Lebensdaten
1856 – 1939
Geburtsort
Freiberg (Mähren)
Sterbeort
London Hampstead
Beruf/Funktion
Psychoanalytiker ; Begründer der Psychoanalyse ; Mediziner ; Neurologe ; Tiefenpsychologe ; Autor ; Pazifist
Konfession
jüdisch
Normdaten
GND: 118535315 | OGND | VIAF: 34456780
Namensvarianten
  • Freud, Sigismund (laut Geburtsregister)
  • Freud, Schlomo (ritueller Name)
  • Freud, Schlomo Sigismund (laut Aufzeichnung des Vaters)
  • mehr

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Zitierweise

Freud, Sigmund, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118535315.html [06.10.2024].

CC0

  • Genealogie

    Fam. stammt urspr. aus d. Rheinland;
    V Jacob, Textilkaufm., aus Rabbinerfam.;
    M Amalia Nathanson;
    Wandsbek 1886 Martha (* 1861), T d. Bermann Bernays (1826-79, isr.), Kaufm. in Hamburg, dann Journalist in Wien, u. d. Egla Philipp;
    Ov d. Frau Michael Bernays ( 1897), Literarhistoriker (s. NDB II);
    6 K, u. a. Anna (* 1895), Psychoanalytikerin.

  • Biographie

    F.s Familie zog 1860 nach Wien, wo F. 1873 das medizinische Studium mit vorwiegend naturwissenschaftlichen Interessen begann. Autoanalytisch konstatierte er bei sich verlängertes Bettnässen in der Kindheit und spätere neurasthenische Neigung. Seine Zuneigung und Bewunderung für den Vater wurde durch die spätere Selbsterkenntnis erschüttert, daß er ihm gegenüber einen Ödipuskomplex annehmen mußte. Theoretisch begann F. als Darwinist. 1876-82 arbeitete er im Wiener physiologischen Institut E. Brückes und bei Th. Meynert. Die philosophische Bildung bei F. Brentano war wenig wirksam; F. hat das eigene Denksystem erst später mit Fechners, Nietzsches und Schopenhauers Gedanken nachträglich verglichen. Auf Anregung des Zoologen K. Claus erforschte er auf der zoologischen Station in Triest das Sexualorgan des Aals, das S. Syrski beschrieben hatte. Seine geistige Vorliebe galt F. S. Exner ( 1853), Brücke und E. Fleischl. Allmählich wurde aus dem Goethe-Pantheisten ein materialistischer Naturforscher. Dies führte zu einem Konflikt mit dem Sozialistenführer V. Adler. In der Militärzeit 1879 übersetzte er Stuart Mill, der ihn auf Platons Lehre von der Anamnesis führte. Nach mehreren physiologischen Arbeiten trat er in das Allgemeine Krankenhaus ein und war an der therapeutischen Einführung des Kokains 1884 mit K. Koller|und Königstein beteiligt. Er befaßte sich mit A. B. Morels und J. E. D. Esquirols Theorien und habilitierte sich 1885 für Neuropathologie, um danach an die Salpêtrière in Paris zu J. M. Charcot zu gehen. F. bezweifelte den durch P. Brocas Lokalisationslehre beeinflußten Standpunkt Charcots über die Hysterie, obgleich er damals selbst Aphasiestudien trieb. In Wien trat er in Arbeitsbeziehung zu dem Praktiker J. Breuer. 1889 begab er sich zwecks Hypnosestudiums zu H. Bernheim und A.-A. Liébault. Der zum Freund gewordene Breuer hatte ohne publizistischen Ehrgeiz eine kathartische Behandlungsweise ausgearbeitet. Erst als Janet einen Teil hysterischer Symptome auf Lebenseindrücke zurückführte, trat Breuer literarisch hervor. 1893 und 1895 erschienen gemeinsame Hysteriestudien. F. bekämpfte darin den entartungstheoretischen Teil der Lehre Janets und Charcots. Unter Verzicht auf die Hypnosetechnik arbeitete F. die Technik des freien Einfalls aus, und Breuer trennte sich von F., da er die Sexualtheorie ablehnte.

