahrungen der Reformation verbinden und produktiv machen. Von diesem Vorgang ist G. wie kein anderer erfüllt gewesen, und er hat die Entfaltung der neueröffneten Möglichkeiten vielfach angeführt oder sie entscheidend mitbestimmt.

    So ist er zuerst in den Jahren 1771 bis etwa 1775 der Wortführer des literarischen „Sturm und Drang“ gewesen; in dieser Epoche hat er die Sprache des Herzens, die Volkstümlichkeit in der Rede, die Lebenswahrheit der poetischen Gegenstände für die deutsche Poesie zurückgewonnen – in der Straßburger und Frankfurter Lyrik, im Werther, im Götz und im „Urfaust“. Auf der nächsten Stufe seines Schaffens, der frühklassizistischen bis 1786, ist es ihm gelungen, die Wiedererweckung des Altertums und die humanistisch-souveräne Lebensauffassung der Renaissance in die deutsche Welt einzubürgern – Iphigenie, Tasso und der Urmeister, Gedichte wie „Ilmenau“ und die an Charlotte von Stein bezeichnen diese Stufe seiner Gestaltungen. Es folgte der Hochklassizismus, der unter Kant-Schillerschem Einfluß stand, mit seinem ethisch-rationalen Impuls und dem Bewußtsein einer ästhetischen Theorie, die zu Idealität auch im Formalen nötigte. Die Römischen Elegien, Hermann und Dorothea, der Abschluß von Wilhelm Meisters Lehrjahren gehören dahin. In der nächsten Epoche, die um 1800 beginnt, kommen die romantischen Möglichkeiten der Poesie stärker zur Geltung. Die Romantiker konnten sich als Jünger G.s betrachten, wenn sie bloße Reflexionspoesie verwarfen, die Volksdichtung wiedererweckten, mittelalterliche Phantastik entfesselten. In einer Epoche aufgeklärten Denkens schufen sie dem ursprünglich Poetischen wieder Raum. Im Faust, im Wilhelm Meister, im Divan lebt Romantisches. Zuletzt gewann G. noch die Stufe seines Spätstils: die Sprache der Pandora, der Klassischen Walpurgisnacht, des Faust-Schlusses, die distanzierte Erzählkunst der Wanderjahre und der Wahlverwandtschaften, die milde Ironie und den Tiefsinn seiner späteren Sprüche und Aphorismen. Zu diesem Stil gehört auch die gleichsam schweigende Rede, wenn er ehrfürchtig offenbar werden läßt, was wesenhaft Geheimnis bleibt, wie im Divan, in den Gedichten „Gott und Welt“, in den Reflexionen um Makarie. Es entsteht so eine Literatur bis dahin unerreichter Verschmelzungen: antikische Anmut verbindet sich mit barockem Phantasieschwung, ironische Heiterkeit und Humor mit tiefem Ernst und dem Bewußtsein von Grenzen und Maßen, dem die Dämonien des Innern und die Abgründe der Existenz vertraut sind.

    In diesem Spätstil festigen sich die religiösen Anschauungen, deren Krisen und Schwankungen sowohl in der Autobiographie wie im Wilhelm Meister und Faust zum Ausdruck kommen. Nun kann G. sagen, anläßlich von Wielands Tod, daß ihm die Fortsetzung menschlicher Entfaltung jenseits des Todes eine Gewißheit sei; über alle Zweifel hin bleibt er im Urvertrauen geborgen. Daß er als Poet Polytheist, naturforschend Pantheist und im Ethischen Monotheist sei, bedeutet für ihn keinen Widerspruch. Der Spätstil bringt alle Lebensbezüge in ihre metaphysische Transparenz – so im Buch Suleika, im Buch des Paradieses, in den Makariegesprächen der Wanderjahre und den dazu gehörenden Aphorismen. In der Auffassung vom Menschen und vom Lebensweg werden in der späten Epoche G.s alle positiven Traditionen Europas wieder lebendig. Im zweiten Teil des Faust wird das sogar zum poetischen Thema.

    Freilich hat gerade dieser späte Stil keine geistige Bewegung ausgelöst, wie G. auch von keiner solchen mehr abhängig war. Außerhalb des deutschen Sprachraums ist G.s letzte Epoche noch kaum wirksam geworden.

    Naturforschung

    Die naturwissenschaftlichen Schriften, die bald nach den Italienreisen veröffentlicht wurden, lassen noch nicht erkennen, wie umfassend G.s Naturforschung war. Wenn er meinte, Denken sei mehr als Wissen, Schauen mehr als Denken, so hat er auf allen diesen drei Stufen der Naturbeobachtung ausdauernd und tiefdringend gearbeitet. Eine Gesamtanschauung lag seinen Forschungen zugrunde; philosophische und methodologische Ideen leiteten ihn; sein positives Wissen in verschiedenen Regionen der Naturforschung wuchs ständig an und entsprach auf morphologischem Gebiet dem damaligen Stand des Wissens. 43 Jahre hat ihn die Farbenlehre beschäftigt, deren umfassenden Entwurf er 1808/10 in einem dreibändigen Werk vorlegte. Die morphologischen Studien, die in kleinen Aufsätzen und in fragmentarischen Stücken aufgezeichnet waren, wurden zwischen 1817 und 1824 gesammelt und in Heften veröffentlicht, welche die äußere Form einer Zeitschrift annahmen. Sie wurden aber zu einem Ganzen verbunden durch einen autobiographischen Rahmen und ergänzt durch die naturphilosophischen Elegien, die Gedichtsammlung „Gott und Welt“ und durch Aphorismen, die sich in den „Wahlverwandschaften“, den „Wanderjahren“ und im Nachlaß finden.

    So eng die Verbindung naturphilosophischer Motive mit der Poesie G.s ist, so sollte die spezifisch wissenschaftliche Bedeutung seiner Naturforschung darüber nicht unterschätzt werden. Die Farbenlehre ist ein folgerecht aufgebautes Werk, das zu großen Teilen auf klar exponierten Untersuchungen beruht. Leider ist sie durch eine falsche Polemik gegen die Physik Newtons belastet; die Möglichkeit und Berechtigung des Newtonschen Verfahrens blieben G. unbegreiflich. Anderseits ist auch seiner Betrachtungsweise die Berechtigung und methodische Möglichkeit nicht abzusprechen, wenn auch diese Forschung keine technischen Aufwendungsmöglichkeiten bietet; für den Künstler ist sie jedoch aufschlußreich. Was sie leistet, ist Phänomenverdeutlichung. Sie zeigt den Anteil des Subjekts am Wahrnehmen der Erscheinungen und macht die erlebte Wirklichkeit zum Ausgangspunkt ihrer Gestaltbeschreibung. Analogien in den Gestaltungen werden als Baugesetze der Natur gedeutet; das Betrachten erhebt sich an zahlreichen Punkten zum Ahnen von Zusammenhängen und gipfelt in der Vergewisserung, daß schöpferische und strukturierende Kräfte in der Natur am Werk sind. Diese Vergewisserung hat einen religiösen Charakter.

    Am deutlichsten konnte dieser Weg in der Erforschung der Farbwelt beschritten werden. Zwischen Licht und Finsternis baut sich die Zwischenregion der farbigen Welt auf. Sie entsteht ebenso durch die Verwandlungen des Lichtes unter der Wirkung des trübenden Dunkels, wie durch die Eigenfarben der Objekte des Sehens, wie durch eine subjektive und emotional getönte innere Farberwartung. Das Auge ist seinem Bau nach farbenhaft; die Eigenfarben der Dinge sind Bezüge zum Licht. Und der Farbenkreis selbst hat eine Struktur – die kontrastierenden Grundfarben Blau und Gelb neutralisieren sich zum Grün und steigern sich zum Purpurrot.

    Auch in anderen Regionen der Natur suchte G. nach phänomenalen Strukturen und bemühte sich, unter ihnen Analogien zu finden. Das Verhalten der Kristalle zum Licht wie das der Pflanzen zur Sonne und zum Dunkel der Wurzelregion scheinen ihm auf verwandten Gestaltungstendenzen zu beruhen. Die Analogien reichen in die Sittenwelt hinein – etwa als „Polarität“ und „Steigerung“, oder im Motiv der „Wahlverwandtschaften“ – und zeigen sich auch im Schaffen der Künstler. Alle diese teils schaubaren, teils nur zu ahnenden Zusammenhänge öffnen den Blick für das einzelne, für die bestimmte Landschaft und für die Variationsfülle in den Erscheinungen.

    Der religiöse Zug in diesen Ideen ist unverkennbar. „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“; das Licht ist ein Symbol Gottes. Zeigen sich G.s Naturbetrachtungen dadurch als Abkömmlinge antiker Philosopheme und mystischer Spekulation, so verhält sich der Dichter doch im einzelnen als strenger Forscher. Mit den empirisch gerichteten Naturforschern seiner Zeit stand er persönlich und brieflich in Verbindung; er zeigt sich als voll unterrichtet und mitforschend mit den bedeutendsten Naturwissenschaftlern verbunden, etwa mit dem Geologen Abraham Gottlieb Werner oder mit Alexander von Humboldt.

    Universales Streben und Bescheidung

    Die Auslegungen des G.schen Gesamtstrebens widersprechen sich, und sie können nicht einheitlich sein. Das ist nicht nur eine Folge seiner vielstufigen Entfaltungen, deren verschiedenen Ausprägungen sich spätere Generationen in wechselndem Maße verbunden fühlten. Der Dichter erscheint in so vielen Maskierungen und Kunstformen, daß die Kritik einem Proteus gegenübersteht, der sich nicht fangen läßt.

    Dennoch hat dieses Streben seine innnere, biographisch-historisch bedingte Einheit: Der Dichter hat in seinem Lebensgang die geistigen Landschaften unseres Kulturkreises durchwandert und auch mit fremden Kulturen Kontakt gesucht; er hat die Möglichkeiten einer deutschen Poesie in einem weitesten Umfang aufgespürt: sowohl biblische und hebräische wie arabisch-persische, heidnisch-antike und mittelalterliche Literatur und Poesie hat er sich zuzueignen gewußt; auch die geistigen Formen seines Jahrhunderts hat er alle durchwandert: Barock, Aufklärung, Anakreontik, Pietismus und englische Frühromantik, bis er die selbständige Formenwelt seiner Epoche mit erfand und durch Krisen hindurch zu ihren klassischen Reifepunkten steigerte. Die Klassik G.s ist jedoch nicht der Klassizismus gewesen. Dieser blieb nur eine der Formmöglichkeiten unter mehreren anderen. Alle seine vollendeten Schriften besitzen eine innere Verwandtschaft der Form und sind in der späteren Epoche auch einheitlich dem Gehalt nach. Sein persönlicher Ton ist in allen seinen Äußerungen hörbar; die Auffassung von Gott, Welt und Leben, von Schönheit, Ethos und Welterkenntnis prägt sich einheitlich aus.

    Die Wandlungsfähigkeit und Offenheit für Erfahrung wie Formung gehören aber wesentlich zu seinem Weltbild hinzu: denn „…so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde“. Er hat mit Recht von einer wiederholten Pubertät in seiner Entwicklung gesprochen; das bezieht sich auch auf die Durchbrüche neuen Formwillens. Wenn er Shakespeare, dann, in den Elegien, Ovid und Properz, dann wieder Homer, das Buch Hiob, das Sonett der Italiener, den Perser Hafis „nachbildet“, dann die jambischen Trimeter im Helenaakt des Faust und die kühnen Rhythmen in der Pandora, in der Klassischen Walpurgisnacht, im Faustschluß erfindet, so entstehen klassische deutsche Sprachformen, die weder klassizistische noch romantische Nachahmung sind, sondern neue Gebärden in die Weltliteratur einführen.

    Der Universalismus seiner literarischen Formenwelt ermöglicht ihm eine völlig individuelle Gestalt. Das gilt zugleich von seinem universalen Streben überhaupt. G. ist von seinern ersten Auftreten an nicht nur gerühmt, sondern auch heftig kritisiert worden, wobei bis in die jüngste Zeit eine moralistische Tendenz diese Kritik kennzeichnet, die an dem sittlichen Gehalt der G.schen Lebensform meist vorbeisieht. Sein universales Streben, heißt es, habe ihn in dilettantische Betätigungen verstrickt, die keine Resultate bringen konnten, während er sich von seiner eigentlichen Berufung, der poetischen, dadurch habe abbringen lassen. Er hat selbst gelegentlich geäußert, daß er im Poetischen mehr hätte leisten können, etwa weitere Stücke in der Art des Clavigo oder Epen wie Hermann und Dorothea verfassen. Aber er hat sich beschränkt. Jedes seiner gelungenen großen Werke stellt das Muster einer Gattung dar, dem er in derselben Form andere folgen zu lassen sich versagte. Diese Sparsamkeit, diese freiwillige Eingrenzung und sein universales Streben stehen in Zusammenhang.

    Wenn es auch wahr sein mag, daß G. sich in die Details der Weimarer Verwaltungsgeschäfte in höchst zeitraubender Art eingelassen, an die Farbenlehre jahrelang einen Hauptteil seiner Arbeitskraft gewendet hat, so wäre er ohne solche Digressionen nicht Goethe geworden, weder der Form noch dem Gehalt nach. Das universale Streben war eine Erbschaft der Renaissance und hatte eine religiöse, ethische und ästhetische Motivation. In der Tendenz der Renaissance war enthalten, daß der Mensch seiner Bestimmung und „Natur“ nach ein Gleichnis des Universums sei: „Im Innern ist ein Universum auch“. Der Mensch soll sich zu diesem Gleichbild auch willentlich gestalten. Das führt zum universell gebildeten Individuum, aber Individuum bedeutet Grenze, Beschränkung. G. sieht – im Gegensatz zu den pathetischen Universalisten der Renaissance und des Sturm und Drang –, daß „Resignation“, „Entsagung“, bewußte Bescheidung und Grenzziehung die Bedingung des universalen Strebens sind; dieses wird pathologisch, wenn die Entsagung verworfen wird oder mißlingt. Tasso, Wilhelm Meister und Faust stellen diese Einsicht poetisch dar.

    G. hat in seiner Lebensführung diesem Gedanken nachgelebt, und so ist sein Universalismus zu verstehen, aber auch seine Selbstzucht.

    Was seine Selbstbegrenzung betrifft, so ist auch sie von seinen Kritikern oft mißverstanden worden, ist aber auch nicht ohne Schuld geblieben. Dem jungen G. wurde seine tätige Hingabe an den Lebenskreis, in den er eintrat, wurden herzliche Freundschaft und leichter geselliger Kontakt nachgerühmt; der spätere G. galt vielen Besuchern als kalt und geheimrätlich distanziert. In diesen Distanzierungen lag ein Akt bewußten Resignierens.|Seine starken Empfindungen, die innigen Herzensbindungen und intensiven Interessen mußte der Dichter als Gefährdungen erkennen; wenn ihn Mitgefühl nicht zerstören, Interesse nicht völlig zerstreuen sollte, bedurfte es eines Rückzugs, der ihn wieder „ins Gleichgewicht setzen“ sollte. Man hat dieses Sich-Distanzieren und häufige Flüchten, Abbrechen von Beziehungen als einen Selbstschutz zu interpretieren, desr dem Dichter notwendig war. G. hat das Schutzbedürfnis des produktiven und leidenden Personkerns als Analogon des Schutzes aufgefaßt, den die Pflanze durch ihre Schale ihrem Kern und ihrer Frucht gönnt. Die Sorge um das Unberührt-Halten eines inneren Quellens der Bilder und Gedanken, der Herzensneigungen und Interessen hat auch einen religiösen Zug. G. folgt darin dem mystischen Typus: im Innern spricht ein Göttliches. Aber dieses läßt sich für ihn nicht durch mystische Technik offenbaren, sondern bleibt ein Geheimnis, dem Ehrfurcht gebührt. Diesem inneren Leben gilt jener Distanz haltende Selbstschutz, welcher der Hingabe, der Liebe und der Affektation durch die Weltfülle das Gegengewicht hält. Der Mensch muß lernen, „das Unerforschliche ruhig zu verehren“ und „das Erforschliche zu erkennen“; jene Ehrfurcht und die Erkenntnis bleiben in Bezug zueinander. Das universelle Streben, mit dieser Resignation verquickt und durch sie wieder sehend, ist demnach nichts Ablenkendes, sondern eine eigentliche Lebensaufgabe, von der auch die Poesie getragen ist. Es richtet sich sowohl nach außen wie nach innen – auf die Natur wie auf das menschliche Innere und seine Geschichtlichkeit. Es drängt daher auch zu einer aktiven, welttätigen, wie zu einer kontemplativen, schauend-erkennenden Haltung. Ethisch kommt es auf die Einheit dieser Polaritäten an, auf „Denken und Tun“, „Sinn und Tat“, „Idee und Liebe“.

    Indem das universelle Streben auf diese Einheit als seinen Mittelpunkt konzentriert blieb, konnte G. eine gewaltige Breite der Tätigkeit entfalten und zugleich auf seine Gesamtaufgabe gesammelt bleiben. Daher die gleichmäßige Intensität, mit der G. nach entgegengesetzten Polen hin tätig und zugleich immer mit dem Kern seiner Person beteiligt erscheint. Er schaut die Natur, aber er ist auch gegen sie tätig. Er schaut sie als Landschaftsmaler, als Poet in ihren Analogien zum menschlichen Innern, aber auch wie sie für sich selbst ihr schaffendes Leben hat, sowohl die wilde Natur der Alpen wie die „wohlangebauten“ Landschaften, die er als Park und Garten auch gern gestaltet. Als Bergmann wird er „bergkundig“. Dann tritt er als Naturforscher hervor – als Anatom und Osteologe, als Geologe und Mineraloge, als Morphologe der Pflanzen- und Tierwelt, als Physiker, der Farben und Licht studiert, als Beobachter von Wetter und Wolkenbildung. Außerhalb seiner Betrachtung bleibt nur das rein Abstrakte an der Natur, das Mathematisierbare, und die dunkle Region der Wurzeln und des Verwesens – wie er in der Architektur auch nichts von den Kellergeschossen und Fundamentnöten erfahren mag.

    In der menschlichen Region interessiert ihn als Poeten das Getriebe im Herzen und in der Region der Leidenschaften, wird er zum „Sittenbetrachter“, aber auch zum Betrachter der Werkwelt und ihrer Beziehungen zum menschlichen Innern. So freut ihn jede Begegnung mit dem praktischen Leben; und wenn ihn auch die Advokatur nicht fesseln konnte, so hat er die Regierungsgeschäfte im weimarer Lande als Beamter ernst genommen. Man hat ironisch registriert, daß er einem allzu kleinen armen Lande diente, daß er sich mit geringfügigstem Detail in den Verwaltungsgeschäften des Ministeriums befaßt habe, mit eigenhändiger Aufstellung einer Bücherei für die Jenaer Bibliothek. Aber im Detail steckte für ihn das Interessante und das Typische; er hat sich nicht hineinverloren. Praxis wird nur erfahrbar, wenn sie solid ist. Schließlich ist sein Interesse an Sammlungen darum bezeichnend, weil auch hier – in Münzen, Majoliken, Kupferstichen, Gesteinen, biologischen Abnormitäten – das Individuelle in der Reihung bedeutsam, das Typische in der Sammlung markant wird.

    So ist auch sein Interesse am Historischen zweipolig: Vertiefung in das Kleinste, aber Charakteristische sucht er ebenso wie Orientierung in den weitesten historischen Horizonten. Praktisch war er ins Spiel der Geschichte durch die diplomatischen und militärischen Interessen des Herzogs einbezogen. Schauend, erzählend, darstellend aber ist er am Beginn der historisch denkenden Epoche einer ihrer führenden Schriftsteller geworden. Alle Stufen der historischen Darstellung finden sich bei ihm – außer der einer politisch-dynastischen Geschichtsschreibung.

    So ist er ein Muster der historischen Publizistik im edelsten Sinne – etwa in der Schilderung des Rochusfestes 1814 –, er verfaßt die erste Autobiographie, in welcher der Autor seine individuelle Position als umgriffen von der epochalen dargestellt hat – besonders im 7. Buch von „Dichtung und Wahrheit“, aber auch in der Anlage des ganzen Werks. Auch in seinem großen Bildungsroman werden die Schicksale des Helden in Lebensstufen eingeordnet, welche den historischen Epochen der Goethezeit und gleichzeitig den welthistorischen Epochen des Menschen entsprechen. Dann tritt G. als Biograph hervor, durch die Übersetzung von Cellinis Selbstbiographie, durch das Buch über „Winckelmann und sein Jahrhundert“ und das über Philipp Hackert. Der historische Essay ist in glänzenden Darstellungen vorhanden – etwa in der Schilderung der Kaiserkrönung Josephs II. oder des Heiligen Filippo Neri. G.s Gedanken zur vergleichenden Weltgeschichte sind konzentriert in den „Noten und Abhandlungen zum West-Östlichen Divan“ enthalten. In die geschichtsphilosophische Anthropologie, wie sie ihm benachbart erst Herder, dann Schelling und Hegel entwickelt haben, führt sein knapper, aber inhaltsschwerer Aufsatz „Geistesepochen“, dessen Konzeption sowohl seiner Autobiographie wie den Wanderjahren zugrunde liegt. Vergleicht man aber die Universalität, die G. angestrebt hat, mit derjenigen der Renaissance, so ist die ältere durch ihren utopischen, ja hybriden Charakter von seiner demütigen und realistischen Auffassung unterschieden. Nicht der Einzelne, nur die Geselligkeit, die Gemeinschaft, die Liebe machen nach G. universell. Der Einzelne weitet sich, indem er am anderen teilnimmt; aber nur dadurch hat er dem anderen etwas zu geben, daß er sich in sich zu sammeln, seine Individualität schaffend zu erhalten versteht. Daher konnte G. mit sehr einfachen schlichten Menschen verkehren, wenn sie eine Seite hatten, in der sie sachverständig waren oder sich als menschlich erfahren zeigten. Die Polarität der Interessen ist fruchtbar, wenn sie einander steigern. Die Ausbildung des Individuums folgt dem gleichen Gesetz, dem auch die Natur gehorcht, die aus der Polarität von Besonderheiten „gesteigerte Gestalten“ erzeugt. Die Universalität des Geistes und des Herzens ist nur auf der Basis des Entsagens möglich – sie muß dem hybriden Universalstreben entsagen und dennoch sich strebend mühen, das heißt, sich in den gesetzten Grenzen zu steigern und mitzuteilen suchen. Dieser Grundgedanke, der sowohl die Ethik wie die Ästhetik des späten G. beherrscht, weist nicht nur, wie vieles aus den letzten Werken, voraus auf die veränderte Stellung des Menschen in der modernen Welt. Er gilt uns darüber hinaus als eine der zentralen klassisch-exemplarischen Einsichten G.s, die er mit einer ungemeinen Energie und Geistesfülle gelebt hat.

  • Werke

    wichtigste Ausgg.: G.s Schrr., 8 Bde., Leipzig 1787-90 (b. G. J. Göschen);
    G.s Neue Schrr., 7 Bde., Berlin 1792-1800 (J. F. Unger);
    G.s Werke, 13 Bde., 1806-10 (J. G. Cotta);
    dass., 20 Bde., 1815-19 (Cotta);
    G.s Werke, Vollst. Ausg. letzter Hand. 40 Bde., 1827–30, dazu Bd. 41-60: G.s Nachgelassene Werke, hrsg. v. J. P. Eckermann u. F. W. Riemer, 20 Bde., 1832-42 (Cotta); grundlegende krit. Ausg.:
    G.s Werke, hrsg. im Auftrag d. Ghzgn. Sophie v. Sachsen, 1. Abt.: Werke, 55 Bde. (in 63), 2. Abt.: Naturwiss. Schrr., 13 Bde. (in 14), 3. Abt.: Tagebücher, 15 Bde. (in 16), 4. Abt.: Briefe, 50 Bde., 1887-1919 („Weimarer“ oder „Sophien-Ausg., ohne Kommentar);
    G.s Werke, hrsg. v. K. Heinemann, 30 Bde., 1901-08;
    G.s Sämtl. Werke, Jubiläums-Ausg., hrsg. v. E. v. d. Hellen, 40 Bde. u. 1 Bd. Register, o. J. [1902-12] (Cotta);
    G.s Sämtl. Werke, Propyläen-Ausg., hrsg. v. C. Höfer u. C. Noch, 45 Bde., 1 Suppl.- u. 3 Erg.bde., 1909-32 (Werke u. Briefe in chronolog. Ordnung; ohne Kommentar);
    G.s Werke, Festausg., hrsg. v. R. Petsch, 18 Bde., 1926 f.;
    G., Gedenkausg. d. Werke, Briefe u. Gespräche, hrsg. v. E. Beutler, 24 Bde. us. 2 Erg.bde., 1948-63 („Artemis-Ausg., bis auf wenige Bde. ohne Kommentar);
    G.s Werke, hrsg. v. E. Trunz u. a., 14 Bde., 1948–60, 4 Erg.-Bde. (Briefe), 1963 ff. („Hamburger Ausg., Ausw. mit reichen Anm. u. Bibliogr., in Bd. 14 Zeittafel zu G.s Leben u. Werk v. H. Nicolai);
    Werke G.s, hrsg. v. d. Dt. Ak. d. Wiss. zu Berlin, 1952 ff. (Einzelbde.). - Der junge G., hrsg. v. M. Morris, 6 Bde., 1909–12, 2., neu bearb. Ausg. v. H. Fischer-Lamberg, 5 Bde., 1963 ff.

  • Schriften

    G., Die Schrr. z. Naturwiss., hrsg. im Auftrag d. Dt. Ak. d. Naturforscher (Leopoldina), 1. Abt.: Texte, 2. Abt.: Ergg. u. Erll., 1947 ff. - G.s Amtl. Schrr., hrsg. v. W. Flach, 1950 ff. (bisher Bd. 1). - Für die einzelnen Werke s. W. Hagen, Die Gesamt- u. Einzeldrucke v. G.s Werken, 1956.

  • Briefe

    Briefe s. Weimarer Ausg., 4. Abt. (Tagebücher: 3. Abt., die d. ital. Reise auch: Schrr. d. G.-Ges. Bd. 2) u. Gedenkausg. - Briefwechsel mit: Carl August, hrsg. v. H. Wahl, 3 Bde., 1915-18; seiner Frau, hrsg. v. H. G. Gräf, 2 Bde., 1916, G.s Ehe in Briefen, 1937; W. u. A. v. Humboldt, hrsg. v. L. Geiger, 1909; Kestner u. Lotte, hrsg. v. E. Behrend, 1914; K. L. v. Knebel, hrsg. v. G. E. Guhrauer, 2 Bde., 1851; Reinhard, [hrsg. v. O. Heuschele], 1957; Schiller (zuerst 1828 f.), neu hrsg. v. H. G. Gräf u. A. Leitzmann, 3 Bde., 1912, erweitert 1955; Charl. v. Stein, hrsg. v. J. Fränkel, 3 Bde., 1960 f.; Marianne v. Willemer, hrsg. v. M. Hecker, ⁵1937; Zelter, hrsg. v. dems., 3 Bde., 1913-18; in Schrr. d. G.-Ges. erschienen (als Bd. Nr.): 2: Tagebücher u. Briefe aus Italien an Frau v. Stein u. Herder, hrsg. v. E. Schmidt, 1886; 5: mit Freunden u. Kunstgenossen in Italien, hrsg. v. O. Harnack, 1890; 13 f.: G. u. d. Romantik, hrsg. v. C. Schüddekopf u. O. Walzel, 2 Bde., 1898 f.; 16: G. u. Lavater, Briefe u. Tagebücher, hrsg. v. H. Funck, 1901; 17 f.: G. u. Österreich, hrsg. v. A. Sauer, 1902 f.; 32, 34-35, 2: Heinr. Meyer, 4 Bde., hrsg. v. M. Hecker, 1917-33; 51: Ph. O. Runge, hrsg. v. H. Frhr. v. Maltzahn, 1940; 53 ff.: Chr. G. Voigt, hrsg. v. H. Tümmler, 4 Bde., 1949-62. - Laufende Ergg. d. Briefwerks bes. in: Goethe, Jb. d. G.-Ges.

  • Gespraeche

    Gespräche (s. auch Gedenkausg.): G.s Gespräche, hrsg. v. Wold. Frhr. v. Biedermann, 10 Bde.,|1889-96, neu hrsg. v. Flod. Frhr. v. Biedermann, 5 Bde., 1909-11; J. P. Eckermann, Gespräche mit G., 3 Bde., 1836–48, neu hrsg. v. H. H. Houben, 1925 u. ö.; F. W. Riemer, Mitt. üb. G., 2 Bde., 1841, neu hrsg. v. A. Pollmer, 1921; F. Soret, Conversations avec G., Paris 1932, dt. u. d. T. Zehn Jahre mit G., übers. u. hrsg. v. H. H. Houben, 1929; Kanzler v. Müller, Unterhaltungen mit G., hrsg. v. E. Grumach, 1956; S. Boisserée, Tagebuch s. Rheinreise mit G., in: E. Firmenich-Richartz, Die Brüder Boisserée I, 1916.

  • Zeichnungen

    Zeichnungen: Corpus d. G.-Zeichnungen, hrsg. v. G. Femmel, 1958 ff. (I: bis z. ital. Reise).

  • Literatur

    | Bibliogrr.: G.-Bibliogr., v. H. Pyritz unter Mitarb. v. P. Raabe, fortgeführt v. H. Nicolai u. G. Burkhardt, 1955 ff.;
    Goedeke IV, 2-5; laufend in:
    Goethe, Jb. d. G.-Ges.; Ausw. in:
    G.s Werke (Hamburger Ausg.), 1948-60 (nach d. einzelnen Werken u. in Bd. 14). - Handbücher u. Lexika:
    G.-Hdb., hrsg. v. J. Zeitler, 3 Bde., 1916–18, 2. vollkommen neugestaltete Aufl. hrsg. v. A. Zastrau, 1955 ff.;
    G. üb. s. Dichtungen, hrsg. v. H. G. Gräf, 9 Bde., 1901-14;
    Die Entstehung v. G.s Werken in Dokumenten, hrsg. v. M. u. K. Mommsen, 1958 ff.;
    G.-Taschenlex., begründet v. Heinr. Schmidt, neu bearb. v. K. J. Obenauer, 1955;
    Paul Fischer, G.-Wortschatz, 1929;
    G.-Wörterbuch, hrsg. v. d. Dt. Ak. d. Wiss. zu Berlin (in Bearb., noch nichts ersch. außer Vorarbb.);
    H. Ruppert, G.s Bibliothek, 1958;
    E. v. Keudell, G. als Benutzer d. Weimarer Bibl., e. Verz. d. v. ihm ausgeliehenen Werke, 1931. - Periodica u. Reihen:
    G.-Jb. 1-34, 1880-1913 (3 Bde. Register), fortges. als:
    Jb. d. G.-Ges. 1-21, 1914-35 (Register 1936), fortges. als:
    Goethe, Jb. d. G.-Ges. (anfangs Vj.- bzw. Viermonatsschr. d. G.-Ges.), 1936 ff.;
    Schrr. d. G.-Ges., 1885 ff. (bisher 57 Bde., meist Brief- u. Qu.publ.).
    Biogrr. u. Deutungen:
    ADB IX (M. Bernays);
    Herm. Grimm, G., 2 Bde., 1877 u. ö.;
    H. Düntzer, G.s Leben, 1880, ²1883;
    W. Scherer, Aufsätze üb. G., 1886;
    V. Hehn, Gedanken üb. G., 1887 u. ö.;
    A. Bielschowsky, G., 2 Bde., 1896-1904, 421922 (erfolgreichste volkstüml. Darst.);
    W. Dilthey, Das Erlebnis u. d. Dichtung, 1906;
    G. Simmel, G., 1913, ⁵1923;
    F. Gundolf, G., 1916 u. ö.;
    B. Croce, G., Bari 1919, dt. v. J. Schlosser, 1920;
    W. Bode, G.s Leben, 9 Bde. (reichen bis 1798, Bd. 8 u. 9 v. V. Tornius), 1919-27;
    H. A. Korff, Geist d. Goethezeit, 5 Bde., 1923-57;
    K. Burdach, Vorspiel, Bd. 2: G. u. s. Za., 1926;
    E. Spranger, G.s Weltanschauung, 1933, ²1943 u. ö.;
    E. Beutler, Essays um G., 2 Bde., 1941-47 u. ö.;
    B. Fairley, A Study of G., Oxford 1947, dt. 1953;
    K. Viëtor, G., Dichtung, Wiss., Weltbild, 1949;
    Spiegelungen G.s in unserer Zeit, hrsg. v. Hans Mayer, 1949 (G.-Stud. v. W. Benjamin, H. v. Hofmannsthal, G. Lukács, K. Kerenyi, Th. Mann, E. Staiger, E. Vermeil, H. Wölfflin);
    J.-F. Angelloz, G., Paris 1949;
    A. Fuchs, G., Un homme face à la vie, I, Paris 1946;
    G. Lukács, G. u. s. Zeit, 1953;
    E. Staiger, G., 3 Bde., 1952-59;
    Günther Müller, Kleine G.biogr., ³1955;
    H. Pyritz, G.-Stud., 1962;
    W. Schadewaldt, G.-Stud., Natur u. Altertum, 1963. - Für d. Spätzeit: P. Hankamer, Spiel d. Mächte, 1943 u. ö.;
    W. Flitner, G. im Spätwerk, 1947 u. ö.;
    P. Stöcklein, Wege z. späten G., 1949 u. ö.;
    H. J. Schrimpf, Das Weltbild d. späten G., 1956.
    Speziellere Aspekte:
    K. J. Obenauer, G. in s. Verhältnis z. Religion, 1921, ²1933;
    E. Franz, G. als rel. Denker, 1932;
    F. Weinhandl, Die Metaphysik G.s, 1932;
    H. Leisegang, G.s Denken, 1932;
    H. Schmitz, G.s Altersdenken im problemgeschichtl. Zusammenhang, 1959;
    E. Cassirer, G. u. d. geschichtl. Welt, 1932;
    F. Meinecke, Die Entstehung d. Historismus, 1936 u. ö.;
    W. Mommsen, Die polit. Anschauungen G.s, 1948;
    A. Bergsträsser, G.s Image of Man and Society, Chicago 1949;
    - F. Strich, G. u. d. Weltliteratur, 1946;
    M. Jolles, G.s Kunstanschauung, 1957;
    Ch. Schuchardt, G.s Kunstslgg., 3 Bde., 1848 f.;
    H. v. Einem, Btrr. zu G.s Kunstauffassung, 1956;
    ThB;
    R. Benz, G. u. d. romant. Kunst, 1940;
    G. u. d. Antike, hrsg. v. E. Grumach, 2 Bde., 1949;
    H. Trevelyan, G. and the Greeks, Cambridge 1941, dt. 1949;
    W. Rehm, Griechentum u. G.zeit, 1936;
    J. Boyd, G.s Knowledge of English Literature, Oxford 1932;
    G. and Byron, hrsg. v. J. G. Robertson, London 1925;
    H. Oppel, Das Shakespeare-Bild G.s, 1949;
    G. et l'esprit français, hrsg. v. A. Fuchs, Paris 1958;
    H. H. Schäder, G.s Erlebnis d. Ostens, 1938.
    Dichterisches Werk:
    F. Sengle, G.s Verhältnis z. Drama, 1937;
    W. Emrich, Die Symbolik v. Faust II, ²1957;
    St. Atkins, G.s Faust, A Literary Analysis, Cambridge, Mass. 1958;
    W. Rasch, Tasso, Die Tragödie d. Dichters, 1954;
    V. Bänninger, G.s Natürliche Tochter, Bühnenstil u. Gehalt, 1957;
    - R. Riemann, G.s Romantechnik, 1902;
    H. Reiss, G.s Romane, 1963;
    H. Schöffler, Die Leiden d. jungen Werther, ihr geistesgeschichtl. Hintergrund, 1938;
    Friedrich Schlegel, Über G.s Meister, in: Athenäum 1, 2. Stück, 1798;
    M. Wundt, G.s Wilhelm Meister u. d. Entwicklung d. modernen Lebensideals, 1913, ²1932;
    Günther Müller, Gestaltung, Umgestaltung…, 1949;
    K. Schlechta, G.s Wilhelm Meister, 1953;
    A. Gilg, Wilhelm Meisters Wanderjahre u. ihre Symbole, 1954;
    A. Henkel, Entsagung, e. Studie zu G.s Altersroman, 1954;
    K. Jahn, G.s „Dichtung u. Wahrheit“, 1908;
    W. v. Humboldt, Ästhet. Versuche I, Über G.s Hermann u. Dorothea, 1799;
    V. Hehn, Über G.s Gedichte, 1911;
    M. Kommerell, Gedanken üb. Gedichte, 1943;
    W. Preisendanz, Die Spruchform in d. Lyrik d. alten G.…, 1952.
    Naturwiss.:
    G. u. d. Naturwiss., e. Bibliogr., v. Günther Schmid, 1940;
    R. Magnus, G. als Naturforscher, 1906;
    K. Hildebrandt, G.s Naturerkenntnis, 1947;
    G. u. d. Wiss., Vorträge anl. d. Internat. Gel. Kongresses zu Frankfurt a. M. Aug. 1949, 1951;
    R. D. Gray, G. the alchemist, New York 1952. - Weitere Tätigkeiten: J. A. v. Bradish, G.s Beamtenlaufbahn, New York 1937. - W. Flemming, G.s Gestaltung d. klassischen Theaters, 1949;
    H. Kindermann, Theatergesch. d. G.zeit, 1949;
    - Musik: F. Blume, in: MGG V, 1956, Sp. 432-57;
    Gedichte v. G. in Kompositionen s. Zeitgenossen, hrsg. v. M. Friedländer, 2 Bde., 1896-1916, = Schrr. d. G.-Ges. 11, 31;
    W. Schuh, G.- Vertonungen (Verz. v. 767 Nrr., Verz. d. Komponisten), in: Gedenkausg., Bd. 2, 1953.

  • Porträts

    G. im Urteil v. Mit- u. Nachwelt: J. W. Braun, G. im Urtheile seiner Zeitgenossen, 3 Bde., 1883 ff.;
    G. als Persönlichkeit, Berr. u. Briefe v. Zeitgenossen, ges. v. H. Amelung, 3 Bde., 1914-25 (Erg. | z. Propyläen-Ausg.);
    W. Bode, G. in vertraulichen Briefen s. Zeitgenossen, 3 Bde., 1917-23;
    O. Fambach, G. u. s. Kritiker, die wesentlichsten Rezensionen aus d. period. Lit. s. Zeit, 1953;
    Jb. d. G.-Ges. 18, 1932 (Vorträge über: G. u. England, Frankreich, Amerika, d. skandinav. u. d. slav. Welt usw.);
    M. Sommerfeld, G. in Umwelt u. Folgezeit, Leiden 1935;
    H. Maync, Gesch. d. G.-Biogrr., 1914;
    H. Bieber, G. im 20. Jh., 1932;
    H. Kindermann, Das G.-Bild d. 20. Jh., 1952.

  • Literatur

    Zur Genealogie: C. Knetsch, G.s Ahnen, 1908;
    ders., J. W. G., in: Ahnentafeln berühmter Deutscher, NF 1, 1932;
    S. Rösch, G.s Verwandtschaft, 1956 (L).

  • Porträts

    (Abb. b. Schulte-Strathaus u. Wahl [1923], s. unten) Ölgem. v. G. M. Kraus, 1775/76 (im Bes. v. Fam. Vulpius, Weimar;
    Foto Marburg);
    Ölgem. v. J. H. W. Tischbein, Rom 1786/88 (Frankfurt/M., Städelsches Kunstinst.;
    Foto Marburg);
    lebensgroße Kreidezeichnung v. F. Bury, 1800 (Weimar, Nat. Forschungs- u. Gedenkstätten);
    lebensgroßes Ölgem. v. H. Ch. Kolbe, 1822/23 (ebd.);
    Ölgem. v. J. J. Schmeller, 1826/27 (Frankfurt/M., Freies Dt. Hochstift) (Abb. nur b. Schulte-Strathaus);
    Ölgem. v. J. K. Stieler, 1828 (München, Neue Pinakothek);
    Silberstiftzeichnung v. K. A. Schwerdgeburth, 1831/32 (Weimar, Nat. Forschungs- u. Gedenkstätten).

  • Porträts

    Abb.-Werke: H. Rollett, Die G.-Bildnisse, Biogr.-kunstgeschichtl. dargest., 1883;
    F. Zarncke, Kurzgefaßtes Verz. d. Originalaufnahmen v. G.s Bildniß, 1888;
    Propyläen-Ausg. v. G.s Sämtl. Werken, 1. Suppl.: Die Bildnisse G.s, hrsg. v. E. Schulte-Strathaus, 1910;
    F. Neubert, G. u. sein Kreis, erl. u. dargest. in 651 Abb., 1919;
    G., Die wertvollsten G.bildnisse, hrsg. v. H. Wahl, 1923;
    G. im Bildnis, hrsg. u. eingel. v. dems., 1930;
    G., Ein Bilderbuch, Sein Leben u. Schaffen in 444 Bildern, erl. v. R. Payer-Thurn, 1931;
    G. u. seine Welt, unter Mitwirkung v. E. Beutler hrsg. v. H. Wahl u. A. Kippenberg, 1932;
    Bilder aus d. Frankfurter G.mus., hrsg. v. E. Beutler u. J. Rumpf, 1949;
    Das geistige Dtld. im Bildnis, Das Jh. G.s, hrsg. v. P. O. Rave, 1949;
    W. Hoyer, J. W. G., Sein Leben in 150 Bildern, 1958;
    H. W. Singer, Allg. Bildniskat. V, 1931, S. 43-48;
    Singer, S. 156-58. - Bibliogr.: G.-Bibliogr., begr. v. H. Pyritz, 1955, S. 144-50.

  • Autor/in

    Wilhelm Flitner
  • Zitierweise

    Flitner, Wilhelm, "Goethe, Johann Wolfgang von" in: Neue Deutsche Biographie 6 (1964), S. 546-575 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118540238.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Goethe: Johann Wolfgang G., 1749—1832. — Beim ersten Blick auf Goethe's Leben gewahrt man, wie ein außerordentliches Dasein durch die Gunst der Verhältnisse mächtig gefördert worden; bei tieferer Betrachtung dagegen wird offenbar, wie eng sich hier Verdienst und Glück verketten. Das Beste, was dem Menschen und Dichter durch das Geschick verliehen zu sein scheint, hat er in Wahrheit sich selbst errungen und durch beharrliche Thatkraft erst zu seinem wirklichen Eigenthum gemacht. In autobiographischen Schriften, deren einige zu den Mustern geschichtlicher Darstellung zählen, hat er mit großartiger Offenheit sein innerstes Sinnen und Wollen zum Ausdruck gebracht; wir wissen, wie er sein Leben und Thun im Zusammenhange mit den Bestrebungen und Ereignissen seiner Zeit aufgefaßt sehen wollte; um zur Erkenntniß dieses Lebens zu gelangen, werden wir zunächst seiner eigenen Auffassung desselben folgen müssen.

    Goethe's Voreltern auf väterlicher Seite waren in den unteren und mittleren Kreisen des Bürgerthums heimisch; die Familie der Mutter behauptete einen hohen Rang im städtischen Leben Frankfurts, ohne dem eigentlichen Patriciat anzugehören. Friedrich Georg G., der aus Artern in der Grafschaft Mansfeld nach Frankfurt a./M. übersiedelte, war hier seit dem J. 1687 als Bürger und Schneidermeister ansässig; er hatte sich 1705 in zweiter Ehe mit der gleichfalls verwittweten Besitzerin des Gasthauses zum Weidenhofe, Cornelia Schellhorn, geb. Walther (1668—1754), vermählt, die ihm ein stattliches Vermögen zubrachte. Von den drei Kindern, die sie ihm gebar, sollte nur das jüngste zu hohen Jahren kommen; es war Johann Caspar (1710—82). Dieser strebte mit Erfolg nach einer ansehnlicheren Lebensstellung. Das Coburger Gymnasium hatte ihn (seit 1725) für die Universität gründlich vorbereitet. Mit dem seiner Natur eigenen Ernst gab er sich in Leipzig dem juristischen Studium hin; ein Aufenthalt in Wetzlar machte ihn mit der Praxis des Reichskammergerichts bekannt; als er 1738 in Gießen die Würde des juristischen Doctors erwarb, konnte er mit einer, dem Frankfurter Senat gewidmeten, umfassenden Abhandlung hervortreten, die sein reiches Wissen im Gebiete des römischen und deutschen Rechtes auf das rühmlichste bezeugt. ("Electa de aditione Hereditatis ex jure Romano et Patrio illustrata“. Giessae, Octobr. 1738. 178 S. 4°.) Auf einer Reise nach Italien (1740), deren sorgfältige, in der Sprache jenes Landes verfaßte Beschreibung sich handschriftlich erhalten hat, sammelte er Anschauungen und Eindrücke, die er sein Leben hindurch liebevoll festhielt. Sein Vermögen gewährte ihm Unabhängigkeit. Nur unter ungewöhnlichen Bedingungen wollte er in den amtlichen Dienst seiner Vaterstadt treten. Da diese nicht zugestanden wurden, verschloß er sich selbst die amtliche Laufbahn. Von Karl VII. ließ er sich (16. Mai 1742) den Titel eines „würklichen Raths Ihrer Röm. Kayserl. Majestät“ verleihen. Sechs Jahre hernach ward er Schwiegersohn des Mannes, der an der Spitze des städtischen Gemeindewesens stand.

    Johann Wolfgang Textor (1693—1771), der am 16. December 1727 in den Frankfurter Rath gewählt worden, hatte sich als Schöff und Bürgermeister schon vielfach hervorgethan, ehe er am 10. August 1747 mit dem Amte des Stadtschultheißen betraut ward. Als solcher gewann er einen immer steigenden Einfluß auf die Führung der städtischen Angelegenheiten. Er hatte gerade ein Jahr diese höchste Würde bekleidet, als er (20. August 1748) seine älteste Tochter Katharina Elisabeth (getauft 19. Februar 1731 — 13. September 1808) dem kaiserlichen Rath G. zur Frau gab. Dieser führte die um mehr als zwanzig Jahre jüngere Gattin in das Haus am großen Hirschgraben (jetzt Nr. 23), das seit 1733 Eigenthum der Mutter war.

    In diesem Hause ward dem ungleichen Paare am Donnerstag den 28. Aug. 1749 „mit dem Schlag 12 Mittag“, bei glückverheißendem Stande der Gestirne, der erste Sohn geboren, dem in der Taufe am folgenden Tage die Namen des Großvaters Johann Wolfgang beigelegt wurden. Nicht ohne Schwierigkeit war er zum Leben gekommen; es verging einige Zeit, ehe man seines Daseins völlig sicher war. Bis zum Juni 1760 folgten dann noch fünf Geschwister, von denen vier jedoch früh hinweggenommen wurden; seit dem Februar 1761 hatte der älteste Sohn nur noch die Schwester zur Seite, die im Alter ihm am nächsten stand, Cornelia Friederica Christiana (7. December 1750—8. Juni 1777). In glücklicher Gemeinschaft wuchsen die beiden nebeneinander auf; die kindlichen Gemüther stimmten zusammen, wenn auch das Wesen der Schwester wohl schon frühe eine trübere Färbung zeigte. Auf dies Geschwisterpaar richtete sich der ganze pädagogische Eifer des ernst gesinnten Vaters; zugleich aber erfuhr es auch die volle, thätige Liebe der Mutter.

    Nur für kurze Zeit (im Sommer 1755) ward der Knabe einer öffentlichen Schule übergeben. Der Vater lenkte die Erziehung. Unter dessen Oberleitung erhielt er, zum Theil in Gesellschaft einiger Altersgenossen, eine Ausbildung, die vielseitig genug war und mehr ins Breite zu gehen als in die Tiefe zu streben schien. Doch war es gerade diejenige, deren er bedurfte. Was sie vermissen ließ, konnte gerade er aus der Fülle des angeborenen Naturells ersetzen. Seinem lebhaften Geiste ward die mannigfaltigste Nahrung geboten; die bewegliche Anschauungskraft ward geübt, die verschiedensten Bilder zu erfassen und auszugestalten. Was uns von Studienheften aus den Knabenjahren erhalten ist, läßt neben strenger Sauberkeit der Arbeit zugleich die frische Zuversicht erkennen, mit welcher der kindliche Sinn die ihm dargereichten Stoffe zu ergreifen und gewandt zu formen weiß. Mit dem Lateinischen ward er behaglich vertraut; vom Griechischen eignete er sich so viel an, daß es ihm nie ganz fremd werden konnte und er in späteren Jahren wenigstens den Klang der hellenischen Dichtersprache unmittelbar zu vernehmen und in die Kunstformen jener Poesie, die ihn zu selbständiger Nachbildung lockte, einzudringen vermochte. Früh versenkte er sich mit Phantasie und Gemüth in die Bibel; die erregte wissenschaftliche Neugier trieb sogar zu einem Versuche, sich des Hebräischen zu bemeistern. Die neueren Sprachen, besonders die französische, wurden sorgfältig gepflegt. Das Gedächtniß nahm große Massen geschichtlichen Stoffes auf; eine nach allen Richtungen schweifende Lectüre gewährte bald flüchtigere, bald tiefere Einblicke in die verschiedenen Litteraturen und in die verschiedensten Wissensgebiete. Neben der Poesie, der sich die früh erwachte Neigung leidenschaftlich zuwandte, blieb der Musik, die doch nicht ganz versäumt werden durfte, nur ein bescheidenes Plätzchen; dagegen befestigte sich früh, durch die Liebhaberei des Vaters unterstützt, eine Neigung zur bildenden Kunst: er zeichnete eifrig; im Verkehr mit den Malern, denen der Vater Beschäftigung gab, schärfte er seinen Blick für Form und Farbe und für das Bezeichnende der Erscheinungen; wenn er den Arbeiten dieser|mäßigen Künstler zusah, konnte er ihnen wenigstens die Handwerksgriffe ablernen. Während so vielfache Anregungen dem Geiste zu gute kamen, wurden die körperlichen Uebungen nicht hintangesetzt. Mit heiterem Stolze konnte die Mutter auf die zu harmonischer Schönheit heranreifende Gestalt des Sohnes blicken, der in Gang und Haltung das Bewußtsein persönlicher Würde nicht verleugnete.

    Schon früh, während der Vater den Umbau des Wohnhauses leitete (1755), hatte der Knabe häufig Anlaß und Muße gefunden, die häusliche Beschränkung mit dem Aufenthalt im Freien zu vertauschen. Und trat er nun aus dem Haus- und Familienbezirk in die Straßen der Vaterstadt, die sich allmählich aus der mittelalterlichen Enge herausgearbeitet hatte, beschaute er das festliche und werktägliche Treiben, das sich dort entfaltete, so mußte er neben den eigenartigen Zuständen der Gegenwart überall die Spuren einer noch nicht gänzlich abgeschlossenen Vergangenheit gewahr werden. Das reichsstädtische Frankfurt durfte sich als Wahl- und Krönungsstadt eines besonders ehrenvollen Verhältnisses zum Reiche und dessen Oberhaupte rühmen. Für G., den Enkel des ersten städtischen Beamten, ward dies Verhältniß in unmittelbarer Nähe lebendig. Auf die natürlichste Weise ward der Sinn in frühere Jahrhunderte zurückgeführt, deren greifbare Zeugen den künftigen Dichter des Götz umgaben. Gebäude, Denkmäler und Gebräuche mahnten an entscheidende Momente der deutschen Geschichte, an des Reiches Herrlichkeit und Verfall; so ward ihm der Begriff von der Würde des Gewesenen und zugleich von dem unaufhaltsamen Hinschwinden aller irdischen Zustände eingeprägt. Was er sah, wuchs zusammen mit dem, was er lernte. Verlangte er nach genauester Belehrung über einzelne Punkte, so konnten die historisch und juristisch gebildeten Männer Frankfurts — unter ihnen sei hier nur Obenschlagen genannt —, deren Schriften er studirte oder deren Umgang er genoß, seine Wißbegier vollauf befriedigen.

    Wenn der Anblick der Vaterstadt den geschichtlichen Sinn nähren mußte, so ward Blick und Gemüth doch auch früh zur Natur hingezogen. Anhaltend konnte er sich in die Betrachtung ihrer Erscheinungen versenken, sie gab ihm heitere und wehmüthige Stimmungen; er lernte sie früh liebgewinnen, welches Antlitz sie ihm auch zeigen mochte; noch gegen den Schluß seines Lebens gedachte er des sehnsüchtigen Gefühls, mit dem er oft bei niedersinkender Dämmerung dem langsam abglimmenden Sonnenlichte nachgeblickt.

    Große Weltereignisse berührten ihn früh und tief. Die ersten Knabenjahre fielen in eine beglückende Friedenszeit, aus deren Genuß man durch die Kunde vom Erdbeben zu Lissabon (1. November 1755) aufgeschreckt ward. Ein Schauer des Entsetzens breitete sich über das gebildete Europa. Philosophie und Religion suchten sich, jede auf ihre Weise, der verheerenden Naturbegebenheit zu bemächtigen, die bald zur Befestigung, bald zur Bekämpfung des Glaubens an einen allweisen und allgütigen Gott dienen sollte. Was der Knabe, zum Theil in übertreibenden Schilderungen, von den Einzelheiten der Verwüstung erfuhr, drang mit erschütternder Kraft in seine Phantasie und stürzte ihn in quälende Zweifel. Diesen Ausbruch der zerstörenden Naturkräfte wollten manche hernach als ein Vorzeichen des siebenjährigen Krieges deuten, der auch alsbald die Goethe’sche Familie in zwei Parteien spaltete. Der Stadtschultheiß bewahrte dem Kaiserhause seine Anhänglichkeit und begünstigte die Franzosen; die Wünsche seines Schwiegersohnes wandten sich nach der entgegengesetzten Seite, und der Enkel Wolfgang widmete seinen ganzen kindlichen Enthusiasmus dem Helden des Jahrhunderts, dessen Einwirkung auf das deutsche Geistesleben und die vaterländische Litteratur er in späteren Jahren richtiger als die meisten Zeitgenossen begreifen und darstellen sollte. Diese preußische oder vielmehr fritzische Gesinnung hinderte ihn jedoch nicht, sich mit den Feinden des Königs, den Franzosen,|freundlich einzulassen, nachdem diese (Januar 1759) Frankfurt besetzt hatten. Zum lebhaften Mißvergnügen des Vaters erhielt der Königslieutenant, Graf Thorane, sein Quartier im Goethe’schen Hause, das eben durch einen solchen Insassen zugleich geehrt und beschützt ward. Der südfranzösische ernst gestimmte Herr, der hier und da einen Zug von Schwermuth durchblicken ließ, benahm sich im Hause meist wohlwollend und wich in seinem Amte nur selten vom Pfade der strengsten Gerechtigkeit. Gleich dem Rath G. war er Liebhaber der Malerei und gab den Künstlern in und um Frankfurt umfassende und lohnende Aufträge. Das Wesen Wolfgangs scheint sein Wohlgefallen erregt zu haben. Der Vater jedoch wollte nun einmal sich zu keiner freundlichen Annäherung an den, wenn auch persönlich achtungswerthen, Vertreter der gehaßten Feinde bequemen; und manchmal ward ein heftiger Zusammenstoß unvermeidlich, dessen Folgen für den Hausherrn bedrohlich werden konnten, aber glücklich, wenn auch nicht ohne Mühe, abgewandt wurden. Den Tag, an dem der widerwillig gehegte Gast endlich nach mehr als zweijährigem Aufenthalte das Haus am Hirschgraben verließ, begrüßte der Vater als einen Tag der Befreiung. Der Sohn würde die feindliche Nähe wohl gern noch länger geduldet haben.

    Denn ihm hatte sich in dieser Zeit ein neues, heiter bewegtes Leben aufgethan. Er war nicht unzufrieden darüber, daß der regelrechte Gang der häuslichen Ordnung vielfach unterbrochen ward; er genoß der ihm gegönnten freieren Bewegung; er hielt sich gern in der Nähe des Grafen, wo ihm manche neue Dinge zu Gesichte kamen; ihn ergötzte das Treiben, das durch die Gegenwart der lebendigen und belebenden fremdländischen Gäste hervorgerufen ward. Ihr liebenswürdiger Leichtsinn, die gefällige Sicherheit ihres gesellschaftlichen Betragens mußten ihn anziehen; aber er durfte auch ihre gefährlichen Schwächen nicht übersehen, die sie gerade im Kampfe gegen den großen König so deutlich zu ihrer eigenen Schmach offenbarten. Unerschüttert blieb seine Bewunderung für Friedrich, dessen Thaten als Sinnbild und Anzeichen der wieder erwachenden deutschen Kraft gelten konnten. So darf man wol sagen, daß auch G. sich unter den mittelbaren Einwirkungen des siebenjährigen Krieges heranbildete.

    In mannigfachem Sinne folgenreich für seine geistige Entwicklung und sein künstlerisches Thun ward die jetzt gestiftete Bekanntschaft mit dem französischen Theater. Durch die Anwesenheit der Fremden war es ihm gleichsam vor's Auge gerückt. Schauend und lesend studirte er sich in die Meisterwerke der Bühne hinein, die damals noch als gesetzgebendes Vorbild für die Bühnen Europa's, und insbesondere für die deutsche, fast unbestritten anerkannt war. Durch die Theorien der Kunstlehrer, durch die Ansichten der theoretisirenden Künstler arbeitete er sich mit löblichem Eifer hindurch; die Formen, die im Drama der Franzofen zu despotischer Geltung gelangt waren, erschienen ihm bald so geläufig, daß er sich zu ihrer Nachahmung geschickt und aufgelegt fühlte. Trat er so in geistigen Verkehr mit den Dramatikern, so blieb der persönliche mit den Schauspielern und ihrem Anhange nicht aus. Was er hinter den Coulissen sah, war für ein so jugendliches Auge kaum geeignet. Aber er, dem das vielgestaltige Leben nach allen Seiten hin sich erschließen sollte, mochte auch in diesen bedenklichen Versionen seine früh gesammelten Erfahrungen bereichern. War er ja doch berufen, alles, was er jetzt und später mit flüchtigem Blick streifte oder im innersten Wesen erfaßte, in irgend einer Form einmal künstlerisch zu verwerthen!

    In das „Allerlei des Lebens und Lernens“ brachte der strenge Ordnungssinn des Vaters, wenn auch nicht inneren Zusammenhang — denn dieser ergab sich von selbst im Geiste des werdenden Dichters — so doch wenigstens den Schein einer methodischen Verknüpfung. Wenn die Neigungen des Sohnes frei umherzuschweisen schienen und er demgemäß auch einen allzu raschen Wechsel in|seinen Studien und Beschäftigungen liebte, so drang der Vater auf Stetigkeit und folgerechte Behandlung eines jeden Gegenstandes. Alles zwecklose und willkürliche Ergreifen und Fahrenlassen war ihm verhaßt: nichts sollte aus dem Stegreif unternommen, alles vielmehr mit Bedacht bis zu einem gewissen Ziele fortgeführt werden. Er sorgte dafür, daß die genialischen Fassungskräfte des Sohnes zusammengehalten wurden und dann leichter in eine bestimmte Richtung einlenken konnten; er übte ihn früh in der Tugend der Beharrlichkeit, die G. dereinst im Leben, Schaffen und Forschen so großartig bewähren sollte. Das leicht verdüsterte, der unbefangenen Lebensfreude fast verschlossene Gemüth der Tochter Cornelia scheint unter dem pädagogischen Verfahren des Vaters, das sich ihr gegenüber manchmal bis zu anscheinender Härte steigern konnte, allerdings peinlich gelitten zu haben. Auf den Sohn jedoch hat er nur regelnd und bestimmend, niemals eigentlich hemmend gewirkt.

    Und mochte der Vater auch einmal das Erziehungswerk, das er so ernst nahm, gar zu hart angreifen, der Sohn aber die auferlegte Beschränkung als allzu lästig empfinden, so war die Mutter mit ihrer stets kräftigen Liebe zum Mildern und Ausgleichen, wol auch zum Vertuschen, bereit. Sie, die Jugendliche, stand zwischen Vater und Sohn als naturgemäße Vermittlerin. Dem ersteren war sie in Treue zugethan; sie fügte sich in seine Sinnesart, ohne sich die ihrige verkümmern zu lassen. Mit dem letzteren aber, den sie lebenslang in ihres Herzens Herzen trug, war und blieb sie unverbrüchlich eins. Hatte G. dem Vater die Ausbildung werthvoller Eigenschaften zu verdanken, so war er der Mutter verpflichtet für die köstliche Frische und Gesundheit, die von ihrem Wesen auf das seinige übergegangen waren. Als später „ein großer Theil seines Ruhmes und Rufes auf sie zurückfiel“, ließ sie sich von „Professoren“ und anderen Menschenkindern wol gern als Goethe's Mutter anstaunen; es schmeichelte ihr, wenn ihr fürstliche und bürgerliche Freunde zu verstehen gaben, man sähe ihr an, daß G. ihr Sohn sei; und gewiß lächelte sie befriedigt, als der Bruder der Königin Luise sie als die Frau bezeichnete, von der es ihn nie gewundert habe, daß sie uns G. gebar. Aber zu keiner Zeit ließ sie sich zu dem Wahn verleiten, sie habe „auch nur das Allermindeste beigetragen zu dem, was ihn zum großen Manne und Tichter gemacht“. Ward eine solche Andeutung ihr gegenüber gewagt, so versicherte sie in unverfälschter Demuth und mit dem ganzen Nachdruck ihrer kernhaften, aus dem Bibelworte genährten Beredtsamkeit, sie wisse wol, wem das Lob und der Dank gebühre; denn schon bei der Bildung des Sohnes im Mutterleibe sei alles im Keim in ihn gelegt worden; dazu habe sie wahrlich nichts gethan; sie gebe Gott die Ehre, wie das recht und billig sei. Ihr glücklich auffassender Humor blieb sich immer gleich, und unter allen Umständen bewahrte sie ihre gesunde Einfachheit, ihre kraftvolle Naivetät; in derselben schicklichen und herzlichen Weise verkehrte sie mit fremden Fürstlichkeiten und mit den längst bekannten Stadtgenossen. Nur dann etwa konnte sie die sonst unveräußerliche heitere Fassung einbüßen, wenn hochberühmte litterarische Damen ihr nachstellten. Wie befreit athmete sie auf, als Frau v. Stael, die bei ihrer Durchmusterung Deutschlands auch in Frankfurt verweilte (1803), wieder aus ihrem Gesichtskreis gewichen war; sie fühlte sich von ihr gedrückt, klagte sie dem Sohne, als wenn sie einen Mühlstein am Hals hangen hätte. „Was will die Frau mit mir??“ fügte sie hinzu, „ich habe in meinem Leben kein ABC-Buch geschrieben und auch in Zukunft wird mich mein Genius davor bewahren.“ —

    Auf ihrer vielseitigen Empfänglichkeit beruhte ihre Bildung, die es ihr möglich machte, mit ihrem Sohne in lebendigem Einverständniß zu bleiben. Sie erfaßte ihn, auch wenn sie nicht eigentlich ihn verstehen konnte. Wie hätte sie,|gleich anderen, an seinem Thun je irre werden oder seine Absichten anzweifeln sollen? Sie richtete den liebevollen Blick stets auf das Ganze seiner Persönlichkeit; dort fand sie die Berechtigung für das Einzelne seines Thuns und Verfahrens. Es ward ihr leicht, jeder ursprünglichen Kraft ihr Recht zu geben; denn in ihrem eigenen Wesen war Einfachheit mit Originalität innig gepaart. Diese leuchtet aus allem hervor, was wir unmittelbar oder mittelbar von ihr vernehmen. In jedem ihrer Worte stellt sie sich leibhaftig vor uns hin. Ob sie an Mitglieder des weimarischen Hofes schreibt oder an ihre lieben Enkelein, an Goethe's Zögling, Fritz v. Stein, oder an den Schauspieler Unzelmann, — ob sie dem Sohne für den Genuß einer neuen Dichtung dankt, oder ihn warnt, in seinen Schriften sich der „menschenfeindlichen“ lateinischen Lettern zu bedienen, weil durch diese die Niedern und Geringen, die an dem Gute der Bildung doch auch ihren Antheil haben sollen, nothwendig abgeschreckt werden — in jedem Briefe muß sich ihre Eigenart, die mit keiner anderen zu verwechseln ist, unwillkürlich und unverkennbar abdrücken. Von ihrer Correspondenz mit G. kennen wir bis jetzt nur spärliche, aber kostbare Bruchstücke. Vollständig mitgetheilt, würde sie die vieljährigen mannigfaltigen Beziehungen zwischen Mutter und Sohn bis ins Einzelste beleuchten, aber wol schwerlich das Charakterbild der ersteren um wesentliche Züge bereichern.

    Während eines langen Lebens — das Glück einer ungewöhnlichen Lebensdauer erbte G. von seinen Voreltern — bewahrte die Mutter mit zäher Kraft unverändert jene Grundzüge ihres Wesens. Noch die Sechsundsiebenzigjährige rühmt von sich: „ich suche keine Dornen, hasche die kleinen Freuden, sind die Thüren niedrig, so bücke ich mich, kann ich den Stein aus dem Wege thun, so thue ich's — ist er zu schwer, so gehe ich um ihn herum, und so finde ich alle Tage etwas, das mich freuet". Für jeden Abschnitt ihres Lebens gilt diese Selbstschilderung. Aber die Frische der jugendlichen Lebensfreude, die Energie dieser Heiterkeit entsprang aus der Energie ihres religiösen Gefühls; „der Schlußstein“, — ruft sie aus, „der Glaube an Gott! der macht mein Herz froh und mein Angesicht fröhlich“. Die Fröhlichkeit, die sie in sich hegte und um sich verbreitete, vertrug sich daher gar wohl mit den zarteren und zartesten Regungen eines religiös gestimmten Seelenlebens; sie fühlte sich nicht fremd im Kreise der Stillen und Frommen, und eine Klettenberg war ihre Freundin. Ihre Briefe an Lavater beweisen, daß sie auch dem schwärmerischen Gefühlsleben einer Zeit, welcher Werther entstammte, nicht ganz unzugänglich blieb. Aber jeder krankhaften Ueberspannung war sie feind; ihr heller Verstandesblick ließ sich nicht trüben; der Einklang zwischen Kopf und Herz blieb ungestört. So steht sie vor uns, das Musterbild einer deutschen Frau, zugleich das Musterbild einer Dichtermutter.

    Denn zu ihren übrigen Geistes- und Gemüthsanlagen war ihr eine Darstellungsgabe verliehen, deren Ausbildung durch eine rege, lebendig vergegenwärtigende Phantasie gefördert ward. Bis ins hohe Alter blieb ihr auch diese Fähigkeit ungeschmälert; sie erfreute sich derselben, im Bewußtsein, andere damit zu erfreuen. Noch ein Jahr vor ihrem Tode bekennt sie mit fröhlichem Selbstbehagen: „diese Gabe, die ihr Gott gegeben, sei eine lebendige Darstellung aller Dinge, die in ihr Wissen einschlagen, Großes und Kleines, Wahrheit und Mährchen"; und man glaubt ihr gern, wenn sie hinzusetzt: „Sowie ich in einen Cirkel komme, wird alles heiter und froh, weil ich erzähle“. Niemals aber mögen ihre Erzählungen so belebend und eindrucksvoll geklungen haben, wie in jenen Zeiten, da der Sohn, als heranwachsender Knabe, ihnen lauschte. Indem sie ihn in das Märchenreich einführte, ward sie selbst mit ihm wieder jung; er aber konnte ihr nicht lange müßig zuhören. Aus seiner erregten Einbildungskraft stieg|eine selbstgeschaffene Märchenwelt hervor. Wie er seine Person und seine eigenen Zustände mit derselben verknüpfte, das lehrt uns das Musterstück dieser jugendlichen Märchenpoesie, welches, freilich von späterer Künstlerhand geformt, im zweiten Buche von Dichtung und Wahrheit uns aufbehalten ist.

    Was er von einheimischer und fremdländischer Poesie kennen lernte, reizte seinen Nachahmungstrieb. Er eignete sich die Formen an, wie sie ihm vorlagen; im Ergreifen des Stoffes aber bewährte er schon ein gewisses Maß von Selbständigkeit. Er suchte ihn nicht in der Weite; er fand ihn in seinem eigenen Leben, in den Verhältnissen, die ihn berührten. Mit wachsender Leichtigkeit übte er die Gelegenheitsdichtung; mußte diese auch, nach der Weise der Zeit, manchmal ins Platte sinken, so richtete sie doch seine Beobachtung auf das Wirkliche und lehrte ihn die Nothwendigkeit, diesem eine poetische Gestalt zu geben. Durch die Hand eines gewandten Schreibers, dem er dictirte, konnte er alles, was sich im Geiste regte, auf dem Papiere festhalten, und so ging die frühe Autorschaft sehr ins Breite. Alles, was er trieb, diente dazu, ihren Umfang zu erweitern. Er konnte fremde Sprachen nicht erlernen, ohne sich auch schriftstellerisch in ihnen zu versuchen; und aus solchen Uebungen erwuchs sogar ein siebensprachiger Roman in Briefen.

    Der Vater gönnte diesen dichterischen Bestrebungen seinen gemessen aufmunternden Beifall. Doch sah er es nicht gern, wenn der jugendliche Poet den Kreis der längst anerkannten Formen verließ; und eine Poesie, die sich des Reims entschlug, hatte er mit seinem Banne belegt. Seine Bibliothek zeigte in erlesenen Exemplaren die Werke von Canitz, Besser, Neukirch und allen Denen, welche durch schwächliche oder widerliche Nachahmung der großen französischen Vorbilder aus dem Zeitalter Ludwigs XIV. die deutsche Dichtung hatten reinigen wollen; ihnen mochten sich Männer wie Brockes, Hagedorn, Drollinger und Haller zugesellen. An diesen Mustern sollte der Sohn sich schulen; und einige derselben konnten ihn zu äußerer Formenstrenge und Säuberlichkeit, andere zu gedrängter Energie des Ausdrucks anleiten. In den meisten dieser Dichtungen jedoch lernte er mehr lesen als daß er sie las; ahmte er sie nach, so mußte er sich an der Oberfläche halten. Besonders die gewandten und gehaltleeren Hofdichter konnten ihm nichts außer ihrer glatten Technik bieten. Bis in die späteste Zeit blieb ihm die peinliche Erinnerung an den Druck, mit welchem einst jene Autoritäten einer schon im Abscheiden begriffenen Periode auf ihm gelastet. Auch hier erschien Klopstock als Förderer eines neuen Lebens, als Offenbarer einer neuen Welt. Sein Gedicht, dessen ungewohnte Versart dem Vater Anstoß geben mußte, fand nur verstohlen Eingang in den Goethe’schen Familienkreis und brachte auf die Geschwister bald um so unwiderstehlichere Wirkungen hervor, die auch nicht lange im Verborgenen blieben. In der wundersam gehobenen Darstellung war der längst bekannte biblische Stoff wie frisch verklärt, und wenn die heiligen Personen wie mit einer neuen Glorie bekleidet wurden, so schienen sie sich doch der menschlichen Empfindung vertraulicher anzunähern. Eine Art von Nachbildung ward versucht; die Geschichte Josephs ward zu einer umständlichen biblischen Epopöe verarbeitet, welcher der Dichter allerdings das bequeme prosaische Gewand umwarf. Mit gleicher Bequemlichkeit wurde das reimlose anakreontische Getändel nachgeahmt, das Gleim seit der Mitte der vierziger Jahre angestimmt hatte. Aber auch der Ton der kirchlichen Ode blieb ihm geläufig und er wußte die starre protestantische Dogmatik poetisch zu verwerthen; in dem frühesten der uns erhaltenen Gedichte schildert er (1765) die Höllenfahrt Christi in volltönig gereimten Strophen, die, mit dem herkömmlichen Bildervorrath ausgestattet, unter den ähnlichen Leistungen Cramer's und J. A. Schlegel's einen Ehrenplatz verdient hätten.

    Die Lust am Theater war schon früh durch ein von der Großmutter geschenktes Puppenspiel geweckt worden; später hatte er die französischen Muster und die ihnen folgenden deutschen Stücke nicht nur durch anhaltendes Studium, sondern auch durch seine Mitwirkung bei gelegentlichen Privataufführungen von allen Seiten kennen gelernt. Er fühlte sich selbst zu mannichfachen dramatischen Versuchen gedrängt, denen die französische Form als die gesetzmäßige zum Grunde lag. Doch ward die Alleinherrschaft des gereimten Alexandriners allmählich gebrochen, indem der reimlose Fünffüßler, der von den Engländern herüberkam und den auch Klopstock begünstigte, sich nach und nach Geltung verschaffte.

    Während er so, von Kritik unberührt, sich in der Handhabung der verschiedensten künstlerischen Formen übte und seinen Bildungsgang fortsetzte, drängten sich ihm peinliche Lebenserfahrungen auf, die den jugendlichen Sinn trüben oder zu bedenklicher Frühreife führen mußten. Er gewahrte manches im Inneren der Familien, sowie im amtlichen und bürgerlichen Treiben, was ihm besser damals noch verhüllt geblieben wäre. Da ihm mit den Jahren eine größere Freiheit der Bewegung verstattet ward, so gerieth er, und zwar auf Anlaß seines poetischen Talents, in allzu nahe Berührung mit einigen leichtlebigen Gesellen, die vor allerlei ungesetzlichem Beginnen nicht zurückscheuten, an dem er selbst freilich keinen Theil hatte. Festgehalten ward er eine Zeit lang in diesem Kreise durch die reine, unverdorbene Neigung zu einem Mädchen, das in solcher Umgebung wie ein Wunder an Schönheit und Sitte dastand und, wenn wir der späteren Erzählung trauen dürfen, ihn sogar mit schwesterlicher Freundlichkeit vor dem lockeren Umgang warnte. Ihr widmete der Jüngling mit voller Hingebung Alles, was sich von aufkeimender Empfindung in ihm regte, und er wußte sich vor leidenschaftlicher Pein nicht zu fassen, als er sich von Gretchen für immer geschieden sah.

    Die schmerzliche Katastrophe, welche diese erste Liebesneigung abschloß, traf mit einer wichtigen Staatsbegebenheit zusammen, die das Interesse jedes Deutschen mächtig an sich zog und auch G. nicht gleichgültig ließ: Joseph II. ward gewählt und gekrönt. Auch bei dieser Gelegenheit blickte der Jüngling in das verworrene Getriebe des deutschen Reichswesens. Die Verhandlungen, welche der Wahl voraufgingen, wurden, nicht ohne patriotisches Mißbehagen, genau studirt, die halb symbolischen Feierlichkeiten, die sich an jeden Abschnitt der prunkvollen Staatshandlung knüpften, mit gründlicher Aufmerksamkeit verfolgt. Der dritte April 1764 war der Krönungstag, und „das durch so viele Pergamente, Papiere und Bücher beinah verschüttete deutsche Reich“ trat ihm auf dem Boden seiner Vaterstadt noch einmal in leibhaftiger Majestät entgegen.

    Nicht lange mehr sollte die Vaterstadt ihn fesseln. Der Rath G. hatte den Studiengang, den er selbst durchlaufen, für den Sohn festgesetzt; er hatte ihm schon mancherlei juristisches Wissen beigebracht und hoffte ihn einst, mit schönen Kenntnissen und Fertigkeiten aller Art ausgerüstet, in ansehnlichen Aemtern zum Wohl der Mitbürger und zu eigener Ehre thätig zu sehen. Anderen Gedanken und Wünschen war der Sohn hingegeben. Blickte er in die Zukunft, so sah er sich wol am liebsten im Schmucke des Lorbeerkranzes, „der den Dichter zu zieren geflochten ist“. Aber keineswegs wollte er darum auf die Mittel zu strenger wissenschaftlicher Bildung Verzicht thun. Er meinte, Göttingen würde ihm dieselben am reichlichsten bieten. Vornehmlich trieb es ihn zu jenen Studien, die ihn bei der dichterischen Praxis wesentlich zu fördern versprachen. Ernstlich wollte er in die alten Sprachen eindringen, sich mit der Geschichte und den daran grenzenden Disciplinen vertraut machen und sich die schönen Wissenschaften, wie man sie nannte, in ihrem ganzen Umfange aneignen. Lockend erschien ihm die Wirksamkeit eines akademischen Lehrers.

    Von solchen Absichten, die nur der Schwester anvertraut wurden, durfte der Vater nichts ahnen. Dieser hatte ein für allemal sich für Leipzig entschieden; da galt kein Widerspruch. Dorthin also begab sich der Sechzehnjährige im Spätherbst 1765. Am 19. October ward er von dem Rector Ludovici unter die akademischen Bürger aufgenommen und der bairischen Nation zugetheilt. Zwei Tage hernach betrat er die Hörsäle. Ernesti und J. G. Böhme (1717—80), ein Schüler Mascou's, waren die ersten, deren lehrendes Wort er vernahm. Dann folgten die juristischen Fachcollegien.

    Durch Böhme's verständige Einrede ließ er sich abbringen von dem im Stillen gehegten Plane, der Jurisprudenz zu entsagen und sich offen zu seinen Lieblingsstudien zu bekennen. Er blieb äußerlich Jurist; er versuchte sogar ein fleißiger zu sein. Aber weder Rechtsgelehrsamkeit, noch die Wolffische Philosophie, die ihm hier entgegengebracht ward, konnte ihm behagen. Auch im Uebrigen bot ihm die Universität wenig zur Befriedigung seines Bildungstriebes. Gottsched, von dessen Verdiensten das jüngere Geschlecht nichts wußte, war nur noch da, um verhöhnt zu werden. Aus Gellert's sanftmüthiger Moral ließ sich keine sittliche Stärkung, aus seinen Lehren über Poesie und Stil keine künstlerische Erleuchtung gewinnen. Was G. bedurfte und ersehnte, konnte ihm damals von keinem Katheder herab gereicht werden. Er blieb den Hörsälen fern.

    Um so näher trat er den mannichfaltigen Erscheinungen des Leipziger Lebens. Unter den Elementen, die sich hier lockend und abstoßend durcheinander bewegten, waren es nicht blos die edleren, die ihn anzogen. Im Kreise älterer und gleichaltriger Genossen überließ er sich einer Lebenslust, die nicht immer der heilsamen Schranken achtete. Er fühlte sich zum ersten Male frei. Wie übermüthig äußert sich das Gefühl in den Versen und der Prosa der ersten Leipziger Episteln! Man vergleiche die beiden ältesten Briefe aus dem Jahre 1764, in welchen er um Aufnahme in einen Tugendbund nachsucht, und man wird in Ton und Haltung einen entschiedenen Gegensatz gewahren.

    Begierig griff er aber auch nach allen Bildungselementen, welche das Leipziger Leben in sich schloß. Hier, wo man sich wie im Mittelpunkte der deutschen Litteratur fühlte, mußte sein eigenes dichterisches Streben, indem es bestimmtere Bahnen einschlagen wollte, bald Störung erleiden, bald fördernden Anstoß erhalten. Gestört ward es durch die Kritik, die ihm hier zuerst verneinend entgegentrat. Sie erschütterte ihm das Ansehen gerühmter Vorbilder und lehrte ihn an seinem eigenen dichterischen Vermögen zweifeln; er verlor die harmlose Lust am Hervorbringen und an dem Hervorgebrachten; die Nachahmung des Vorhandenen konnte ihm nicht mehr genügen. Er versuchte sich wol noch manchmal in den herkömmlichen Weisen; er lieferte, nach Ramler’schem Recept, schwerlastende Oden, reich an großen Worten; er häufte auf ein inhaltsleeres Gelegenheitsgedicht die ganze abgebrauchte Herrlichkeit des antiken Olymp. Ein Freund, wie Behrisch, der ihm seine Gedichte auf das Säuberlichste abschrieb und sie vor der Druckerpresse schützte, konnte ihm dann leicht in Scherz und Ernst darthun, wie übel sich diese hohle Pracht zu dem gegebenen Anlasse schicke; und er selbst verspottete mit glücklichem Humor den großsprecherischen Prunk einer Clodius’schen Phraseologie. Aber damit war seiner eigenen Unsicherheit nicht abgeholfen. Er suchte nach einem Muster, dem er sich vertrauensvoll anschließen, nach einer Lehre, die ihn über sich selbst und sein Wollen, sowie über das Wesen der Kunst aufklären konnte. Die deutsche Litteratur, deren Charakter damals durch die entscheidenden Thaten Klopstock's, Lessing's und Winckelmann's herausgebildet ward, hatte keine durchaus zuverlässige Leitung dem Werdenden anzubieten; sie fühlte sich selbst in einem raschen Werden begriffen. Fruchtbar in mancher Beziehung ward für ihn der Verkehr mit reiferen Männern, wie Pfeil, Hermann,|Krebel, mit denen er sich seit dem Sommer 1766 an der Tafel des Schönkops’schen Hauses zusammenfand, nachdem er den Mittagstisch bei dem Mediciner Hofrath Ludwig aufgegeben. Ein eigentlicher Führer und Leiter fand sich jedoch unter diesen so wenig wie unter den anderen, die, wie Langer, erst später herantraten, oder, wie Eschenburg und Zachariae, nur vorübergehend seinen Kreis berührten.

    In diesem rathlosen Zustande mochte er sich damals oft genug beängstigt fühlen. Aber es war ein Glück, daß er sich so gründlich durch ihn hindurchkämpfen mußte. Denn gerade dadurch ward die später erfolgende, eben so gründliche Befreiung von irreführender Theorie und äußerem Regelzwange vorbereitet.

    Die Ahnung großer Kunstgesetze dämmerte ihm schon damals auf. Ein zweijähriger Unterricht bei Oeser, der seit 1763 an der Spitze der Zeichenakademie wirkte, konnte zwar seine künstlerische Fertigkeit nicht bedeutend steigern; er leitete ihn aber zu empfindungsvoller Betrachtung des Kunstschönen. Oeser hatte Winckelmann's Kunstevangelium mit gläubiger Ueberzeugung angenommen; von ihm empfingen es seine Schüler. G. ergriff mit Begier die Haupt- und Kernpunkte dieser Lehre; er gewann schon jetzt die Grundlagen der Kunstanschauungen, in deren allseitiger Ausbildung er später einen der reinsten Genüsse finden und deren Verkündigung ihm ein ernstes Geschäft seines Lebens werden sollte. Er übte sich praktisch in verschiedenen Fächern der bildenden Kunst. In den Leipziger Sammlungen, vor manchen köstlichen Werken der Dresdener Gemäldegalerie, im Verkehr mit eifrigen Liebhabern und einsichtigen Kennern lernte er sehen, vergleichen und urtheilen. Wahrhaft aufgehellt ward sein Geist durch Lessing's Laokoon. Er sah hier die sicher erkennbare Grenzlinie gezogen zwischen der redenden und bildenden Kunst, die zu wechselseitigem Unheil sich so oft in einander verloren hatten. Er sah eine jede in ihrem eigenen Bereiche zu ihrer wahren Würde zurückgeführt und auf die ihr eigenthümlichen Wirkungen angewiesen. Die Grundbegriffe, die ihm der vortrefflichste Denker überlieferte, ermuthigten ihn schon in jener Zeit des Suchens und Strebens, da er ihren ganzen Werth und Gehalt wol noch kaum ermaß; sie blieben seine sicheren Leitsterne in der Zeit künstlerischer Reife.

    Diese Hingebung an die bildende Kunst durfte ihn der Poesie nicht entfremden. Er erfuhr an sich selbst, „daß die Werkstatt des großen Künstlers mehr den keimenden Dichter entwickelt als der Hörsaal des Weltweisen und des Kritikers“. Noch zu Anfang des Jahres 1770 mochte er Oeser neben Shakespeare und Wieland als seinen echten Lehrer bezeichnen. Indem er sich der herkömmlichen Theorien zu entledigen strebte, ward er um so entschiedener gedrängt, Anlaß und Stoff seiner Dichtung aus den Tiefen des eigenen Inneren zu schöpfen; er mußte seine Erlebnisse und Erfahrungen, nachdem er sie geistig verarbeitet, in dichterischer Form aus sich herausstellen. So bildete sich aus der unbehaglichen Wahrnehmung der sittlichen Schäden, an denen Familie und Gesellschaft krankten, die nach Moliere’schem Muster mit großer technischer Gewandtheit ausgeführte Komödie „Die Mitschuldigen“, die damals noch in einem Akt zusammengefaßt war. Seine Lyrik aber näherte sich an den schmerzlich-freudigen Jugendempfindungen, die ihn wechselnd bewegten. Zwar in dem Verkehr mit Oeser's Tochter, Friederike (geb. 1748, unvermählt 1829), ward keine tiefere Empfindung rege. G. scheint sich erst gegen Ende seines Leipziger Aufenthalts dem Mädchen mehr genähert zu haben, das ihn nicht durch Schönheit, wol aber durch die lebendige Frische ihres Wesens anziehen konnte; doch der Ton einer geistreich neckischen Munterkeit blieb auch da vorherrschend. Leidenschaftlicher gefärbt erscheint das Verhältniß zu Anna Katharina Schönkopf. Nicht lange hatte er den Mittagstisch in ihrem elterlichen Hause besucht, als er sie zum Gegenstande seiner zärtlichen Aufmerksamkeit erkor. Bald gehörte er zur Familie; er nahm Theil an den einfachen häuslichen Spielen, an den musikalischen Unterhaltungen; eifrig war seine Mitwirkung bei den theatralischen Lustbarkeiten, die bis zur Aufführung der Lessing’schen Minna gesteigert wurden. Man sah sich täglich, man lebte in den vielfachsten gesellschaftlichen Berührungen, und so fand seine Neigung freien Spielraum. Käthchen nahm die Huldigungen des um drei Jahre jüngeren Verehrers dankbar hin; er glaubte während der ganzen Zeit, da er sie kannte, nur als ein Theil von ihr gelebt zu haben; sie jedoch bezeigte sich mehr freundschaftlich als zärtlich; auf den leidenschaftlichen-Ton, den er anschlug, mochte sie wol nur selten eingehen: Witz, harmloser Spott und Schalkheit standen ihr natürlicher an. So quälte sie ihn mit ihren „liebenswürdigen Grausamkeiten“ und hatte dafür von seinen Grillen und Launen manches zu erdulden. Den Nachklang solcher, zwischen Freud und Leid schwankenden Stimmungen vernehmen wir noch jetzt in dem Schäferspiel „Die Laune des Verliebten“, das fast vierzig Jahre nach seiner Entstehung (1806) erst im Druck erschien. Die konventionell abgezirkelte Form birgt ächten Empfindungsgehalt; ein warmer lyrischer Hauch schwebt über den Figuren der altmodischen Schäferwelt. Was uns von der eigentlichen Lyrik dieser Periode übrig geblieben, müssen wir größtentheils der ersten Hälfte des Jahres 1768 zuweisen. Den Grundton jener Stimmungen hören wir auch hier; aber er wird nicht immer ganz rein angegeben. Noch kann oder will der Dichter sein Empfindungsleben nicht voll und unmittelbar in das Lied überströmen lassen; er spricht oft als Betrachter und Zergliederer seiner Gefühle; ja, er kann sie altklug belächeln; bald lehrend, bald heiter oder wehmüthlich spottend mag er uns seine allzu frühen Erfahrungen über Wechsel und Unbestand der Neigung mittheilen; er meidet nicht den Ausdruck einer leichtfertigen Sinnlichkeit; indem eine altkluge Betrachtung dem Gefühl zur Seite geht und es oft verdrängt, muß das Lied eine Wendung ins Epigrammatische nehmen. Sprache und Form halten sich noch meist in den Geleisen, in denen die Gattung des leichteren Liedes sich damals bewegte. Aber in manchen dieser zierlich ausgebildeten Verse verbirgt und verräth sich die Innigkeit eines tieferen Naturgefühls; aus manchen andern scheint die Ahnung eines reich bewegten Gemüthslebens verheißungsvoll hervorzuklingen. Diese Lyrik zeichnet die äußeren und inneren Lebenszustände des Dichters; gleich allem, was er künftig hervorbringen wird, erscheint auch sie uns schon als eine vollgiltige Lebensurkunde. In diesen Liedern, wie in den beiden genannten Dramen hat er mit voller Sicherheit die Formen angewandt, die ihm von der damaligen Poesie fertig überliefert wurden. Stellt man diese dichterischen Anfänge vergleichend neben die Schöpfungen des reifenden und gereiften Künstlers, so möchte man glauben, er habe der Zeit, die ihn heranwachsen sah, den schuldigen Tribut abtragen müssen, ehe er mit kraftvoll errungener Selbständigkeit seine, ihm ganz eigene Dichtung begann und damit zugleich ein neues Zeitalter der Poesie einleitete.

    Bevor er jedoch zu dieser freien Geistesentfaltung gelangen sollte, hatte er eine ernste Prüfung zu überstehen. Das Leipziger Leben fand einen jähen Abschluß. Indem sich der Jüngling dem Genuß wie der Arbeit gleichmäßig hingab, hatte er seinen körperlichen Kräften mehr als billig zugemuthet. Die Natur, allzu rücksichtslos behandelt, übte eine heftige Gegenwirkung. Er ward im Sommer 1768 von einem starken Blutsturz überfallen; sein Leben schien ihm gefährdet; er glaubte der Lungensucht nicht entfliehen zu können. In dieser trüben Zeit erquickten ihn die freundlichen Gesinnungen, die ihm auch von Solchen bethätigt wurden, deren Nachsicht er durch launenhaftes Betragen wol zuweilen auf die Probe gestellt hatte; von allen Seiten kamen ihm Beweise|des Wohlwollens und überzeugten ihn, daß er die Werthschätzung achtungswürdiger Personen in reichem Maße gewonnen. Tröstlich vor allem war die Treue der näheren Freunde. Hermann, der spätere Bürgermeister von Leipzig (1743—1813), Gröning, der in Bremen hernach zu demselben Amte aufstieg (1745—1825) hielten wacker bei ihm aus; Horn, der Freund von Frankfurt her, wußte ihn mit allezeit bereiten Scherzen aufzumuntern; Johann Christian Limprecht (1741—1812), ein fast erblindeter, fremder Unterstützung bedürftiger Candidat der Theologie, war als Stubennachbar mit seinen Liebesdiensten immer zur Hand. Auch Langer, der später nach Wolfenbüttel auf Lessing's Stelle berufen ward, gesellte sich häufig zu dem Leidenden und hob ihn in ernstem Gespräche über manchen bänglich düsteren Augenblick hinaus; gern lenkte er die Rede auf Fragen des religiösen und sittlichen Lebens, und G. war in hinreichend empfänglicher Stimmung, um auf dieselben einzugehen. So sammelten sich schon um den Neunzehnjährigen treffliche Menschen des verschiedensten Charakters.

    Langsam stellte sich eine halbe Genesung ein. Noch waren die Spuren des Leidens in seinem Aeußeren sichtbar, als er an seinem Geburtstage, dem 28. August 1768, Leipzig verließ. Die Heimkehr ins elterliche Haus war keine fröhliche. Der Vater vermochte beim Anblick des kümmerlich Wiederhergestellten sein Mißbehagen kaum zu verbergen; er fürchtete, den Lebensplan, den er so vorsorglich für den Sohn festgesetzt, durchkreuzt zu sehen. Nur allzuhäufig fühlte die Mutter sich gedrungen, ihre ausharrende und ausgleichende Liebe zu Gunsten ihres Wolfgang wirken zu lassen, der sich nun ihr und der Schwester Cornelie mit ganzem Gemüthe immer inniger anschloß. Es ward ihm nicht leicht, sich in die vaterstädtischen und häuslichen Verhältnisse wieder einzufügen. Sehnsüchtig pries er Leipzig; er vermißte den Umgang der witzreichen Landsmänninnen der Lessing’schen Minna, nach deren geistigen Ebenbildern er in Frankfurt vergeblich suchte. Er stieß auf Widerstand, wenn er die Grundsätze eines geläuterten Kunstgeschmacks, die er als Schüler Oeser's sich angeeignet, in seiner Umgebung verbreiten wollte. Unterließ er es dennoch nicht, den guten Geschmack zu predigen, so mußte er „der Kunst wegen viel leiden“. Was ihm Leipzig gegeben, schien er jetzt erst nach seinem vollen Werthe zu schätzen; was ihm Frankfurt etwa geben konnte, vermochte der Leidende nicht zu genießen. Denn die Gefahr erneuerte sich. Der siebente December, Corneliens Geburtstag, ward zum Schreckenstage. Eine heftig hervorbrechende Kolik, von peinigenden Schmerzen begleitet, schien die bereits geschwächten Kräfte vollends erschöpfen zu wollen. Zwei Tage lang dauerte der hoffnungslose Zustand; dann erfolgte, unter dem entschlossenen Eingreifen des Arztes Joh. Fr. Metz, eine Wendung zum Besseren. Die Mutter aber richtete sich an einem Worte der Bibel auf. In ihrer schweren Herzensbedrängniß hatte sie zum Buch der Bücher ihre Zuflucht genommen, das nun in doppeltem Sinne zum Buche des Lebens ward: als sie an der Rettung des Sohnes fast verzweifelte, leuchteten ihr die Worte Jerem. 31, 5 tröstlich entgegen; sie behielt den Spruch wie eine göttliche Verheißung dauernden Heils bis auf ihre letzten Tage in treuem Gedächtniß. Vier Wochen hindurch blieb der Kranke aufs Lager gebannt. Als im Beginne des J. 1769 ihm eine freiere Bewegung gestattet ward, meldete sich das Uebel nochmals, aber mit verminderter Heftigkeit; er mußte sich das Zimmergefängniß noch vier Wochen lang gefallen lassen. Noch im April hatten die treu sorgenden Freunde über sein kränkliches Aussehen zu klagen. Nur allmählich wichen die Nachwehen des Leidens. Der Sommer führte ihn ins Freie; kleine Reisen wurden unternommen. Er sah in Worms Charitas Meixner wieder, die seine Empfindungen ehemals lebhaft beschäftigt hatte; er wanderte nach Marienborn im Darmstädtischen, um dort einer Versammlung der frommen Brüdergemeinde|beizuwohnen. Erst im Winter von 1769 auf 1770 kam ihm das volle Gefühl der Gesundheit wieder. Die nun überstandene Krankheit erwies sich als eine für den ganzen Organismus heilsame Krisis. Mit erneutem Jugendmuthe blickte er vorwärts ins Leben. Fürs erste mußte den juristischen Studien ein äußerlicher Abschluß gegeben und dadurch die oft verletzend hervorbrechende Ungeduld des Vaters beschwichtigt werden. Aber kein Gedanke an eine Rückkehr nach Leipzig! Im Januar 1770 hatte sich G. im Einverständniß mit dem Vater für Straßburg entschieden.

    Mit den Freunden und Freundinnen in Leipzig war inzwischen der briefliche Verkehr unterhalten worden. Aber nicht alles, was er von dort vernahm, konnte ihn heiter stimmen. Gegen Ende des Mai 1769 empfing er eine Nachricht, die ihn nicht unbewegt ließ: Käthchen hatte sich verlobt. G. mußte zugestehen, daß sie einen Würdigen gewählt. Der siebente März 1770 war der Tag ihrer Vermählung mit Dr. Christ. Karl Kanne; er leitete eine lange und beglückte Verbindung ein: erst 1806 ward sie gelöst durch den Tod des Mannes, der sich als Leipziger Vicebürgermeister Ansehen und Verdienst erworben hatte; die Frau überlebte ihn um vier Jahre. — G. schloß die Correspondenz mit Käthchen noch vor ihrer Verheirathung; das letzte Schreiben trägt das Datum des 23. Januar 1770. Aus seinen Briefen an die Braut spricht eine schmerzliche Empfindung, der es aber nicht allzu schwer wird, sich in der milderen Temperatur der Freundschaft zu beruhigen.

    Während dieser Periode der Krankheit und langsamen Wiederherstellung konnte die dichterische Thätigkeit nicht ergiebig sein. An den „Mitschuldigen“ ward gründlich gearbeitet. Die ursprüngliche Anlage in einem Act genügte nicht mehr; das Stück ward in drei Acten breiter und reicher ausgeführt. Hirzel's Sammlung „Der junge Goethe“ gibt es uns jetzt in der Gestalt, die es damals erhielt; und zwar erscheint es hier genau so, wie es in dem glücklich geretteten Manuscripte vorliegt, welches der Dichter im J. 1769 zierlich und sauber anfertigte. Gleichzeitig, im Sommer dieses Jahres, ward die Herausgabe von zwanzig Liedern vorbereitet, die in Leipzig entstanden waren und die ein Leipziger Freund mit Melodien begleitete. Am dritten October zeigten sich in den Buchläden zuerst die „Neuen Lieder“, in Melodien gesetzt von Bernhard Theodor Breitkopf. G. blieb ungenannt. In den Almanachen der folgenden Jahre finden sich manche dieser Gedichte wieder. Niemand ahnte, daß der namenlose Autor derselben einst als der größte aller Lyriker dastehen sollte.

    Der Zeitraum von anderthalb Jahren, den der Jüngling gezwungen im elterlichen Hause verbrachte, erscheint arm an äußeren Zeugnissen seines geistigen Thuns und Schaffens. Um so mehr bereicherte und vertiefte sich sein inneres Leben. Nachdem ihn die Leipziger Verhältnisse nach vielfachen Richtungen hin und wieder gezogen, ihn zu mancherlei Zerstreuung und Leichtfertigkeit verlockt und eine innere Sammlung auf die Dauer fast unmöglich gemacht hatten, fühlte er sich jetzt zur Einkehr in sich selbst getrieben. Blickte er auf seinen sittlichen Zustand, so brauchte er keineswegs zu erschrecken; er gewahrte kaum etwas, das ihn zu einem ärgerlichen Mißmuth über sich selbst hätte stimmen müssen. War er sich doch eines unendlich guten Willens bewußt! Auch fand er in sich das redliche Bestreben, diesem Willen zur Herrschaft über widerstreitende Neigungen zu verhelfen. Dennoch machte sich ihm die Nothwendigkeit fühlbar, jenem Bestreben Halt und Stütze zu verleihen. Wohin aber sich wenden, um diese Stütze zu gewinnen? Männer der verschiedensten Sinnesart, seit seinen Knabenjahren theilnehmend bemüht, ihn zu bilden und zu leiten, hatten ihn hinlänglich mit den verschiedenen, oft schnurstracks einander widersprechenden Grundsätzen bekannt gemacht, denen man, wie jeder zuversichtlich von den seinigen behauptete, nur|zu folgen brauchte, um auf dem Lebenspfade ohne Anstoß sicher, ja siegreich fortzuschreiten; so hatte er, wie er es selbst ausspricht, vor seinem zwanzigsten Jahre die Schulen fast sämmtlicher Moralphilosophen durchlaufen. Was er in einer jeden gelernt, wußte er zu bewahren und zu nutzen; aber keine hatte ihn mit demjenigen versehen, was ihm vor allem Noth that, wenn er die drangvolle Unruhe in seinem Inneren besänftigen, wenn er der Qual des Schwankens entrinnen und seinem ungeduldigen Suchen, Sinnen und Forschen Befriedigung bieten wollte. Wie natürlich, daß sich jetzt, da ihn noch der Druck körperlicher Mißstände befing, sein Gemüth den Einwirkungen einer zarten und innigen Religiosität eröffnete, die eben aus ihrer Innigkeit die Kühnheit schöpft, über die starren Schranken des Dogmas hinweg nach einem Liebesbündniß mit Gott und dem Heiland zu streben. Seine nie erloschene Neigung zur Bibel erleichterte ihm jederzeit die Annäherung an das Gebiet religiöser Empfindung, wenn er es auch noch so lange gemieden hatte. Und jetzt bot sich ihm eine Hand, von der er sich gern an jene Regionen heranführen ließ. Die frommen Gesinnungen, wie sie von den in herrnhutischem Geiste gestifteten Brüdergemeinden ausgingen, hatten seit der Mitte des Jahrhunderts auch in Frankfurt, besonders unter den höheren Ständen, Verbreitung gefunden. Die Gemüther, durch den Ernst der Kriegszeit verdüstert und in sich zurückgescheucht, mochten um so williger auf jene Lehren horchen, die ihnen den Weg zur unmittelbaren Gemeinschaft mit dem geopferten und ewig lebendigen Gottmenschen zu eröffnen und zu ebnen schienen. Die empfindungsseligen Bekenner dieses Evangeliums bildeten, wenn auch nicht eine Gemeinde, so doch einen enger geschlossenen Kreis, mit dessen weiblichen Mitgliedern die Mutter Goethe's vielfach verkehrte. Keine von diesen Gottesfreundinnen war ihr näher vertraut, als Susanna Katharina v. Klettenberg, eine Verwandte der Textor’schen Familie. Sie war die edelste Zierde der frommen Genossenschaft. An ihr ward der Segen offenbar, der von einem das ganze Gemüthsleben erneuernden Glauben ausfließen kann. Im J. 1723 geboren (19. December), war sie schon längst der Fülle dieses Segens theilhaftig geworden. Sich selbst und den Schatz ihrer Seelenerfahrungen hatte sie aus dem Strudel der Lebenswogen an das Ufer geflüchtet, wo sie, leidend und doch beglückt, „unter ihres Gottes Flügel ruhte". Die gewissenhafte, ja peinliche Strenge, mit der sie über sich selbst wachte, mit der sie jedem Anzeichen einer ungöttlichen Regung in ihrem Innern nachspürte, verleitete sie nie zu schroffem Verhalten gegen Andere. Dem Sectenstreite blieb sie fern. Ihr war die Liebe wirklich das eine, das allumfassende Gebot. Von den sinnlich gröberen Elementen, die sich dem Pietismus und den ihm verwandten Erscheinungen angehängt hatten, ließ sie sich kaum berühren; sie blieb der Empfindung hingegeben, „die alle Empfindungen übertrifft“. Stellt das Christenthum die Menschwerdung des Heiligen und die Heiligung des Menschen dar, so hatte es in dieser himmlischen Seele — als eine solche bezeichnete sie G. selbst in einem Briefe an Lavater — gewiß die liebenswürdigste Gestalt angenommen. Den Frieden, der vom Himmel ist und dessen sie selbst genossen, wollte sie auch über das Dasein ihres jungen Freundes verbreitet wissen; und dieser verschloß sein Ohr nicht, wenn sie von der Seligkeit sprach, die nur in der Vereinigung mit dem zu finden ist, „dessen Blut der Golgatha getrunken“. Sein Inneres schien sich der Heilsbotschaft zu öffnen. Er wandte sich wieder zu Kirche und Altar, die er in seinen reiferen Knabenjahren gleichgültig beiseit gelassen; er verschmähte sogar die fromme Terminologie nicht ganz; er mochte sich und andern bekennen, daß er mit unserm Herre Gott etwas besser stehe, und mit seinem lieben Sohn Jesu Christo. Doch war die Begier nach Erweckung und Erleuchtung nicht so stark in ihm, daß er auf seine sonstigen Ueberzeugungen und Wünsche, Hoffnungen und Ansprüche hätte verzichten mögen. Das Weltkind machte der Frommen gegenüber in Scherz und Ernst seine Rechte geltend; diese aber war viel zu einsichtig, um, selbst wenn sie es vermocht hätte, sein Wesen gewaltsam in fremde Bahnen zu zwingen. So blieb er, wie Gott und Natur ihn gewollt und geschaffen. Unzweifelhaft jedoch gewann er in dieser Zeit das Verständniß für alles, was dem religiösen Empfindungsleben eigenthümlich angehört. Dies Verständniß konnte ihm nicht wieder verloren gehen; es leitete ihn sicher überall, wo er, sei es als Historiker, sei es als Dichter, die Beziehungen des Irdischen zum Göttlichen und vor allem das Verhältniß des Christenthums zur Menschheit und zum menschlichen Herzen auffassen oder darstellen wollte. Aber auch das Bild der Freundin ging ihm nicht verloren. Aufgefrischt stand es vor ihm, als er in „Wilhelm Meister's Lehrjahren“ zu schildern hatte, wie eine vornehm zarte Frauennatur, vom Strahl der Gnade getroffen, sich den Einwirkungen des unsichtbaren Wesens bedingungslos überläßt, und so stufenweise sich läutert, bis sie würdig wird, den Gott, den sie in der Außenwelt erkennt, auch im Herzen zu tragen. Er rief sich alles zurück, was er mit und an Fräulein v. Klettenberg erfahren, und auf Grund ihrer eigenen Aufzeichnungen entwarf er die Selbstdarstellung der „schönen Seele“.

    Im Gefolge der religiösen Stimmung, die ihn so wohlthuend ergriff, trat auch die Neigung zu theologischen und theosophischen Studien hervor; er ließ sich durch die fromme Freundin sogar bereden, zu kabbalistischen und alchymistischen Schriften zu greifen; er vertiefte sich in die Abstrusitäten dieser Litteratur, in welcher ein verdüsternder, oft gefährlicher Aberglaube sich mit den halbdichterischen Ahnungen einer kindisch umhertastenden Naturwissenschaft wunderlich genug berührt. Auch konnte er der Lust nicht widerstehen, nach den Winken der Alchymisten selbst praktische Versuche zu wagen; aus der Mischung seltsamer Substanzen sollten die heilsamsten Kräfte ans Licht gezogen werden. Zwar den geheimnißvollen Salzen und Säften, die er zu erzeugen strebte, kam er nicht auf die Spur. Aber alles, was sein Geist einmal ernstlich erfaßt hatte, mußte ihm früher oder später, mittelbar oder unmittelbar, förderlich werden. Im Verlaufe dieser, mit einer gewissen Hartnäckigkeit fortgesetzten Operationen that er manche Blicke ins chemische und medicinische Gebiet; und indem er über jenen Wunderbüchern brütete, machte er, ohne es zu ahnen, Vorstudien zum „Faust": er verschaffte sich gleichsam den Apparat, mit dem er die Zauberwelt dieser Dichtung ausrüsten sollte. So eröffnet sich aus der etwas drückenden Atmosphäre, die den Kranken und Genesenden im elterlichen Hause umgab, der Ausblick auf zwei seiner mächtigsten Schöpfungen.

    Indessen war es für Geist und Körper wünschenswerth, ja nothwendig geworden, in freierer Umgebung sich zu erholen. Der Plan, auf den er schon im Sommer 1769 gedeutet, ward ausgeführt. Der zweite Abschnitt seines akademischen Lebens begann. Ihn hob das Gefühl wiedererlangter Gesundheit, und er hatte „Munterkeit im Ueberfluß“, als er in den ersten Tagen des April 1770 in Straßburg anlangte. Gleich ward das Münster, als das vollkommenste Werk deutscher Baukunst, mit Staunen begrüßt. Noch vermochte er Sinn und Absicht des Künstlers nicht zu fassen, der hier das unendlich Mannigfaltige zur Einheit geordnet. Von der Höhe des Wunderbaues blickte er auf das Land hernieder, das damals vom großen Vaterlande losgerissen war, in dem jedoch unter fremder Hülle deutsches Wesen und deutsche Sitte noch kräftig fortbestanden. Er ließ es an dem neuen Orte eine seiner ersten Handlungen sein, den armen Leipziger Stubennachbar Limprecht mit einer Geldsendung zu bedenken. Lange schon, bevor er selbst es ausgesprochen, handelte er nach dem echt christlichen Worte: „Edel sei der Mensch, hülfreich und gut!“ — Wohlthätigkeit in großem Sinne zu üben, blieb ihm durchs Leben Bedürfniß und Genuß.

    Wohnung nahm er am alten Fischmarkt bei Herrn Schlag; am 19. April trug er seinen Namen in die Liste der akademischen Bürger ein. Im ersten Halbjahr gab ihm die Jurisprudenz genug zu thun; er widmete sich ihr nicht ohne Neigung; und im September konnte er mit Ehren eine Prüfung bestehen, die als nothwendige Vorstufe zur Promotion galt. Mit den „frommen Leuten“ suchte er sich eng zu verbinden. Sie waren dem Hallischen Pietismus zugethan; mit großem Mißvergnügen hörte er sie auf „seinen Grafen“ (Zinzendorf) bitter schelten. Die Langeweile verscheuchte ihn bald aus einer Gesellschaft, in welcher einengende Religionsempfindungen, die oft zu Härte und Unduldsamkeit verleiteten, für jede höhere Bildung des Geistes und Herzens Ersatz bieten sollten. Doch deshalb entfremdete er sich noch nicht dem kirchlichen Leben. Briefliche Aeußerungen gegen jüngere Freunde lassen die Fortdauer einer religiösen Grundstimmung erkennen; und kurz vor seinem Geburtstage (am 26. August 1770) berichtete er der Klettenberg, er sei „mit der christlichen Gemeine hingegangen, sich an des Herrn Leiden und Tod zu erinnern“. Mochte er, da neue Anschauungen in ihm zur Herrschaft gelangten, der Kirche auch wieder fern und ferner treten, so blieb der Kern des Christenthums ihm doch werther und heiliger als manchem Buchstabengläubigen. Er zweifelte, daß mit dem neuen Lebensjahre eine „neue Epoche“ für ihn anheben würde. Der Zweifel war unbegründet: gerade dies Jahr, sein zweiundzwanzigstes, sollte eine Epoche einleiten, in der sein Leben und Schaffen die entscheidende Richtung nahm.

    Wie kühn seine Gedanken und Studien damals nach allen Seiten ausgriffen, das beweisen die Aufzeichnungen, die er in einer Art von wissenschaftlichem Tagebuch unter dem Namen „Ephemerides“ zusammenfaßte. Nachdem für die Jurisprudenz das Nöthige geschehen war, ließ er die Neigung zur Medicin und Naturwissenschaft um so mehr vorwalten, als seine Tischgenossen, unter denen Mediciner die Mehrzahl bildeten, ihn durch ihre Gespräche beständig an jene Lieblingsfächer mahnten. So nahm er im Winterhalbjahr (1770—71) an Ehrmann's Klinikum Theil und besuchte Lobstein's Vorlesungen über Anatomie. Auch für die Chemie, die Spielmann las, fehlte es ihm nicht an Zeit. Zugleich erweiterte und stärkte sich sein Natursinn. Hatte er sich in Leipzig mit dem Rosenthal begnügen müssen, so lag hier lockend vor ihm ausgebreitet ein herrliches Land: es bald als Fußwanderer, bald als Reiter zu durchstreifen, ward ihm zur Lust. Noch im Sommer 1770 unternahm er mit zwei Elsässer Freunden, Engelbach und Weyland, eine Reise ins Lothringische; lange begleitete ihn die Erinnerung an die Eindrücke und Anschauungen, die sich dort auf Schritt und Tritt ihm dargeboten.

    Um diese Zeit, da die gesammten Fähigkeiten seiner Natur wetteifernd nach Ausbildung strebten, begann er auch unter seinen Gefährten das natürliche Herrscherrecht zu üben, dessen Anerkennung man ihm gewährte, ohne daß er sie forderte. Auch hier, wie in Leipzig, fand er eine Tischgesellschaft, unter deren Mitgliedern, deren Zahl im Winterhalbjahr bis auf zwanzig stieg, manche seine Freundschaft verdienten und erhielten. Bei den Jungfern Lauth in der Krämergasse Nr. 13 trafen sich die jungen Männer, die einem älteren Mentor, dem Actuar beim Vormundsschaftsgericht, Johann Daniel Salzmann (1722—1812), gern die Würde des Vorsitzes überließen. Von den Franzosen hatte Salzmann die Sicherheit und Eleganz der Umgangsformen angenommen. Durch die freundlich gemessene Art seines Auftretens und Benehmens zog er die Jüngeren zu sich heran und legte ihnen doch eine gewisse Zurückhaltung auf. Seinem still wirkenden persönlichen Ansehen fügte man sich um so lieber, da man seiner Welterfahrung eben|so sehr wie der Lauterkeit seines Wohlwollens vertrauen durfte. Von Herz und Geist war er ein Deutscher; das Beste seiner Bildung verdankte er der deutschen Popularphilosophie; am Christenthum schätzte er vornehmlich die moralische Seite. Die Richtung auf das praktische Leben, die ihm durch die klare Verständigkeit seines Wesens geboten war, hinderte ihn nicht, die Litteratur nach seiner Weise zu pflegen. Und er pflegte sie in deutschem Sinne. Er war thätig besorgt, das vaterländische Element gegen den übermächtigen französischen Andrang zu schützen, und auch seine jüngeren Freunde durften in diesem Bestreben nicht lässig werden. Einer Gesellschaft, die er gestiftet, war die Aufgabe zugetheilt, deutsche Rede und Schrift zu fördern. Einem solchen Manne konnte G. sich anschließen; er konnte den Aelteren, der das Drängen der Jugend gar wol begriff, zum Vertrauten seiner Studien wie seiner Leidenschaften machen Unter den übrigen Genossen scheint ihn niemand wohlthuender berührt zu haben, als der gleichaltrige Lerse, der uns heute noch im Götz lebendig ist. Ueber Jung (Stilling), dessen Erscheinung am Lauth’schen Mittagstisch etwas fremdartig auffiel, hielt G. die schützende Hand; mit brüderlicher Herzlichkeit suchte er den Bedrängten aufzurichten; er nahm Theil an dessen Freuden und Kümmernissen und gab dem eingeengten Geiste weitere Aussichten; er hatte Verständniß für des gläubigen Mannes zuversichtlichen Frommsinn, den andere schalten oder verhöhnten.

    Wenn auch die Freunde sich ohne Widerspruch dem wohlerwogenen Worte, dem milden Gebote Salzmann's unterordneten, so gewahrte doch alsbald jeder Ankömmling, der sich diesem Kreise zugesellen wollte, daß in Wirklichkeit G. hier das Regiment führte. Sein Wort entfesselte die gesellschaftliche Lust und dämpfte die Ungebühr. Sein Blick war bezwingend; wen der Strahl aus diesen leuchtenden Augen traf, der fühlte, daß ein Herrscher vor ihm stand. Gewiß hat der junge Herrscher seine Macht nicht mißbraucht. Zwar konnte sein rücksichtsloser Freimuth hie und da verletzen; auch er entging dem Vorwurfe nicht, unter dem so mancher bedeutende Mensch in seiner Jugend leiden muß: kurzsichtige Beobachter sprachen wol von seinem Hochmuth, seiner unerträglichen Ueberhebung. Aber an ihm war nichts von Schein, nichts von Anmaßung. Er folgte dem Gesetze seiner Natur; nie hätte er sich anders darstellen können, als er war. Die Ahnung neuer großer Ziele trieb ihn vorwärts auf Bahnen, die kein Anderer beschreiten durfte; das Bewußtsein unerschöpflicher innerer Kräfte trug ihn empor. So ließ er aus den Tiefen seiner Natur sein Selbstgefühl frei hervorbrechen, ohne zu beachten, wie heftig er damit bei denen anstieß, die nur den Werth des Herkömmlichen zu schätzen wußten und an dem Werdenden die Abzeichen künftiger Größe nicht entdeckten.

    Hätte vor den Blicken derjenigen, welche die kühnen Aeußerungen seines Wesens aus Hoffart und Mißachtung Anderer herleiteten, sein Inneres sich aufschließen können, sie würden hier nichts dergleichen wahrgenommen haben. Vielmehr war sein Gemüth auf das liebevollste gestimmt. Im Herbste 1770 betrat er zuerst das Haus des Sessenheimer Pfarrers Joh. Jak. Brion. Die Eindrücke, die ihm in jener ländlichen Umgebung geworden, gab er gleich hernach in den Worten wieder: „Die Gesellschaft der liebenswürdigen Töchter vom Hause, die schöne Gegend und der freundlichste Himmel weckten in meinem Herzen jede schlafende Empfindung, jede Erinnerung an alles, was ich liebe.“ Am 15. October richtete er die ersten Zeilen an die jüngere Tochter, die achtzehnjährige Friederika Elisabetha. Sie war die „liebe neue Freundin“, um die seine Gedanken schwebten, zu der es ihn aber- und abermals unwiderstehlich hinzog. Die Gewalt einer reinen jugendlichen Neigung führte die Gemüther zusammen. Es blieb keine Muße, das Künftige zu überdenken; der leidenschaftliche Austausch unschuldsvoller Gefühle bot den Liebenden in jedem Augenblicke der Gegenwart ein seliges Genügen. Erst allmählich tauchten, beim Ausblick in die Ferne, bänglichere Empfindungen auf.

    G. hat in Dichtung und Wahrheit alles erschöpft, was über Friederike, was über ihre Liebe und ihr Geschick zu sagen ist. Wir vermögen das wirklich Erlebte, das ihm später aus aufgefrischter Erinnerung wieder entgegentrat, nicht mehr von den dichterischen Bestandtheilen der Erzählung zu sondern. Beide Elemente sind unauflöslich in einander verwoben. Die Dichtung setzt sich der Wirklichkeit nicht entgegen, wenn sie auch, um ihres eigenen Zweckes willen, darauf verzichtet, den Verlauf der wirklichen Vorgänge genau zu beobachten. Jener Zweck besteht einzig darin, die innere Wahrheit der Erlebnisse zum Ausdruck zu bringen. Dem Gesetze dieser Wahrheit muß das zufällig Wirkliche sich unterwerfen; dasselbe wird, wenn nicht ausgelöscht, so doch dergestalt behandelt, daß an und in ihm das Wesentliche und Nothwendige sich offenbart. Erst jüngst hat ein mit echtem Künstlerblick ausgerüsteter Freund Goethe's uns zur Würdigung der feinen Kunst angeleitet, welche in der Schilderung Friederikens alle Einzelheiten im Hinblick auf eine bestimmte Gesammtwirkung bildet und ordnet. An dieser Friederike, wie der Dichter sie geschaffen oder nachgeschaffen, müssen wir uns genügen lassen. Was wir in Wahrheit über sie wissen, wissen wir durch ihn. Das zehnte und elfte Buch von „Dichtung und Wahrheit“, der Brief an Frau v. Stein vom 28. September 1779— das sind die vertrauenswürdigen Urkunden über Sein und Geschick dieser Friederike, der wir ein Fortleben in der liebevollen Erinnerung der kommenden Geschlechter vergönnen. Man hat nach ihren späteren Lebenszuständen mit peinlicher Ausdauer geforscht; der Euer solcher Forschenden verlor sich manchmal in eine böswillig spähende Neugier. Dieser blieb freilich die erhoffte schnöde Befriedigung versagt. Es ließ sich kein Flecken an dem Bilde des Mädchens anbringen, welches das Herz, das sich der Liebe zu G. freudig erschlossen, vor jeder anderen Berührung verwahrte. Wie geringfügig ist nun aber auch alles, was als Ergebniß redlicher Forschungsmühen gewonnen worden! Die paar Worte ihrer Hand, die sich gerettet haben, verrathen uns nichts von ihrem Wesen; was sie an G. schrieb, bleibt uns vorenthalten. Und wie wenig sagen uns die halb getrübten Ueberlieferungen, die spärlichen nackten Daten! Selbst was wir über die mehrfachen Veränderungen, die ihre äußere Lage betrafen, zuverlässig erfahren, reicht kaum hin, einen dürftigen Umriß ihres Lebens zu zeichnen. An dem, was man Glück nennt, ward ihr nur ein kärglicher Antheil. Wollte sie, als das Alter herannahte, nicht ganz vereinsamt dastehen, so mußte sie den Familienkreisen ihrer verheiratheten Geschwister sich anschließen. Dort, in enge, wenn nicht kümmerliche Zustände gebannt, verbrachte sie die Tage in der Erfüllung bescheidener Pflichten, zum Frommen ihrer Nächsten. Die letzten acht Jahre verflossen ihr in Meissenheim bei Lahr, wohin sie ihrem Schwager, dem Pfarrer Marx, gefolgt war. Am 3. April 1813 ging sie still aus der Welt; wie sie bis ans Ende sich hülf- und liebreich bewährt hatte, so erfreute sie sich auch bis ans Ende der dankbaren Liebe der Ihrigen. Ihr Erdendasein schloß gerade zu der Zeit, da G. sie in einer höheren Welt wieder auferstehen ließ.

    Und als eine Angehörige jener Welt, dem irdischen Wechsel und Wandel entzogen, mag sie uns vor Augen bleiben, verklärt in dem Jugendglanze, der sie einst vor Goethe's Blicken umleuchtete. Wir mögen sie sehen, wie sie, in leichtem, sommerlichem Anzuge, leichtschwebenden Fußes sich über Felder und Wiesen dahinbewegt, bald dem Geliebten entgegeneilend, bald ihn an ihrem Arm zu ihren Lieblingsplätzen geleitend. In freier Himmelsluft, in der Umgebung von Strauch und Blume scheint sie in der Heiterkeit ihres Daseins|am frischesten aufzublühen; so fühlt sich denn auch alles erheitert unter dem Einfluß ihrer Nähe. Das wohlthuende Gleichgewicht ihres Wesens wird nicht leicht unterbrochen; der Frohsinn, den sie der Reinheit ihres Gemüths verdankt, bleibt ungestört. Dabei hat sie einen klaren Blick für Menschen und Dinge ihres Bereichs; ihre thätige Liebenswürdigkeit, ihre voraussehende Klugheit ist darauf gerichtet, die kleinen Störungen und Widerlichkeiten, die das tägliche Leben, das gesellschaftliche Beisammensein bedrohen, möglichst fernzuhalten; gern fügt man sich ihren Anordnungen; geschickt weiß sie es einzurichten, daß ländliche Festlichkeiten zur Befriedigung aller Theilnehmenden verlaufen. Aber auch in der winterlichen Stube verliert sie nichts von ihrer Anmuth; eben so herzlich fließt auch hier das Wort von ihrer Lippe; ihr Betragen bleibt gleich ungezwungen, und nicht minder hell klingen ihre einfachen volksmäßigen Weisen, die tief in des Dichters Empfindung dringen und ihn auf das Gebiet des Volksliedes hinlocken. Am liebsten möchten wir sie uns vergegenwärtigen, wie sie dem Freunde ihr unschuldvolles Gemüth offen darlegt, wie sie in unbefangener Hingebung zu ihm aufblickt, dem Zauberfluß seiner Rede lauscht und sein neues Lied vernimmt, das Lied, das sie selbst hervorgerufen.

    Denn mit Recht erscheint sie uns als die Muse seiner nun zu frischem Jugendleben erwachenden Lyrik. Das Goethe’sche Lied, wie es jetzt aus der Fülle seines inneren Lebens hervorzuklingen beginnt, ist alles künstlichen Wesens wie aller Reflexion ledig geworden; es verzichtet auf epigrammatische Wendungen, auf Spiele des Witzes und auf den Schmuck wohl angebrachter Sinnsprüche; es stellt sich nicht betrachtend neben oder gar über das Gefühl; es wird vielmehr zum unwillkürlichen Ausdruck desselben. Ohne weitere Vermittlung tritt die Empfindung ins Wort hinüber; das Wort darf sie nicht mit dem herkömmlichen dichterischen Apparat verhüllen: es muß sie in leuchtender Wahrheit offenbaren. In dem beseelten Laut des Liedes gewinnt das Gefühl Stimme und herzbezwingende Sprache. Nur bei ungebrochener Einheit von Leben und Dichtung konnte eine solche Lyrik entstehen. Andere tragen die Poesie mit Bewußtsein ins Leben; sie wollen ihm eine poetische Außenseite verleihen und es mit einem würdigeren Inhalte ausstatten. Selbst einer der edelsten Dichter, wie Klopstock, aus dem gewiß die lautere Wahrheit der Empfindung sprach, verräth häufig das Bemühen, seinem Leben erst durch seine Kunst die höhere und höchste Weihe zuzuführen. Die Goethe’sche Lyrik hingegen ist die nothwendige Blüthe des Lebens selbst. Sie entspringt aus dem Leben und ergänzt es zugleich. Sein menschliches Dasein würde unvollkommen bleiben, wenn er nicht dichtete, und seine Dichtung würde der inneren belebenden und überzeugenden Kraft ermangeln, wenn sie nicht auf dem sicheren Grunde seines persönlichen Daseins ruhte. Andere errichten sich ihr poetisches Reich in bedenklicher Entfernung von dem Umkreis ihres gewohnten Lebens: G. weiß nichts von einem solchen abgesonderten Bezirk der Dichtung. Wohin er seinen Fuß setzt, da ist poetischer Boden. Er lebt, was er dichtet.

    So wird Wahrheit oberstes Gesetz seiner Lyrik, wie seiner gesammten Dichtung. Der Poet gibt uns ein fortwährendes Selbstbekenntniß; jedes Gedicht ist eine helle Lebensspur.

    Will er die Fülle des wirklichen Daseins in die Dichtung aufnehmen, so muß er wiederum die volle Poesie befruchtend in die Wirklichkeit einströmen lassen. Schöpft der Dichter aus seinem eigenen Selbst, dann muß er, der zum Sprecher der Menschheit berufen ist, das persönliche Sein dergestalt erweitern und veredeln, daß die Menschheit sich in ihm wiedererkennt und wiederfindet. Hätte G. nur von Selbstempfundenem und Selbsterlebtem gesungen, so bliebe ihm immerhin das Verdienst, daß er die Lyrik aus der Verkünstelung zu Wahrheit|und Natur zurückgeführt. Aus anerschaffener Kunst aber vermag er den Stoff, den er dem eigensten Leben und Fühlen entnommen, so zu formen und zu verklären, daß uns aus seinem Liede die ewigen Gefühle der Menschheit, rein und allverständlich, entgegen tönen. Was er in seinem innern Selbst genossen und geduldet, hat er uns allen zugetheilt. So wird er der große, ja der größte Künstler unter den Lyrikern.

    Die Lieder, welche des Dichters Neigung zu Friederike hervortrieb, zeigen uns sein Gemüth in vollem Einklang mit der Natur. Kein Gegensatz der innern Empfindung und der äußern Lebensmächte läßt sich wahrnehmen. Wenn er aus vollem Herzen der herrlich leuchtenden Natur entgegenjauchzt, so gibt ihm die Natur mit ihren tausend Stimmen eine Antwort, wie sein Herz sie ersehnt. Alle leidenschaftliche Tragik bleibt dieser Poesie fern. Diese Lieder können als die freie und zugleich als die heiterste Offenbarung des menschlichen Gemüthes gelten.

    Aber es bedurfte noch einer anderen mächtig entscheidenden Einwirkung, um den Geist des Dichters aller bis dahin getragenen Fesseln völlig zu entledigen: Herder trat ihm entgegen. Vielleicht zum ersten Mal erfuhr G. den Einfluß einer Persönlichkeit, welcher er in jedem Sinne eine Ueberlegenheit über sich selbst zugestand. Herder, 1744 geboren, zählte nicht nur fünf Jahre mehr als der Straßburger Student; seine Leistungen, seine Schicksale, der männliche Ernst seines Strebens, die Erfahrungen, die er schon an sich selbst und am äußern Leben gemacht, ließen ihn dem Werdenden gegenüber als einen Gereiften erscheinen. Im Mai 1769 war Herder auf sein Gesuch der „bishero mit Ruhm und bestem Beyfall bekleideten Aemter“ enthoben worden; er verließ Riga; von leidenschaftlichem Drange vorwärts getrieben, riß er sich aus Verhältnissen los, in denen ein Geist, welcher minder lebhaft ins Große und Weite strebte, dauernde Befriedigung gefunden hätte. Durch die „Fragmente über die neuere deutsche Litteratur“ und die „Kritischen Wälder“ hatte er das Ansehen eines Führers der jüngeren Generation gewonnen und zugleich laute, bitter verletzende Feindseligkeit gegen sich erweckt. Welch eine Welt von Ahnungen und Anschauungen, von Wünschen und Vorsätzen sich in seinem Innern drängte, bezeugt das denkwürdige Journal seiner Reise vom J. 1769. Nach Straßburg kam er im Beginne des September 1770 als geistlicher Begleiter des jungen Prinzen von Holstein-Gottorp, von dem er sich aber nach wenigen Wochen trennte, da er gewillt war, dem Rufe zu folgen, der aus Bückeburg an ihn erging. Die Hoffnung, durch die Kunst der Straßburger Acrzte von seinem Augenleiden befreit zu werden, bestimmte ihn zu längerem Verweilen in der Universitätsstadt. Er blieb den Winter über bis in den April 1771. G. ward sein treuer Gesellschafter, und hielt standhaft bei ihm aus in erfreulichen, wie auch in bösen Stunden, in denen durch das Mißlingen der schmerzhaften Cur die Stimmung des Leidenden sich verdüsterte. Wol kehrte Herder das Gefühl seiner Superiorität gegen den Jüngeren hervor; er traf ihn mit herben Scherzen und verschonte ihn nicht mit seinen Launen. Aber G. ließ sich nicht abstoßen; er schien sich liebevoll willig unterzuordnen; was er von Herder empfing, war auch um den höchsten Preis nicht zu theuer erkauft. Herder zog ihn mit Geistesgewalt in die großartige litterarische Bewegung hinein, die er, selbständig auf Hamann's und Lesing's Pfaden schreitend, kühn befördert hatte und aus eigener Kraft weiter zu leiten entschlossen war. Indem er G. an seinen Einsichten theilnehmen ließ und ihm Aussichten ins Weite, ja ins Unbegrenzte eröffnete, trieb er unwiderstehlich ihn aus den engeren Anschauungen heraus, in denen die Bildung der Zeit ihn bis dahin noch immer befangen gehalten. —

    Die Schranken des Herkommens, die auch G. in Auffassung und Ausübung|der Kunst noch nicht siegreich durchbrochen hatte, jetzt fielen sie nieder. Der Blick ward frei: die Welt- und Völkerpoesie that sich in unermeßlicher Ausdehnung vor ihm auf. Derjenigen Satzungen ward nicht mehr geachtet, die nur auf Meinungen, welche nach Zeit und Ort wechseln, oder auf Ueberlieferung sich stützen. Die hohle Regel zerbrach. Geltung und Achtung gebührte nur den ewigen Kunstgesetzen, welche die Meister aller Zeiten in sich getragen, denen sie bewußt oder unbewußt gehorchten. Durch Herder lernte G. den Unterschied erkennen zwischen dem Zeitlichen und Ewigen in der Poesie; er ward durch die Schärfe, mit welcher jener das Falsche vom Echten sonderte, unweigerlich gezwungen, die Götter und Götzen des Jahrhunderts in ihrer wahren Gestalt oder Mißgestalt zu sehen. Es ward eine heftige, nicht durchaus schmerzlose, aber durchaus heilsame Erschütterung in seinem geistigen Dasein bewirkt. Herder zerstörte ihm den Wahnglauben an unrechtmäßige oder zwangsweise aufrecht erhaltene Autoritäten; aber er gab ihm den rechten Glauben an die Schöpferkraft des menschlichen Geistes; er weihte ihn ein zur Erkenntniß des wahrhaft Großen, was dieser Geist in den verschiedenen Epochen der Geschichte der Menschheit aus sich erzeugt hatte. Wenn er auch den jüngeren Freund durch Scherz und herben Ernst oft niederschlug und ihn zuweilen vielleicht mit unbilliger Härte an seine Unzulänglichkeit mahnte, so mußte dem suchenden und ringenden Dichtergeiste doch durch alle diese ihm zuströmenden Anregungen die köstliche Zuversicht auf sein eigenes schöpferisches Vermögen bestärkt werden. Nun erschien ihm die Bibel als poetische Uroffenbarung wie von einem neuen Lichte bestrahlt. Der Gesang Homer's tönte aus dem Innern des wundersamsten Volkslebens als veredelter Naturlaut einer jugendlich kräftigen Menschheit hervor. Shakespeare's Gestalt erschien in ihren wirklichen Umrissen; die Beschäftigung mit dem Volksliede, dessen im Elsaß erhaltenen Resten G. mit Erfolg nachspürte, leitete zu der Einsicht, daß die poetische Fähigkeit als eine der gesammten Menschheit verliehene Gabe aufzufassen sei, die in einzelnen Erkorenen sich zum höchsten Grade der Ausbildung steigere.

    Nachdem Herder aus Straßburg geschieden, hegte und befestigte G. die neu gewonnenen Ueberzeugungen in seinem Innern; er predigte sie mit hinreißendem Eifer und verbreitete sie in seinem Freundeskreise, der sich rückhaltlos zu ihnen bekannte.

    Von ihnen ward auch Lenz ergriffen, der sie hernach mit einer ins Tumultuarische gehenden, halb kindischen Heftigkeit vortragen und vertheidigen sollte. Um das Ende des April 1771 hatte er sich in Straßburg eingefunden; seine Beziehung zu G. konnte damals noch leine innige werden. Was die um G. versammelten Freunde zu geistiger Gemeinschaft verband, war vornehmlich die Bewunderung Shakespeare's oder vielmehr die leidenschaftlich unbedingte Liebe zu seinen Werken. In ihnen erblickte man die Natur selbst; das Schicksal der Menschheit, das Geschick des Einzelnen ward durch sie offenbart; aus ihnen vernahm man mächtige Naturworte, die man ausdeuten, aber nicht abschwächen, deren Gehalt man sich aneignen, aber nicht kritisch wägen sollte. Die scheinbare Freiheit, in welcher sich die Form des Shakespeare’schen Dramas bewegt, die Vernichtung jedes sichtbaren Regelzwanges schmeichelte dem unbändigen Freiheitsgefühl, das in dieser literarischen Jugend auf- und abstürmte. Sie verehrte in dem Briten den Führer zur Selbständigkeit.

    Während sie an der Riesengestalt des Dichters hinaufstaunte, verhöhnte sie „die Herren der Regeln in ihrem Loch“, welche den herkömmlichen Maßstab, der nicht mehr giltig war, an die Größe einer solchen Erscheinung anlegen und sie als ungeheuerlich verschreien wollten. Und jene Selbständigkeit sollte nicht nur von dem Einzelnen errungen, sie sollte dem Geiste der gesammten Nation zurückgegeben werden. Deutsch zu sein in Leben und Kunst, das Vaterländische in Wissenschaft und Sitte zu pflegen, das Fremde, das sich gebieterisch aufdrängen wollte, abzuwehren, das erschien als Pflichtgebot, dem man aus innerster Neigung folgte. In der Nähe Frankreichs, auf einem Boden, der nicht mehr für deutsch gelten konnte, warfen sich die Genossen, denen G. voranging, zu Gegnern und Verächtern alles französischen Wesens auf. Hier ward der entscheidende äußere Anstoß zu der Umwälzung gegeben, deren Wirkungen sich alsbald über die ganze Breite der deutschen Litteratur ausdehnten und diese in ihren Tiefen umgestalteten. Die Litteratur Frankreichs, die sich noch immer mit ihrer vermeintlichen Herrschaft über Europa brüstete, erschien altersmatt; sie war verneinend und glaubenslos. Von ihr wandte G. sich ab, um Blick und Sinn in die deutsche Vergangenheit zu richten, deren Kunstherrlichkeit im Straßburger Münster ihm verkörpert vor Augen stand. Er erbaute sich an den schriftlichen Zeugnissen, die unsere Vorfahren von ihrem Sein und Treiben hinterlassen haben. Mochte die Darstellung in diesen Schriften auch noch so ungelenk sein, so trat doch aus ihnen die Gestalt der Vorzeit seiner bildenden Phantasie entgegen. Und so konnte wol im Anblick des Münsters ihm der Gedanke aufsteigen an eine Dichtung, die, ähnlich wie sein Götz, der frischen Gegenwart angehörte und doch den Hauch verschwundener Jahrhunderte spüren ließe.

    Während so unter der gemeinsamen Einwirkung Homer's und Shakespeare's, der biblischen Poesie, des classischen und des heimischen Alterthums der deutsche Dichter sich in ihm ausbildete, rückte die Zeit des Abgangs von Straßburg immer näher. Dom Verlangen des Vaters gemäß sollte er bei seiner Promotion den Erfolg seiner juristischen Studien durch eine gedruckte Abhandlung öffentlich documentiren. Er hatte denn auch der Facultät eine gewandt und lebhaft geschriebene Abhandlung überreicht, in welcher er den Grundsatz verfocht, daß dem Gesetzgeber nicht nur das Recht zustehe, sondern die Pflicht obliege, für Geistlichkeit und Laien einen gewissen Cultus zu bestimmen. Ohne das Verdienstliche der Arbeit zu verkennen, hegte die Facultät doch ernste Bedenken gegen den Stoff derselben. Sie wünschte nicht, eine Dissertation solches Inhalts unter ihren Auspicien gedruckt zu sehen, erbot sich aber, den Verfasser nach seinem Wunsche zum Licentiaten der Rechte zu befördern, wenn er, wie es in Straßburg damals nicht selten geschah, über Thesen disputiren wollte. So setzte denn G. 56 Positiones juris auf, unter denen sich auch eine These gegen die Abschaffung der Todesstrafe befand; sie wurden gedruckt; am 6. August 1771 ward die heitere Feierlichkeit der Disputation vollzogen, und der Dichter konnte als graduirter Rechtsgelehrter den Heimweg antreten.

    Er verließ den Straßburger Boden im sichern Gefühl erlangter Freiheit; die Fesseln französischer Bildung waren von ihm abgefallen. Er verließ diesen Boden voll kühner Gedanken, voll aufstrebender Hoffnungen, aber auch mit einem Schmerzgefühl, das der Trennung von Friederiken folgen mußte. Eine unruhig wogende Stimmung bemächtigte sich seiner; unter den wechselnden Eindrücken der Reise, vor allem beim Anblick der Abgüsse, die im Mannheimer Antikensaal versammelt waren, schien sie sich zu beschwichtigen; aber sie brach mehr als ein Mal wieder hervor, nachdem er schon längst die Schwelle des Vaterhauses wieder überschritten hatte.

    Dennoch wurden die Aufgaben des praktischen Lebens ohne Verzug rüstig ergriffen. Schon am 28. August, also im Beginne seines 23. Jahres, wandte sich der Licentiat an das höchste Gericht Frankfurts mit dem Ersuchen, ihm die Ausübung der Advocatur zu gestatten; drei Tage hernach ward er der Gewährung seiner Bitte versichert. Die von G. L. Kriegk 1874 bekannt gemachten Actenstücke zeigen, daß er die Geschäfte, die sein juristischer Beruf ihm zuführte,|mit ernsterem Sinne betrieb, als seine eigenen Aeußerungen vermuthen lassen. Unstreitig benahm er sich auch hier mit der pflichtmäßigen Gewissenhaftigkeit, die er hernach als weimarischer Staats- und Geschäftsmann niemals verleugnet hat. Die juristische Thätigkeit seiner Frankfurter Jahre, die freilich, bei seiner Art zu leben und zu schaffen, manche Unterbrechung erleiden mußte, kann immerhin als eine förderliche Vorbereitung zu seinem späteren amtlichen Wirken gelten. Erleichtert ward ihm die Praxis durch die Gewandtheit eines Schreibers, Liebholdt, dem alle Formalien geläufig waren, vor allem aber durch die Theilnahme des Raths Goethe, der nun in Angelegenheiten des Sohnes seine tüchtige Rechtskenntniß freudig zur Geltung brachte. So blieb dem jungen Advocaten Raum genug, die poetischen Geister walten zu lassen. Und sie zogen mit Macht heran.

    Am 14. October hatte er in enthusiastischer Rede Shakespeare als seinen Freund gefeiert, dem er seine geistige Erleuchtung verdanke, dem er in der Nebenrolle eines Pylades zur Seite bleiben möchte; und im folgenden Monate war er ganz hingenommen von der Arbeit an einem Werke, das wenigstens unter dem Anhauch des Shakespeare’schen Geistes entstand. Er brachte die Lebensgeschichte Götzens von Berlichingen in dramatische Form; das ungefüge Büchlein, in welchem der Ritter selbst über sein Thun und Treiben berichtet, hatte die Anregung und den Stoff gegeben. Vor dem Auge des Dichters stand das Bild der Zeit, die er darstellen wollte, in großen Zügen fest; Begebenheiten und Charaktere waren sorgfältig, wenn auch nicht nach dem Gesetze innerer und äußerer Einheit, geordnet. Nachdem die Ausführung einmal begonnen war, wuchs das Werk rasch unter dem herzlichen Beifalle der Schwester, die nach wie vor die Vertraute seines Geistes blieb. Er arbeitete mit einer Leidenschaft, daß er „darüber Sonne, Mond und die lieben Sterne vergaß“. Indem er die lockenden Einzelheiten seines Stoffes liebevoll ergriff und sie mit besonderer Neigung ausbildete, ließ er die Gesammtwirkung aus der Acht. Wie die Scenen sich aneinander reihten, wurden sie Cornelien mitgetheilt; nach etwa sechs Wochen, noch vor dem Ende des Jahres, gelangte das Werk zum Abschluß. Die „Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand, dramatisirt“, ward nun dem Urtheil der Freunde, Salzmann und Herder, vorgelegt. Auch ein neu gewonnener Freund konnte bald sein Urtheil sprechen: J. H. Merck in Darmstadt (1741—91). Durch die Brüder Schlosser ward G. diesem eigenartigen Manne zugeführt, der damals auch mit Herder in Verbindung stand. Wie entschieden auch in der Natur Merck's das kritische und verneinende Element vorwalten mochte, so hat er doch offenbar in G. den mächtig sich entfaltenden Dichtergeist gleich im Beginne erkannt. Wenn er auch so wenig, wie irgend einer der übrigen Zeitgenossen, den ganzen Umfang des Goethe’schen Wesens zu überblicken vermochte, so war er doch vielleicht einer von den ersten, die deutlich einsahen, in welcher Richtung sich dieser Dichtergeist vorwärts bewegen müßte. So lange er selbst gesund blieb an Geist und Gemüth, kam er niemals in Gefahr, G. mißzuverstehen. Schärfe der Beobachtung und nicht mindere Schärfe des witzigen Wortes war ihm eigen; er war ein tiefdringender, wenn auch nicht ganz unbefangener Menschenkenner: denn mancherlei Erfahrungen hatten ihn verbittert. Obgleich Productivität im höheren Sinne ihm versagt blieb, so mußte er sich doch auf litterarischem und wissenschaftlichem Gebiete unablässig regen und bewegen. Daß er seine Naturstudien nicht als Liebhaber, sondern als ernster Forscher betrieb, kam hernach dem Dichter, als auch dieser zum Forscher wurde, vielfach zu gute. Sowie er sich darstellte, mit allen Mängeln, mit allen Ecken und Zacken seiner Natur, war Merck damals für G. ein hochwichtiger Genoß, in manchen Fällen ein Führer.

    Bald sah sich G. in den Darmstädter Kreis hineingezogen. Neben Männern, wie Petersen und Wenck, fand er dort auch Caroline Flachsland, Herder's Braut. Aus manchen noch vorhandenen Zeugnissen und Berichten wissen wir, welch ein geistig bewegtes Treiben in dieser „Darmstädter Gemeinschaft der Heiligen“ herrschte; selbst wenn es bis zur Ausgelassenheit stieg, blieb es noch poetisch veredelt. G., angeregt und anregend, griff heiter und kräftig ein; hier traf er auf Gemüther, denen er mit seinen eben entstandenen Werken und Werkchen eine echte Lust bereitete und die ihm mit dankbarer Empfänglichkeit lohnten.

    Durch Merck ließ er sich zur Mitarbeit an den Frankfurter gelehrten Anzeigen bestimmen. Dies kritische Blatt, das mit dem Beginne des J. 1772 erschien, war der Verkündigung der neuen Ansichten und Tendenzen gewidmet, welche damals, unter dem Widerstande der älteren Generation, sich in Leben, Kunst und Wissenschaft herrschend verbreiteten. Kaum zwei Jahre lang konnten die „Anzeigen“ diesem ihrem ursprünglichen Zwecke treu bleiben. Im ersten Jahre gab G. eine reichliche Beisteuer: seit dem 11. Februar mag er etwa 27 Recensionen geliefert haben; im folgenden kamen wol nicht viel mehr als acht hinzu. Diese Aufsätze, die oft von lauterem Jugendfeuer durchglüht sind, deuten sammt und sonders in die Zukunft. Der Kritiker, der hier mit dichterischem Schwunge, zuweilen ungestüm, aber nie ohne Klarheit, redet, er will Raum machen für eine neue Poesie und Kunst; nur auf die Natur, auf das ewig Wahre, soll der Künstler blicken. Der Bruch mit dem Herkömmlichen wird unwiderruflich ausgesprochen.

    Wie Goethe's Leben sich jetzt von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat, nach allen Richtungen hin unaufhaltsam ausbreitet und in die mannigfachsten Beziehungen zur Welt und Menschheit tritt, mahnt es an das eigene Wort des Dichters: „Mit jedem Schritt wird weiter die rasche Lebensbahn“. Von der Fülle dieses immer mehr sich ausbreitenden Lebens durch flüchtige Andeutungen einen Begriff zu geben, wird unmöglich. Wir müssen uns bescheiden, auf die wichtigsten Lebenspunkte, auf die folgenreichsten Wendungen im Lebensgange nur hinzuweisen. Eben so unmöglich wird eine Betrachtung alles dessen, worin dies Dasein nothwendig seinen höchsten Ausdruck findet, der dichterischen Schöpfungen, der wissenschaftlichen Leistungen. Es muß genügen, wenn nur die Erinnerung an einige derselben geweckt wird.

    Im Frühling 1772 finden wir den jungen Rechtsbeflissenen in Wetzlar, am Sitze des Reichskammergerichts. An dieser Stätte sollte das deutsche Recht in voller Majestät thronen und von dort seine heilbringende Wirksamkeit über die deutschen Lande ausdehnen; dort sollte G. die abschließenden juristischen Weihen empfangen. Am 25. Mai als „Praktikant“ immatriculirt, verweilte er dort bis zum 11. September. Der Einblick in die völlig entarteten Rechtsverhältnisse konnte ihm weder tröstlich noch belehrend sein. Er sah in eine rettungslose Verworrenheit hinein, in eine Welt von Mißständen und Mißbräuchen, die sich durch eine Reihe von Menschenaltern unter dem Scheine der Gesetzmäßigkeit schmählich behauptet hatten. Er mochte sich auch hier wol fragen, wie es doch möglich sei, daß das heilige römische Reich noch zusammenhalte. Doch lasteten derartige Betrachtungen sicherlich nicht allzu schwer auf seinem Gemüthe. Er fand Erholung bei den Alten, denen er sich, wie schützenden Genien, mit wachsender Innigkeit anschloß. Er las seinen Homer, seinen Pindar; man wußte in Wetzlar, wie eifrig er sich dieser edlen Neigung hingab. Von den schönen Geistern des Orts ward er als eine aufstrebende, ja fast schon wie eine anerkannte Größe empfangen, obwol sein Name über den Kreis der persönlichen Freunde noch nicht hinausgedrungen war. Männer, wie Gotter, Goué, Kielmannsegge lockten ihn in eine lustig-phantastische Ordensbrüderschaft; er konnte|sich in ein erneutes akademisches Leben versetzt wähnen. Was aber jenem Wetzlarer Sommer Reiz und Bedeutung verlieh, das war das trauliche Verhältniß zu der Familie des Deutschordens-Amtmanns Buff. Im Mittelpunkte derselben stand die Tochter Charlotte (11. Januar 1753 bis 16. Januar 1828), ein reines deutsches Mädchenbild, in einfacher Lieblichkeit anziehend, umgeben von einer Geschwisterschaar, über der sie mit der Sorgfalt einer Mutter wachte. Schon seit einigen Jahren hatte sie dem Legationssecretär J. Chr. Kestner (28. August 1741 bis 24. Mai 1800), der damals bei der hannöverschen Kammergerichtsvisitation thätig war, ihre Hand zugesagt. Am 9. Juni sah G. zuerst auf einem ländlichen Ball das 19jährige Mädchen. Wir dürfen dem Bräutigam trauen, wenn dieser, der seine Worte bedächtig abwägt, von ihr rühmt, ihr Blick sei wie ein heiterer Frühlingsmorgen. Weil sie den Tanz liebte, blickte sie an jenem Tage noch heiterer als sonst. Ohne daß sie es wollte oder merkte, war G. für sie gewonnen. Es zog ihn von nun an immer wieder in ihre Nähe. Hatte sie ihm zuerst gefallen, wie sie voll harmloser Laune sich dem Vergnügen hingab, so lernte er nun auch ihr häusliches Thun und Walten schätzen. Das deutsche Haus ward für ihn ein Heimathsort. Er spielte mit den Kindern und war ernst und gemüthvoll, heiter und melancholisch mit den Erwachsenen. Er gab sich in der ganzen Unbefangenheit seines Wesens, und eben dadurch machte er sich den Großen, wie den Kleinen unentbehrlich. Könnte man aus dem ersten Theile des Werther alles entfernen, was der Darstellung den düster drohenden Hintergrund gibt und die unausweichliche Katastrophe vorbereitet, so gewänne man ein treues Bild des Zustandes, der den Dichter damals in Lottens Nähe beglückt hat. Aber während ihn dies Glück noch ganz umfing, fühlte er sich schon gedrungen, Lottens Erscheinung, wie sie ihm unmittelbar vorschwebte, mit festen und hellen Strichen zu zeichnen. In der Recension der „Gedichte von einem polnischen Juden“, welche die Frankfurter Anzeigen am 1. September brachten, finden wir freilich die Tochter des Amtmanns Buff nirgends genannt; wir wissen aber, von welchem Urbild G. die Züge borgte, mit denen er das Mädchen schildert, das er einem unter dem Segen des vaterländischen Genius aufblühenden Dichterjünglinge zur Gefährtin wünscht. Kestner sah in dem Freunde seiner Braut auch den eigenen Freund. Er hatte, auf seine Weise, das Außerordentliche in Goethe's Natur wohl erkannt; er war zugleich von dessen Edelsinn und der Treue Lottens so innig überzeugt, daß er von dem Verkehr der Beiden keinerlei Gefahr für sein eigenes Glück besorgte. Dennoch war es heilsam, daß G. mit kühnem Entschluß durch eine tapfere Flucht sich und die Freunde vor den Conflikten sicher stellte, denen bei längerer Dauer eines so hoch gespannten Verhältnisses selbst die edelsten Charaktere nicht hätten entgehen können. Er wanderte nach Ehrenbreitstein bei Koblenz zur Familie La Roche; in dem litterarisch-geselligen Cirkel, der sich ihm hier aufthat, mangelte es nicht an neuen Eindrücken, nicht an Gelegenheit zu neuen Wahrnehmungen, an denen der Poet sich bereichern konnte. Ein etwa fünftägiger Aufenthalt genügte, ihn auch in dieser Familie völlig heimisch zu machen, welche dann durch verschiedene Generationen hindurch ihm verbunden bleiben sollte.

    G. wandte sich zurück nach Frankfurt; dort, in der Vaterstadt, im Elternhause, auf seiner hochgelegenen Stube, welche bald die Abbilder antiker Gottheiten zu einer wahren Künstlerwerkstätte weihten, dort schuf oder entwarf der Dichter in ununterbrochener Reihenfolge während der nächsten drei Jahre die Werke, die das neue Zeitalter der deutschen Litteratur eröffneten.

    Aus Wetzlar hatte er den Keim der Dichtung mitgenommen, die zwei Jahre hernach die Gemüther in Deutschland, dann in der ganzen gebildeten Welt so übermächtig erschüttern sollte. Die Wetzlarer Freunde aber vernahmen seine|frischen Geistes- und Herzensworte in zahlreichen Briefen, aus denen die Reinheit seines Gemüths vielleicht am ungetrübtesten widerscheint. Jeder dieser Briefe, von denen mancher ein köstliches Gedicht zu nennen ist, bezeugt sein unaufhörliches Wachsen an Geist und Kunst. Auch nachdem der Palmsonntag 1773 Lotte und Kestner für immer vereint hatte, blieb G. unverändert der Freund des Ehepaares, bis mit dem Erscheinen Werther's eine erklärliche Störung eintrat, der aber im Verlaufe der Zeit die erwünschte Ausgleichung folgte.

    Noch vor dem Ende des J. 1772 ward der Bogen „Von deutscher Baukunst“ ausgefertigt, den dann Herder zu verdienten Ehren brachte, indem er ihn aufnahm in die Sammlung „Von deutscher Art und Kunst“, so daß nun Erwin v. Steinbach neben Ossian und Shakespeare erschien. Die ersten Monate des J. 1773 waren der Umgestaltung des „Götz“ gewidmet, bei der sich G. durch strengere Grundsätze des Stils und der künstlerischen Behandlung leiten ließ. Als das so geläuterte Werk im Juni ans Licht kam, erregte es ganz Deutschland. Es war die Erstgeburt des Genius; er offenbarte sich gleich in ganzer Größe, mit überraschender Gewalt. G. ward das Haupt der jungen Dichterschule, der anerkannte Führer der Bewegung, der Befreier, der vom starren Regelzwange zu Wahrheit und Natur zurückführte.

    Kaum übersehbar sind die Productionen und Entwürfe, die sich jetzt aus dem Geiste des Dichters hervordrängten. Und von wie manchen ist uns nur unsichere Kunde erhalten! Kurz vor und nach dem Götz ließ er zwei Schriftchen theologischen Inhalts ausgehen; mit ihnen muß man den im Februar 1774 gedruckten Prolog zu Bahrdt's Offenbarungen verbinden, um zu erkennen, daß G. dem leeren und anmaßlichen Rationalismus eben so fremd und feind ist, wie dem gemüthlosen Buchstabenglauben. Den Volkston des 16. Jahrhunderts erneuerte er in derben Fastnachtsspielen und Farcen. Wenn auch hinter den Masken, die hier auftreten, meist Personen aus der ihn umgebenden Gesellschaft versteckt sind, so greifen diese Scherze doch weit über seinen gesellschaftlichen Kreis hinaus. Mit dem unbegrenzten Muthwillen der echten Komik, die sich dem echten Ernst keineswegs widersetzt, bekriegt und negirt er alles Halbe, Schiefe, Unwahre und Schwächliche, das sich unter dem Schutze des Zeitgeistes, im Gefolge falscher Tendenzen, Geltung und Ansehen erschleichen will. Die alte volksmäßige Weise, die G. hier wieder einführt und die er auch im ersten Faust so vielfach anklingen ließ, behandelt er nicht als ein Nachahmer. Er fühlt sich den alten Meistern, einem Hans Sachs und dessen Zeitgenossen, wirklich congenial; die alte Form muß in seinem Künstlersinne natürlich wieder auferstehen; er handhabt sie mit so sicherer Freiheit, als ob er sie selbst sich erfunden und zugerichtet hätte. Erschien er hier der älteren deutschen Zeit verwandt, so mußte er zugleich seine Verwandtschaft mit dem classischen Alterthum erweisen. Nicht ungestraft durfte der ganz modern geartete Wieland den Euripides herabziehen, um sich selbst gegen ihn in Vortheil zu setzen. In der Farce „Götter, Helden und Wieland“, die im October 1773 wie durch einen glücklichen Wurf entstand, ward das Griechenthum gegen die entstellende und verkleinernde Auffassung der Neueren mit keckem Spott, mit Entrüstung und Begeisterung vertheidigt; der angeborenen, wenn auch zuweilen ungezogenen Kraft einer unverkünstelten Menschheit ward zum Rechte verholfen gegen moderne Schwächlichkeit und Verzärtelung. Der Dichter des Prometheus war zu einer so nachdrücklichen Apologie des Alterthums wohl berufen. Jenes gewaltige Drama, das sich neben den vollendeten Faust wie ein ragender Torso stellt, war bestimmt, dem menschlichen Selbstbewußtsein den schärfsten Ausdruck zu verleihen oder vielmehr das Selbstgenügen des schöpferisch bildenden Menschen zu verkündigen, so wie das rücksichtslose Widerstreben gegen die „stolzen Bewohner des Olympus“, die sich unendlich und|allmächtig wähnen. Die zwei Acte des Fragments, die dem J. 1773 angehören, wurden dem Freundeskreise bald bekannt; in den Besitz der Nation gelangten sie fast sechs Jahrzehnte später durch die Ausgabe letzter Hand. Um dieselbe Zeit, wie den Prometheus, wahrscheinlich schon früher, muß G. auch den großartigen Plan des „Mahomet" ergriffen haben; die Ausführung einzelner hervorstechender Momente der Handlung ward begonnen. Ein „Julius Cäsar“ tauchte auf, der sich schon in der Straßburger Zeit hatte blicken lassen; „Faust“ kam immer näher und wuchs immer mächtiger empor.

    In den beiden folgenden Jahren blieb der erregte Schaffensdrang unvermindert und ungehemmt. Nach langer, stiller Vorarbeit war endlich der Werther im Goethe’schen Geiste gereift. Der Dichter befreite sich durch dies Werk für immer von den krankhaften Elementen der Zeitstimmung, die auch an ihn herangedrungen waren; er verfuhr als ein darstellender Künstler höchster Art, der kein anderes Gesetz kennt, als das der inneren Wahrheit. Die Heilung sollte vorbereitet werden durch Aufdeckung der Krankheit. Wer darf es ihm nun zur Schuld anrechnen, wenn die Zeitgenossen, von dem realen Inhalt des Werkes ergriffen, gerade durch die Treue und die beispiellose Gewalt der Darstellung sich verleiten ließen, aus einer Dichtung, die, richtig erfaßt, dem Uebel hätte wehren müssen, neuen Krankheitsstoff zu saugen? Er mußte es ruhig geschehen lassen, daß man die im Werke selbst enthaltene Warnung überhörte; er konnte nicht hindern, daß andere jenen quälenden Wahnbildern nachjagten, die er selbst von sich weggescheucht hatte. Die künstlerische Weisheit, die hier ein so fest geschlossenes Ganzes formte, konnte erst gewürdigt werden, als die unmittelbare Wirkung des Stoffes gebrochen war. Dieser Stoff selbst, wie geringhaltig kann er auf den ersten Blick erscheinen! Aber G. wußte ihn dadurch zur höchsten Bedeutung zu erheben, daß er den ganzen geistigen Gehalt der Zeit hier zusammendrängte, daß er allem, was die Gemüther erfüllte und bewegte, hier einen Eingang verstattete. So wird das Büchlein Werther zum Spiegelbild einer bestimmten Epoche des deutschen Lebens.

    Der 1. Februar 1774 war der Tag, an dem G. die abschließende Ausarbeitung begann; in den nächsten vier bis sechs Wochen erhielt der Roman die Gestalt, in welcher er dann im Herbst vor dem deutschen Publicum erschien. Aber noch vor den „Leiden des jungen Werther's“ war das Trauerspiel „Clavigo“ der Oeffentlichkeit übergeben worden, das wirkungsvollste unter den unmittelbar für die Bühne berechneten Stücken Goethe's. Die Memoires des Beaumarchais weckten in ihm „romantische Jugendkraft"; was dieser aventurier français mit so gewandter Beredsamkeit erzählte, verschmolz mit Dem, was er an sich selbst erfahren und in sich selbst erlebt hatte; so folgte dem Abschlusse des Romans unmittelbar dies Drama, für welches er weislich eine strengere oder, wenn man will, beschränktere Form gewählt hatte. Klopstock hatte sein Wohlgefallen an dem Stück; die jungen Verehrer des Götz wollten jedoch in diesem regelmäßigen, der herkömmlichen Weise mehr angenäherten Drama ihren vergötterten Dichter kaum wieder erkennen.

    Was damals sonst noch in dramatischer Form erschien, reichte nicht an die Bedeutung des bisher Geleisteten. Doch auch diese minder gehaltvollen Arbeiten wurzeln ganz in des Dichters Leben; auch sie bezeugen, was sich in seinem Inneren zugetragen. Wir nennen die Schauspiele mit Gesang „Erwin und Elmire" (gedruckt 1775) und „Claudine von Villa Bella“ (gedruckt 1776), in welchen beiden neben naturkräftiger, oft absichtlich ins Derbe getriebener Prosa die lieblichsten Liedestöne vernommen werden; ferner das mit gährender, glühender Leidenschaft so überreich ausgestattete „Schauspiel für Liebende“, Stella. Den Commentar zu diesem uns so seltsam anmuthenden Erzeugnisse des J. 1775|haben wir wol nicht in des Dichters eigenen Lebensverhältnissen allein zu suchen. G. ist auch hier ein treuerer Dolmetscher der durch jene Zeit verbreiteten Gesinnungen, als der ungläubig sich verwundernde Leser unserer Tage ahnen mag.

    Das Bedeutendste, das damals unternommen ward, mußte dem Publicum vorenthalten, bleiben. Zum Genusse der köstlichen Fragmente des „Ewigen Juden“ wurden sicherlich nur wenige Freunde zugelassen. Vom Faust drang eine Kunde in weitere Kreise; aber der Einblick in die damals schon ausgeführten Theile ward auch nur den Mitstrebenden und Vertrauten, oder einem älteren verehrten Meister, wie Klopstock, verstattet. Wenn G. seit dem Herbste 1774 den litterarischen Genossen die fertigen Scenen vorlas, so glaubten jene, das Stück nähere sich bereits der Vollendung. Im folgenden Jahre war dann die Arbeit daran noch überaus ergiebig. Schon damals muß der Faust den Charakter eines allumfassenden Gedichts getragen haben, eines Gedichts, von dem, wie Schelling später rühmte, eine Kraft ausgeht, welche das Innerste der Welt bewegt. Schon damals müssen auch in der Sprache und Versification alle die Eigenschaften hervorgeleuchtet haben, die, mehr als 50 Jahre hernach, A. W. Schlegel preist, indem er bekennt, daß die hier bewährte Meisterschaft ihn in immer neues Erstaunen versetze, und dann hinzufügt: „alles ist unmittelbar und augenblicklich, alles ist Leben, Charakter, Seele, Geist und Zauberei". Wenn wir nun diesen Werken, die neben einander in des Dichters Geiste Raum hatten, noch den „Egmont“ beigesellen, der im Herbste 1775 schon sehr weit gediehen sein muß, und zugleich an „Hanswursts Hochzeit“ erinnern, so scheint sich die in jenen Jahren thätige Schöpferkraft ins Unermeßliche auszudehnen.

    Zwischen diesen umfassenden Dichtungen schlingen sich die kleineren Lieder hindurch, aus denen die wechselnden Herzensstimmungen und Seelenregungen — und sie wechselten in jenen Jahren sehr lebhaft, — rein und entzückend hervorklingen. Zu einer besonders anziehenden lyrischen Gruppe vereinigen sich die Gedichte, die sich auf Goethe's Beschäftigung mit der bildenden Kunst beziehen und sein damaliges Kunstevangelium enthalten.

    Unser Staunen über Zahl und Bedeutung dieser Productionen muß sich noch steigern, wenn wir uns die äußeren Lebenszustände Goethe's anschaulich machen. Mochte sein Geist auch unaufhörlich arbeiten, so war es ihm doch selten möglich, sich, wie es etwa bei Abfassung des Werther geschah, zu völlig gesammelter Thätigkeit ganz in sich selbst abzuschließen. Der Verkehr mit der freien Natur, der Verkehr mit den Menschen durfte nie lange unterbrochen werden; ja das Wogen und Treiben dieses gesellschaftlichen Verkehrs begünstigte die freie Entfaltung des dichterischen Vermögens. In Frankfurt drängten sich die Jugendfreunde um ihn, denen andere beitraten, die mit Recht oder Unrecht als seine Genossen gelten wollten. Seitdem sein Name durch ganz Deutschland erklang, kamen sie von allen Enden herbei, die Welt- und Geschäftsleute, die Männer der Litteratur und Wissenschaft, die Meister und Gesellen, Anhänger der älteren Zeit und Kunst und gläubige Jünger der neuen Schule; sie alle näherten sich dem Genius, um ihn anzustaunen, sich mit Begeisterung seiner zu erfreuen oder ihn wenigstens wie eine Erscheinung ohne gleichen zu beobachten. Er aber bezwang die Herzen, indem er die Geister unterjochte. Das Dämonische seines Wesens brach oft mit ungezähmter Gewalt hervor; aber unter dem Eindrucke seiner Herzensgüte fühlte man die Furcht vor seiner Größe schwinden. Die meisten von Denen, die tiefer in seine Natur hinein sahen, hätten seinen eigenen Satz bekräftigen können, daß es gegen große Vorzüge eines Andern kein Rettungsmittel gibt als die Liebe. Nach dem ersten längeren Beisammensein mit ihm schreibt Lavater an Zimmermann: „Du würdest ihn vergöttern, er ist der furchtbarste und liebenswürdigste Mensch“.

    Die Schwester war damals nicht mehr an seiner Seite. Als Gattin J. G. Schlosser's, dem sie am 1. November 1773 angetraut worden, hatte sie das elterliche Haus verlassen. Durch frühen Tod (1777) sollte sie bald dem Manne wieder entrissen werden, der sie als die „schönste Weiberseele“ erkannte. Ihre Entfernung machte sich dem Bruder fühlbar genug. Die entstandene Lücke konnte nicht ausgefüllt werden durch die Beziehungen zu Maximiliane Brentano, der Tochter der Frau von La Roche, noch weniger durch das freundliche, aber leidenschaftslose Verhältniß zu Anna Sibylla Münch, aus dem die Eltern gern ein dauerndes Bündniß hätten hervorgehen sehen. Für alles, was er entbehren mochte, ward ihm in anderer Weise reichlicher Ersatz. Im J. 1774 knüpften sich Verbindungen mit den bedeutendsten Persönlichkeiten. Im Juni und Juli war er mit Lavater und Basedow zusammen; mit den beiden Propheten, von denen der letztere sich oft so wunderlich geberdete, ward jene Rheinreise unternommen, deren G. in Vers und Prosa gedenkt, und deren einzelne Momente uns jetzt aus Lavater's Tagebuche so anschaulich entgegentreten. In dieselbe Zeit fällt die Stiftung des Freundschaftsbundes mit Fr. Heinr. Jacobi. Das Gefühl des Widerwillens, das G. bisher gegen diesen und gegen dessen ganzes Sein und Thun gehegt und sogar in einer verwegenen Farce kundgegeben hatte, es war bei dem ersten persönlichen Zusammentreffen wie ausgelöscht. Der Geist Spinoza's schien über den Beiden zu schweben und sie einander entgegenzuführen. Jacobi, in der Philosophie bewanderter als G., hatte durch eindringendes Studium sich mit der Ethik Spinoza's vertraut gemacht; der Dichter hatte aus ihr Beruhigung geschöpft und Aufklärung über sein eigenes Streben gewonnen. Die neuen Freunde konnten sich nicht genug thun in wechselseitiger Mittheilung alles dessen, was ihr Inneres ausfüllte. Für immer, so schien es, hatten sie sich aneinander geschlossen; Jacobi glaubte den Mann gefunden zu haben, dessen sein Herz bedurfte, den Mann, der das ganze Liebesfeuer seiner Seele aushalten konnte. Wirklich vermochten sie sich niemals wieder ganz von einander loszureißen; aber Zerwürfnisse traten ein, die auf den Gegensatz der Naturen deuteten; Entfernung und Entfremdung ward unvermeidlich. Die alte Liebe oder vielmehr das Andenken derselben versöhnte und einigte sie dann wieder; dennoch mangelte das gegenseitige Verständniß, das allein den Bund innerlich hätte festigen können.

    Im October jenes Jahres und im März des folgenden erschien Klopstock, dem G. sich schon brieflich genähert (28. Mai 1774), dem er eben noch im Werther seine Huldigung dargebracht hatte. Der Erneuerer der deutschen Poesie stand damals noch dem Jüngeren mit einer Art von väterlichem Ansehen gegenüber; er vernahm mit Beifall, was dieser ihm von seinen neuesten Arbeiten vortragen mochte. Die wichtigste Begegnung aber fand in eben den Tagen statt, da die Freundin Klettenberg (13. Decbr. 1774) die Erde verließ.

    Der 17jährige Erbprinz von Weimar, Carl August, und sein jüngerer Bruder, Constantin, waren, von dem Grafen Görtz und dem Hauptmann K. L. v. Knebel begleitet, auf der Reise nach Paris begriffen. Sie berührten Frankfurt. Es war eine für Goethe's ganze Zukunft entscheidende Stunde, in der Knebel ihn den Prinzen vorstellte (11. December). Eine rasche Annäherung ergab sich im Verlaufe eines Gespräches, in welchem der Dichter ungezwungen darthun konnte, daß auch die Angelegenheiten des praktischen Lebens, die Fragen nach Wohl und Wehe der bürgerlichen Gesellschaft ihn vielfach beschäftigt hatten. Der künftige Herzog scheint gleich damals einen mächtigen und richtigen Eindruck von Goethe's Persönlichkeit empfangen zu haben. Nicht so bald wollte man sich trennen. Der Dichter mußte den Prinzen auf einige Tage nach Mainz folgen.

    Aber während sich hier die Aussicht auf neue Lebensverhältnisse eröffnete, ward G. von einer alles verschlingenden Leidenschaft ergriffen, welche ihn „alle Freuden, die unendlichen, alle Schmerzen, die unendlichen“, welche die Götter ihren Lieblingen geben, ganz durchkosten ließ. Man lese die Briefe, welche er seit dem 26. Januar 1775 an die nie mit Augen gesehene Gräfin Auguste Stolberg (1753—1835) richtete, und zugleich die kurzen Billets, welche Johanna Fahlmer (1744—1821) um jene Zeit erhielt; man höre auf die Lieder und Gedichte des Jahres 1775, die vom Kampfe der Empfindungen, vom Widerstreit der Leidenschaften gegen die äußere Welt erfüllt sind; und endlich blicke man auf die verklärende Darstellung im Schlußbande von Dichtung und Wahrheit: man wird dann nicht verwundert sein, aus Goethe's spätesten Tagen sein Bekenntniß zu vernehmen, in der That sei Lili die erste und auch die letzte gewesen, die er tief und wahrhaft geliebt. „Lili“, schreibt Lavater, „ist eine reiche, herrlich schöne, reformirte Kaufmannstochter, in die G. bis zu Heurathsgedanken verliebt ist“. Sicherlich war Anna Elisabeth Schönemann (23. Juni 1758 bis 6. Mai 1817) wie kaum eine andere würdig, sein Leben zu theilen; zum edeln Liebreiz ihres Wesens gesellte sich der Adel eines festen Charakters; der Liebende glaubte, „dem Hafen häuslicher Glückseligkeit“ nahe zu sein. Die Neigung, die zwischen Beiden waltete, war nicht minder zart als tief. Aber die äußeren Familien- und Gesellschaftsverhältnisse standen ihr entgegen. Die mit den Grafen Stolberg und Haugwitz im Mai unternommene Schweizer Reise, in deren Beginne ein abermaliges Zusammentreffen mit Carl August erfolgte, erscheint uns wie ein Versuch, den G. mit sich selbst anstellte, um zu erfahren, ob er Lili entbehren könne. Als er gegen Ende des Juli von seiner „Wallfahrt durch die liebe heilige Schweiz deutscher Nation“ wieder heimgekehrt war, erneuerte sich der Wechsel von Pein und Seligkeit, den uns jeder Satz seiner Briefe noch jetzt mit so erschütternder Unmittelbarkeit vergegenwärtigt. Trotz den leidenschaftlich dringenden Abmahnungen der Schwester Cornelie konnte er sich noch immer nicht zwingen, einem ersehnten Glück fürs Leben zu entsagen. Und doch entschwand es ihm. Andere Lebenspfade waren ihm gewiesen.

    Am 3. September 1775 übergab die Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar ihrem nunmehr mündig gewordenen Sohne Carl August die Regierung, welche sie seit dem Tode ihres Gemahls (1758) als Obervormünderin thatkräftig verwaltet hatte. Noch in demselben Monate reiste der junge Herzog nach Karlsruhe; dort feierte er am 3. October seine Vermählung mit der Prinzessin Louise von Hessen-Darmstadt. Auf der Hin- und Rückreise verweilte er in Frankfurt (22. September und 12. October). Jede erneute Begegnung zwischen Fürst und Dichter war ein weiterer Schritt zur Verbindung der Gemüther; auf beiden Seiten wuchs das Zutrauen, die Achtung. Unbefangene Zeugen ihres Beisammenseins konnten schon damals wahrnehmen, daß Carl August sich mit warmer Herzlichkeit dem Manne zuneigte, den er sich zum Lebensfreunde erwählen sollte. G. mußte dem fürstlichen Paare auf dessen Wunsch versprechen, ihm in kürzester Frist nach Weimar zu folgen. Fast wäre durch Tücke des Zufalls jener Wunsch vereitelt worden. In gezwungener Einsamkeit, die aber durch künstlerischen Fleiß belebt ward, harrte er etwa 14 Tage vergebens auf den Cavalier, der den Auftrag erhalten, ihn nach Weimar zu geleiten. Da verließ er ungeduldig am 30. October die Vaterstadt; er war zu einer italienischen Reise gerüstet; er gelangte bis nach Heidelberg, wo man ihn sogar durch verheißungsvolle Anerbietungen festzuhalten suchte: hier aber kam ihm die Aufklärung des Irrthums, der ihn von Hause weggetrieben. Jener Cavalier hatte seine Reise verzögern müssen, und wartete nun in Frankfurt auf den voreilig Entflohenen. Unverzüglich wandte G. sich zur Umkehr; am Morgen des 7. November betrat|er die Residenz des Sachsen-Weimar’schen Fürstenhauses. Sie blieb fortan der feste Mittelpunkt seines immer weitere Kreise beschreibenden Lebens.

    Wir wissen nicht, wie rasch Lili den Schmerz ewiger Trennung überwinden lernte. Am 25. August 1778 verband sie sich mit B. F. v. Türckheim; ihr ganzes segensvolles Leben, oft reich an Sorgen und Mühen, war eine Erfüllung dessen, was ihre Jugend versprochen hatte. In G. verehrte sie den „Schöpfer ihrer moralischen Existenz"; nicht anders als mit einer Art von religiöser Erhebung mochte sie seiner gedenken. —

    Mit dem 7. November 1775 scheint G. sich auf mehr als zehn Jahre dem Auge der Nation zu entziehen. Wenigstens kann die Nation glauben, er habe, wenn auch seinem Dichterberufe nicht gänzlich entsagt, so doch seine dichterische Thätigkeit weit zurücktreten lassen vor den ungestümen Anforderungen, die das Leben, und zwar das höfische Leben, Tag für Tag an ihn richte. Was man in der Ferne über ihn vernahm, lautete so, als ob er dem Genuß, und oft dem rohen Genuß des Augenblicks sich in Gemeinschaft mit dem Herzoge schrankenlos hingäbe und daneben mit leichter Mühe auch den Ehrgeiz befriedigte, als Beamter und Staatsmann zu glänzen. Vom Dichter des Götz und Werther erwartete man, er solle ähnliche große Schöpfungen Schlag auf Schlag einander folgen lassen; da diese ausblieben, so setzte sich die lächerliche Vorstellung fest, er werde nur noch durch kleinliche Anlässe, wie sie sich aus dem oberflächlichen Hoftreiben zu ergeben pflegen, zur Uebung seines Talentes gereizt. Man wußte, daß er für das herzogliche Liebhabertheater dichtete, daß er selbst mancherlei Rollen übernahm, und treuherzig oder hämisch beklagte man die traurige Verkümmerung einer solchen Dichterkraft, die Herabwürdigung einer solchen Größe. Die abgeschmacktesten Verleumdungen pflanzten sich durch ganz Deutschland fort. Die Besten ließen sich täuschen. Hat doch sogar Klopstock, sicherlich in guter Meinung, seinen väterlichen Mahn- und Weheruf unmittelbar an G. selbst gerichtet! Dieser aber ließ Lüge und Mißrede durch's Vaterland schwirren und summen; ihn konnte nichts anfechten; war er sich doch seiner selbst, war er sich doch seiner Zwecke unerschütterlich bewußt!

    Und während so vor der gebildeten Masse der Nation seine wahre Gestalt eine Zeit lang verhüllt blieb, lernten die Seinen ihn immer deutlicher erkennen und anerkennen. Aber freilich mußte er diese Anerkennung mit den zusammengenommenen Kräften seines ganzen Wesens erringen. Wie viel Hemmnisse hatte er wegzuräumen! Gleich beim ersten Eingreifen in die Geschäfte begegnete er dem Mißtrauen und dem Argwohn auf Seiten der älteren würdigen Staatsdiener, welche, redlich gesinnt, von dem Emporkommen des Günstlings Unheil für das Land besorgten. Wie oft stellten sich auch noch später seinen kühnsten Schritten, welche zugleich die nothwendigsten waren, bald Beschränktheit, bald Böswilligkeit, und nicht selten beide im Verein entgegen! Wol konnte er sagen: „Es weiß kein Mensch, was ich thue und mit wieviel Feinden ich kämpfe, um das Wenige hervorzubringen". Er ermunterte sich zu „eherner Geduld, zu steinernem Aushalten“. Wenn er endlich siegreich durchdrang, so war es eben die Reinheit seines Wollens, die Uneigennützigkeit seines Thuns, was ihm zur Herrschaft verhalf und ihm dieselbe sicherte. Den Freund Merck bezeichnet er im J. 1779 als den einzigen Menschen, der ganz erkenne, was er thue und wie er's thue. Warum wollten wir diesem Freunde, der so scharf blickte und meist so einschneidend urtheilte, warum wollten wir ihm den Glauben versagen, wenn er schlicht die Bemerkung ausspricht: „Das ganze Geheimniß, warum G., wie er ist, unentbehrlich ist, das ist seine wahre Liebe gegen die Menschen, mit denen er lebt, und darin wird's ihm Niemand gleich thun“. G. selbst aber ruft sich zu: „Niemand als wer sich ganz verleugnet, ist werth zu herrschen und kann|herrschen“. Indem er diese Bedingung des Herrscherthums erfüllte, brauchte er sich nur dem unablenkbaren Zuge seiner Natur zu überlassen. Uneigennützigkeit war ihm zugleich Bedürfniß und Maxime.

    Die geheimen Gedanken und Vorsätze, die er in Form von Selbstgesprächen seinem Tagebuche anvertraut, sowie die Briefe an Frau v. Stein, die in ihrer regelmäßigen Folge für uns fast den Werth eines Tagebuches haben, ferner die kräftigen Aeußerungen in den allerdings spärlicheren Briefen an Lavater und Merck, sie lassen uns den Entwicklungsgang verfolgen, den er seinem moralischen Selbst anwies und auf dem er strenge beharrte. Wir sehen, wie er vor Allem darnach trachtete, die verschiedenen, einander widerstreitenden Elemente seiner Natur in Einklang zu bringen und doch keines derselben zu schwächen, oder gar zu unterdrücken. Er weiß wohl, daß er nicht nur gegen Andere, daß er auch gegen sich selbst zu kämpfen, an sich selbst zu arbeiten hat. Indem er alle Hüllen und Schalen abstreifen will, welche die Entfaltung, das freie Aufstreben seines Wesens hindern könnten, unterwirft er sich einer Selbsterziehung, in deren Verlaufe wir einmal die Worte hören: „Möge die Idee des Reinen, die sich auf den Bissen erstreckt, den ich in den Mund nehme, immer lichter in mir werden!“ Er erzieht sich am Leben und durch das Leben, dessen Mächte ihn bald schmeichelnd, bald feindselig umlagern, ihn zwingen, sich stets gewaffnet zu halten und ihm keine Muße gönnen, thatlos in sich selbst zu versinken oder entkräftendem Genusse zu fröhnen. Wie ganz anders sollte Schiller einst durch das Studium der Geschichte und Philosophie seinem Geiste die männliche Reife geben!

    Das erste Jahrzehnt seines weimarischen Lebens bildet in Goethe's Dasein eine als Ganzes in sich abgeschlossene Epoche, in deren zweiter Hälfte er sich einem ethischen Idealismus mit Bewußtsein zuneigt. Dienend und arbeitend erwirbt er das Recht und die Kraft, über das Leben zu herrschen und die Herrschaft in festen Händen zu halten. Nicht mühelos ersteigt er stufenweise die olympische Höhe, auf welcher ihn hernach die Welt zu erblicken gewohnt war. Am Schlusse dieser Epoche steht der Künstler da, im ungeschmälerten Vollbesitze seiner angeborenen, nun allseitig ausgebildeten Kräfte.

    Als persönlicher Freund des Herzogs war G. nach Weimar gekommen. Als solcher stand er an der Spitze des höfischen Treibens, das er mit poetischem Schimmer umgab. Sicherlich hat es, besonders in den ersten Zeiten, nicht an mancherlei Ausschreitungen gefehlt, durch welche die tollen Gerüchte, die man in Umlauf setzte, eine Art von Bestätigung zu erhalten schienen. Aber wie bald verflog der Rausch vor dem Ernste des Lebens und den Anforderungen der Pflicht! Wie bald kamen die Jahre, in denen G. sich und den Freund zur Besinnung, zur Einkehr in sich selbst berief! Mußte er auch häufiger als er wünschen mochte seine Poesie höfischen Zwecken widmen und die Feste der Thorheit und Eitelkeit mit seinen Erfindungen und seinen goldenen Worten schmücken, so war es doch nicht blos der Hofdienst, der ihn dazu trieb. Wie oft regte sich in ihm bei solchem Anlaß die freie poetische Lust! Wie oft mußte er sich innerlich gedrungen fühlen, als Dichter die Familienfeste des hohen Hauses zu verherrlichen, an dessen Glück er in freundschaftlicher Hingebung sein eigenes Wohl geknüpft hatte! Indem er die edlen Glieder eines solchen Hauses feiert, wird sein Blick in bewegten Momenten auf die großen Welt- und Völkerverhältnisse gelenkt. Auch hier ist G. meist der wahre Gelegenheitsdichter, der den Augenblick ergreift, um das Ewige auszusprechen. Welch ein Reichthum breitet sich aus in diesen sogenannten „höfischen“ Poesien, die sich bis ins letzte Jahrzehnt fortsetzen und die uns neuerdings G. v. Loeper so schön geordnet und commentirt hat! Besonders in den späteren Productionen dieser Art waltet oft die volle Dichterkraft, wie in dem Vorspiel von 1807, in den Stanzen auf die romantische Poesie|(1810), und vor Allem in dem großartigen Maskenzuge von 1818. Will man eine köstliche Probe dieser Festdichtungen aus früherer Zeit, so höre man auf die Verse, die Amor am 30. Januar 1782 an die Herzogin Louise richtete!

    Der Freund des Fürsten war bald dessen Führer und Rathgeber. In dieser Doppelstellung ward es ihm eine gern übernommene Pflicht, sich an den Geschäften des Landes auf das Ernstlichste zu betheiligen und in die Verwaltung überall da einzugreifen, wo Mißbräuche zu beseitigen, stockende Verhältnisse in lebendigen Fluß zu bringen und heilsamere Zustände zu begründen waren. Die verschiedensten und fremdartigsten Aufgaben fielen ihm zu; oft mußte er erst durch die That erfahren, ob er ihnen gewachsen wäre. Wenn er schon im November 1777 zum Mitglied der Bergwerkscommission berufen ward, so begünstigte dies Amt seinen Verkehr mit der „großen, leise sprechenden Natur"; indem er für Eröffnung und Fortgang des Ilmenauer Bergbaues thätig war, bereicherte er zugleich seine Anschauungen und Kenntnisse von der Erde, ihrer Oberfläche und ihren Tiefen. Aber er durfte sich auch der Uebernahme der Kriegscommission nicht entziehen; er mußte sogar den Wegebau unter seine Obhut nehmen. Bald hatte er an den befreundeten Höfen als Diplomat in gemessener Würde zu erscheinen; bald waren leidige Wirrnisse in den höheren Beamtenkreisen des eigenen Landes zu schlichten. Natürlich wandte er jetzt und später seine besondere Neigung den werdenden und wachsenden Anstalten zu, die der Pflege der Wissenschaft und den Interessen der Kunst gewidmet waren und die einst seiner Fürsorge ihren höchsten Flor verdanken sollten. Während dieses ersten Jahrzehnts jedoch wurde ihm Theilnahme an fast alle den Geschäften zugemuthet, die der Herzog energisch gefördert zu sehen wünschte. Und indem er so für die Gesammtheit und oft im Stillen liebevoll für den Einzelnen wirkt, erinnert er uns an das Wort, das sein Schwager Schlosser schon im October 1773 über ihn gesprochen: „Sein Herz ist so edel als eins. Wenn er einmal in der Welt glücklich wird, so wird er Tausende glücklich machen; und wird er's nie, so wird er immer ein Meteor bleiben, an dem sich unsere Zeitgenossen müde gaffen und unsere Kinder wärmen werden.“

    Das Glück, gleichsam herbeigerufen durch das Verdienst, blieb hier denn auch nicht aus. Die Gunst des Fürsten ebnete dem Freunde den Weg. Rasch ging er auf der Laufbahn des Beamten vorwärts. Nachdem er am 11. Juni 1776 den Titel eines geheimen Legationsrathes mit Sitz und Stimme im geheimen Conseil erhalten hatte, ward er schon im September 1779 zum geheimen Rathe ernannt, und betrat so, wie er selbst bemerkte, mit dem 30. Jahre die höchste Ehrenstufe, die ein Bürger in Deutschland erreichen konnte. Jenes Jahr sollte einen Abschnitt bilden im Leben der Freunde. G. wünschte den Herzog auf einige Zeit dem Treiben des Hofes zu entfremden; der damals 22jährige Fürst sollte in Anschauung erhabener Naturscenen seinen Sinn zu männlicherem Ernste sammeln. So führte ihn der ältere Genoß auf jene fast abenteuerlich zu nennende Schweizer Winterreise (12. September 1779 bis 13. Januar 1780), deren Denkmal uns in den Briefen erhalten ist, welche das höchste Muster großartig klarer Naturdarstellung geben. Als er den Gedanken an diese Reise gefaßt, schildert er in einem Schreiben an die Mutter sein Leben als ein solches, in dem er sich täglich übe und täglich wachse; er bezeichnet sich als einen von Gott geliebten, der die Hälfte seines Lebens hingebracht und aus vergangenen Leiden manches Gute für die Zukunft hofft und auch für künftiges Leiden die Brust bewehrt hat.

    Das Jahr 1782 brachte neue Ehren und Lasten. Er ward in den Adelsstand erhoben und nach dem unvermeidlich gewordenen Abgange des Kammerpräsidenten v. Kalb mußte er an dessen Stelle treten. Am 4. Juni übersendete|er der Freundin Frau v. Stein das eben empfangene Adelsdiplom mit den Worten: „Ich bin so wunderbar gestimmt, daß ich mir gar nichts dabei denken kann. Wie viel wohler wäre mir, wenn ich, von dem Streit der politischen Elemente abgesondert, in Deiner Nähe den Wissenschaften und Künsten, wozu ich geboren bin, meinen Geist zuwenden könnte.“ Aehnliche Klagen und Wünsche läßt er auch sonst verlauten, wenn er fürchtet, das Getriebe der Welt, der Andrang der Geschäfte könne ihn aus seiner Bahn hinausschleudern.

    Sobald er aber seine Zustände als ein Ganzes prüfend überblickt, muß er sich bekennen, daß er bei der „Weite und Geschwindigkeit seines Wesens" eines solchen Kreises der Thätigkeit bedarf, in welchem alle seine Kräfte auf vielfach verschiedene Weise unaufhörlich in Bewegung gesetzt werden; er dankt Gott dafür, sich in einer so „engweiten Situation" zu befinden, „wo die mannigfaltigen Fasern seiner Existenz alle durchgebeizt werden können und müssen". Sicherlich hätte er auf keine der Mühen, unter denen er manchmal seufzte, verzichten mögen. Oft dachte und sann er so angestrengt, daß „Abends sein ganzes Wesen sich zwischen den Augenknochen zusammenzudrängen schien". Aber beschwichtigend sagt er zu sich selbst: „der Druck der Geschäfte ist sehr schön der Seele; wenn sie entladen ist, spielt sie freier und genießt des Lebens. Elender ist nichts als der behagliche Mensch ohne Arbeit, das Schönste der Gaben wird ihm ekel." Und von der Fülle der ihm verliehenen Gaben braucht er nichts einzubüßen. Er vermag recht wohl von dem Geheimrathe „sein anderes Selbst zu trennen, ohne das ein Geheimrath sehr gut bestehen kann.“ Indem er sich die nothwendigen Einschränkungen gefallen läßt, welche die Umgebungen und das Amt ihm auferlegen, macht er sich im Inneren nur um so unabhängiger. Die poetischen Geister begleiten ihn auf seinen Dienstreisen. Hat es der „Iphigenie“ geschadet, daß der Dichter an ihr bildete und arbeitete, während er (im März 1779) zum Behufe der Rekrutenaushebung die weimarischen Ortschaften besuchte und die jungen Burschen nach der „Physiognomik des rheinischen Streichmaßes classificirte"? Oder hat das Gedicht auf Mieding's Tod dadurch etwas von der Reinheit seiner Form oder der Innigkeit seines Tones verloren, daß es (im März 1782) auf einer zu gleichem Zwecke unternommenen Reise ausgeführt ward?

    Für alles Peinliche, mit dem ihn denn doch zuweilen die Ueberlast der Geschäfte bedrückte, gewährte ihm das Verhältniß zum Herzog reichlichen Ersatz. Nicht dem Fürsten, dem Freunde zu Liebe hatte er sich unter das amtliche Joch gefügt; dem Freunde zu Liebe trug er die Bürden so lange, als er seine Dienste für ersprießlich, ja nothwendig halten mußte, so lange als er überzeugt war, durch Ausübung seiner amtlichen Pflichten den Rechten seiner Künstlernatur keinen Eintrag zu thun. Zur Wahrheit ward jetzt Lavater's Prophezeihung aus dem Jahre 1774: „G. wäre ein herrliches handelndes Wesen bei einem Fürsten. Dahin gehört er. Er könnte König sein. Er hat nicht nur Weisheit und Bonhomie, sondern auch Kraft.“ — Auf eigener Kraft ruhend, konnte er seinen Platz behaupten neben einem edlen und großgesinnten Fürsten, der selbst als eine der kraftvollsten Naturen seiner Zeit dastand und der keineswegs bereit war, sich das Selbstbewußtsein des geborenen Herrschers, das ihn erfüllte, irgendwie schmälern zu lassen. Diese Freundschaft, in ihrer Art ebenso einzig wie das Bündniß mit Schiller, sollte länger als ein halbes Jahrhundert dauern und alle Prüfungen überstehen, die bei dem Wechsel irdischer Zustände sie treffen konnten. Wurden in späterer Zeit durch das Eingreifen anderer Persönlichkeiten die innigen Beziehungen zwischen den Freunden einmal leise getrübt, so brauchten sie nur einander Auge in Auge zu sehen, und „wie leichte Wolken vor der Sonne“ schwanden alle störenden Elemente. Brach der Eigenwille Carl August's allzu herrisch hervor, so verharrte G. in würdiger Ruhe und wich nicht von dem,|was er als das Rechte erkannt hatte. Vielleicht die ernsteste Störung war gegen Ende des Jahres 1808 eingetreten, und am 3. September 1809, an seinem Geburtstage, schrieb der Fürst: „Wenn Du thätig, froh und wohl bist, so lange ich noch mit Dir gute Tage erleben kann, so wird mir mein Dasein höchst schätzbar bleiben.“ — In den früheren Jahren, da der Herzog noch im Werden war, blickte er mit verehrender Dankbarkeit auf den Freund und Leiter. Und dieser ließ sich niemals herbei, ihm durch Nachgiebigkeit zu schmeicheln, ihn auch nur durch Schweigen zu schonen. Sobald die fürstliche Willkür Schaden zu bringen drohte, trat er ihr hemmend mit unerschrockenem Wort entgegen und wies mahnend auf die Pflicht der Entbehrung, die dem Herrscher vor Allem auferlegt ist. Nie gab es eine hochsinnigere Freundschaft zwischen Fürst und Unterthan. Auf welchem Grunde sie errichtet war, das mag, unter so vielen Zeugnissen, vornehmlich das Gedicht „Ilmenau“ lehren, das den Herzog zu seinem 27. Geburtstag begrüßte. In welchem Tone der Freund zum Freunde sprechen durfte, das kann uns der Brief vom 26. December 1784 beweisen, der den Zweck hat, den geplagten Landmann gegen die Uebergriffe des jagdlustigen Fürsten zu schützen.

    Erhielt das Leben Goethe's während der weimarischen Lehrjahre durch die Verbindung mit dem Herzog die feste Grundlage, so empfing es eine wundersame Verklärung durch das Geistes- und Seelenbündniß mit Charlotte v. Stein (geb. v. Schardt, 25. December 1742 bis 6. Januar 1827). Der Verkehr mit der um sieben Jahre älteren Freundin bildete um ihn eine Atmosphäre, in der sich die zarteste Blüthe des Dichtergeistes entfaltete. An der Reinheit dieses Verhältnisses zweifeln nur diejenigen, die unfähig sind, sich in das Wesen Goethe's und in die ihn umgebenden Zustände vermittelst lebendiger Anschauung hineinzuversetzen, oder auch solche, die niemals gelernt haben, aus klaren Zeugnissen klare Schlüsse zu ziehen.

    In den Jahren, da sich, nach mancherlei Schwankungen, zwischen ihm und der Freundin das innigste Einverständniß begründet hatte, waren auch die Beziehungen zu Herder besonders innig und fruchtbar. Herder, welcher ja seit dem October 1776 auf Goethes Betrieb gleichfalls ein Weimaraner geworden, arbeitete in der ersten Hälfte der achtziger Jahre an seinen köstlichen Uebersetzungen aus der griechischen Anthologie und an den „Ideen“. In manchen philosophischen und naturwissenschaftlichen Ueberzeugungen und Grundansichten waren die Freunde einig. Noch immer wirkte das Wort des älteren fördernd und oft aufklärend; er und Frau v. Stein bildeten das Publikum, an das G. damals bei seinen Arbeiten am liebsten dachte, während das wirkliche große Publikum seinen Augen wie entrückt war. Aber Herder konnte jetzt im Geistesverkehr nicht mehr das Uebergewicht behaupten, das ihm der Jüngere einst in Straßburg so willig zugestanden hatte. Er verehrte jetzt in G., wie er es selbst im Sommer 1787 gegen Schiller aussprach, einen „allumfassenden Geist"; er wollte ihn als Geschäftsmann vielleicht noch mehr denn als Dichter bewundert wissen.

    In der That hat G. eben in jenen Jahren, da ihn die Nation fast aus den Augen verlor, das Fundament gelegt zu der Universalität seines Wesens, die ihm unter den großen Erscheinungen der Geistesgeschichte der Menschheit den Charakter der Einzigkeit verleiht. Der bildenden Kunst blieb er durch Studium und Ausübung beständig nahe. Philosophische Erbauung fand er nach wie vor beim Spinoza. Dem Studium der Natur ward er durch seine Amtsgeschäfte gleichsam in die Arme geführt. Durchstreifte er das seiner Fürsorge anvertraute Land, stieg er auf die Höhen des Harzes oder fuhr er in die irdischen Tiefen nieder, überall sammelte er die Fülle der Anschauungen, so daß alsdann für immer seinem Seherblick ein Bild des Naturganzen vorschwebte, ein Bild „der|nach dem Regellosen strebenden, sich selbst immer regelnden und so im Kleinsten wie im Größten durchaus Gott- und menschenähnlichen Natur.“ Noch spät preist er es dankbar, daß ihm gleich bei seinem Eintritt in den weimarischen Lebenskreis der unschätzbare Gewinn zu Theil geworden, Stuben- und Stadtluft mit Land-, Wald- und Garten-Atmosphäre zu vertauschen. Im Studium der Botanik ward ihm eine neue Welt ausgeschlossen; ja er that im Alter das Bekenntniß, daß nach Shakespeare und Spinoza auf ihn die größte Wirkung von Linné ausgegangen sei. Mit leidenschaftlichem Ernst versenkte er sich in die Betrachtung der Pflanzenorganisation. Unter der Mannichfaltigkeit der Erscheinungen strebte er die gesetzmäßige Einheit der Urform zu ergründen. Mit nicht minderer Leidenschaft suchte er in den Wunderbau des menschlichen Körpers einzudringen. Seine frühere Theilnahme an Lavater's Physiognomik hatte ihn nicht übel vorbereitet zu den anatomischen Studien, die er im Beginne der achtziger Jahre unter der Leitung Loder's mit dem gewissenhaftesten Fleiße betrieb. Auch hier schritt er vom Lernen nicht nur zum Lehren, sondern zum selbständigen Schauen und Entdecken vorwärts. Ihn leitete die Ueberzeugung „von der Consequenz des Typus durch alle Gestalten hindurch"; mit dem Ausdrucke einer wahrhaft beglückenden Freude konnte er am Abend des 27. März 1784 seinem Publikum, der Frau v. Stein und Herder, Kunde geben von dem am Menschen wahrgenommenen Zwischenknochen (os intermaxillare). „Ich habe eine solche Freude“, ruft er aus, „daß sich mir alle Eingeweide bewegen.“ Als er in einer sorgfältig verfaßten Abhandlung seinen kostbaren Fund, ihm werther als Gold und Silber, den Meistern der Zunft vorlegte, wollten diese für's erste seine Freude keineswegs theilen. Sie beharrten darauf, dem Menschen jenen Knochen abzuleugnen und so die Einheit und Folgerichtigkeit in der Bildung und Umbildung organischer Naturen zu verkennen. Erst allmählich ließ sich die Wissenschaft herbei, dasjenige zu bestätigen, was der schauende Dichter, der freilich vor keiner Mühe der Forschung zurückwich, mit Zuversicht verkündet hatte.

    Durch all dies vielfältige Forschen und Bemühen ward aber das Recht der Poesie wahrlich nicht verkürzt. Aeußerte er einmal, seine Schriftstellerei subordinire sich dem Leben, so könnte man im entgegengesetzten Sinne sagen, sein Leben werde zu einer immer breiter und tiefer strömenden Quelle seiner Poesie. Bis zu welchem Maße sein Geistes- und Seelenleben sich in jenen Jahren erweiterte und vertiefte, dessen wird man erst inne, wenn man den Reichthum der dichterischen Pläne und Gestalten überblickt, die damals entworfen oder schon ausgebildet wurden. Dann erkennt man zugleich, daß, wie später so auch jetzt, der Poesie die rechtmäßige Abgabe zufloß von allem, was G. in Leben und Wissenschaft eingeerntet.

    Die poetischen Erzeugnisse, die dem ersten weimarischen Jahrzehnt angehören, treten in drei Gruppen auseinander, unter denen jedoch mancherlei innere Bezüge stattfinden. Wir gewahren zuerst eine größere Reihe von Arbeiten, für den Hof oder das Liebhabertheater bestimmt. Neben den eigentlichen Maskengedichten erscheinen hier Dramen größeren und geringeren Umfangs, wie „Die Geschwister" (Ende October 1776), „Lila" (gegen Ende des Jahres 1776), das Monodram „Proserpina", das zu den herrlichsten Produktionen Goethe's zählt und einen durchaus ungeziemenden Platz erhielt in der dramatischen Grille „Der Triumph der Empfindsamkeit". Dies genialische Possenspiel „so toll und grob als möglich", das zuerst den Namen „Die Empfindsamen“ tragen sollte, ward am Geburtstage der Herzogin Louise (30. Januar) 1778 unter dem Titel „Die geflickte Braut“ aufgeführt. Es verspottete die schwachmüthige Schwärmerei und das empfindelnde Wesen, das in den siebziger Jahren, genährt durch die gleichzeitige Litteratur, sich der zarten Seelen bemächtigt hatte. Der Spott traf hier|neben dem Siegwart auch den Werther selbst, zum deutlichen Anzeichen, daß der Dichter sich jener Stimmungen völlig entäußert habe. Die zahmere Gestalt, in welcher die „Grille“ uns seit dem Jahre 1787 vorliegt, gibt uns wahrscheinlich kaum eine matte Ahnung von der ursprünglichen tollkühnen Verwegenheit dieses halb parodistischen Scherzes. Zu Ende des Jahres 1779, während der Rückkehr aus der Schweiz, entstand das von Schweizer Luft durchzogene Singspiel „Jery und Bätely". Am 18. August 1780 ward die freie Nachdichtung eines Theils der aristophanischen Vögel, am 22. Juli 1782 die liebliche „Fischerin", und zwar auf dem natürlichen Schauplatz an der Ilm, zur Darstellung gebracht. Das letztgenannte „Wald- und Wasser-Drama" war mit Volksliedern durchwebt, die aus Herder's Sammlung stammten. Zu Anfang vernahm man den „Erlkönig“. Diesen verschiedenartigen Dramen mag auch das im J. 1784 umständlich ausgeführte Singspiel „Scherz, List und Rache“ beigezählt werden, an welches G. Hoffnungen für die deutsche Opernbühne knüpfte, die sich nicht erfüllen konnten.

    Die zweite großartigere Gruppe setzt sich aus Schöpfungen ersten Ranges zusammen, aus Werken, die bis auf den heutigen Tag und für immer zu den festesten Stützen des Goethe’schen Dichterruhms gehören; wir nennen Wilhelm Meister, Iphigenie, Tasso, Elpenor, Egmont. In diesen Dichtungen wird der neue Kunststil vorbereitet, den G. während der italienischen Reise zur Vollkommenheit ausbildete und dann bis zu seinen späteren Jahren festhielt. Eben weil diese Werke, ihrem inneren Wesen nach, einen neuen Stil forderten, eben deshalb konnten sie erst dann zur Vollendung gelangen, als dieser Stil selbst im nothwendigen Zusammenhang mit des Dichters veränderter Welt- und Kunst-Ansicht die Vollendung erreicht hatte. In diesem ersten weimarischen Jahrzehnt suchen sie noch ihre Form; sie können nur bis zu einem gewissen Punkte ausgeführt oder nur zu einem vorläufigen Abschlusse gebracht werden. Der von ächt tragischer Gewalt durchdrungene, mit den mächtigsten Klängen der Dichterrede ausgestattete Elpenor blieb leider zu einem fragmentarischen Dasein verurtheilt. An den beiden Acten, die G. nach vorheriger Mittheilung an Schiller erst 1806 im Druck erscheinen ließ, hat er am 11. August 1781 zu arbeiten begonnen; nach den. Frühlinge 1783 ist er zu dem Werke nicht mehr zurückgekehrt. Daß er dies Drama von wahrhaft tragischer Anlage aufgeben konnte oder mußte, dient vielleicht zur Bestätigung des Ausspruchs, den er am 9. December 1797 gegen Schiller that, er sei überzeugt, daß er sich durch den bloßen Versuch, eine wahre Tragödie zu schreiben, vernichten könnte. Der „Egmont“, für den schon in Frankfurt so viel geschehen war, erhielt zwischen den Jahren 1778 und 1782 mancherlei wichtige Zusätze, ohne daß sich das Stück zur Befriedigung des Dichters zum Ganzen runden wollte; das „Studentenhafte der Manier“, das noch aus der Zeit des ersten Entwurfs herrührte, war so leicht nicht zu tilgen; um es dem verehrten Möser vorzulegen, der ihn soeben gegen Friedrich den Großen wirksam vertheidigt hatte, beendigte er das Schauspiel im Frühling 1782; er wußte jedoch wohl, daß es noch nicht vollendet war. Den „Tasso“, der seit dem März 1780 hervorzutreten beginnt, hatte gleich zuerst Frau v. Stein unter ihren besonderen Schutz genommen; sie wollte sich alles zueignen, was der italienische Dichter im Drama sprach; und so konnte G. durch den Mund seines dichterischen Helden, den freilich kein Heroismus auszeichnen durfte, oft und lang zu der Verehrten reden. Trotzdem wollte die Dichtung keinen rechten Fortgang nehmen. Zwei Acte, in Prosa verfaßt, lagen im Sommer 1781 fertig da; in den folgenden Jahren aber stockte das Werk; erst nach des Dichters Rückkehr aus Italien konnte es, und auch dann nur „wie ein Orangenbaum sehr langsam“ wachsen; mit einer Sorgfalt, die ihm fast unerlaubt vorkommen wollte, pflegte er bis zum|Juli 1789 dies Drama, in welchem, nach Tieck's Worten, „der deutsche Laut am zierlichsten und lieblichsten sich vernehmen läßt, in welchem eben so viel Tiefe als Zartheit des Gemüthes sich offenbart und Wahrheit und Poesie gleichsam Hand in Hand gehen“. Der „Iphigenie“ hingegen war ein schnelleres Wachsthum beschieden. Sie könnte in gewissem Sinne zur Gruppe der dem Hofe gewidmeten Dichtungen gerechnet werden. Denn als G. sie zwischen dem 14. Februar und dem 28. März 1779 ausführte, bestimmte er sie ganz eigentlich für das Liebhabertheater, auf dem sie auch gleich am 6. April erschien. Corona Schröter zeigte sich als Priesterin Dianen's, G. selbst als Orest; man erblickte in ihnen Gestalten von halbgöttlicher Schönheit. Auch dies Werk, das aus den Tiefen des deutschen Seelenlebens emporstieg und des Dichters Versöhnung mit den über der Menschheit waltenden Mächten feiert, auch dies Werk, auf dem von Anfang an die Verklärung hellenischer Schönheit ruhte und das wir uns jetzt ohne die getragene Melodie des Verses nicht denken können, es ward gleichfalls zuerst in Prosa niedergeschrieben; in den beiden folgenden Jahren wurden vergebliche Versuche einer strengeren Ausarbeitung gemacht. Aber das Gedicht trug seine Form in sich; ja, oft genug war diese schon deutlich erkennbar herausgetreten; der Vers hatte sich ungerufen eingefunden. Es war daher das erste der Werke, die unter dem Himmel Italiens reiften; die eingeborene Form ward hervorgelockt. G. ließ das Stück „Zeile vor Zeile, Period vor Period regelmäßig erklingen“, und am 6. Januar 1787 war die Ausstattung des zärtlich gehegten Schmerzenskindes vollendet. Der „Egmont“, der nie bis zur reinen Versform durchdringen konnte, ward dann erst im Beginne des September endgiltig abgeschlossen. Noch vor den in Weimar begonnenen großen Dramen hatte sich der Wilhelm Meister zu regen angefangen. Wir erfahren, daß G. schon am 16. Februar 1777 an dem Roman dictirte, dessen erstes Buch er am zweiten Tage des nächsten Jahres endigte. Neben allen übrigen Arbeiten schritt nun auch diese voran; nicht beschleunigten, aber doch stetigen Ganges kam der Autor im November 1785 zum Schlusse des sechsten Buches; zu den sechs übrigen ward der Plan im folgenden Monate aufgezeichnet. In diesem vielgliederigen Werke war es zuerst vornehmlich auf das Theaterwesen abgesehen; allmählich, wie der Weltblick des Dichters immer umfassender ward, erweiterte es sich zu dem lehrreichsten Welt- und Gesellschaftsgemälde; es führt uns die ernstesten Probleme vor; es führt von der Kunst zur Lebenskunst. Wird uns einmal die ursprüngliche Bearbeitung der ersten Hälfte mitgetheilt, so muß dadurch nicht nur die Entstehungsgeschichte des Romans erhellt werden: auch mancher Moment in der künstlerischen und menschlichen Entwicklung Goethe's muß dadurch ein neues Licht empfangen.

    Neben den beiden Dichtungsgruppen, und zum Theil in Verbindung mit ihnen, zeigen sich die lyrischen Poesien, deren Quell auch in jenem Jahrzehnt „sich ununterbrochen neu gebar". Wir brauchen nur „jener Genien Gesänge", die Lieder Mignon's und des Harfner's, und die Hymnen, wie „Meine Göttin“ (15. September 1780) oder „Das Göttliche“ zu nennen, um an das Tiefste und Höchste einer eben so klaren wie unergründlichen, alle Tonarten mit gleicher Meisterschaft beherrschenden Lyrik zu erinnern. Daß den Gedichten an Lida (Frau v. Stein) größere Zartheit als allen übrigen eigen sei, hat G. selbst zugegeben. Seit dem Frühjahr 1782 näherte er sich der antiken Form in Epigrammen, die, gleich dem Liede und oft mit dem Reize des Liedes, die individuellste Seelenstimmung aussprachen. Gedacht sei hier noch der im August 1784 begonnenen „Geheimnisse“, von denen wir nur das schwer zu enträtselnde und eben dadurch so anlockende Fragment besitzen. Vielleicht hat G. niemals seinen Versen eine so einschmeichelnd weiche Klangfarbe wie hier gegeben. Das Gedicht|schien zu einem idealen Gegenstück des Ewigen Juden bestimmt; es sollte das Edelste aller Religionen in symbolischer Darstellung vor das geistige Auge bringen und zur reinen Humanität hinleiten. Herder und Frau v. Stein sollten als Schutzgeister auch über diesem Gedichte walten. Der Prolog dieses „wunderbaren Liedes“ ward hernach erwählt, die erste Sammlung der Schriften zu eröffnen. Auf einsamer Höhe stellt der Dichter sich hier der Wahrheit gegenüber, durch die allein er jedes Glück haben will. Die Genossen, mit denen er einst stürmend in Leben und Kunst vorangedrungen, sie sind längst von seiner Seite gewichen; er kennt nun die Wahrheit und ist allein; aber den Weg, den er gesucht, er will ihn den Brüdern zeigen. Schon damals konnte er, der Ewigjunge, von sich sagen, was er später aus Italien schreibt: er sei für alles zu alt, nur für's Wahre nicht.

    Die weimarische Lehrzeit war abgeschlossen. Am 3. September 1786 früh aus Karlsbad entweichend, trat er die Fahrt an ins Land der Kunst. Am Abend des 29, October hielt er durch die Porta del Popolo seinen Einzug in die ewige Stadt. In Neapel war er am 25. Februar 1787; dort erinnerte er sich mit Rührung seines Vaters, der ihm so oft die Herrlichkeiten dieses Paradieses gerühmt hatte. Jetzt konnte der Dichter, der sich selbst den Todfeind von Wortschällen nennt, mit lebendigem Auge schauen und geistig sich aneignen, was bisher für ihn nur eine wesenlose Existenz im Worte gehabt. Im April und Mai wurden Siciliens Wunder und Wonnen geschaut und genossen; aus dem Weltbilde der Odyssee, das sich hier in jedem einzelnen Zuge belebte, hob sich die Gestalt der Nausikaa heraus, um die Phantasie des Dichters zu begleiten. Das homerische Gedicht „schien die Natur selbst“. Am 6. Juni betrat er zum zweiten Male Rom, das ihn nun wie eine frisch gewonnene Heimath fesselte. Als er endlich am 22. April scheiden mußte, durchdrang ihn ein Schmerzgefühl, als ob er der Heimath den Rücken wendete. Eine heroisch-elegische Stimmung überkam ihn, als er an dem Abende, welcher der letzte sein sollte, das im Mondenlichte erglänzende Rom durchwanderte. Und wieder verbreitete der Mond seinen vollen Glanz, als am Abend des 22. Juni der Heimgekehrte den Boden Weimars betrat.

    Wie sich während dieser zwei Jahre des italienischen Lebens seine geistige Wiedergeburt vollzog, das lehren uns auf jeder Seite mit unvergleichlicher Anschaulichkeit das Tagebuch und die Briefe, die er damals nach der Heimath, meist an die Vertrautesten, Frau v. Stein und Herder, sandte. Aus ihnen ward 30, zum Theil 40 Jahre später die „Italienische Reise“ zusammengestellt. Sie geben uns ein Bild Italiens, wie es kein Sterblicher vorher oder nachher je in Worten zu geben vermocht hat. Aber darauf beruht nicht ihr einziger, ja nicht einmal ihr vorzüglichster Werth. Wer diesen erkennen und diese Briefsammlung im Sinne Goethe's lesen will, der lese sie als einen Theil seiner Autobiographie. Denn diese Berichte, die uns als freie Aeußerungen des Moments entgegentreten, schildern die Rückkehr des Dichters und Menschen zu seinem eigensten Selbst; sie erzählen, wie G. mit der Kunst, seiner Lebensgefährtin, das neue, und jetzt für alle Zeit unlösbare, Bündniß schließt. Auch die übrigen Aeußerungen, die uns aus diesen beiden Jahren erhalten sind, die Briefe an Carl August, an Knebel, Voigt, ja selbst an den Diener Philipp Seidel, sie alle bezeugen mehr oder minder deutlich, daß in dieser Zeit, da, wie er der Mutter sagt, sich so viele Träume und Wünsche seines Lebens auflösten, er sich als Künstler wiedergefunden hat. Aber wenn er sich auch als einen neuen Menschen bezeichnet, so darf man nicht glauben, er sei in dem Lande, wo ihm „die Kunst wie eine zweite Natur ward“, von Grund aus ein anderer geworden. Sein Wesen ward ausgebildet, aber nicht umgewandelt, indem er seiner Künstlernatur ihre volle Freiheit|wiedergab. Italien zeigte nur, was in Weimar langsam der Reife sich genähert hatte; ja, um es noch wahrheitsgemäßer auszudrücken, in Italien offenbarte sich, was er in Weimar geworden war. Er kam als Künstler nach Deutschland zurück; aber es war ja auch Sehnsucht des Künstlers gewesen, was ihn nach Italien getrieben.

    Um dieselbe Zeit, da ihm diese Sehnsucht befriedigt ward, trat er auch wieder vor der Nation in voller Dichterherrlichkeit hervor. Freilich mußte die Nation sich an den neuen Werken seiner Kunst erst allmählich heraufbilden; für's erste fuhren die meisten noch fort, in dem Dichter der Iphigenie und des Tasso den Urheber des Götz und des Werther zu suchen und zu vermissen.

    Noch vor dem Beginne der italienischen Reise hatte sich G., um dem stets wiederholten schamlosen Nachdruck zu steuern, zur Sammlung seiner Werke entschlossen. Er einigte sich mit dem Leipziger Verleger Göschen; in einem für die Oeffentlichkeit bestimmten Briefe, den der Buchhändler seit dem Juli 1786 in den angesehensten Zeitschriften mittheilte, gab er ein Verzeichniß der Werke, welche die acht Bände füllen sollten. Damals glaubte er nur einen „unvollendeten“ Egmont und vom Tasso nur zwei Acte verheißen zu dürfen. Aber die ihm vergönnte glückliche Muße gestattete ihm, mehr als das Versprochene zu leisten. Bei den vorbereitenden Arbeiten, die das Unternehmen erforderte, lieh Herder ihm seine Hülfe und kargte nicht mit seinem aufmunternden Worte. Und so konnte der Autor, der sich so lange im Verborgenen gehalten, in der ersten Gesammtausgabe seiner „Schriften“, die zwischen 1787 und 1790 zu Leipzig bei Georg Joachim Göschen ans Licht trat, die erste Epoche seiner künstlerischen Thätigkeit befriedigend abschließen und eine neue großartig einleiten. Am 22. September 1787 kamen ihm in Rom die ersten „vier zarten Bändchen" vor's Auge; wol nicht ohne eine Anwandlung von Wehmuth sah er in ihnen „die Resultate eines halben Lebens"; und doch erfreute er sich daran; denn er durfte sich sagen, daß hier jeder Buchstabe „gelebt, empfunden, genossen, gelitten, gedacht sei". Zusammengeordnet waren hier Werther und Götz, die Mitschuldigen, Iphigenie, Clavigo, die Geschwister, Stella, der Triumph der Empfindsamkeit, die Vögel. Dem Ganzen vorauf ging die „Zueignung", die ursprünglich im Titel den Beisatz „an das deutsche Publikum" führen sollte. Von den älteren Productionen war der Werther in einzelnen Abschnitten vermehrt und beträchtlich umgestaltet worden; in Götz und Clavigo zeigten sich nur leise Umbildungen des Ausdrucks; aus letzterem Drama mußte eine ausschweifende Wuthrede des rachedürstenden Beaumarchais entfernt werden; die Mitschuldigen hatten seit dem J. 1770 manche Läuterung durchgemacht; auch in der Stella war manches Mißfällige beseitigt; der versöhnliche Schluß jedoch war geblieben: als „Trauerspiel“ erschien das Stück erst 1816 in den Werken, nachdem es sich schon 1806 als solches auf die Bretter gewagt hatte. — Die letzten vier Bände der Schriften folgten langsamer. Der fünfte brachte (1788) den Egmont und die Singspiele Claudine und Erwin; aus diesen hatte der Dichter „die alte Spreu seiner Existenz herausgeschwungen"; melodisch dahinfließende Jamben ersetzten den prosaischen Dialog, der ihm nun als „äußerst platt“ zuwider war; Handlung und Personen waren in eine idealische Sphäre hinaufgehoben. Dann kam 1789 der achte Band mit dem Puppenspiel, den zwei Sammlungen vermischter Gedichte, die für die meisten damals noch ein unerkannter Schatz blieben, den beiden kleinen Dramen Künstlers Erdenwallen und Künstlers Apotheose, von denen das letztere im September 1788 ausgeführt worden, und dem Bruchstück der Geheimnisse. Den Beschluß machten 1790 der sechste und siebente Band mit Tasso, Lila. Jery und Bätely, Scherz, List und Rache und dem Fragment des Faust, das mit dem Monolog begann und mit Gretchen's Worten: „Nachbarinn! Euer|Fläschchen!“ abbrach; zwischen dem Gespräch mit Wagner und der zweiten Unterredung mit Mephistopheles klaffte die große Lücke; dagegen fand sich von späteren Zusätzen schon die Hexenküche und die Scene in Wald und Höhle. Das waren die Gaben, mit denen G. in seinem 40. Jahre vor seinem Volke wieder erschien.

    Nach der Rückkehr aus Italien mußte in der Gesammtheit seiner Lebensverhältnisse eine wesentliche Veränderung eintreten. Die frühere Geschäftstätigkeit ward nicht wieder aufgenommen; sie hatte ihm geleistet, was sie leisten konnte; sie hatte den Menschen gereist und dem Dichter Blicke in Regionen eröffnet, die sonst dem Künstlerauge meist verschlossen bleiben. Der großsinnige Fürst bewährte sich als der einsichtigste Freund: er entlastete den Dichter aller ungehörigen Bürden; diesem blieb nur die oberste Aufsicht über alle die Anstalten, „welche für Wissenschaften und Künste in Thätigkeit gesetzt worden"; im Mai 1791 übernahm er auch die Leitung des Hoftheaters, von welcher er sich erst im April 1817 zurückzog. Er hörte nicht auf, der erste Staatsdiener zu sein, der auch ferner berechtigt war, „in beständiger Connexion mit den Kammer-Angelegenheiten zu bleiben, den Sessionen des Collegii beizuwohnen und dabei seinen Sitz auf dem für den Fürsten selbst bestimmten Stuhle zu nehmen.“ Nachdem er 1804 zugleich mit seinem Amtsgenossen Voigt das Prädicat Excellenz empfangen, ward ihm 1816, als dem Staatsminister des Großherzogs, sein Gehalt, der früher von 1200 auf 1800 Thaler gestiegen war, auf 3000 Thaler erhöht. Am 7. November 1825 ward die fünfzigste Wiederkehr des Tages gefeiert, an welchem er, der Einladung Carl Augusts folgend, in Weimar eingetroffen. Stadt und Land nahm Antheil an dem Feste. Mit Worten, die aus dem Herzen flossen, begrüßte der Fürst in seinem ersten Staatsdiener „den Jugendfreund, der mit unveränderter Treue, Neigung und Beständigkeit in allen Wechselfällen des Lebens ihn begleitet, und den für immer gewonnen zu haben er als eine der höchsten Zierden seiner Regierung achte.“

    In jener Zeit aber, da G. sich aus dem formreichen Italien in das gestaltlose Deutschland zurückgewiesen sah, fühlte er sich gedrängt, auch sein Hauswesen umzuwandeln. Der Seelenbund mit Frau v. Stein mußte sich lösen. Wer mag sie scheltenswerth finden, wenn das leidenschaftliche Schmerzensgefühl über einen solchen Verlust sie zur herben Verkennung des Freundes fortriß?

    G. fand für's erste Behagen und Genügen in einem Verhältnisse, das ihm und uns die Römischen Elegien und das Gedicht „Die Metamorphose der Pflanzen“ als poetischen Gewinn eintrug, und das wir weder beschönigen, noch verdammen wollen. Im Juli 1788 hatte er die 24jährige Johanna Christiane Sophia Vulpius (6. Juni 1764 bis 6. Juni 1816) in sein Haus genommen; am 25. December 1789 ward ihm der Sohn August geboren (Julius August Walther, zu Rom Ende October 1830). Die kleine Freundin, die in späteren Zeiten von dem naiven Reiz ihrer Jugend wenig ahnen ließ, blieb an Goethe's Seite dieselbe, die sie gewesen. Der Gedanke, sich geistig an ihm emporzubilden, ist ihr wol niemals gekommen. Aber sie leistete ihm, was er von ihr erwartete: sie bereitete ihm angenehme, häuslich-gesellige Verhältnisse. Durch treue Anhänglichkeit und hausmütterliches Walten bethätigte sie die dankbare Verehrung, mit der sie zu ihm aufblickte. Ihr einfach gerader Verstand leitete sie bei dem Bestreben, zur Ruhe und Heiterkeit seines häuslichen Daseins beizutragen. In den drangvollen Tagen, die der Schlacht bei Jena folgten und in denen sich ihre standhafte Energie zum Heile Goethe's bewährt hatte, ließ er der Verbindung mit ihr die kirchliche Weihe geben (19. October 1806). Als sie 52jährig starb, ließ er seinen Schmerz in Worten aufrichtiger Trauer ausklingen. Hoffentlich wird man es Christiane endlich verzeihen, daß der größte der Dichter sie zu seiner Hausgenossin wählte und ihr einen bescheidenen, wohlverdienten|Antheil an seinem Leben gönnte; ihr einfaches Bild wird nicht immer durch Lüge und Verleumdung getrübt bleiben. —

    Reich an mannichfacher äußerer Bewegung waren die ersten Jahre, in denen G. die Eindrücke des italienischen Kunstlebens in sich zu verarbeiten hatte und die dort gewonnenen Ueberzeugungen in nothwendigen Zusammenhang mit seinem ganzen Sein und Wirken zu bringen trachtete. Im Frühling 1790 reiste er nach Venedig, um dort der aus Italien heimkehrenden Herzogin Amalia zu begegnen; seinem Aufenthalte in der neptunischen Stadt verdankte er die venetianischen Epigramme. Gegen Ende des Juli machte er sich aus, dem Herzoge auf dessen Wunsch nach Schlesien zu folgen; inmitten der kriegerischen und diplomatischen Bewegungen schuf er sich, dem Studium der vergleichenden Anatomie hingegeben, seine eigene Geisteswelt. Das „lärmende, schmutzige, stinkende“ Breslau wollte ihm kein Behagen einflößen; er war froh, sich am 6. October wieder in den Schutz seiner Hausgötter begeben zu können. Nun erfreute er sich eines ruhigen, im häuslichen Bereiche fruchtbar und thätig verbrachten Jahres. Aber bald darauf drang der Strom der Begebenheiten, die im Gefolge der französischen Staatsumwälzung die europäische Welt erschütterten, unmittelbar an ihn heran. In dem unseligen Jahre 1792 ward er Augenzeuge des von den Verbündeten gegen das revolutionäre Frankreich gerichteten Unternehmens; er erlebte Schmach und Jammer des Rückzugs; er erprobte an sich die Wirkungen des Kanonendonners, er theilte mit den Soldaten die Langeweile, die Gefahren und Mühsale des Feldlebens. Auch hier boten ihm seine Naturstudien, und zwar die optischen, Trost und erhebende Belehrung. In der ruhig grandiosen Darstellung der „Campagne in Frankreich“ (gedruckt 1822) erscheint er als der eindringende Beobachter, der die weltgeschichtliche Bedeutung der Ereignisse in dem Augenblicke, da sie sich vollziehen, erkennt. Seltsam fügte es sich, daß gerade damals ihm ein ehrenvoller Platz im Rathe seiner Vaterstadt angeboten ward. Aber dies Erbieten konnte ihn den weimarischen Zuständen, mit denen sein Leben so eng verflochten war, nicht abwendig machen; der Bund mit dem fürstlichen Freunde war unauflöslich; und keineswegs durfte er hoffen, daß die reichsstädtischen Verhältnisse, denen er sich einst mit Willen und Absicht entzogen hatte, ihm jetzt einen angemesseneren Spielraum für seine Kräfte eröffnen würden. Auch der Sommer 1793 sah ihn an der Seite seines Herrn auf kriegerischem Schauplatze vor dem belagerten Mainz; auch hier ward er unmittelbarer Zeuge und Chronist. Wie er sich als Dichter zuerst der erschütterten Welt gegenüber zu stellen versuchte, das zeigen die Dramen „Der Groß-Cophta" (1791), „Der Bürgergeneral" (1793), sowie das erst 1817 gedruckte Fragment „Die Aufgeregten". Ferner sollten in der „Reise der Söhne Megaprazon's“, die, im Hinblick auf Rabelais entworfen, nicht weit über den Anfang gedieh, und in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ die Gesinnungen des Dichters dargelegt werden, welcher dem alles bedrohenden Geiste des Umsturzes, der durch Europa ging, sich als Freund und thätiger Förderer des Bestehenden entgegensetzte. Auch die hexametrische, „zwischen Uebersetzung und Umarbeitung schwebende Behandlung“ des Reinecke Fuchs (gedruckt 1794) gehört zu den Werken, die in unmittelbarem Bezug auf die Zeitstimmung ausgeführt wurden. Hierbei kam Gottsched's hochdeutsche Uebersetzung (1752) zu Ehren; denn ihr verdankte G. manche Hülfe, wenn er auch zuweilen im Einzelnen das Original mit richtigerem Verständniß erfaßte. Die unheilige Weltbibel, die er seinen erregten Zeitgenossen erneut in die Hände gab, war zugleich ein Hof- und Regentenspiegel, in den mancher, der auf der Weltbühne damals sich spreizte, zur Ergötzung und Belehrung hineinschauen und sein eigenes Bild, wenn auch unter Verzerrungen, wiedererkennen mochte. Des ungeheuren Stoffes, den die Zeitgeschichte bot, sollte|er erst in „Hermann und Dorothea“ (1796—97) mit poetischer Allgewalt vollkommen Herr werden. Eine durch hohe Symbolik verklärte Darstellung der Revolutionsepoche sollte Deutschland in der Trilogie erhalten, vor der wir in der „Natürlichen Tochter“ (1801—3) nur das einleitende Stück besitzen.

    Die Einsicht, daß er nicht zur bildenden Kunst berufen sei, war einer der Vortheile, die ihm Italien gebracht hatte. Mußte er nun auf die ernste strenge Ausübung verzichten, so wollte er doch um so entschiedener, forschend und anschauend, von Seiten der Theorie wie der Geschichte, in das Wesen der Kunst eindringen, ihre Tiefen ergründen, sich zu ihrem Gipfel aufschwingen. Und dazu konnte ihm denn die Ausübung, wie er sie anspruchslos fortsetzte, auch fernerhin behülflich sein. Aus diesem edlen, auf Betrachtung und Forschung gegründeten Verhältnisse zur Kunst erwuchs ihm eine der reinsten Glückseligkeiten seines Lebens. Durch Verbreitung seiner Anschauungen und Grundsätze aber ist er ein Lehrer der Kunst für Deutschland geworden, den freilich bis auf den heutigen Tag nur die Besten hören mochten. Um so unerschütterlicher bestand er, im Gegensatze zur Zeitrichtung, auf seinen Principien, weil er täglich erfuhr, in wie hohem Maße sie ihm bei Ausübung der poetischen Kunst förderlich wurden.

    Ohne ein Vorbild in seiner unmittelbaren Zeitumgebung zu finden, hatte G. aus seiner Vorstellung heraus den neuen Kunststil geschaffen, und eben deshalb stand er auch mit der Anerkennung desselben zuerst allein; nur die Ersten der Nation konnten sich allmählich verständnißvoll zu ihm gesellen. Auf dem festen Grunde derselben ewigen Formengesetze, nach welchen die Natur schaffend bildet, war dieser Stil errichtet worden. Dem Poeten genügte nicht die liebevoll getreue Nachahmung des Wirklichen; auch die Manier konnte ihn nicht befriedigen, mit welcher der Künstler die Dinge, oft nach einseitigen Vorstellungen, ergreift und sie dann in beschränkter, wenn auch scharfer, Charakteristik wiedergibt. Er strebte nach dem Stil, der aus der tiefsten Erkenntniß der Dinge hervorgeht, oder, wie er selbst es ausdrückt, auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntniß ruht, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen. Ueber diesem Stile walten dieselben „wahren und natürlichen“ Gesetze, nach welchen die bildenden Künstler des Alterthums ihre hohen Werke hervorgebracht, die Werke, vor denen G. ausruft: „alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen; da ist die Nothwendigkeit, da ist Gott.“

    Wie er sich aber längst gewöhnt hatte, Kunst und Natur als verschwistert anzusehen, so konnten auch Kunstbetrachtung und Naturstudium, sich wechselseitig fördernd, gleichen Schritt halten. Indem er über alle einzelnen Zweige der bildenden Kunst nachdachte, ward er zuletzt immer wieder an „das A und O aller uns bekannten Dinge, an die menschliche Figur" herangeführt. Mit Recht erblickt er im Menschen den höchsten, ja den eigentlichen Gegenstand bildender Kunst; um ihn jedoch zu verstehen, erschien eine Kenntniß der organischen Natur unerläßlich. Die Wissenschaft nun weiß zu rühmen, wie er den Bildungsgesetzen des thierisch-menschlichen Organismus selbständig forschend nachging und wie er den Faden spann, der ihn durch das Labyrinth des menschlichen Baues führte. So konnte er auch, bei seiner einfachen, naturgemäßen Methode, nicht irren, als er den „Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären" (1790) ausarbeitete; denn die Vegetation selbst „hatte ihm Schritt für Schritt ihr Verfahren vorgebildet.“ Von seinen Bemühungen um die Farbenlehre gab er öffentlich Rechenschaft in den zwei Stücken der „Beyträge zur Optik“ (1791 und 92), deren erstes durch ein entzückendes Bild des farbenreichen Italiens eröffnet wird.

    Einen Menschen, der von der Mühe lebt, durfte er sich in diesen Jahren vielleicht mit größerem Rechte als je zuvor nennen. Mühe und Genuß waren|ihm eins, und doch konnte er sich beider nicht im Innersten erfreuen. Durch einen gewissen trockenen Ernst, der sich wol in Form einer mißmuthigen Resignation aussprach, schien die geistige Heiterkeit des poetischen Schaffens unterbrochen zu sein. Er wunderte sich, daß in dem prosaischen Deutschland noch ein Wölkchen Poesie über seinem Scheitel schweben blieb. Er konnte sich glücklich preisen im Besitze der neuen Anschauungen, mit denen er das Gesammtgebiet der Natur und Kunst umfaßte; aber es schien, als hätte er dieselben nur für sich allein gewonnen. Was er als das einzig Rechte erkannt hatte, blieb den meisten unfaßbar; was er mißachtete, stand in Geltung. „Ein rastloses Streben, sich nach allen Seiten auszubilden“ hatte ihn gerade in dem Moment überfallen, da die ungeheuren Weltbewegungen und ihre unmittelbaren Folgen ihn in sich selbst zurückdrängten. Er vermißte eine thätige Theilnahme an seinem Streben, das, dem Höchsten zugewandt, selbst von den näheren Freunden kaum begriffen ward. Da kam Schiller ihm entgegen.

    Es war ein Gespräch über naturwissenschaftliche Dinge, das die beiden Männer einander nahe brachte. Die Möglichkeit eines gemeinsamen Wirkens zeigte sich; die Mißverhältnisse schwanden, welche aus dem Gegensatze der beiden Naturen, aus der Verschiedenheit der Lebensstellungen natürlich entsprungen waren; nichts konnte mehr das Bündniß hindern, welches G. und Schiller im Sommer 1794 schlossen, und aus welchem für sie ein neues Leben voll künstlerischer Thaten hervorging. Während des zehnjährigen Bestandes dieser Freundschaft, für die es kein anderes Ende geben konnte als den Tod des jüngeren Genossen, ward die deutsche Litteratur auf den Gipfelpunkt ihrer Vollendung gehoben. G. aber fand sich durch diese Freundschaft überschwänglich entschädigt für alles, was er auf der Höhe seines Daseins bisher hatte entbehren müssen.

    Denn er fand in Schiller den hohen Mitstrebenden, nach dem er so lange vergeblich ausgeblickt. Verschieden nach Anlage und Ausbildung ihres Geistes wie ihrer künstlerischen Persönlichkeit, strebten sie in jener Periode ihres Schaffens einem und demselben Ziele in herrlicher Gemeinschaft entgegen. Indem die beiden großen Gestalten sich fest aneinander schließen, umspannen und erfüllen sie mit der Weite und dem Reichthum ihrer vereinigten Geisteskräfte den ganzen Kreis der Litteratur. Für dies Verhältniß findet G. den treffendsten bildlichen Ausdruck in den Worten an Schiller (26. December 1795): „Wir können eine schöne Breite einnehmen, wenn wir mit einer Hand zusammenhalten und mit der anderen so weit ausreichen, als uns die Natur erlaubt hat.“

    Ist im Kunst- und Geistesleben einer Nation der von allen strebenden Kräften lange vorbereitete Moment gekommen, in welchem das Höchste zur Erscheinung gelangen soll, so geschieht es nicht selten, daß dieses Höchste in zwei Gegensätzen gespalten auseinander tritt. Diese verharren dann in feindseliger Trennung. Hier, zum ersten und einzigen Male, zeigt sich uns das erhebende Schauspiel, daß die Gegensätze sich suchen, um sich zu versöhnen. Schiller's und Goethe's Bund darf als die innigste Vereinigung der schärfsten Gegensätze bezeichnet werden; er ist zugleich die unerwartete höchste Blüthe, zu der das Zeitalter der Humanität sich entfalten konnte.

    Die volle Bedeutung des Gegensatzes, der wie durch ein Naturgebot zwischen ihnen befestigt war, haben sie auch während ihrer Vereinigung lebhaft empfunden und nachdrücklich ausgesprochen. Anschauung und Gedanke, der intuitive und speculative Geist standen sich hier verkörpert gegenüber. Aber die Kluft zwischen ihnen scheint sich auszufüllen, wenn man bedenkt, daß jeder die Beschränkung seiner Eigenart zu überwinden und sein Individuum durch Aufnahme dessen, was ihm die Natur nicht freiwillig gegeben, zu ergänzen strebte. Mußte der größere Dichter auch von dem Mannigfaltigen, von der unbegrenzten Fülle der sinnlichen|Anschauung ausgehen, so suchte er doch mit selbstthätiger, freier Denkkraft das Gesetz, das in und über allen Erscheinungen waltet, sie regelt und sie umfaßt; in dem Erfahrungsgemäßen forscht er nach dem Nothwendigen, und das All gibt ihm Aufschluß über das Einzelne. Wirkt die Kunst in ihm gleich einer dunkeln Naturkraft, so beruhigt er sich doch nicht eher, als bis er durch deutlich erkannte Kunstprincipien diese Kraft zu bändigen und zu leiten gelernt hat.

    Goethe's und Schiller's Bund blieb unzerstörbar, so lange beide strebend vorwärts gingen; denn nicht auf wandelbare Empfindungen, sondern auf die edelsten Bedürfnisse ihrer beiderseitigen Naturen war er begründet. Dies Bündniß konnte sich nur durch die That kund geben und bewähren. Es bestätigt Goethe's Wort: „Freundschaft kann sich blos praktisch erzeugen, praktisch Dauer gewinnen.“ Wenn G. dem jüngeren Freunde Objecte für dessen Ideen gab, so brachte dieser durch seine vordringende Ideenkraft die hin und wieder stockende Masse der Goethe’schen Anschauungen in fruchtbare Bewegung. Aber keiner wollte dem andern seine Natur aufdrängen; jeder sollte unter den anspornenden Einwirkungen des andern die seinige nur um so großartiger entwickeln. Der hohe ethische Werth dieser Freundschaft offenbart sich eben darin, daß die Gemeinschaft des Strebens den Gegensatz der Naturen überwindet. Der Briefwechsel, in welchem dies Streben von Tag zu Tag sich darlegt, war daher eine „große Gabe“, die der überlebende Freund in seinen letzten Jahren (1828 und 1829) „den Deutschen, ja den Menschen bot“. An Gehalt unerschöpflich, Denkmal und Vermächtniß einer beispiellosen Freundschaft, gehört diese Correspondenz zu den kostbarsten geistigen Besitztümern der Menschheit.

    Was G. in dem Jahrzehnt von 1794—1805 leistete, ist kaum mit flüchtigem Worte hier anzudeuten. „Wilhelm Meister's Lehrjahre“ wurden (1794—96) durchgearbeitet und unter Schiller's Beirath fortgeführt und geendigt. Nach dem „tollen Wagestück mit den Xenien“ erhob er sich zu „Hermann und Dorothea, dem Gipfel seiner und unserer ganzen neueren Kunst"; die durch F. A. Wolf's Prolegomena lebendig angeregten homerischen Studien hielten ihn auf epischem Gebiete fest; als nachgeborener Bruder der homerischen Sänger faßte er den riesenhaften Plan einer Fortsetzung der Ilias: was er hier vermocht hätte, zeigt das Fragment der Achilleis, das uns die tragische Erhabenheit des Ganzen, wie der Geist des Dichters es ausgebildet, sowie die kraftvoll gezogenen Grundlinien der Composition erkennen läßt. Den Schiller’schen „Horen" (1795—97) und besonders den Musenalmanachen gönnte er seine reichliche Beisteuer. In den letzteren erschienen die vollendeten Erzeugnisse deutsch-hellenischer Lyrik in elegischer Form: „Alexis und Dora" (1797), „Der neue Pausias“ (1798), „Euphrosyne“ (1799); ferner die Balladen und Romanzen: Zauberlehrling, Schatzgräber, Braut von Korinth, Gott und Bajadere (1798), Blümlein Wunderschön und die Gedichte, die von den Reizen, dem Verrath und der Reue der schönen Müllerin erzählen (1799). Daneben sproßte ein neuer Liederfrühling auf. Wol durfte Schiller, als diese Wunder der Poesie einander folgten, ihm zurufen: „Jetzt, däucht mir, kehren Sie, ausgebildet und reif, zu Ihrer Jugend zurück und werden die Frucht mit der Blüthe verbinden. Diese zweite Jugend ist die Jugend der Götter und unsterblich wie diese.“

    Die innige Theilnahme an Schiller's dramatischer Production bestimmte ihn zu einer, womöglich noch gesteigerten Sorgfalt in Behandlung der theatralischen Angelegenheiten. Wie in die Poesie, so auch in die Bühnendarstellung die ganze Höhe und Würde des idealen Kunststils einzuführen, das war eine für ihn und den Freund gleich wichtige Aufgabe. Um zu diesem Zwecke mit allen Mitteln und von allen Seiten her zu wirken, ward sogar die Uebersetzung Voltaire’scher Tragödien, des Mahomet und des Tancred (1799 und 1800) nicht verschmäht.

    Den Interessen der bildenden Kunst, die er in seinem Sinne durch Preisaufgaben und Ausstellungen (1799—1805) auch praktisch zu fördern suchte, wurden umfangreiche Arbeiten gewidmet, wie die genialische Uebertragung der Autobiographie Cellini's (erst in den Horen 1796 und 97, dann selbständig und mit werthvollen Zugaben bereichert 1803), die drei Bände der Propyläen (1798—1803), in denen das Reifste der Goethe’schen Kunstweisheit niedergelegt ist, und das Wert: „Winkelmann und sein Jahrhundert“ (1805), zu dessen Ausstattung ihm Heinrich Meyer und F. A. Wolf behülflich waren; er selbst stellte hier das Bild des Verkündigers der alten Kunst in wahrhaft majestätischen Zügen hin.

    Inzwischen war seit dem Sommer 1797 der Faust mächtig vorgerückt; wichtige Einzelheiten des zweiten Theils wurden sogar schon 1800 behandelt. Dabei durften die naturwissenschaftlichen Arbeiten, und insbesondere die Vorbereitungen zum großen Werke über die Farbenlehre, keine Unterbrechung leiden. Schiller begleitete sie aufmerksam und liebevoll, munterte zu einer streng methodischen Behandlung auf und ließ auch hier, wie bei den Schriften über die Kunst, seinen philosophischen Ordnungsgeist heilsam einwirken. Mit dem Beginne des J. 1804 konnte nach unsäglichen Mühen, die G. tapfer getragen hatte, die neue Jenaische allgemeine Litteratur-Zeitung begründet werden; er bedachte sie mit köstlichen kritischen Aufsätzen, unter denen die Charakteristik der Voßischen Gedichte hervorstrahlt. Der trübe Winter von 1804 auf 1805 war vorüber; eben hatte der Dichter, selbst von manchem Leiden befangen, die auf Schiller's Anregung begonnene Uebersetzung des Diderot’schen Dialogs le neveu de Rameau abgeschlossen und die geistsprühenden Noten über die französische Litteratur des 18. Jahrhunderts beigefügt, — da ward ihm der Freund entrissen.

    So erschütternd hatte ihn seit dem Tode seiner Schwester der Schmerz wol nie wieder getroffen, wie am Morgen des 10. Mai, als er aus dem Munde Christianen's die Bestätigung der gefürchteten Kunde vom Hinscheiden Schiller's empfing. Er schien zu fühlen, daß mit diesem jähen Schlage die zweite Epoche seiner Dichterjugend abschloß. Nicht nur damals, unter dem gewaltsamen Andrange des ersten Schmerzes, klagte er, die Hälfte seines Daseins habe er verloren; auch lange hernach, als die Nähe von Freunden wie Jacobi und F. A. Wolf ihn erfrischt und gestärkt hatte, und mancherlei erheiternde Erscheinungen in buntem Wechsel an ihm vorübergezogen waren, auch da noch konnte er den immer wachen Schmerz nicht zur Ruhe bringen. „Den letzten Tag 1805“ traf er in einem vertraulichen Briefe an Eichstädt, den Redacteur der Litteratur-Zeitung, eine testamentarische Verfügung, und zwar aus dem Grunde, weil er „nach dem Tode eines so werthen Freundes nur halb fortlebte und sich vielleicht hinfälliger glaubte als er war“.

    Von Schiller verlassen, sah er, der Dichter, der Künstler, der Kunst- und Naturforscher, einer großen Einsamkeit entgegen. Freilich wurden seine Beziehungen zur Welt, zum Vaterlande und Auslande immer zahlreicher und vielseitiger. Eine junge Generation wuchs auf in der Bewunderung seines Genius. Alle Strahlen des deutschen Geisteslebens schienen in ihm sich sammeln zu wollen. Zu den alten erprobten Freunden traten im Laufe der Jahre neue tüchtige und vertrauenswerthe, wie Reinhard, Boisserée und so manche andere; Wilhelm v. Humboldt bewährte fortdauernd seine Treue; die Freundschaft mit Zelter erwärmte sich zu brüderlicher Herzlichkeit; jüngere Gelehrte, Philologen und besonders Naturforscher drängten sich zum persönlichen oder brieflichen Verkehr mit dem Meister heran; jeder fühlte sich beglückt, der sich zu den Seinen zählen durfte. Aber der Mann kam nicht mehr, der ihm, wie der heimgegangene Freund, in jedem Sinne ein Geistes- und Wirkensgenosse sein konnte. Hatten|er und Schiller sich doch selbst da verstanden, wo sie nicht einig waren. Vermochte einer von den Führern der romantischen Schule sich ihm als ein solcher Genoß zur Seite zu stellen? Unmöglich! Sie hatten den litterarischen Gesichtskreis bedeutend erweitert; sie führten fort, was Herder glorreich begonnen, indem sie unsere Litteratur mit den Literaturen aller Zeiten und Völker in lebendige Berührung brachten. Unstreitig hatten sie dazu beigetragen, die Besseren der Nation empfänglich zu stimmen für die hohen Kunstwerke, die den männlichen Jahren Goethe's entstammten; sie hatten ihn ausgerufen zum wahren Statthalter des poetischen Geistes auf Erden; sie verehrten ihn als Haupt und Stifter einer neuen Poesie, in welcher der Einklang zwischen dem Romantischen und dem Classischen hergestellt worden. Er ließ sich ihre Auffassung seiner Dichternatur gefallen; er nutzte für seine Zwecke den Ertrag ihrer wissenschaftlichkünstlerischen Bemühungen; er wehrte den Geist, den sie zu verbreiten suchten, nicht von sich ab; ja, soweit es ohne Widerspruch gegen seine Grundsätze geschehen konnte, begünstigte er sie thätig, um zu zeigen, daß er sie schätzte. Aber niemals hätte er im Einverständniß mit ihnen wandeln und wirken können; sein Weg führte nicht nach den dunkelhellen Regionen, in denen sie hausten oder denen sie zustrebten. Auf manchen Gebieten mußte er sie sogar als seine entschiedenen Widersacher, als gefährliche Gegner des Rechten und Wahren bekämpfen und verfolgen. Was er über bildende Kunst lehrend und mahnend vortrug, richtete sich meist gegen die neuen Glaubenssätze der Romantiker, welche dem Dünkel und dem Unvermögen schmeichelten. In allem, was ihm das Höchste und Wichtigste war, blieb er auf sich allein angewiesen. Die Einsamkeit, in die er sich versetzt fühlte, belebte er durch unablässige That; denn „nur wer immer wirkt, vermag zu wirken"; und er steigerte und vermannichfaltigte die Forderungen an seine Wirksamkeit, bis die Nacht eintrat, „wo Niemand wirken kann“.

    Zuvörderst ordnete er die neue zwölfbändige Sammlung seiner Werke; im Cotta’schen Verlage erschien sie; 1806 begonnen, lag sie 1808 abgeschlossen vor. Im ersten Bande war der seit 1790 so mächtig angewachsene lyrische Reichthum vereinigt; der achte bot die höchste Gabe, die der Dichter zu bieten hatte: den vollendeten ersten Theil des Faust. Schon von dem Fragment hatte man gesagt, es gehöre zum Größten, was die Kraft des Menschen je gedichtet. Jetzt gab sich das Werk als ein Ganzes, das auf eine Fortsetzung deutete; es erschien ausgerüstet mit allem übermächtig dämonischen Zauber einer weltdurchdringenden und neue Welten erzeugenden Poesie. Seitdem Dante seinen Prophetenmund geschlossen, war der Menschheit keine ähnliche Offenbarung geworden.

    Aber nicht mit ungetrübtem Genuß konnte Deutschland sich damals seines Dichters erfreuen. Die Jahre des Unheils, der Schmach und Erniedrigung waren gekommen. G. jedoch stand unerschüttert im Sturme der Zeit. Mit einer Beharrlichkeit, in der man den Heroismus nicht verkennen sollte, lehnte er alles von sich ab, was in den bestimmt gezogenen Kreis seiner Pflichten verwirrend einzubrechen drohte; keine fremdartige Anforderung durfte ihn stören in der Vollbringung des Tagewerks, das Gott und die Natur ihm aufgetragen. Er war Patriot, in einer Weise, wie nur er es sein konnte, sein durfte. Vernichtet erschien ihm die politische Macht Deutschlands; um so ruhmvoller sollte die deutsche Hoheit im geistigen Leben wieder auferstehen; und was der deutsche Geist vollführte und errang, sollte der Menschheit zum Gewinne gereichen. Vous êtes un homme, sagte ihm Napoleon am 2. October 1808, nachdem er ihn aufmerksam angeblickt. Das Wort birgt einen Sinn, tiefer und wahrer als der Gewaltherrscher ahnen konnte, der es sprach.

    Vor allem war G. beflissen, „seine Geister ins Freie zu wenden“, die Betrachtung organischer Naturen treulich fortzusetzen und den in vieljährigen chromatischen Studien aufgehäuften Stoff abschließend zu bearbeiten. So konnten denn 1810 die beiden imponirenden Bände „Zur Farbenlehre“ ausgegeben werden; den zweiten füllte die Geschichte der Farbenlehre; sie gilt uns noch jetzt als das nicht wieder erreichte Muster für die historische Behandlung einer Wissenschaft; in keinem seiner späteren prosaischen Werke hat G. das All seines Geistes so klar abgespiegelt. Aber er zeigte sich auch verjüngt in neuen Dichtungswelten. „Pandora“ ward 1807 begonnen, der rasch entsprungene Roman: Die Wahlverwandtschaften“ 1809 zu Ende geführt. In jener begegnen wir den bekannten Gestalten aus des Dichters Jugendjahren; aber ihre geistige Physiognomie ist durchaus umgewandelt; sie haben sich mit dem Dichter fortgebildet und aus seinen Ideen ein neues Dasein erhalten. Ein schmerzlicher Grundton klingt aus den Tiefen dieser Dichtung; ein eigenartig schimmernder Glanz wunderreicher Poesie durchdringt das Einzelne und legt sich blendend über das Ganze; der Poet scheint zu schwelgen im Wechsel der kunstreichsten Formen. Der Roman ist in Rücksicht auf Strenge der Darstellung, auf ungebrochene Einheit der Anlage und Ausführung nur mit dem Werther und mit Hermann und Dorothea zu vergleichen. Er war ursprünglich als Novelle gedacht, denjenigen ähnlich, die in den Wanderjahren, welche seit 1807 den Dichter beschäftigten, später zusammengereiht wurden. In den Wahlverwandtschaften hatte sich G. bemüht, „die innige wahre Katharsis so rein und vollkommen als möglich abzuschließen“. Noch immer blieben seine Dichtungen Bekenntnisse, durch die er vom Drange der Leidenschaft sich zu befreien suchte; sie waren Lebenszeugnisse und Lebensspuren, die er den kommenden Geschlechtern zurückließ. Wie einst Lotte, so hatte auch Ottilie ihr wirkliches Urbild, das der Poet mit freigestaltender Kraft umschuf: in der edel lieblichen, ethisch verklärten Heldin will man die Züge jener Minna Herzlieb wiedererkennen, die in Jena dem Frommann’schen Kreise angehörte und deren Name uns auch aus den Sonetten entgegentönt.

    Nun wählte G., der 60jährige, sein eigenes Leben zum Stoff des biographischen Meisterwerks, das zugleich den geschichtlichen Commentar zu seinen Poesien und eine allseitige Ergänzung derselben enthalten sollte. Drei Bände von „Dichtung und Wahrheit“ erschienen in den J. 1811—14. Aber schon war, als Deutschland sich der Schmach und des Drucks mit endlich vereinten Kräften ruhmvoll entledigt hatte, Blick und Sinn des Poeten anderen Welten zugekehrt. Das neueröffnete Studium des Orients, und zwar besonders der arabischen und persischen Litteratur, hatte ihn mächtig lockend an sich gezogen. In Hafis, den Hammer 1812 in einer, freilich unzulänglichen, Uebersetzung den Deutschen nahe zu bringen gesucht, fand G. den ihm verwandt scheinenden Dichtergeist, den er sich als Führer durch des Morgenlands Gefilde wählte, dem er sich in seiner jetzigen Lebensperiode anähnlichen konnte, ohne sein eigenes Selbst preiszugeben. Die größte Masse der Gedichte, welche den „West-östlichen Divan“ bilden, entstand 1814 und 1815, und zwar gewann er eine bedeutende Anzahl gerade der köstlichsten auf den beiden Reisen, die ihn in den Sommerund Herbstmonaten jener Jahre in die vom Feinde frei gewordenen Heimathsgegenden an den Rhein und Main führten. Mit Naturgewalt, wie in den Tagen seiner jungen Kraft, brach die Dichtung hervor und ergoß sich unaufhaltsam mit wahrhaft jugendlicher Ueppigkeit. Und auch hier schmolz die Poesie mit dem Wirklichen, wundersam aber ungezwungen, in einander. Hatems Suleika, deren Reize und Vollkommenheiten kaum durch das Namenhundert Allah's genügend zu bezeichnen sind, sie schwebte nicht nur als Geistesgebild in den Räumen der vom Dichter auferbauten west-östlichen Welt, um sie mit den Wundern ihrer Lieblichkeit zu erfüllen. In Marianne von Willemer, der geist- und kunstbegabten Gattin eines Frankfurter Freundes (Maria Anna Katharina Therese Jung,|20. November 1784 bis 6. December 1860) trat ihm Suleika wirklich und leibhaftig entgegen; sie empfing seine poetischen Huldigungen, um sie dichtend zu erwidern. Angehaucht von seinem Geiste, eingeweiht in seine Kunst, schuf sie Lieder, die neben den herrlichsten ihres Freundes im Buche Suleika unvergänglich glänzen; sein Wesen hatte schöpferisch das ihrige so durchdrungen, daß in jeder ihrer Strophen das vollgültige Gepräge der Goethe’schen Lyrik zu erkennen ist.

    Der Dichter bezeichnete seinen Divan als „Versammlung deutscher Gedichte in stetem Bezug auf den Orient“ — wir können hinzusetzen: und auf den Zeitpunkt ihrer Entstehung. Denn alle Glieder dieser Versammlung mahnen uns bald mit deutlichem, bald mit verhülltem Wort an die Jahre, da der Poet im befreiten Vaterlande, das er durchwanderte, selbst aus befreiter Brust wieder lebensfreudig aufathmete. Auch hier gibt er uns Gelegenheits- und Zeitgedichte. Er erschließt den Orient für die deutsche Poesie, ohne sich den Formen des Orients sclavisch anzubequemen: er blieb auch unter dem Anschein fremder Hülle der Dichter seines Volkes und seiner Zeit; unter der Maske, welche niemals seine wahren Züge ganz verbergen darf, kann er sich mit um so größerer Freiheit bewegen. Eine selige Heiterkeit, gleich der Sonne des Ostens, scheint von diesen Gedichten aus ihre Strahlen nach allen Enden hin zu verbreiten; zu der Leidenschaft, die das Geliebte an sich ziehen will, gesellt sich die weltüberwindende Weisheit und die gläubige Ergebung in den göttlichen Rathschluß. Der Dichter weidet Geist und Sinn an unerschöpflichem Genusse; aber stets hält er den Bezug auf das Uebersinnliche fest. Die Leidenschaft schlägt in mächtiger Flamme auf; aber mit ihrer Spitze rührt die Flamme an das Himmlische; ja, während alle Wonnen der Erde ihn, den nie alternden, umfangen, strebt er in seliger Sehnsucht, gleich dem Schmetterling, dem Flammentod entgegen, um dann in einem neuen Werden sich auf ewig zu verjüngen. In seinem 70. Jahr (1819) gab G. den Divan mit den begleitenden Erläuterungen ans Licht; dem poetischen Theil ward später noch manches erlesene Stück beigefügt. Von der Prosa der Erläuterungen darf man mit einem Goethe’schen Worte sagen, daß sie durchreiht ist mit juwelenem Goldschmuck.

    Das letzte ihm gegönnte Jahrzehnt verwandte er zu dem einen großen Zwecke, sein Dasein der Nation so vollständig wie möglich in dauernden Zeugnissen vorzulegen. Neigte er sich doch immer entschiedener der Ansicht zu, daß, wollte man der Nachwelt etwas Brauchbares hinterlassen, es Confessionen sein müßten! Im Verein mit den weimarischen Kunstfreunden setzte er die Zeitschrift „Kunst und Alterthum" fort (seit 1816); in den Heften „Zur Naturwissenschaft“ (seit 1817) sammelte er, was er für Naturkunde geleistet, und erging sich zugleich in den großartigsten Bekenntnissen über den Verlauf seiner geistigen Entwickelung, über sein einheitliches Wollen und vielseitiges Streben. So zog er, indem er seine Kräfte wohlbedächtig zusammenfaßte, den Kreis seines Wirkens immer weiter. Je williger und entschiedener auch das Ausland den Blick auf ihn lenkte, um so bestimmender griff er ein in das Gesammtgetriebe des europäischen Geistes- und Bildungslebens. Den ersten Theil der Wanderjahre gab er 1821. Auch hier, wie schon in den Lehrjahren, fand sich „eben so viel Hinweisung als Darstellung". In diesem collectiven Werke mußte aber selbst den unbefangenen Lesern manches Wunderliche mißfällig aufstoßen, bei dem sich der Zweck und die tiefere Absicht des Dichters nicht alsobald errathen ließen. Er selbst erachtete es für geboten, „das Werklein von Grund aus aufzulösen und wieder neu aufzubauen“. Freilich war auch dann noch aus den verschiedenartigen Elementen, die hier verarbeitet sein wollten, ein künstlerisch übereinstimmendes Ganzes nicht wohl zu bilden; aber ein nach seinem Werthe noch lange nicht gewürdigter Schatz von Ideen, von Anschauungen und Ahnungen jetziger und künftiger Zustände|und Bestrebungen ist hier zusammengetragen. Die tiefsten Bedürfnisse der modernen Zeit scheinen hier erkannt zu sein. In den novellistischen Bestandtheilen offenbart und verhüllt sich eine Kunst der Erzählung, wie sie seit dem Cervantes keinem Neueren eigen gewesen. Was G. in den dichterischen Schöpfungen seiner letzten Jahre bot, war ein den später kommenden Geschlechtern hinterlassenes Gut. Unter den Zeitgenossen, ja selbst in der nächstfolgenden Generation vermochten es nur wenige zu genießen oder zu erfassen. Und allerdings ist das Verständniß dieser Dichtungen nicht leicht zu erobern. Denn, indem sie sich aufs Ewige beziehen, stellen sie uns „im Erdenleben das Bild und Gleichniß des Unvergänglichen“ vor Augen. G. selbst verhehlt nicht, daß hier eine scharf eindringende Aufmerksamkeit erfordert werde. Er glaubte einzusehen, „daß sich manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen, nicht direct mittheilen läßt"; er hatte daher, seinem eigenen Bekenntnisse zufolge, das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren. Es darf wol nicht Wunder nehmen, daß die meisten, statt aufzumerken, sich nach oberflächlicher Betrachtung mißvergnügt oder gar spöttelnd von diesen Gebilden abwandten. Erst jetzt beginnt man, sich des endlich erkannten Gehalts dieser Schöpfungen zu bemächtigen.

    In jenen letzten Jahren war seine Hauptsorge auf Ordnung und Sicherung seines litterarischen Nachlasses gerichtet. Mit steigendem Ernst widmete er sich dieser Pflicht, seitdem eine Krankheit, die seinem Leben bedrohlich schien (1823), glücklich überwunden worden. Der ersten Cotta’schen Ausgabe seiner Werke war 1815—19 eine 20bändige gefolgt. Am 1. März 1826 erließ er die Anzeige einer vollständigen Ausgabe letzter Hand. Dieser war der Schutz der deutschen Bundesstaaten zugesagt. Sie ward, einem Schatzhause gleich, bestimmt, den unausmeßbaren Ertrag des Goethe’schen Lebens aufzunehmen. Vierzig Bände erschienen im Laufe dreier Jahre (1828—30). In 15 Bänden ward (1832—33) ein Theil des Nachlasses vorgelegt. In späteren Ausgaben (1836, 1840) vermehrte sich die Masse noch beträchtlich; aber, wie viel auch seitdem nachgesammelt worden, noch immer scheint der Vorrath nicht erschöpft. Der Wunsch nach einer, auch im wissenschaftlichen Sinne, vollständigen Ausgabe wird der Nation erst dann erfüllt werden, wenn das Goethe’sche Archiv sich endlich dem Licht und der Wissenschaft erschließt; dann wird man auch hoffentlich nicht zögern, den Werken die Briefe als einen integrirenden Bestandtheil beizufügen und so das Bild des umfassendsten Menschenlebens, von dem die Geschichte Kunde gibt, vollkommen abzurunden.

    Aber nicht blos dem Ordnen und Sammeln, auch dem Hervorbringen und Vollenden war das letzte Jahrzehnt gewidmet. Die Dichterkraft äußerte sich in Formen, die seiner jetzigen Lebenshöhe angemessen waren und die weder dem Jüngling noch dem Manne geziemt hätten; aber sie war nicht gebrochen. Wie gewaltig die Leidenschaft den Dichter noch begeistern und „begeisten" konnte, das bezeugte die Marienbader „Elegie", im Herbste 1823, fast ein halbes Jahrhundert nach dem Werther, durch die Trennung von Ulrike v. Lewezow hervorgerufen, das erregteste, schmerz- und weihevollste seiner Liebesgedichte. Er wußte sich noch im Besitze unberechenbarer Kräfte: er fühlte sich der Aufgabe gewachsen, die Faustdichtung zum Schluß zu führen. Er begab sich daran (1825), das Werk zu bezwingen. „Ohne Hast, aber ohne Rast“ schritt er vorwärts. Der vierte Band der letzten Ausgabe (1828) brachte die „Helena“, als klassischromantische Phantasmagorie, in welcher der Poet, durch keine Zeit gebunden, über alter und neuer Welt schwebt, um beide in sich und im Gedichte vereinigend zusammenzufassen. Als der letzte Geburtstag kam, war der zweite Faust vollendet, das staunenswürdigste Gebild der Weltlitteratur, zu dessen Verständnisse|jetzt ein neues Geschlecht heranwächst. Das thatenreiche Dichterleben schloß ab mit der Verherrlichung der That, welcher die Erlösung folgt. Der Schluß dieser Dichtung, zu deren Aussteuer die Jahrtausende ihre Bildungsschätze dargeliehen, verklingt in einem vieltönigen Hymnus auf die ewige Liebe. Diese selbst erscheint verklärt in der Strahlengestalt der Mater gloriosa, von welcher Gretchen die Gunst erfleht, den früh Geliebten, nun vom Lichte des neuen Tages Geblendeten zu belehren. Der Dichter, der am Ende seines Daseins diese „vom Worte Gottes durchdrungenen Kreise“ unserer Anschauung eröffnet, scheint seinen eigenen Ausspruch bewähren zu wollen: „am Ende des Lebens gehen dem gefaßten Geiste Gedanken auf, bisher undenkbare; sie sind wie selige Dämonen, die sich auf den Gipfeln der Vergangenheit glänzend niederlassen.“

    Prüfungen hatte er bis zuletzt zu erwarten und zu überstehen. Der fürstliche Freund, die Herzogin, ja der eigene Sohn gingen vor ihm aus der Welt; er mußte über Gräber vorwärts. Auch manche Bewegungen im Vaterlande, manche Weltereignisse berührten ihn tief und schmerzlich genug. Niemals erstarrte er zu dem ruhigen Götterbilde, das eine falsche oder böswillige Tradition aufgerichtet hat; niemals verleugnete er das Mitgefühl mit den Geschicken der Menschheit, mit den Geschicken seines Volkes, dem er freilich nie mit tönender Phrase geschmeichelt, dessen angestammte Tugenden er aber liebevoll, wie kein anderer, erkannte und pries, und dessen Einheit auch er herbeisehnte; noch in seinen spätesten Jahren durfte er sagen, daß, wie er draußen die Universalhistorie aufgesucht, sie ihn dagegen wieder in Haus und Garten heimgesucht habe. Mochte daher auch die Heiterkeit manches Tages getrübt werden, im Ganzen bietet doch sein Alter das Bild eines erhabenen Glücks. Wol niemals hat ein Mann, bis an die äußerste Lebensgrenze vorschreitend, seine Lebenszwecke so vollständig erreicht. Er stand in Wahrheit auf der Höhe der Welt. Die Majestät des deutschen Geistes war in ihm verkörpert. Der Widerstand, der gegen ihn laut ward, konnte nicht in die höheren Regionen hinaufreichen. Gerade die Größten unter den Großen Deutschlands bekannten am freudigsten, er sei der Erste, ohne einen Zweiten und Nebenbuhler. Die Führer der fremden Litteraturen aber näherten sich ihm mit den Empfindungen, mit welchen der Vasall seinem obersten Lehnsherrn huldigt. Es war ein französischer Künstler, der ihm 1831 zurief: „Sie sind die große Dichtergestalt unserer Zeit“.

    Das Bild, das uns G. in seinem hohen Alter darbietet, stellt sich in eigenartiger Herrlichkeit dem Bilde seiner Jugend gegenüber. Die zwanziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts sind in ihrer Weise nicht minder wunderwürdig als die siebziger des achtzehnten. Sein Dasein hatte nun das Ansehen eines Kosmos gewonnen, in welchem nach unverbrüchlichen Naturgesetzen alles zur schönen Uebereinstimmung sich fügte. Nicht blos den Dichter sah man in ihm; die Besten des eigenen Volkes und der fremden Nationen ehrten in ihm den Lehrer, oder, wie es in der Huldigung der englischen Freunde zum 28. August 1831 ausgedrückt ward, „den Wohlthäter, der durch Wort und That Weisheit lehrte". Der Lehrer, der als darstellender Dichter wie als Forscher die Geheimnisse des Seelen- und Naturlebens offenbart hatte, stand aber zugleich wie ein König vor seiner Mitwelt. Und mußte sich in ihm nicht ein königliches Selbstbewußtsein regen, wenn er das Ganze seiner Persönlichkeit historisch überblickte? „Man hätte mir eine Krone aufsetzen können", sagt er, „und ich hätte gedacht, das verstehe sich von selbst.“ Nun trug er eine Krone, wie sie niemals auf eines Sterblichen Haupte geruht. Aber er, der selbst ein wahrhaft Freier war, konnte seine Herrschaft nicht zur Unterdrückung der Geister mißbrauchen; er herrschte um zu befreien. Er wies den Ehrennamen eines Meisters ab: die heranwachsende Dichterjugend sollte ihn ihren „Befreier“ nennen. Wo sich in den Litteraturen Europa's damals ein freieres Bestreben im Gegensatz zum despotischen Herkommen Bahn brechen wollte, da war er es, dessen Name, wie der eines Schutzheiligen, angerufen ward, oder der auch unaufgefordert als Schirmherr geistiger Freiheit mit seinem mächtigen Worte hervortrat.

    Seiner geistigen Kraft ward bis zuletzt kein Stillstand geboten. Auch die körperliche Erscheinung des Heros ward von der Hand des Alters kaum leise berührt. Nach dem Abschlusse des Faust verweilte er im Beginne des J. 1832 mit frischer Luft wieder im Naturreiche; der Streit zwischen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire regte ihn an, in erneuten Bekenntnissen seine Ueberzeugungen noch einmal endgiltig darzulegen; ihm ward das Glück zu Theil, noch kurz vor seinem Scheiden des künftigen Triumphs dieser lebenslänglich behaupteten Ueberzeugungen gleichsam durch ein gewichtiges Pfand versichert zu werden. Auch Werke der alten Kunst, die damals frisch vor sein Auge gelangten, erregten den Zweiundachtzigjährigen zu jugendfrischer Begeisterung. Da kam leise die Stunde des Abschieds. Seit dem 16. März sank die Kraft. Nach kurzem Schmerze ward er hinweggenommen. Um Frühlingsanfang, am Donnerstag, dem 22. März gegen die Mittagsstunde, brach das Auge, dem kein irdisches Licht mehr genügen sollte. In den letzten Aeußerungen trat noch der Name Schiller's auf die nun ewig verstummenden Lippen. —

    Seitdem Deutschland sich seiner selbst voll bewußt geworden ist und dies Bewußtsein in Thaten, welche die Welt erschütterten, zum Ausdruck gebracht hat, wächst fortwährend seine stolze Freude an dem Dichter, der dem Vaterlande und der Welt gleichmäßig angehört. Hat Dante die Elemente des mittelalterlichen Daseins in einem ewigen Gedichte zur Einheit versammelt, so wird in Goethe's Sein und Schaffen der ganze Reichthum des neueren Geisteslebens offenbar. Er hat das Bündniß zwischen Wissenschaft und Poesie neu begründet und bekräftigt; er hat einer nach allen Richtungen auseinander strebenden Menschheit in seinem eigenen Wesen das Beispiel der reinsten Harmonie aller Geisteskräfte gegeben. Wie machtvoll bildend und umbildend er auch auf seine Zeit gewirkt, so möchte man doch fast glauben, erst jetzt trete sein Geist die Weltherrschaft an, und die Prophezeiung Carlyle's, der in ihm den Herrscher der Zukunft begrüßte, müsse sich nun erfüllen. Ausblickend von der Höhe, auf welcher er ruhte, sah er die Weltliteratur herankommen. Bildet sie sich einst, wie er sie vorgeahnt, so muß sein Geist schaffend sie durchwehen.

    Litterarische Notiz.

    Nachdem der Goethe’sche Text, nicht ohne Schuld des Dichters selbst und seiner Gehülfen, vielfachen Verderbnissen preisgegeben worden, hat er in den letzten anderthalb Jahrzehnten von Seiten der Herausgeber und Kritiker die gebührende, liebevoll ernste Behandlung erfahren. In den Cotta’schen Ausgaben ist die Reinheit des Textes durch Vollmer's musterhafte Sorgfalt gesichert. Die Hempel’sche Ausgabe leistet Vorzügliches in Rücksicht auf Kritik und Erklärung; aber sie leistet es freilich nur in den Theilen, deren Bearbeitung den Herren v. Loeper, v. Biedermann und Kalischer zugefallen ist. Dankbar und rühmend sei hier besonders des Loeper’schen Commentars zu Dichtung und Wahrheit gedacht. — Aus der Masse der biographischen Darstellungen mögen die unter sich wieder so verschiedenen Werke von Schäfer, Goedeke und Herman Grimm herausgehoben werden. Jedes derselben ist in seiner Weise trefflich geeignet, in die Goethe’sche Welt einzuführen. Ueber das erste weimarische Jahrzehnt erhalten wir die ausgiebigste Belehrung in Ad. Schöll's Einleitungen und Noten zu seiner Ausgabe der Briefe an Frau v. Stein. Das Buch des Engländers Lewes, das vor mehr als 20 Jahren für dessen Landsleute von Nutzen sein konnte, ist hoffentlich in Deutschland für immer beseitigt. Die wahre Biographie Goethe's kann natürlich nur im Gefolge einer wahrhaften Gesamtausgabe seiner Schriften erscheinen. — Wer die Quellen des Goethe’schen Textes kennen lernen und mit den Hülfsmitteln zu einem historisch-kritischen Studium der Goethe’schen Werke sich vertraut machen will, der ist noch immer zu verweisen auf des unvergeßlichen Salomon Hirzel Verzeichniß einer Goethe-Bibliothek (1767—1874).

  • Autor/in

    Michael Bernays.
  • Zitierweise

    Bernays, Michael, "Goethe, Johann Wolfgang von" in: Allgemeine Deutsche Biographie 9 (1879), S. 413-448 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118540238.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA