Wirth, Joseph

Lebensdaten
1879 – 1956
Geburtsort
Freiburg (Breisgau)
Sterbeort
Freiburg (Breisgau)
Beruf/Funktion
badischer Zentrumspolitiker ; Reichskanzler ; Politiker ; Gymnasiallehrer ; Regierungschef
Konfession
katholisch
Normdaten
GND: 11741218X | OGND | VIAF: 789401
Namensvarianten

  • Wirth, Karl Joseph
  • Wirth, Joseph Karl
  • Wirth, Joseph
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  • Wirth, Joseph Karl
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  • Wirth, Karl Josef
  • Wirth, Joseph Carl

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Zitierweise

Wirth, Joseph, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd11741218X.html [25.12.2025].

CC0

  • Wirth, Karl Joseph

    | Politiker, Reichskanzler, * 6.9.1879 Freiburg (Breisgau), † 3.1.1956 Freiburg (Breisgau), ⚰ Freiburg (Breisgau), Hauptfriedhof. (katholisch)

  • Genealogie

    V Karl (1848–1911), Lohnkutscher, dann Maschinenmeister in d. Druckerei d. Herder-Verl. in F., S d. Anton (1814–59), aus Gmünd b. Eriskirch/Bodensee, Fabrikarb. in F., u. d. Maria Theresia Jung (1820–1898), aus Köpfingen b. Baienfurt (Oberschwaben);
    M Agathe Zeller (1850–1926), aus Munzingen b. F.;
    2 B Hermann (1877–1948), Dr. phil., klass. Philol., Heimatforscher, bis 1932 Gymn.prof. f. Lat. u. Griech. am Berthold-Gymn. in F., 1932–34 an d. Univ.bibl. in F. abgeordnet, 1933 entlassen, 1935 zwangspensioniert (s. L), Alois (1882–1949), Reichsbahninsp., 1921–25 MdL in Baden (SPD);
    – ledig;
    3 N Hermann, verwahrte W.s Nachlaß u. übergab diesen dem BA, Karl, Joseph.

  • Biographie

    W. wuchs in einem finanziell bescheidenen, kath. geprägten Elternhaus auf. Nach dem Abitur 1899 an der Oberrealschule in Freiburg (Br.) studierte er an der Univ. Mathematik, hörte aber auch Vorlesungen in anderen Fächern wie Nationalökonomie und Geschichte. 1906 wurde er mit der Arbeit „Über die Elementarteiler einer linearen homogenen Substitution“ bei Ludwig Stickelberger (1850–1936) zum Dr. phil. promoviert. Ab 1903 war er als Lehramtspraktikant in Lahr tätig, 1908–13 als Professor am Freiburger Realgymnasium. Daneben engagierte er sich, vermutlich seit 1908/09, als Mitglied der Zentrumspartei. 1911 wurde er in den Bürgerausschuß und 1912 in die Stadtverordnetenversammlung von Freiburg gewählt. Bei den bad. Landtagswahlen 1913 gewann er ein Mandat in seiner Heimatstadt und zog bei einer Ersatzwahl im Wahlkreis Offenburg 1914 zusätzlich in den Reichstag ein, dem er bis zum 23.3.1933 angehörte. 1914 meldete sich W. als Kriegsfreiwilliger, wurde jedoch wegen seiner Herzschwäche abgelehnt und diente stattdessen beim Dt. Roten Kreuz als Sanitäter an mehreren Fronten, bis er 1917 nach einer schweren Lungenentzündung den Dienst quittieren mußte. Seine Kriegserlebnisse machten W. 1917 zum überzeugten Anhänger der Friedensresolution des Reichstags. Er gehörte zum linken, sozialpolitisch orientierten „Erzberger-Flügel“ des Zentrums, ohne seinem württ. Parteifreund persönlich nahezustehen.

    Am 10.11.1918 wurde W. Finanzminister in der Vorläufigen Bad. Volksregierung unter Anton Geiß (1858–1944) (SPD), wobei seine Hauptaufgabe in der finanzpolitischen Bewältigung des verlorenen Krieges bestand.

    Nach dem Rücktritt Matthias Erzbergers (1875–1921) als Reichsfinanzminister im März 1920 fungierte W. als dessen Nachfolger unter den Reichskanzlern Hermann Müller (1876–1931) und Constantin Fehrenbach (1852–1926). Als die Regierung Fehrenbach im Mai 1921 an der Frage der Zustimmung zum Londoner Ultimatum, mit dem erstmals die Höhe der dt. Reparationen festgelegt werden sollte, zerbrach, setzte sich W. bei einer Abstimmung über den Posten des Reichskanzlers innerhalb der Reichstagsfraktion des Zentrums gegen den Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer (1876–1967) durch, was dieser W. zeit seines Lebens nachtrug. Am 10.5.1921 bildete W. als bis heute jüngster dt. Kanzler eine Regierung der Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und linksliberaler DDP, in der er in Personalunion zunächst auch das Amt des Außen- und des Finanzministers innehatte.

    W.s Regierung nahm im Mai 1921 das Londoner Ultimatum an und beendete damit die bisherige dt. Außenpolitik, durch Verzögerungen und unvollständiges Entgegenkommen die Bestimmungen des Versailler Vertrags zu konterkarieren. Seine Strategie bestand stattdessen darin, auf die Forderungen der Siegermächte einzugehen, um ihre praktische Unerfüllbarkeit zu demonstrieren und so Erleichterungen zu erreichen. Diese „Erfüllungspolitik“ stieß auf den erbitterten Widerstand weiter Teile der politischen Rechten, zumal der Völkerbund diese Haltung nicht würdigte, sondern am 21.10.1921 die Teilung Oberschlesiens zugunsten Polens verkündete. W. erreichte mit seiner Politik jedoch das Ende der Diskriminierung Deutschlands auf internationalem Parkett: W. und der seit 1.2.1922 amtierende Außenminister Walther Rathenau (1867–1922) nahmen erstmals wieder als gleichberechtigte Partner im April und Mai 1922 an der Weltwirtschaftskonferenz in Genua teil. Am Rande der Tagung schlossen Deutschland und Sowjetrußland am 16.4.1922 den Vertrag von Rapallo, mit dem die beiden Verlierer des 1. Weltkriegs aus der Isolation heraustraten, aber gleichzeitig neues Mißtrauen bei den Westmächten weckten.

    Der Vertrag von Rapallo heizte den Haß der Rechtsextremen auf W. und Rathenau zusätzlich an. Am 24.6.1922 fiel der Außenminister einem Attentat zum Opfer. Deutlicher als jeder andere Weimarer Spitzenpolitiker benannte W., der charismatischste Redner un|ter den zwölf Reichskanzlern der ersten dt. Demokratie, am 25.6.1922 im Reichstag das rechtsextreme Lager als verantwortlich für den Mord, der die demokratischen Kräfte in Deutschland einte und die Vereinigung von SPD und USPD beschleunigte. Die Regierung verfügte jetzt zwar über eine breite Mehrheit im Parlament, war aber deutlich nach links gerückt, weshalb, maßgeblich auf Initiative des Zentrums-Fraktionsvorsitzenden und innerparteilichen Gegner W.s, Adam Stegerwald (1874–1945), diese Gewichtsverlagerung durch den Eintritt der DVP in die Koalition wieder austariert werden sollte. W. machte sich diese Forderung zu eigen, was er rückblickend als einen seiner größten politischen Fehler bezeichnete. Als sich die Pläne zur Bildung einer Großen Koalition zerschlugen, trat W. am 14.11.1922 als Reichskanzler zurück.

    In den folgenden Jahren rückte das Zentrum nach rechts und ging auf Distanz zu W. Als Kandidat für die Reichspräsidentenwahlen 1925 wurde nicht W., sondern Wilhelm Marx (1863–1946) nominiert. Aus Verärgerung über die Koalition seiner Partei mit der DNVP unter Reichskanzler Hans Luther (1879–1962) 1925 schied W. für ein Jahr demonstrativ aus seiner Reichstagsfraktion aus. Er engagierte sich im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und gab seit 1926 die Zeitschrift „Deutsche Republik“ heraus. 1929 wurde er als Minister für die besetzten Gebiete wieder Mitglied der Reichsregierung unter Hermann Müller (1876–1931) und wechselte nach dessen Sturz im März 1930 auf die Position des Innenministers unter Heinrich Brüning (1885–1970), weil er als Verbindungsmann zur SPD gebraucht wurde. Im Okt. 1931 mußte er auf Druck von Reichspräsident Paul v. Hindenburg (1847–1934), der die Regierung weiter nach rechts verschieben wollte, sein Amt aufgeben. Am 23.3.1933 unterwarf sich W. dem Fraktionszwang und stimmte im Reichstag dem Ermächtigungsgesetz zu, da er innerhalb der Zentrumsfraktion mit seiner Position der entschiedenen Ablehnung in der Minderheit geblieben war.

    Am 24.3.1933 ging W. ins Exil, seit Ende 1935 lebte er in Paris, mit Kriegsbeginn 1939 zog er nach Luzern. In dieser Zeit versuchte er, in Gesprächen mit Politikern und Geistlichen in ganz Europa über den totalitären, antisemitischen Charakter des NS-Regimes aufzuklären. Seine Kontakte zum Vatikan über Robert Leiber SJ (1887–1967) nutzte er, um vom Papst eine Stellungnahme gegen den Antisemitismus zu erreichen, die durch den Tod Pius’ XI. 1939 jedoch nicht zustande kam. In Zusammenarbeit mit jüd. Organisationen in den USA half W. verfolgten Juden zur Flucht. Von Luzern aus knüpfte er Kontakte zum militärischen Widerstand im Dt. Reich, darunter Generalstabschef Franz Halder (1884–1972) und der ehemalige Reichswehrminister Otto Geßler (1875–1955). Mit dem früheren preuß. Ministerpräsidenten Otto Braun (1872–1955) und anderen Emigranten in der Schweiz gründete er die Vereinigung „Demokratisches Deutschland“.

    W. konnte aufgrund von Denunziationen gegen ihn bei der franz. Besatzungsmacht und der schwierigen Wohnraumfrage erst 1949 nach Freiburg zurückkehren. In den Folgejahren kämpfte er gegen die Fusion Badens und Württembergs und betrieb auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges eine Politik der dt. Neutralität und der Verständigung mit der Sowjetunion, eine vorweggenommene Entspannungspolitik. W. reiste in die DDR und in die Sowjetunion, wo u. a. der DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck (1876–1960), Ministerpräsident Otto Grotewohl (1894–1964), Volkskammerpräsident Johannes Dieckmann (1893–1969) und der sowjet. Botschafter Wladimir Semjonow (1911–1992) seine Gesprächspartner waren. Dabei setzte er sich erfolgreich für die Freilassung politischer Häftlinge aus der DDR und in Moskau für die Heimkehr dt. Kriegsgefangener ein. Er sprach auf internationalen Friedenskongressen wie dem Völkerkongreß für den Frieden 1952 in Wien und 1953 vor der Volkskammer in Ost-Berlin. 1953 gehörte W. zu den Mitbegründern der Partei „Bund der Deutschen“ (BdD), die einer Wiedervereinigung Deutschlands die Priorität einräumte und die Politik der Westintegration und Wiederbewaffnung ablehnte. Eine Listenverbindung des BdD mit der Gesamtdt. Volkspartei Gustav Heinemanns (1899–1976) und eine eigene Kandidatur bei den Bundestagswahlen 1953 blieben erfolglos. W. wurde von der CDU-Führung und der ihr nahestehenden Presse als „Kommunist“ verunglimpft und seine ihm zustehende Pension als Abgeordneter, Minister und Reichskanzler von den zuständigen Behörden mit der Begründung verweigert, er sei verfassungsunzuverlässig; der darüber von W. angestrengte Prozeß war bis zu seinem Tod 1956 nicht endgültig entschieden.

  • Auszeichnungen

    |Dt. Friedensmedaille d. DDR (1954);
    Stalin-Friedenspreis (1955);
    Dr. h. c. (HU Berlin 1955).

  • Werke

    |Die finanzielle Lage Dtld.s, Rede d. Reichsmin. d. Finanzen Dr. W. in d. Nat.verslg. am 26. April 1920, 1920;
    Rede d. Reichskanzlers Dr. W. v. d. Ind.- u. Handelstag in Berlin am 14. Sept. 1922 (Internet);
    Reden während d. Kanzlerschaft, Mit e.|Einl. v. H. Hemmer, 1925;
    Brief an Oskar Neumann, d. eingekerkerten Patrioten, [um 1953];
    Nachlaß: BA Koblenz

  • Literatur

    |Akten d. Reichskanzlei, Weimarer Rep., Die Kabinette W. I u. II, 2 Bde., bearb. v. I. Schulze-Bidlingmaier, 1973;
    H. Küppers, J. W., 1997;
    U. Hörster-Philipps, J. W. 1879–1956, Eine pol. Biogr., 1998 (Qu, W, L);
    A. Gallus, Die Neutralisten, 2001;
    B. Braun, Die Weimarer Reichskanzler, Zwölf Ll. in Bildern, 2011;
    ders., Die Reichskanzler d. Weimarer Rep., 2013;
    ders. u. U. Hörster-Philipps, In jeder Stunde Demokratie, J. W. (1879–1956), 2016;
    ders., Gegen d. Strom, J. W.s pol. Leben f. Weimar, gegen Hitler, f. d. dt. Einheit, in: M. Epkenhans u. E. Frie (Hg.), Politiker ohne Amt, Von Metternich bis Helmut Schmidt, 2020, S. 67–87;
    zu Hermann: Wi. 1935;
    I. Toussaint, Die Univ.bibl. Freiburg im Dritten Reich, ²1984, S. 49–51;
    U. Hohoff, Wiss. Bibliothekare als Opfer d. NS-Diktatur, Ein Personenlex., 2017, S. 329.

  • Porträts

    |Bronzebüste u. Ölgem. (Freiburg, Br., Rathaus);
    Photogrr. (BA, Bilddatenbank).

  • Autor/in

    Bernd Braun
  • Zitierweise

    Braun, Bernd, "Wirth, Karl Joseph" in: Neue Deutsche Biographie 28 (2024), S. 287-289 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd11741218X.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA