Binswanger, Ludwig

Lebensdaten
1881 – 1966
Geburtsort
Kreuzlingen (Kanton Thurgau)
Sterbeort
Kreuzlingen
Beruf/Funktion
Psychoanalytiker ; Psychiater
Konfession
evangelisch-reformiert
Normdaten
GND: 118511076 | OGND | VIAF: 59079086
Namensvarianten

  • Binswanger, Ludwig
  • Binsuwangā, L.
  • Binsvanger, Ludvig

Vernetzte Angebote

Verknüpfungen

Orte

Symbole auf der Karte
Marker Geburtsort Geburtsort
Marker Wirkungsort Wirkungsort
Marker Sterbeort Sterbeort
Marker Begräbnisort Begräbnisort

Auf der Karte werden im Anfangszustand bereits alle zu der Person lokalisierten Orte eingetragen und bei Überlagerung je nach Zoomstufe zusammengefaßt. Der Schatten des Symbols ist etwas stärker und es kann durch Klick aufgefaltet werden. Jeder Ort bietet bei Klick oder Mouseover einen Infokasten. Über den Ortsnamen kann eine Suche im Datenbestand ausgelöst werden.

Zitierweise

Binswanger, Ludwig, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118511076.html [01.07.2025].

CC0

  • Binswanger, Ludwig

    1881 – 1966

    Psychoanalytiker, Psychiater

    Ludwig Binswanger war von 1910 bis 1956 Direktor des Sanatoriums Bellevue in Kreuzlingen (Kanton Thurgau). Als bedeutender Psychoanalytiker und Psychiater leistete er Bahnbrechendes für die stationäre Psychotherapie Schwerkranker. So führte er die phänomenologische und die dialogische Philosophie in die Psychoanalyse ein und formulierte diese Daseinsanalyse als Grundlage von Psychiatrie und Psychotherapie.

    Lebensdaten

    Geboren am 13. April 1881 in Kreuzlingen (Kanton Thurgau)
    Gestorben am 5. Februar 1966 in Kreuzlingen
    Grabstätte Evangelischer Friedhof in Kreuzlingen
    Konfession evangelisch-reformiert
    Ludwig Binswanger, BSB / Bildarchiv / Fotoarchiv Timpe (InC)
    Ludwig Binswanger, BSB / Bildarchiv / Fotoarchiv Timpe (InC)
  • 13. April 1881 - Kreuzlingen (Kanton Thurgau)

    1885 - 1900 - Schaffhausen; Konstanz

    Privatunterricht; Schulbesuch (Abschluss: Abitur)

    Kantonsschule; Gymnasium

    1900 - 1906 - Lausanne; Zürich; Heidelberg; Zürich

    Studium der Medizin (Abschluss: medizinisches Staatsexamen)

    Universität

    1906 - 1907 - Zürich

    Assistenzarzt

    Psychiatrische Universitätsklinik

    1907 - Zürich

    Promotion (Dr. med.)

    Universität

    1907 - Wien

    1907 - 1908 - Jena

    Assistenzarzt

    Psychiatrische Universitätsklinik

    1908 - 1956 - Kreuzlingen (Kanton Thurgau)

    Arzt; seit 1910 Leiter

    Sanatorium Bellevue

    5. Februar 1966 - Kreuzlingen

    Kindheit, Jugend und Studium

    Binswanger wuchs in Kreuzlingen (Kanton Thurgau) auf, wo sein Vater seit 1880 das von seinem Großvater 1857 gegründete Sanatorium Bellevue leitete. Er war hierdurch früh mit dem Krankenhausalltag und dem Umgang mit psychisch Kranken vertraut. Auf dem Familiensitz Schloss Brunnegg erhielt Binswanger Privatunterricht, bevor er auf das Susogymnasium Konstanz und 1897 auf die Kantonsschule Schaffhausen wechselte. Nach dem Erhalt der Matura 1900 studierte er Medizin an der Universität Lausanne, von Herbst 1901 bis Herbst 1903 in Zürich, 1903/04 in Heidelberg und 1905/06 wiederum in Zürich. 1906 absolvierte Binswanger sein medizinisches Staatsexamen und wurde anschließend Assistenzarzt an der von Eugen Bleuler (1857–1939) geleiteten Zürcher Universitätsklinik Burghölzli, an der Carl Gustav Jung (1875–1961) als Oberarzt tätig war.

    Psychiatrische Universitätsklinik Zürich – Begegnung mit der Psychoanalyse

    Binswanger nahm an Jungs Assoziationsexperimenten teil und wurde 1907 bei diesem mit der Arbeit „Über das Verhalten des psychogalvanischen Phänomens beim Assoziationsexperiment. Diagnostische Assoziationsstudien“ zum Dr. med. promoviert. Jung machte Binswanger auf die Psychoanalyse aufmerksam, um deren Einbindung in die Psychiatrie er und Bleuler sich bemühten. Binswanger studierte Sigmund Freuds (1856–1939) Schriften und war Mitgestalter der frühesten analytischen Behandlungen von Psychosekranken im stationären Rahmen. Im März 1907 besuchte er mit Jung in Wien erstmals Freud, mit dem er bis zu dessen Tod einen regen Briefwechsel führte, der gegenseitige Wertschätzung trotz teils gegensätzlicher Anschauungen erkennen lässt. Weitere Besuche Binswangers in Wien (1910, 1913, 1932, 1936) und auf dem Semmering (1927) folgten ebenso wie ein Gegenbesuch Freuds in Kreuzlingen 1912. Darüber hinaus traf Binswanger Freud auf den psychoanalytischen Kongressen in Nürnberg (1910), Weimar (1911), München (1913) und Den Haag (1920). Freud sah Binswanger als Vertreter der Psychoanalyse in der institutionellen Psychiatrie.

    Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen

    1908 wechselte Binswanger an das Sanatorium Bellevue, dessen Leitung er nach dem Tod seines Vaters im Dezember 1910 übernahm. Dabei schloss er von Beginn an eine psychoanalytische Behandlung in die Sanatoriumsarbeit ein. Als Psychiater und Psychoanalytiker behandelte Binswanger u. a. Persönlichkeiten wie Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938), Gustaf Gründgens (1899–1963) und Wacław Nijinsky (1889–1950). 1940 siedelten die meisten Kranken wegen der nahen Grenze zu Deutschland kriegsbedingt während mehrerer Monate in die private Heil- und Pflegeanstalt Littenheid in Sirnach (Kanton Thurgau) über.

    Binswanger griff die sozialpsychiatrischen Ansätze seiner Zeit – genannt seien diejenigen Hermann Simons (1867–1947) und Maximilian Thumms (1883–1957) – auf, wobei er seinem individualisierenden Zugang treu blieb: Vergleichbar mit der Außenfürsorge staatlicher Anstalten wurden Patienten nach der stationären Behandlung im Sanatorium Bellevue über Monate und Jahre ambulant weiterbehandelt.

    Psychoanalyse und Daseinsanalyse

    Zwar wandte sich Binswanger, der seine Theorien in zahlreichen Schriften vertrat, v. a. in den 1940er Jahren verstärkt der von ihm begründeten existenzphilosophisch geprägten Daseinsanalyse zu, doch verstand er sie – im Unterschied zu Medard Boss (1903–1990) und Gion Condrau (1919–2006) – nie als Gegensatz zur Psychoanalyse. Binswanger kritisierte Freuds Menschenbild des „homo natura“ als zu einseitig naturwissenschaftlich, ohne deshalb die Psychoanalyse als Behandlungsmethode anzugreifen. Philosophisch folgte er Edmund Husserls (1859–1938) Phänomenologie, setzte sich mit Martin Heidegger (1889–1976) auseinander und pflegte eine intensive Korrespondenz mit Martin Buber (1878–1965). Seine 1944 veröffentlichte Fallgeschichte einer schwer essgestörten und psychotischen Patientin, die sich assistiert suizidierte, wurde kontrovers diskutiert. 1957 trat Binswanger von der Leitung des Sanatoriums zurück, das von seinem Sohn Wolfgang Binswanger (1914–1993) bis zur Schließung aus vorwiegend ökonomischen Gründen 1980 geführt wurde.

    Rezeption Binswangers

    Binswanger erhielt bedeutende Ehrungen und blieb bis zu seinem Tod Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse. Sein enger Mitarbeiter Roland Kuhn (1912–2005) verstand sich als Nachfolger, wurde aber eher durch umstrittene Psychopharmakastudien bekannt. Binswanger hatte keine Schülerinnen und Schüler; sein Werk wurde geachtet, aber in den Jahrzehnten nach seinem Tod immer seltener diskutiert. Dies änderte sich sowohl mit der 68er-Bewegung als auch in der Psichiatria Democratica in Italien, etwa mit Franco Basaglia (1924–1980), der das Sanatorium Bellevue besuchte und sich von Binswangers Konzepten anregen ließ. Basaglia übersetzte auch Schriften Binswangers in das Italienische. Ähnliches gilt für die französische Psychiatrie. Das von Binswangers Mitarbeiter Norman Elrod (1928–2002) 1979 gegründete Institut für Psychoanalyse Zürich-Kreuzlingen erweiterte Binswangers Ansätze um den politischen Blickwinkel.

    1909 Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse
    1941 Dr. h. c., Universität Basel
    1956 Goldene Kraepelin-Medaille der Stiftung Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie
    1959 Dr. h. c., Universität Freiburg im Breisgau
    1961 Ehrensenator der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, Bern

    Nachlass:

    Universitätsarchiv Tübingen, Binswanger-Archiv. (Verwaltungsakten, Teilnachlässe aus der Familie Binswanger)

    Über das Verhalten des psychogalvanischen Phänomens beim Assoziationsexperiment. Diagnostische Assoziationsstudien, 1907. (Diss. med.)

    Über Entstehung und Verhütung geistiger Störungen, 1910.

    Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie, 1922, Nachdr. 1965.

    Wandlungen in der Auffassung und Deutung des Traumes, 1928, ital. 22009.

    Traum und Existenz, 1930, Neuausg. mit e. Vorw. v. Michel Foucault, 1992, 2023, franz. mit e. Vorw. v. Michel Foucault, 1954, 2012, japan. 1960, ital. 1993, bulgar. 2017, griech. 2024.

    Zur Geschichte der Heilanstalt Bellevue 1857–1932, 1932.

    Über Ideenflucht, 1933, Nachdr. 1980, franz. 2000.

    Freuds Auffassung des Menschen im Lichte der Anthropologie. Erweiterter Festvortrag gehalten zur Feier des 80. Geburtstags von Sigmund Freud im Akademischen Verein für medizinische Psychologie, 1936.

    Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, 1942, 51973.

    Über Sprache und Denken, 1946.

    Henrik Ibsen und das Problem der Selbstrealisation in der Kunst, 1949, franz. 1996.

    Die Bedeutung der Daseinsanalytik Martin Heideggers für das Selbstverständnis der Psychiatrie, 1949.

    Über Martin Heidegger und die Psychiatrie. Festschrift zur Feier des 350jährigen Bestehens des Heinrich-Suso-Gymnasium zu Konstanz, 1954.

    Erinnerungen an Sigmund Freud, 1956, Neuausg. 2014.

    Drei Formen missglückten Daseins. Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit, 1956, Nachdr. 2010, ital. 1964, span. 1972, portugies. 1977, japan. 1995.

    Schizophrenie, 1957.

    Der Mensch in der Psychiatrie, 1957, ital. 1992.

    Melancholie und Manie. Phänomenologische Studien, 1960, ital. 1971, franz. 1987, japan. 2021.

    Wahn. Beiträge zu seiner phänomenologischen und daseinsanalytischen Erforschung, 1965, franz. 1993, japan. 2020.

    Briefe:

    Sigmund Freud/Ludwig Binswanger, Briefwechsel 1908–1938, hg. v. Gerhard Fichtner, 1992.

    Paul Häberlin/Ludwig Binswanger, Briefwechsel 1908–1960, hg. v. Jeannine Luczak, 1997.

    Eugen Bleuler/Ludwig Binswanger, Briefwechsel 1907–1939, hg. v. Susanne Apelt-Riel, 2009. (Onlineressource)

    Werkausgaben:

    Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, 2 Bde., 1947/55.

    Ausgewählte Werke in 4 Bdn., hg. v. Max Herzog/Hans-Jürg Braun/Alice Holzhey-Kunz, 1992–1994.

    Bibliografie:

    Max Herzog, in: Ludwig Binswanger, Ausgewählte Werke, Bd. 3, S. 359–373.

    Monografien und Sammelband:

    Claudia Frank, Entwurf eines ganzheitlichen Menschenverständnisses ... am Beispiel von Ludwig Binswanger, 1983. (ungedr. Diss. med. Tübingen)

    Heinz Vetter, Die Konzeption des Psychischen im Werk Ludwig Binswangers, 1990.

    Max Herzog, Weltentwürfe. Ludwig Binswangers phänomenologische Psychologie, 1994.

    Albrecht Hirschmüller/Annett Moses (Hg.), Psychiatrie in Binswangers Klinik „Bellevue“. Diagnostik – Therapie – Arzt-Patient-Beziehung. Vorträge einer Internationalen Tagung in Tübingen, 4.–5. Oktober 2002, 2002. (Onlineressource)

    Julia Susanne Gnann, Binswangers Kuranstalt Bellevue 1906–1910, 2005. (ungedr. Diss. med. Tübingen)

    Andrea Henzler, Zur Technik in Ludwig Binswangers ersten psychoanalytisch orientierten Behandlungen, 2007 (ungedr. Diss. med. Tübingen) (Onlineressource)

    Susanne Apelt-Riel, Der Briefwechsel zwischen Ludwig Binswanger und Eugen Bleuler von 1907–1939 im Spannungsfeld von Psychoanalyse und Psychiatrie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, 2009 (ungedr. Diss. med. Tübingen)

    Caroline Gros, Ludwig Binswanger. Entre phénoménologie et expérience psychiatrique, 2009.

    Aufsätze und Beiträge:

    Max Herzog, Einleitung des Herausgebers, in: Ludwig Binswanger, Ausgewählte Werke, Bd. 1, 1992, S. XI–XXXIV.

    Hans Geigenmüller, Ludwig Binswangers Weg zur Daseinsanalyse, in: Thurgauer Jahrbuch 72 (1997), S. 93–100. (Onlineressource)

    Klaus Hoffmann, Ludwig Binswanger‘s Collected Papers. Introduction and Critical Remarks, in: International Forum of Psychoanalysis 6 (1997), S. 191–201.

    Klaus Hoffmann, Psychoanalyse und Daseinsanalyse. Ludwig Binswanger aus aktueller Sicht, in: Luzifer Amor 15 (2002), S. 5–17.

    Ellen West. Gedichte, Prosatexte, Tagebücher, Krankengeschichte, hg. v. Naamah Akavia/Albrecht Hirschmüller, 2007.

    Klaus Hoffmann, The Burghölzli School. Bleuler, Jung, Spielrein, Binswanger, and Others, in: Yrjö O. Alanen/Manuel González de de Chávez/Ann-Louise S. Silver/Brian Martindale (Hg.), Past, Present and Future of Psychotherapeutic Approaches to Schizophrenic Psychoses, 2009, S. 38–50.

    Chantal Marazia, Philosophical Whitewashing. Ludwig Binswanger (1881–1966) and the Sterilisation of Manic-depressive Patients, in: Medizinhistorisches Journal 46 (2011), S. 134–154.

    Lexikonartikel:

    Josef Rattner, Art. „Ludwig Binswanger“, in: ders., Klassiker der Tiefenpsychologie, 1990, S. 631–654.

    Thorsten Gubatz, Art. „Binswanger“, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1, 22005, S. 469 f.

    André Salathé, Art. „Binswanger“, in: Historisches Lexikon der Schweiz, 16.8.2019. (zur Familie) (Onlineressource)

    Gerhard Fichtner, Art. „Binswanger, Ludwig“, in: Historisches Lexikon der Schweiz, 9.1.2020. (P) (Onlineressource)

    zwei Radierungen v. Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938), 1917 u. 1917/18.

    Fotografien v. Felicitas Timpe (1923–2006), Bayerische Staatsbibliothek München, Bildarchiv.

  • Autor/in

    Klaus Hoffmann (Reichenau)

  • Zitierweise

    Hoffmann, Klaus, „Binswanger, Ludwig“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.07.2025, URL: https://www.deutsche-biographie.de/118511076.html#dbocontent

    CC-BY-NC-SA