    Um 1896 formte sich der Begriff „Psychoanalyse“. Die Theorie der Angstneurose wurde zunächst noch von F. biologisch gefaßt. Er erkannte aber nach Aufgabe der Hypnose ein verdecktes Kräftespiel des seelischen Vorgangs, und so entwickelte sich der Begriff des Widerstandes und der Verdrängung. Das Unbewußte wurde zur heuristischen Forderung. Die Annahme räumlicher seelischer Gliederung war bildlich gedacht. Ein Anschluß an reale Hirnanatomie wurde nicht gesucht. Auf der Suche nach den Ursachen der Verdrängungen gelangte F. zur Annahme von Kindheitsresiduen und somit einer kindlichen Sexualität, die er aus der Erwachsenenphantasie ableitete. Aus Phantasien wurden Wunschphantasien als Ausdruck psychischer Realität. Dieser Weg führte zur Konzeption des Ödipuskomplexes, der einerseits autobiographisch ersonnen, dann mit Hilfe damaliger ethnologischer Kenntnisse untermauert wurde. Bedeutsam wurde das Phänomen der Übertragung. 1898 begann die Traumdeutung. In ihr wird besonders das kindliche Träumen vom Tod der Eltern mit der Ödipussage in Zusammenhang gebracht und diese als „uralter Traumstoff“ bezeichnet. O. Rank hat die Ödipusdeutung 1909 kommentiert, indem er unter Hinweis auf A. Bastian zur Auffassung vom Mythos als „Massentraum des Volkes“ gelangt. Die eigentliche Deutung erfolgte in 4 Schriften von 1912, die zu Totem und Tabu (Gesammelte Schriften IX) zusammengefaßt sind; sie bekunden eine evolutionistische Determinationspsychologie unter Einbeziehung dieser in das Seelenleben der Primitiven; somit erfolgte die Ausweitung in das Gebiet der Völkerpsychologie. Der Totemismus ist eine religiös-soziale Einrichtung, durch immer neue Formen und Verwandlungen ersetzt; er findet sich in Spuren des heutigen Kulturlebens; sein ursprünglicher Sinn kann aus den infantilen Resten „erraten“ werden.

    Die geistige und persönliche Freundschaft mit Wilhelm Fließ (1858–1928), der für sich den Begriff der Bisexualität beanspruchte, zerbrach am Gegensatz zwischen dem Biologen Fließ und dem Psychologen F.. 1904 erschien „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“. In seiner Isoliertheit nach dem Bruch mit Breuer fand er in E. Bleuler und C. G. Jung anerkennende Hilfe. Jung und F. wurden gemeinsam 1909 zu Vorlesungen an die Clark-University von G. Stanley Hall eingeladen. Zwischen 1911 und 1913 kam es zu gegnerischem Abfall Alfred Adlers und Jungs. Aus dem Gegensatz von Ich- und libidinösen Trieben entwickelte F. den „Narzismus“. Es begann nun eine spekulative Metapsychologie (Jenseits des Lustprinzips, 1920; Massenpsychologie und Ich-Analyse, 1921), in der das Bestehen eines destruktiven Todestriebes angenommen wurde. Während die Ich-Theorie nicht beendet werden konnte, wurde das „Über-Ich“ zur ethischen Forderung. Die Ubiquität des Ödipuskomplexes blieb bestehen. Der zeitgebundene Pessimismus versucht, die grausame Natur durch Schaffung einer Antinatur im Sinne der stoischen Tradition zu mäßigen. F.s Szientismus hielt die Religionen für gefährlich (Die Zukunft einer Illusion, 1927). So entstand 1930 „Das Unbehagen in der Kultur“. Mit dem Buch „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ (1939) schuf er sich die Gegnerschaft M. Bubers. F.s Weltbild bleibt pessimistisch, wenn es auch von tragischer Größe ist. Seine Haupttat war die Befreiung des Seelenlebens aus den Fesseln rein organizistischen und entartungstheoretischen Denkens, um so zu einer biographischen Sicht des Individuums zu gelangen. Der Weg der Forschung blieb, besonders das Ich betreffend, unvollendet; die pansexualistische Betrachtungsweise schockierte sein bürgerliches Zeitalter. Jung hat den Pansexualismus gemildert, F.s Schüler L. Szondi hat die Ich-Analyse nachgeholt.

    F.s Lehre blieb nicht auf das Ärztliche beschränkt; die Wirkung wurde weltweit und ergriff alle Gebiete kulturellen und künstlerischen Lebens. Am 80. Geburtstag erhielt er neben ausländischen Ehrungen Huldigungsschreiben von Romain Rolland, Jules Romain, H. G. Wells, Virginia Woolf, Stefan|Zweig und 191 anderen Schriftstellern. Der Gratulant Th. Mann sah das geistesgeschichtliche Band in der nachromantischen Betonung der Nachtseite von Natur und Seele, im revolutionären Zurück ins Heilig-Ursprüngliche, in den mythisch-romantischen Mutterschoß. Er sieht F. als Fortsetzer der Bachofen-Renaissance bis zu Klages. Er stellt die Verbindung bis zu Spengler her und deutet den Pansexualismus als Ausdruck einer der Mystik entkleideten Naturwissenschaft. Th. Mann bekundet sein heimliches Verhältnis zur analytischen Sphäre, da das mythische Interesse der Psychoanalyse genau so wie ihm angeboren sei. Diese Deutung ist zeitverhaftet und daher nur relativ realisierbar. Der Schritt zum Mythos wurde erst eigentlich von C. G. Jung getan, den Mann für F.s „undankbaren Sprößling“ hält; Jung selbst sieht sich nach Angaben E. Bleulers aber als von F. unabhängig an. Beide fundieren freilich in der Demaskierungspsychologie Nietzsches, beide sind Söhne Schopenhauers und Ibsens, wie Th. Mann meint; F.s ethnologische Stützen (Frazer etc.) haben sich kaum halten lassen, die Primitiventheorie (M. Lévy–G. Brühl) ist besonders in animistischer Form heute nicht mehr tragbar, und die wissenschaftliche Mythologie vermag die Lehre vom Ödipuskomplex nicht vorbehaltlos anzuerkennen. Die Lehre von der Verdrängung war schon frühzeitig aufgetreten, so etwa beim Vermögenspsychologen J. H. Hoffbauer und vom Leidenschaftstheoretiker K. W. Ideler vorentworfen. F. benutzte das von Leibniz vorbereitete Unbewußte der deutschen Romantik, ohne selbst eigentlicher Romantiker zu werden. Er blieb bei allen hermeneutischen Versuchen der Traumdeutung naturwissenschaftlicher Denker energetischen Gepräges.

    1938 wurde durch den Nationalsozialismus F.s Emigration nach London erzwungen. Im folgenden Jahr erlag er einem schmerzvollen, heroisch ertragenen Leiden, das 23 Kieferoperationen seit 1923 notwendig gemacht hatte. Sein Schüler E. Jones, der bei der Übersiedlung geholfen hatte, hielt in Golders Green die Grabrede.

  • Werke

    Gesammelte Werke, 18 Bde., London 1942-48 (seit kurzem hat S. Fischer d. Londoner Gesamtausg. v. d. „Imago Publishing Co“ übernommen. Ais Einführung in d. Serie d. Paperbacks Schrr. zur Psychoanalyse;
    im gleichen Verlag Briefe 1873-1939);
    Aus d. Anfängen d. Psychoanalyse, Briefe an W. Fließ, ebd. 1950;
    Autobiogr., in: Die Med. d. Gegenwart in Selbstdarst., 1925, S. 1-52 (W, P).

  • Literatur

    Imago, Zs. f. Anwendung d. Psychoanalyse auf d. Geisteswiss., hrsg. v. O. Rank u. H. Sachs, 1912;
    Ch. E. Maylan, F.s trag. Komplex, 2. Analyse d. Psychoanalyse, 1929;
    R. Spehlmann, S. F.s neurolog. Schrr., 1953;
    E. Jones, S. F., Life and Work. 2 Bde., London 1954 f. (P);
    I. H. Schulz, in: Große Nervenärzte I, 1956, S. 99-114 (L, P);
    L. Marcuse, S. F., 1956;
    L. Binswanger, Erinnerungen an S. F., 1956;
    H. F. Ellenberger, Fechner and F., in: Bull, of the Menninger clinic 20, Topeka/Kan. 1956, Nr. 4;
    W. Leibbrand, S. F., 1956;
    R. Guardini, S. F., 1956;
    P. Matussek, S. F., 1956;
    E. Fromm, S. F.s mission, London 1959;
    Periodicum f. Wiss. Sozialismus, 1959, H. 14 (Aufsätze v. R. Brun, A. Massucco, A. Mette, I. W. Bassin);
    Th. Mann, F. u. d. Zukunft, 1936, auch in: Ges. Werke IX, 1955, S. 478, X, 1955, S. 255.

  • Porträts

    Denkmal v. P. Königsberger, 1921 (Wien, Univ., Arkadenhof).

  • Autor/in

    Werner Leibbrand
  • Zitierweise

    Leibbrand, Werner, "Freud, Sigmund" in: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 407-409 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118535315.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA