Lebensdaten
1884 – 1945
Geburtsort
Schneidemühl
Sterbeort
Berlin-Plötzensee
Beruf/Funktion
Oberbürgermeister von Leipzig ; Widerstandskämpfer
Konfession
evangelisch
Normdaten
GND: 118695797 | OGND | VIAF: 102148995797459751053
Namensvarianten
  • Goerdeler, Carl Friedrich
  • Goerdeler, Carl
  • Goerdeler, Carl Friedrich
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Zitierweise

Goerdeler, Carl, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118695797.html [19.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Julius, Amtsrichter, dann Syndikus d. „Westpreuß. Landschaft“, freikonservativer Abg. im preuß. Landtag;
    M Adelheid Roloff;
    B Fritz (hingerichtet 1945), Stadtkämmerer v. Königsberg;
    Königsberg/Pr. 1911 Anneliese (1888–1961), T d. Augenarztes Dr. med. Ulrich;
    3 S, 2 T.

  • Biographie

    Der Sproß einer seit 5 Generationen in altpreußischem Beamtentum, seiner Staats- und Pflichtauffassung geformten Familie ging nach juristischen Studien in Tübingen und Königsberg, die er mit der Promotion (bei R. von Hippel in Göttingen mit einer Dissertation über den Staatsrechtlichen Schuldbegriff) und dem Assessorexamen 1911 abschloß, in die Kommunalverwaltung. Als 1. Beigeordneter von Solingen (seit 1912) und 2. Bürgermeister von Königsberg (seit 1920) konnte er sein hervorragendes Verwaltungs- und Organisationstalent bezeigen und sich mit dem Stolz und Eifer für die Wirkungsmöglichkeiten kommunaler Selbstverwaltung erfüllen. Wenn er sich dabei besonders wirtschaftspolitischen Aufgaben zuwandte, so entwickelte er hier, mit einer gewissen lehrhaften Dogmatik, einen Wirtschaftsliberalismus eher westlicher, beinahe manchesterlicher Prägung, der alles Heil von der sachverständigen und gesamtverantwortlich aufgefaßten Initiative freien Wettbewerbs erwartete. Er bekämpfte stets staatliche Lenkungsmaßnahmen und planwirtschaftliche oder gar sozialistische Gedankengänge unter Hinweis auf die unverbrüchliche Geltung wirtschaftlicher Naturgesetze. Ihre Kenntnis allgemein zu verbreiten, wurde immer mehr ein Hauptanliegen G.s, wozu er später auch eine „Wirtschaftsfibel“ verfaßte.

    In der Kommunalverwaltung suchte G. parteipolitische Einflüsse zurückzudrängen und gegenüber den Stadtverordneten die Befugnisse des Oberbürgermeisters zu verstärken. Er war überhaupt mißtrauisch gegen die parlamentarische Demokratie des Weimarer|Staates und trat der Deutschnationalen Volkspartei bei. 1930 wurde er zum Oberbürgermeister von Leipzig gewählt und entwickelte in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit so viel Initiative, daß Reichskanzler Brüning auf ihn aufmerksam wurde und ihn zum Reichspreiskommissar ernannte (Dezember 1931). Auch G. sah staatspolitisch die Rettung in einem autoritären Kurs, sogar noch weitergehend im Verzicht auf parlamentarische Mitwirkung als Brüning, lehnte dagegen eine tiefergreifende staatliche Wirtschaftslenkung auch in der Krise ab. Hoffnungen auf das Reichskanzleramt, in der Nachfolge Brünings und auch Papens, scheiterten nach G.s Auffassung vor allem an Schleicher.

    Nach der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus konnte G. zunächst ohne Schwierigkeiten und Bedenken weiter amtieren, ohne allerdings den ihm nahegelegten Beitritt in die Partei zu vollziehen. Seine Mitarbeit galt, im Zusammenwirken mit Münchens neuem Oberbürgermeister Fiehler, dem Zusammenschluß der kommunalen Spitzenverbände zum Deutschen Gemeindetag, dessen Vorstand er auch tätig angehörte, ferner der Vorbereitung der neuen deutschen Gemeindeordnung (verkündet am 30.1.1935), in der er vor allem die Abschnitte über die Wirtschaftsbetätigung der Gemeinden bearbeitet hat. Eine erneute Berufung zum Reichspreiskommissar (5.11.1934 - 1.7.1935) hoffte er zur Beauftragung zu einer allgemeinen inneren Reform ausweiten zu können; in einer großen Denkschrift trug er Hitler seine wachsenden Bedenken gegen die Währungs- und Wirtschaftspolitik vor, gegen die Abschließung vom Weltmarkt und den Aufbau einer unmöglich zu erreichenden Autarkie. Bald warnte er auch vor der Verhärtung der nationalsozialistischen Juden- und Kirchenpolitik und drängte auf Rückkehr zu einem freiheitlichen Rechtsstaat. Als Hitler mit dem 2. Vierjahresplan den Weg in die terminmäßige Kriegsvorbereitung beschritt, schüttelte er G. als unbequemen Warner ab und ließ durch das Propagandaministerium auch eine seiner Wirtschaftsbroschüren verbieten. Bald darauf legte G., obwohl kurz zuvor auf 12 Jahre wiedergewählt, freiwillig sein Amt als Oberbürgermeister nieder aus Protest gegen die von der Partei durchgeführte Entfernung des Mendelssohn-Denkmales in Leipzig. Von nun an war er nicht mehr durch eine amtliche Funktion gedeckt, wurde aber erst recht zu einem entschlossenen Gegner des nationalsozialistischen Systems, der neben seinen wirtschaftspolitischen Bedenken immer mehr innen- und außenpolitische Einwendungen erhob und insbesondere aus der Empörung des verletzten Gewissens zu einer Verurteilung des Terrorstaates gelangte.

    Nach dem Bruch mit der Partei wagte Krupp ein früheres Angebot auf Eintritt in sein Direktorium nicht mehr aufrechtzuerhalten, ermöglichte G. jedoch, wie dann auch der Industrielle Robert Bosch, eine Reihe von Auslandsreisen, die ihn von 1937 bis August 1939 nach England, Frankreich, Kanada und den USA, in die Schweiz, den Balkan und den Orient einschließlich der Türkei führten. In eindringlich-kritischer Beobachtung konnte G. sein Weltbild wesentlich erweitern, zugleich versuchen, mit eingehenden Reiseberichten wenigstens Göring auf die Gefahren des außenpolitischen Kurses hinzuweisen. Während er Italien als völlig unzulänglichen Bundesgenossen erkannte, vertiefte sich sein bewunderndes Verständnis für die englische politische Lebensform und die Umwandlung eines Kolonialreiches in ein Commonwealth freier Völker. Auf dem Balkan beobachtete er das komplexe Nationalitätenproblem, für das er die nationalsozialistische Volkstumspolitik als besonders verwerflich erkannte und die Lösung durch Ausgleich nationaler Lebensrechte auf der Basis regionaler Selbstverwaltung und einen organischen überstaatlichen Zusammenschluß empfahl.

    Wenn G. seit 1935 in Korrespondenz stand mit dem Generalstabschef Beck und vor allem mit General Thomas, dessen statistische Auskünfte seine Urteilsbildung maßgeblich beeinflußten, so war während seiner Auslandsreisen seine Verbindung zu der sich zusammenfindenden deutschen Résistance nur locker. Mit seiner Rückkehr zu Kriegsbeginn drängte er aber in der Opposition immer leidenschaftlicher nach vorn und zum Handeln, nicht in einem machthungrigen revolutionären Ehrgeiz, doch mit dem starken Selbstbewußtsein des Fachmannes und einem moralisch fundierten Sendungsglauben. Anerkanntes Oberhaupt des Widerstandes war und blieb der Generaloberst Beck, doch G. knüpfte auf vielen Reisen im In- und Auslande, die die Wirtschaftstätigkeit für Bosch ermöglichte, weitere Verbindungen und suchte vor allem die Fäden ins gegnerische Lager nicht abreißen zu lassen. Als Vermittler nach England dienten ihm besonders Professor Siegmund-Schultze in der Schweiz und die schwedischen Bankiers Gebrüder Wallenberg. In zahlreichen Denkschriften suchte er seinen Freunden im In- und Auslande die Notwendigkeit und Ziele einer Opposition gegen Hitler zu entwickeln; seine Memoranden waren oft beinahe Sittenpredigten, vereinfachten wohl auch Probleme und Situationen, wirkten darum nur überzeugender und wurden in der Ablehnung des Nationalsozialismus immer klarer. Eine Denkschrift vom 1.7.1940 ist, im Moment des großen Sieges über Frankreich, die eindeutigste Absage: trotz aller weiteren Siege werde Hitler nicht imstande sein, einen Raum so zu beherrschen, daß Ehre und Freiheit der darin lebenden Völker bewahrt werden könnten. „An einen schöpferischen Aufbau unter deutscher Führung denkt ein System nicht, das in Deutschland von finanziellem Wahnsinn, von wirtschaftlichem Zwang, von politischem Terror und Unmoral lebt.“ Innenpolitisch erstrebte G. eine deutsche Restauration durch die „Entmassung der Masse“, ausgehend von seinen praktischen Verwaltungserfahrungen, mit Anlehnung an Pläne seines einstigen Königsberger Oberbürgermeisters Lohmeyer und deutlich auch an Freiherr vom Stein, ohne natürlich dessen zeitgebundene Bevorzugung von Adel, Vermögen und Großgrundbesitz zu übernehmen. Die Gemeinde solle die Zelle der Staatsbildung und Vorschule für umfassendere öffentliche Tätigkeit werden. Aus einem Nebeneinander von verwaltungstechnisch geschulten Fachleuten und Parteipolitikern solle, über Kreise und Gaue organisch fortgebildet, ein Reichsparlament aus 2 Häusern bestehen, die Staatsleitung jedoch in starker und dauerhafter Autorität bei einem Reichskabinett liegen, dessen Mitglieder vom Staatschef berufen und nur durch eine Art konstruktiven Mißtrauensvotums des Parlaments gewechselt werden könnten. Zeitweilig war an eine Wiederherstellung der Monarchie gedacht. Wenn G. den Sozialismus für überholt hielt und im Bolschewismus den seelenlosen Kollektivismus fürchtete, so hat er doch ein lebhaftes soziales Verständnis gehabt und seit seiner persönlichen Verbindung in der Opposition zu Jakob Kaiser und W. Leuschner die Wiederherstellung einer starken Einheitsgewerkschaft und ihre wirtschaftliche und politische Mitverantwortung erstrebt. Bei der Reorganisation des kulturellen Lebens wollte er Universitäten und Technische Hochschulen zusammenlegen, um die Einheit des Wissens wiederherstellen zu können, im Schulwesen dem Religionsunterricht, dann aber auch der volkswirtschaftlichen Unterweisung eine starke Beachtung schenken, die Kirchen ganz von staatlichen Einflüssen freistellen, wohl aber die Evangelische Kirche zur Zusammenschließung zu einer deutschen Gesamtkirche mit Synodalverfassung, die Katholische zur Errichtung eines deutschen Primats mit der Vollmacht zur Besetzung höherer Kirchenstellen veranlassen. Außenpolitisch erhoffte G. die Bildung einer freien Gemeinschaft europäischer Nationalstaaten, um einen festen Machtkern aus den 3 Großmächten England, Frankreich und Deutschland und vorbereitet durch eine Wirtschaftsunion. Dabei glaubte er sehr lange noch, ein auch militärisch starkes Deutschland, etwa in den Grenzen von 1914, politisch weise geführt und statt brutaler Gewaltanwendung auf gerechten Interessenausgleich mit den kleineren Nationen bedacht, als die europäische Führungsnation erhalten zu können. Im Fortgang des Krieges rückte ihm die bolschewistische Bedrohung Deutschlands und Europas und die gemeinsame Abwehr immer mehr in den Vordergrund seiner Sorgen. Er erhoffte aus dieser Gefahr bis zuletzt ein Einlenken der angelsächsischen Mächte erreichen zu können, ohne die Festigkeit des Bündnisses der drei Weltmächte und die Härte ihrer Feindschaft gegen Deutschland wirklich zu erahnen. Zuletzt im Mai 1943 konnte er über Wallenberg seine Pläne nach England weiterleiten, um für September den innerdeutschen Umschwung anzukündigen. Den Sturz der Hitlerdiktatur dachte er durch den Staatsstreich der Heerführer bewerkstelligen zu können, und er ist vielen von ihnen ein unermüdlicher persönlicher Mahner geworden, den „rechten Moment“ herbeizuführen. Da er aber dabei das Attentat, den politischen Mord, aus moralischen Gründen und in der Furcht vor einer neuen Dolchstoßlegende, ablehnte, war er im Grunde hilflos vor den Gegebenheiten des Diktaturstaates, und die Führung in der Opposition ging auf die jüngere Generation über. Wohl stellte G. seit dem Herbst 1943 im Einvernehmen mit Ludwig Beck Ministerlisten auf, arbeitete auch eng zusammen mit Henning von Tresckow und Friedrich Graf von der Schulenburg, doch blieben starke Spannungen zu anderen Oppositionsgruppen bestehen. Das galt nicht nur von dem Kreisauer Kreis um den Grafen H. J. Moltke und Th. Steltzer, sondern auch zu dem führenden Sozialisten J. Leber, der, zu Unrecht, in G. einen Mann der Großindustrie sah, aber auch höchst skeptisch über seine außenpolitischen Illusionen urteilte, so daß eine Regierung G. wohl nur einen Übergang hätte bilden können.

    Am 17.7.1944 bereits ordnete die Gestapo seine Verhaftung an. G., gewarnt, begab sich auf die Flucht, die ihn bis in seine westpreußische Heimat zur Verhaftung in Stuhm führte. In dem Ausgang des Attentats vom 20. Juli sah er ein „Gottesurteil“ über Stauffenbergs Politik. In seinen Aussagen vor der Gestapo suchte er die Tat nicht als einen Offiziersputsch, sondern als den Aufstand eines gequälten Volkes in seinen besten Köpfen aller Schichten, Parteien und der Kirchen den|Machthabern vor Augen zu führen, um vielleicht dadurch noch eine Umkehr zu erreichen. So hat er auch in der monatelangen Haft nach seiner Verurteilung vom 8. September durch den Volksgerichtshof neben einem politischen Testament noch Denkschriften über Wirtschaftspolitik und eine Reform der Selbstverwaltung verfaßt. Auf ständiges Drängen des Reichsjustizministers Thierack und wohl unmittelbaren Befehl Hitlers erfolgte am 2.2.1945 seine Hinrichtung.

  • Literatur

    H. Rothfels, Die dt. Opposition gegen Hitler, Eine Würdigung, 1951;
    E. Zeller, Geist d. Freiheit, 1952;
    G. Ritter, C. G. u. d. dt. Widerstandsbewegung, 1954 (Abdruck d. Denkschrr., P);
    A. Leber, Das Gewissen steht auf, 1954;
    M. Boveri, Der Verrat im 20. Jh., ⁴1960;
    Spiegelbild e. Verschwörung, Die Kaltenbrunner-Berr., 1961.

  • Autor/in

    Paul Kluke
  • Zitierweise

    Kluke, Paul, "Goerdeler, Carl" in: Neue Deutsche Biographie 6 (1964), S. 521-524 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118695797.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA