Lebensdaten
1927 – 2016
Geburtsort
Reideburg (Saalekreis)
Sterbeort
Wachtberg-Pech (Rhein-Sieg-Kreis)
Beruf/Funktion
Jurist ; FDP-Politiker ; Bundesinnenminister ; Bundesaußenminister ; Vizekanzler ; Hochschullehrer ; Politiker
Konfession
evangelisch
Normdaten
GND: 118690388 | OGND | VIAF: 71442679
Namensvarianten
  • Genscher, Hans-Dietrich
  • Genscher, Dietrich
  • Genscher, H.-D.
  • mehr

Objekt/Werk(nachweise)

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Zitierweise

Genscher, Hans-Dietrich, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118690388.html [28.03.2024].

CC0

  • Hans-Dietrich Genscher verfolgte als Bundesaußenminister (1974–1992) eine Politik der Entspannung gegenüber dem Ostblock und setzte sich zugleich für die Vertiefung der europäischen Integration und eine Stärkung der NATO ein. Internationale Anerkennung erwarb er sich bei den diplomatischen Verhandlungen um die deutsche Einheit 1990. Innenpolitisch spielte er als FDP-Parteivorsitzender eine zentrale Rolle, insbesondere bei dem Koalitionswechsel der FDP 1982 und dem Regierungswechsel von Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918–2015) zu Helmut Kohl (1930–2017).

    Lebensdaten

    Geboren am 21. März 1927 in Reideburg (Saalekreis)
    Gestorben am 31. März 2016 in Wachtberg-Pech (Rhein-Sieg-Kreis)
    Grabstätte Rheinhöhenfriedhof in Oberbachem-Wachtberg (Rhein-Sieg-Kreis)
    Konfession evangelisch
    Hans-Dietrich Genscher, Imago Images (InC)
    Hans-Dietrich Genscher, Imago Images (InC)
  • Lebenslauf

    21. März 1927 - Reideburg (Saalekreis)

    1933 - Halle an der Saale

    Übersiedlung der Familie

    1937 - 1946 - Halle an der Saale

    Schulbesuch (Abschluss: Ergänzungsreifeprüfung)

    Friedrich-Nietzsche-Oberschule

    1937 - 1942 - Halle an der Saale

    Mitglied

    Deutsches Jungvolk

    1942 - Halle an der Saale

    Mitglied

    Hitler-Jugend

    1943 - 1944 - Halle an der Saale; Leuna; Leipzig

    Flakhelfer

    1944 - 1944 - Frauenstein (Erzgebirge)

    Reichsarbeitsdienst

    20.4.1944 - Gau Halle-Merseburg

    Mitglied

    NSDAP

    Januar 1945 - Mai 1945 - Wittenberg; Berlin

    Kriegsdienst

    Wehrmacht (Armee Wenck)

    1945 - 1945 - Berlin; Stendal; Flechtingen (beide Altmark)

    US-amerikanische, dann britische Kriegsgefangenschaft

    1946 - 1952 - Halle an der Saale

    Mitglied

    Liberal-Demokratische Partei (LDP bzw. LDPD), Landesverband Sachsen-Anhalt

    1946 - 1949 - Halle an der Saale; Leipzig

    Studium der Rechtswissenschaften und Volkswirtschaft

    Universität

    1949 - Leipzig

    Erste Juristische Staatsprüfung

    Universität

    1949 - 1952 - Halle an der Saale

    Referendar

    Oberlandesgerichtsbezirk Halle

    1952 - Bremen

    Übersiedlung

    1952

    Mitglied

    FDP

    1952 - 1954 - Bremen

    Referendariat

    Oberlandesgerichtsbezirk Bremen

    1954 - Hamburg

    Zweite Juristische Staatsprüfung

    1954 - Bremen

    stellvertretender Landesvorsitzender

    Jungdemokraten

    1954 - 1956 - Bremen

    Anwaltsassessor und Rechtsanwalt

    1956 - 1959 - Bonn

    wissenschaftlicher Assistent

    FDP-Bundestagsfraktion

    1959 - 1965 - Bonn

    Geschäftsführer

    FDP-Bundestagsfraktion

    1962 - 1964 - Bonn

    Bundesgeschäftsführer

    FDP

    1965 - 1998 - Bonn

    Abgeordneter der FDP (Landesliste Nordrhein-Westfalen)

    Bundestag

    1965 - 1969 - Bonn

    Parlamentarischer Geschäftsführer

    FDP-Bundestagsfraktion

    1968 - 1974 - Bonn

    stellvertretender Parteivorsitzender

    FDP

    1969 - 1974 - Bonn

    Bundesminister des Inneren

    Bundesregierung

    1974 - 1992 - Bonn

    Bundesminister des Auswärtigen; Vizekanzler

    Bundesregierung

    1974 - 1985 - Bonn

    Parteivorsitzender

    FDP

    1994 - 1995 - Berlin

    Honorarprofessor im Fachbereich Politische Wissenschaften

    FU

    1998 - 2004 - Berlin

    Aufsichtsratsvorsitzender

    Kommunikationsberatungsunternehmen WMP EuroCom AG

    1999 - 2010 - Berlin

    Rechtsanwalt

    Sozietät Büsing, Müffelmann & Theye

    2000 - 2016 - Bonn

    Gründer; Geschäftsführender Gesellschafter

    Hans-Dietrich Genscher Consult GmbH

    2001 - 2003 - Berlin

    Präsident

    Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik

    31. März 2016 - Wachtberg-Pech (Rhein-Sieg-Kreis)
  • Genealogie

    Vater Kurt Genscher 13.4.1898–26.1.1937 Justitiar eines Landwirtschaftsverbands
    Großvater väterlicherseits Franz Genscher Landwirt
    Großmutter väterlicherseits Marie Genscher, geb. Paak Landwirtin
    Mutter Hilda Genscher, geb. Kreime 4.6.1901–13.10.1988 Landwirtin
    Großvater mütterlicherseits Otto Kreime gest. 1947 Landwirt
    Großmutter mütterlicherseits Agnes Kreime, geb. Heinemann
    1. Heirat 1958
    Ehefrau Luise Genscher, geb. Schweitzer
    Kinder eine Tochter
    Scheidung Juli 1966
    2. Heirat 17.10.1969
    Ehefrau Barbara Genscher , geb. Schmidt geb. 12.3.1936 Sekretärin; 1987 Schirmherrin der Deutschen Herzstiftung
    Diese Grafik wurde automatisch erzeugt und bietet nur einen Ausschnitt der Angaben zur Genealogie.

    Genscher, Hans-Dietrich (1927 – 2016)

    • Vater

      Kurt Genscher

      13.4.1898–26.1.1937

      Justitiar eines Landwirtschaftsverbands

      • Großvater väterlicherseits

        Franz Genscher

        Landwirt

      • Großmutter väterlicherseits

        Marie Genscher

        Landwirtin

    • Mutter

      Hilda Genscher

      4.6.1901–13.10.1988

      Landwirtin

      • Großvater mütterlicherseits

        Otto Kreime

        gest. 1947

        Landwirt

      • Großmutter mütterlicherseits

        Agnes Kreime

    • 1. Heirat

      • Ehefrau

        Luise Genscher

    • 2. Heirat

      • Ehefrau

        Luise Genscher

  • Biografie

    alternativer text
    Hans-Dietrich Genscher (links), Imago Images (InC)

    Herkunft und Studium

    Genscher übersiedelte mit seiner Familie 1933 nach Halle an der Saale. 1937 trat er in die Friedrich-Nietzsche-Oberschule ein, im selben Jahr dem Deutschen Jungvolk und 1942 der Hitler-Jugend bei. Ab 1943 als Flakhelfer im Zweiten Weltkrieg eingesetzt und zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, wurde Genscher zum 20. April 1944 Mitglied der NSDAP. 1945 geriet er kurzzeitig in US-amerikanische und britische Kriegsgefangenschaft und kehrte anschließend nach Halle zurück, wo er 1946 die Ergänzungsreifeprüfung ablegte. Im selben Jahr erkrankte er an Tuberkulose und hatte in den folgenden Jahren mehrmonatige Krankenhaus- und Kuraufenthalte. Sein Studium der Rechtswissenschaften und Volkwirtschaft an den Universitäten Halle an der Saale und Leipzig schloss er 1949 mit der Ersten Juristischen Staatsprüfung ab und begann anschließend ein Referendariat im Oberlandesgerichtsbezirk Halle an der Saale. 1952 verließ Genscher aus politischen Gründen die DDR, setzte im Oberlandesgerichtsbezirk Bremen sein juristisches Referendariat fort, schloss 1954 sein Studium mit der Zweiten Juristischen Staatsprüfung in Hamburg ab und arbeitete bis 1956 als Anwaltsassessor und Rechtsanwalt in Bremen, bevor ihn seine politischen Ambitionen in die Bundeshauptstadt Bonn zogen.

    Parteipolitiker

    1946 war Genscher in der Sowjetischen Besatzungszone der Liberal-Demokratischen Partei beigetreten. 1952, kurz nach seiner Ankunft in Bremen, wurde er Mitglied der bundesdeutschen Freien Demokratischen Partei (FDP) und 1954 stellvertretender Landesvorsitzender der Jungdemokraten, des FDP-Jugendverbands. Genschers parteipolitische Karriere in Bonn begann 1956 als wissenschaftlicher Assistent des FDP-Bundesvorsitzenden Thomas Dehler (1897–1967). Seit 1959 unter Erich Mende (1916–1998) als angestellter Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion tätig, leitete Genscher ab 1962 zusätzlich die Bundesgeschäftsstelle der Partei und übernahm 1965 das Amt des Geschäftsführers der FDP-Fraktion im Bundestag. Im selben Jahr zog er über die Landesliste Nordrhein-Westfalen als Abgeordneter in den Bundestag ein.

    Als 1968 ein Generationenwechsel in der FDP stattfand, wurde Wolfgang Mischnick (1921–2002) Fraktionsvorsitzender, Walter Scheel (1919–2016) Parteivorsitzender und Genscher dessen Stellvertreter. 1969 zum Bundesinnenminister der ersten sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt (1913–1992) ernannt, wurde er 1974 im Zuge der Regierungsumbildung und dem Rücktritt Scheels Bundesparteivorsitzender, Außenminister und Vizekanzler.

    Die Bilanz der elfjährigen Amtszeit Genschers als Parteivorsitzender gilt als ambivalent: Unter ihm feierte die Partei ihre größten Siege und erlitt ihre bis dahin schwersten Niederlagen. Er konnte sich auch deshalb so lange an der Spitze der Partei halten, weil diese kein ihm vergleichbares politisches Schwergewicht hatte. Seine dominante Position erlangte er v. a. durch seine Tätigkeit als Außenminister: In dieser Funktion bescherte er der FDP hohe Sympathiewerte, konnte jedoch ihren tiefen Absturz nach dem Koalitionswechsel 1982 nicht verhindern, der für die Partei zu einer existenzgefährdenden Zerreißprobe mit zahlreichen, teils prominenten Parteiaustritten aus dem linksliberalen Flügel wurde. In einer Kampfabstimmung gegen Uwe Ronneburger (1920–2007) um den Parteivorsitz behauptete sich Genscher 1982 zwar knapp, musste drei Jahre später aber den Posten für Martin Bangemann (1934–2022) räumen. Nichtsdestotrotz blieb Genscher der langfristig populärste und prominenteste Politiker der FDP. Als „Außenminister der Einheit“ sicherte er seiner Partei in den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen im Dezember 1990 einen Spitzenwert von 11 % und trug damit entscheidend zum Fortbestand der christlich-liberalen Koalition bei.

    Bundesinnenminister 1969–1974

    Genschers Tätigkeit als Bundesinnenminister steht im Schatten seines langjährigen Wirkens als Außenminister. 1969 in das erste sozial-liberale Kabinett berufen, richtete er erstmals ein Referat für Umwelt ein, das von Peter Menke-Glückert (1929–2016) geleitet wurde und sich u. a. mit Luftreinhaltung, Lärmbekämpfung und Abfallbeseitigung befasste. 1971 wurde das erste Umweltprogramm der Bundesregierung verabschiedet, 1973 die Bundesstelle für Umweltangelegenheiten geschaffen. Ein weiteres zentrales Thema in Genschers Amtszeit war die Bekämpfung des Terrorismus. Nach der Verhaftung der führenden Köpfe der ersten Generation der linksterroristischen Rote Armee Fraktion 1972 folgten weitere Anschläge bis Ende der 1970er Jahre.

    Den Tiefpunkt in Genschers politischer Laufbahn bildete die Geiselnahme israelischer Sportler durch palästinensische Terroristen bei den Olympischen Spielen in München 1972. In den Verhandlungen mit den Terroristen bot er sich vergeblich als Austauschgeisel an. Sein Rücktrittsangebot nach dem gescheiterten Geiselbefreiungsversuch der Münchner Polizei auf dem Fliegerhorst Fürstenfeldbruck mit 17 Toten lehnte Bundeskanzler Brandt ab. Als Konsequenz aus dem Olympia-Attentat ließ Genscher eine Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes (GSG 9) einrichten. Ebenfalls in seinen Verantwortungsbereich als Bundesinnenminister fiel die Enttarnung des Kanzlerreferenten Günter Guillaume (1927–1995) als Agenten der DDR-Staatssicherheit. Bereits Ende Mai 1973 waren Genscher und Brandt über den Spionageverdacht unterrichtet, ließen Guillaume unter Beobachtung jedoch bis April 1974 weiter auf seinem Posten, wo er Zugang zu Akten und Gesprächsrunden des Kanzlers hatte.

    Bundesaußenminister 1974–1992

    Nach Brandts Rücktritt im Mai 1974 aufgrund der Guillaume-Affäre wurde Genscher in der neuen sozial-liberalen Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt (1918–2015) Bundesaußenminister und Vizekanzler, obwohl er weder über außenpolitische Erfahrung noch über gute Englischkenntnisse verfügte. Doch in den 18 Jahren seiner Amtszeit entwickelte er das Ministerium zu seiner machtpolitischen Schaltzentrale und drückte der bundesdeutschen Außenpolitik seinen Stempel auf. Zu seinen Markenzeichen gehörten ein exzessives Aktenstudium, eine ausgeprägte Reisediplomatie und die professionelle Medialisierung von Außenpolitik.

    Entspannungspolitik und KSZE-Prozess

    Eines der zentralen Betätigungsfelder Genschers wurde die Entspannungspolitik gegenüber dem sowjetisch beherrschten Ostblock. Als essentielles Instrument hierfür betrachtete er die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die 1975 in der Verabschiedung der Schlussakte von Helsinki gipfelte und zum Referenzrahmen für Oppositionelle in Osteuropa und der DDR wurde. Für Genscher bildete die multilateral und blockübergreifend angelegte KSZE ein idealtypisches diplomatisches Instrument, um den Gesprächsfaden zum Ostblock gerade in Zeiten neuer Spannungen aufrechtzuerhalten. Er war einer der vehementesten Befürworter der KSZE, als diese kurz vor ihrem Scheitern stand, nachdem der sowjetische Einmarsch in Afghanistan 1979, die Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 und die Debatten um eine Antwort der NATO auf die Aufrüstung Moskaus mit nuklearen Mittelstreckenraketen zu einem „Zweiten Kalten Krieg“ geführt hatten. Von seinen Kritikern wurde ihm deshalb unter dem Schlagwort des „Genscherismus“ eine neutralistische Schaukelpolitik zwischen Ost und West vorgeworfen.

    NATO-Doppelbeschluss, Friedensbewegung und koalitionspolitische „Wende 1982“

    Schmidt und Genscher standen fest zu dem im Dezember 1979 verabschiedeten sog. Doppelbeschluss der NATO zur Stationierung atomarer Mittelstreckenwaffen in Westeuropa, wogegen sich Teile des linken Flügels der SPD den Positionen der sog. Friedensbewegung annäherten und sich vom sicherheitspolitischen Kurs ihres Kanzlers distanzierten. Auch auf dem Kölner FDP-Bundesparteitag im Mai 1981 votierte knapp ein Drittel der Delegierten gegen den NATO-Doppelbeschluss. Der Autoritätsverfall des Kanzlers veranlasste Genscher bereits im Sommer 1981, über ein frühzeitiges Ende der Koalition nachzudenken. In seinem „Wendebrief“ forderte Genscher einen grundlegenden finanz- und wirtschaftspolitischen Kurswechsel zugunsten einer radikalen Sanierung des Staatsaushalts und ökonomischer Strukturanpassungen. Im September 1982 folgten Vorschläge des Bundeswirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff (1926–2009) (FDP) zur Kürzung von Sozialleistungen. Am 1. Oktober 1982 wurde Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag gestürzt und Helmut Kohl (1930–2017) (CDU) auch mit den Stimmen der FDP zum neuen Bundeskanzler gewählt. Der neuen christlich-liberalen Bundesregierung gehörte Genscher bis 1992 als Außenminister und Vizekanzler an.

    Europapolitik

    Genscher sah die bundesdeutsche Politik stets in ihrer westeuropäischen Eingebundenheit. Er machte sich für ein „Europa der Bürger“ stark und setzte sich für Direktwahlen zum Europäischen Parlament ein, die 1979 erstmals stattfanden. Einer seiner wichtigsten Impulse zur Vertiefung der europäischen Integration war die „Genscher-Colombo-Initiative“: Im November 1981 warben Genscher und sein italienischer Amtskollege Emilio Colombo (1920–2013) in einem Entwurf für eine Europäische Akte und in einem Dokument zur wirtschaftlichen Integration für institutionelle Reformen wie die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip im Ministerrat und die Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments und der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ). War die Initiative zunächst bei den britischen und französischen Partnern, aber auch bei Schmidt auf Widerstand gestoßen, fand sie nach dem Koalitionswechsel in Bonn mit Kanzler Kohl einen Unterstützer. Im Februar 1986 ging daraus die Einheitliche Europäische Akte (EEA) hervor, in deren Mittelpunkt die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes bis 1992 stand. Die von Genscher avisierte gemeinsame europäische Außenpolitik spielte indes nur eine nachgeordnete Rolle.

    „Architekt der Einheit“ und erster Außenminister der Berliner Republik

    Den Reformprozessen in der Sowjetunion und Osteuropa seit 1985 folgten Massenproteste gegen die SED-Führung in der DDR, schließlich die Besetzung der bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Warschau und in Prag, wo Genscher am 30. September 1989 den DDR-Flüchtlingen die Genehmigung ihrer Ausreise in die Bundesrepublik verkündete.

    Nach dem Fall der Mauer im November 1989 und dem Ende des SED-Regimes erwarb sich Genscher in den Verhandlungen um den Zwei-Plus-Vier-Vertrag zur deutschen Einheit zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs den Ruf als „Architekt der Einheit“. Während mit der deutschen Einheit auch das Territorium der DDR Teil des NATO-Bündnisgebiets wurde, stand dessen Erweiterung um die mittelosteuropäischen Staaten zu diesem Zeitpunkt nicht auf der internationalen Tagesordnung. Der „Charta von Paris für ein neues Europa“ vom 21. November 1990, worin sich die KSZE-Teilnehmerstaaten auf die Grundprinzipien von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verpflichteten, maß Genscher eine Schlüsselrolle für das Ende der europäischen Teilung bei.

    Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Pakts 1991 standen Deutschland und Genscher vor der weltpolitischen Herausforderung, die strategische und sicherheitspolitische Rolle der NATO neu zu definieren. Auf deutsch-US-amerikanische Initiative wurde im Dezember 1991 der Nordatlantische Kooperationsrat (NAKR) als gemeinsames Dialog- und Kooperationsforum der NATO- und der ehemaligen Warschauer-Vertrags-Staaten inklusive Russlands gegründet. Am Golfkrieg 1991 beteiligte sich die Bundesrepublik finanziell, ein weitergehendes militärisches Engagement lehnten Genscher und die Bundesregierung jedoch ab. Im Zerfallsprozess Jugoslawiens setzte sich Genscher zuerst für einen Erhalt der staatlichen Einheit des Landes ein, plädierte jedoch angesichts zunehmender serbischer Aggression seit Herbst 1991 in der EG für die Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens, was trotz Kritik am Vorpreschen Genschers zur Anerkennung der beiden Staaten durch die EG am 15. Januar 1992 führte.

    Rücktritt

    Zu seinem 18jährigen Dienstjubiläum am 17. Mai 1992 trat Genscher als Außenminister zurück. 1992 zum Ehrenvorsitzenden der FDP ernannt, gehörte er dem Deutschen Bundestag noch bis 1998 an. Anschließend nahm er seine anwaltliche Tätigkeit wieder auf und gründete 2000 die Hans-Dietrich Genscher Consult GmbH. Auch nach seinem Rückzug aus der Politik blieb er ein gefragter Gesprächspartner und politischer Ratgeber. 2013 trug seine Vermittlung wesentlich dazu bei, dass der inhaftierte Kreml-Kritiker Michail Chodorkowskij (geb. 1963) vom russischen Präsidenten Wladimir Putin (geb. 1952) begnadigt wurde und nach Berlin ausreisen konnte. Genscher wurde nach seinem Tod im April 2016 als bislang einziger Außenminister der Bundesrepublik mit einem Staatsakt gewürdigt.

  • Auszeichnungen

    1973 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (1975 mit Stern und Schulterband, 1979 Großkreuz)
    1977 Großkreuz des Ordens Isabel la Católica (Spanien)
    1979 Großkreuz des Verdienstordens der Italienischen Republik
    1979 Großes Goldenes Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich
    1982 Alexander-Rüstow-Plakette der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft
    1986 Großkreuz der französischen Ehrenlegion
    1990 Theodor Heuss-Preis der Theodor-Heuss-Stiftung
    1992 Ehrenvorsitzender der FDP
    1992 Komturkreuz des Verdienstordens der Republik Polen
    1992 Großkreuz des Verdienstordens der Republik Ungarn
    1992 Ehrenvorsitzender
    1992 Dr. h. c., Schlesische Universität Katowice (Polen)
    1992 Ehrensenator der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg
    1993 Dr. iur. h. c., Universität Leipzig
    1993 Ehrensenator der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina
    1996 Fürst-Trpimir-Orden mit Halsband und Stern (Kroatien)
    1996 Ehrenmitglied der Universität Tartu
    1997 Drei-Sterne-Orden (Lettland)
    1997 Orden des Marienland-Kreuzes I. Klasse (Estland)
    1998 Orden des litauischen Großfürsten Gediminas
    2001 Orden des Fürsten Jaroslaw des Weisen II. Klasse (Ukraine)
    2002 Dr. h. c., Universität Szczecin (Polen)
    2003 Dr. h. c., Universität Leipzig
    2003 Ehrenmitglied des „Club of Budapest“
    2004 Erich-Kästner-Preis des Presseclubs Dresden e. V.
    2006 Freiheitspreis der Friedrich-Naumann-Stiftung
    2008 Walther-Rathenau-Preis des Walter Rathenau Instituts
    2010 Millenniums-Bambi für sein Lebenswerk (Burda Medienpreis)
    2012 Bildungs- und Begegnungsstätte Deutsche Einheit im Geburtshaus Genschers in Halle-Reideburg
    2013 Orden des Weißen Doppelkreuzes II. Klasse (Slowakei)
    2015 Preis der Europäischen Kulturstiftung Pro Europa
    2015 Henry A. Kissinger Prize der American Academy Berlin
    2017 Umbenennung des Johann-Gottfried-Herder-Gymnasiums (ehemals Friedrich-Nietzsche-Oberschule) in Halle in Hans-Dietrich-Genscher-Gymnasium
    2017 Umbenennung der FDP-Bundesgeschäftsstelle in Hans-Dietrich-Genscher-Haus
  • Quellen

    Nachlass:

    Archiv des Liberalismus der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Gummersbach, N52.

    Bundesarchiv, Koblenz, N 1841.

    Weitere Archivmaterialien:

    Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde, R 9 361-IX KARTEI/10641 533. (NSDAP-Mitgliederkartei)

    Gedruckte Quellen:

    Außenpolitik im Dienste von Sicherheit und Freiheit. Mit einer Einführung v. Ralf Dahrendorf, 1976.

    Deutsche Außenpolitik, 1977. (Briefsammlung)

    Bundestagsreden und Zeitdokumente, 1979.

    Deutsche Außenpolitik. Ausgewählte Grundsatzreden 1975–1980. Mit einer Einführung v. Konrad Seitz, 1981.

    Deutsche Außenpolitik. Ausgewählte Reden und Aufsätze, 1974–1985. Überarb. u. wesentl. erw. Neuausg., 1985.

    Zukunftsverantwortung. Reden, 1990.

    Unterwegs zur Einheit. Reden und Dokumente aus einer bewegten Zeit, 1991.

    Wir wollen ein europäisches Deutschland. Reden und Dokumente aus bewegter Zeit, 1992.

    Politik aus erster Hand. Kolumnen des Bundesaußenministers a. D. Hans-Dietrich Genscher in der Nordsee-Zeitung Bremerhaven, hg. v. Claus Petersen, 1992.

  • Werke

    Monografien

    Erinnerungen, 1995.

    Sternstunde der Deutschen. Hans-Dietrich Genscher im Gespräch mit Ulrich Wickert, 2000.

    Die Chance der Deutschen. Ein Gesprächsbuch. Hans-Dietrich Genscher im Gespräch mit Guido Knopp, 2008.

    Hans-Dietrich Genscher/Christian Lindner, Brückenschläge. Zwei Generationen, eine Leidenschaft, 2013.

    Hans-Dietrich Genscher/Karel Vodička, Zündfunke aus Prag. Wie 1989 der Mut zur Freiheit die Geschichte veränderte, 2014.

    Hans-Dietrich Genscher/Hans-Dieter Heumann, Meine Sicht der Dinge. Im Gespräch mit Hans-Dieter Heumann, 2015.

    Herausgeberschaft:

    Nach vorn gedacht... Perspektiven deutscher Außenpolitik, 1987.

  • Literatur

    Werner Filmer/Heribert Schwan, Hans-Dietrich Genscher, 1988.

    Hans-Dieter Lucas (Hg.), Genscher, Deutschland und Europa, 2002.

    Hans-Dieter Heumann, Hans-Dietrich Genscher. Die Biographie, 2012.

    Gerhard A. Ritter, Hans-Dietrich Genscher, das Auswärtige Amt und die deutsche Vereinigung, 2013.

    Kerstin Brauckhoff/Irmgard Schwaetzer (Hg.), Hans-Dietrich Genschers Außenpolitik, 2015.

    Agnes Bresselau von Bressensdorf, Frieden durch Kommunikation. Das System Genscher und die Entspannungspolitik im Zweiten Kalten Krieg, 1979–1982/83, 2015.

    Friedrich Naumann-Stiftung für die Freiheit (Hg.), Genscher. 1917–2016, 2017. (P)

    Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (Hg.), Hans-Dietrich Genscher. Architekt der Einheit, 2020. (P)

  • Onlineressourcen

  • Porträts

    Fotografien, in: Welt, Das Leben von Hans-Dietrich Genscher in Bildern. (Onlineressource)

  • Autor/in

    Agnes Bresselau von Bressensdorf (München)

  • Zitierweise

    Bresselau von Bressensdorf, Agnes, „Genscher, Hans-Dietrich“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.03.2024, URL: https://www.deutsche-biographie.de/118690388.html#dbocontent

    CC-BY-NC-SA