Lebensdaten
1801 – 1858
Geburtsort
Koblenz
Sterbeort
Berlin
Beruf/Funktion
Physiologe ; Anatom ; Zoologe
Konfession
katholisch
Normdaten
GND: 118585053 | OGND | VIAF: 54387900
Namensvarianten
  • Müller, Johannes Peter
  • Müller, Johannes
  • Müller, Johannes Peter
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Zitierweise

Müller, Johannes, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118585053.html [29.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Matthias (1767–1820), Schuhmacher in K., S d. Johannes (* 1730), Winzer in Müden/Mosel, u. d. Bauern-T Maria Gertrudis Münterich (1737–81) aus Müden;
    M Anna Katharina Theresia (1775–1852), T d. kurfürstl. Leibkutschers N. N. Wittmann;
    Koblenz 1827 Nanny (* 1800), T d. Ferdinand Zeiller (1774–1856), Kreisdir. in K., u. d. Franziska N. N.; Schwager Ferdinand Zeiller (1804–74), Botaniker u. Geologe; – 1 S Max (1829–96), Dr. med., Chirurg, Ophthalmologe, Leiter d. St. Marienhospitals in Köln (s. BJ I; BJ III, Tl.; BLÄ), 1 T.

  • Biographie

    M. besuchte die Schule in Koblenz und studierte seit Herbst 1819 Medizin an der Univ. Bonn, wo er 1822 zum Dr. med. promovierte. Er hörte auch Philosophie und wurde von dem Theologen Christian August Brandes zur Beschäftigung mit aristotelischer Philosophie, von dem Zoologen Georg August Goldfuß, dem Botaniker Christian Gottfried Nees v. Esenbeck und den Medizinern Christian Friedrich Nasse und Philipp Franz v. Walther zu naturphilosophischen Ideen angeregt. Während weiterer Studien an der Univ. Berlin (1823/24) beeinflußte ihn der Anatom und Physiologe Karl Asmund Rudolphi nachhaltig, der ebenso wie der Zoologe Martin Hinrich Lichtenstein und die Vorlesungen von Hegel M.s spätere Interessen prägten. 1824 habilitierte er sich in Bonn und wirkte dort seit 1825 als Privatdozent, seit 1826 als ao. Professor und seit 1830 als o. Professor für Anatomie, Physiologie und allgemeine Pathologie.

    Schon seine ersten Veröffentlichungen über die Bewegungsphysiologie der Insekten (1822) und über die Atmung des Fötus (Preisschr. 1823) erregten Aufmerksamkeit und bewirkten 1824 seine Wahl zum Mitglied und Sekretär der Leopoldina (Präsident war Nees v. Esenbeck). Während der Bonner Zeit widmete sich M. vorwiegend vergleichend-anatomischen Untersuchungen der Sinnesorgane, sinnesphysiologischen Experimenten (auch an Wirbellosen) und intensiven Selbstbeobachtungen, aus denen das u. a. von Goethe und J. E. v. Purkinje geschätzte Werk „Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere, nebst einem Versuch über die Bewegung der Augen und den menschlichen Blick“ (1826) sowie die Schrift „Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen“ (1826) hervorgingen. Das erste enthält eine umfassende Darstellung der zeitgenössischen Erkenntnisse über die Lichtsinnesorgane der Wirbeltiere und Wirbellosen und deren Funktionen sowie erste Gedanken über spezifische „Sinnessubstanzen“ und „-energien“ und die Goethesche Farbenlehre. Die zweite Arbeit befaßt sich mit subjektiven Bild- und Farberlebnissen nach intensiven Konzentrations- und Willensübungen – von Haberling und Koller fälschlich als „physiologische Selbstversuche“ bezeichnet – und deren Vergleich mit literarisch beschriebenen imaginativen Visionen, die er nach einer Nervenkrise (1827) nicht wieder aufgriff und die späteren, materialistisch orientierten Biographen unverständlich blieben. Das Hauptergebnis dieser Jahre, in denen zahlreiche anatomische, histologische und embryologische Studien über innersekretorische Drüsen, das Genital-, Verdauungs- und Nervensystem, sowie galvanische Experimente zur Bestätigung des Bellschen Lehrsatzes durchgeführt wurden, war das „Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen“ (1833-40), das M.s Ruf als scharf beobachtender Physiologe (im Gegensatz zur spekulativ-naturphilosophischen Richtung der Physiologie) begründete und durch vergleichend-zootomische Beiträge zur zweiten Wirkensepoche überleitete, in der die Zoologie in den Vordergrund trat.

    Nach dem Tode von K. A. Rudolphi (1832) bewarb sich M. um dessen Lehrstuhl an der Berliner Universität, den er von 1833 bis zu seinem Tode innehatte. Mit dem Ordinariat übernahm er die Direktion des großen großmisch-zootomischen Universitäts-Museums, dessen Sammlungen er um fast das Dreifache (ca. 19 500 Katalognummern) vermehrte. Die Bestimmung und Klassifizierung noch unbearbeiteter Sammlungsobjekte führten M. zu bedeutenden taxonomisch-systematischen Arbeiten auf vergleichend-morphologischer und -anatomischer Grundlage, z. B. über Myxinoiden (1834–42), über verschiedene Gattungen der Knorpelfische (mit seinem Schüler Jakob Henle), über Ganoiden und das natürliche System der Fische (1844) sowie über Seesterne (1844), Seeigel und deren Larvenstadien (1846–53). Zur Aufklärung der Metamorphose der Stachelhäuter und anderer Meerestiere entwickelte M. besondere Fangmethoden mit feinen Plankton-Netzen und mikroskopische Beobachtungstechniken, in die er seine Schüler, darunter Hermann Troschel, Jean Claparède und Ernst Haeckel sowie seinen Sohn Max, auf Exkursionen nach Helgoland und ans Mittelmeer einführte. In den letzten Lebensjahren legte er den Grund für ein System der Radiolarien, das Haeckel später ausbaute.

    Wie Cuvier dehnte auch M. die vergleichendanatomischen Studien auf fossile Tiere aus, darunter sowohl Stachelhäuter (1856) als auch Wirbeltiere wie das Gürteltier (Glyptodon, 1846) oder den Zahnwal (Zeuglodon, 1847). Letzterer wurde zunächst von dem nordamerikan. Sammler Alfred Koch als „Seeschlange“ (Hydrarchus) zur Schau gestellt, in Dresden von C. G. Carus untersucht und später mit Hilfe A. v. Humboldts für das Universitätsmuseum Berlin erworben. Alle zoologischen und paläozoologischen Sammlungen M.s befinden sich seit 1890 im Museum für Naturkunde in Berlin.

    So vielseitig wie seine Forschungen, die fast durchweg Neuentdeckungen betrafen (oder die aufsehenerregende „Wiederentdeckung“ des schon von Aristoteles beschriebenen lebendgebärenden Haies) war M.s Lehre, die auch in Berlin die Anatomie, Physiologie und Pathologie umfaßte, darüber hinaus aber auch Anregungen zur Entwicklung neuer Disziplinen gab. Seine mikroskopischen Studien am Knorpelgewebe von Fischembryonen (1836) induzierten die analogen Untersuchungen Th. Schwanns, die zur „Zellentheorie“ führten; seine neurologischen Versuche regten die elektrophysiologischen Forschungen Emil Du Bois-Reymonds, seine sinnesphysiologischen Beobachtungen Experimente von Hermann Helmholtz an. Aus seiner Schule gingen der Pathologe Rudolph Virchow, der Physiologe Ernst Brücke, die Zoologen Jean Cabanis, Wilhelm Peters und Ernst Haeckel hervor, die diese Disziplinen maßgeblich weiterentwickelten. Als Herausgeber des „Archivs für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medizin“ („Müllers Archiv“) seit 1834 wirkte er programmatisch für die naturwissenschaftliche Fundierung der medizinischen Forschung und der Zellenlehre als neuer „Theorie des Organismus“.|

  • Auszeichnungen

    Mitgl. d. Preuß. Ak. d. Wiss. (1834);
    Pour le mérite f. Wiss. u. Künste (1842).

  • Werke

    Weitere W u. a. Ueber d. glatten Haifisch d. Aristoteles u. d. Verschiedenheiten unter d. Haifischen u. Rochen in d. Entwickelung d. Eies, in Monatsberr. d. Preuß. Ak. d. Wiss., April 1839, August 1840;
    Ueber d. Bau u. d. Lebenserscheinungen d. Branchiostoma lubricum Cotta, Amphioxus Lanceolatus Yarrell, in: Physikal. Abhh. d. Preuß. Ak. d. Wiss., 1842, 1844, S. 79-116;
    Ueber d. allg. Plan in d. Entwicklung d. Echinodermen, ebd., 1852, 1853, S. 25-65;
    Ueber d. Thalassicollen, Polycystinen u. Acanthometren d. Mittelmeeres, ebd., 1858, 1859, S. 1-62;
    System d. Asteriden, 1842 (mit F. H. Troschel);
    Ueber d. fossilen Reste d. Zeuglodonten v. Nordamerika …, 1849.

  • Literatur

    ADB 22;
    E. du Bois-Reymond, Gedächtnisrede, Abhh. d. Berliner Ak. d. Wiss. 1859, 1860 (W);
    R. Virchow, J. M., e. Gedächtnisrede, 1858;
    Proceedings of the Royal Society of London IX, 1858, S. 556 f.;
    W. Haberling, J. M., 1924 (W, P);
    G. Koller, Das Leben d. Biologen J. M. 1801-1858, 1958 (W, P);
    K. Günther, Die Ges. Naturforschender Freunde zu Berlin, J. M. u. d. Frage nach d. Urzeugung, in: SB d. Ges. Naturforschender Freunde zu Berlin, NF 14, 1974, S. 26-36;
    B. Lohff, J. M. (1801-1858) als akadem. Lehrer, Diss. Hamburg 1977;
    dies., The Unknown Wonders of the Sea, J. M.s Research in Marine Biology, in: Dt. Hydrograph. Zs., Erg.-H., R. B, 22, 1990, S. 141-48;
    Peter Schmidt, Zu d. geistigen Wurzeln v. J. M., 1973;
    M. Hagner u. B. Wahrig-Schmidt (Hrsg.), J. M. u. d. Philos., 1992;
    Pogg. II;
    BLÄ;
    DSB;
    BBKL;
    Ärztelex., hrsg. v. W. U. Eckart u. Ch. Gradmann, 1995. – Eigene Archivstud. (Schrift- u. Bildgut-Slg., Mus. f. Naturkde., Berlin).

  • Porträts

    Orden pour le mérite f. Wiss. u. Künste, Die Mitgll. d. Ordens, 1, 1975, S. 77;
    Bildnisse berühmter Mitgll. d. Dt. Ak. d. Wiss. zu Berlin, 1950.

  • Autor/in

    Ilse Jahn
  • Zitierweise

    Jahn, Ilse, "Müller, Johannes" in: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S. 425-426 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118585053.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Müller: Johannes M., der große Anatom und Physiologe, geboren am 14. Juli 1801 zu Koblenz unter französischer Herrschaft, war das älteste von fünf Kindern eines mäßig bemittelten Schuhmachers. Nachdem er die Secundärschule seiner Vaterstadt, eine alte Lateinschule der Jesuiten, welche die preußische Regierung in ein Gymnasium umwandelte, absolvirt und ein Jahr als Freiwilliger bei der Pionier-Compagnie in Koblenz gedient hatte, bezog er im Herbst 1819 die Universität Bonn und entschloß sich nach einigem Schwanken, nicht, wie es seine Familie gewünscht und er selber ursprünglich beabsichtigt hatte, Theologie, sondern Medicin zu studiren. Flotter Burschenschafter, nahm er doch das Studium so ernst, daß er schon 1821 mit einer experimentellen Untersuchung „De respiratione foetus“ den von der Facultät ausgesetzten Preis gewann und am 14. December 1822 mit der Inaugural-Dissertation „De phoronomia animalium“ zum Doctor der Medicin promovirt wurde. Seine weitere Ausbildung wäre durch die beschränkten Verhältnisse, in welchen sein inzwischen verstorbener Vater die Familie zurückgelassen hatte, gefährdet gewesen, hätten nicht die Universitätskreise die Regierung auf seine Begabung aufmerksam gemacht. Mit Unterstützung des Ministeriums ging er im Frühjahr 1823 nach Berlin und arbeitete dort bis zum Herbst 1824, besonders von Rudolphi angezogen, in den anatomischen und zoologischen Instituten; auch bestand er im Winter 1823—24 die medicinischen Staatsprüfungen. Nach Bonn zurückgekehrt, habilitirte er sich am 19. October 1824 für Physiologie und vergleichende Anatomie und entfaltete während der nächsten Jahre im Bereiche dieser Disciplinen, wie auch auf Zoologie, allgemeine Pathologie, pathologische Anatomie, Ophthalmologie u. a. m. übergreifend, eine ausgedehnte Lehrthätigkeit. Sein spärliches Einkommen zu vermehren, mußte er, auch nachdem er 1826 zum außerordentlichen Professor ernannt worden war, zugleich noch als praktischer Arzt und als Secretär der Leopoldinisch-Carolinischen Akademie der Naturforscher thätig sein. Und dabei gab er, außer der Habilitationsvorlesung, einer anatomischen Abhandlung und der Uebersetzung eines schwedischen Jahresberichtes, 1826 das große Werk „Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns" und das Buch „Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen“, 1827 den „Grundriß der Vorlesungen über die Physiologie“ heraus. Die Folge so rastloser und zumal mit subjectiven Beobachtungen verbundener Arbeit war eine nervöse Erkrankung, welche ihn im Sommer 1827, kurz nachdem er seine Frau Maria Anna Zeiller, die Tochter eines höheren Beamten aus Simmern, heimgeführt hatte, die Vorlesungen auszusetzen nöthigte. Eine mit Unterstützung des Ministeriums unternommene Erholungsreise stellte ihn jedoch bald wieder vollkommen her, und zu der wieder aufgenommenen alten Lehrthätigkeit gesellte sich nunmehr eine noch erstaunlichere wissenschaftliche Fruchtbarkeit. Außer zahlreichen anatomischen, zoologischen, physiologischen Arbeiten, welche er in Zeitschriften veröffentlichte, ließ er 1829 einen „Grundriß der Vorlesungen über allgemeine Pathologie“, 1830 die beiden großen Werke „De glandularum secernentium structura penitiori“ und „Bildungsgeschichte der Genitalien“, dazu noch die Habilitationsschrift als ordentlicher Professor — zu welchem er im Juli dieses Jahres ernannt worden war — „De ovo humano atque embryone observationes anatomicae“, endlich 1833 den ersten Theil des „Handbuchs der Physiologie des Menschen“ erscheinen. Nach Rudolphi's Tode als dessen Nachfolger berufen, trat er Ostern 1833 die ordentliche Professur der Anatomie und Physiologie und die Direction der anatomischen Sammlung zu Berlin an und wurde im Juli 1834 Mitglied der Berliner Akademie; auch übernahm er nach Meckel's Tode von 1834 an die Herausgabe des „Archivs für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin“. Gerade ein Vierteljahrhundert wirkte er in Berlin als Lehrer und Forscher mit kaum anderen Unterbrechungen, als den zu wissenschaftlichen Zwecken unternommenen Ferienreisen; nur einmal, nach seinem zweiten, durch die politischen Vorgänge sehr stürmischen Rectorate, setzte er für den Winter 1848—49 die Lehrthätigkeit aus. Diese umfaßte Anatomie, vergleichende Anatomie und Physiologie, bis 1856 auch pathologische Anatomie. Bis 1840 vollendete er sein „Handbuch der Physiologie". Daneben erschien 1838 die erste Lieferung des später nicht fortgeführten Werkes „Ueber den feineren Bau und die Formen der krankhaften Geschwülste", 1839 als Supplement zu seinen im „Handbuche" niedergelegten Untersuchungen über die Stimme „Ueber die Compensation der physischen Kräfte am menschlichen Stimmorgan“, 1834—43 die „Vergleichende Anatomie der Myxinoiden“ (Akad. Abh.). Weiter gab er 1841 mit J. Henle die „Systematische Beschreibung der Plagiostomen“, 1842 mit F. H. Troschel das „System der Asteriden“, 1845 und 1849 mit demselben die „Horae ichthyologicae, Beschreibung und Abbildung neuer Fische", 1846—53 die „Metamorphose der Echinodermen“ (Akad. Abh.), 1849 „Ueber die fossilen Reste der Zeuglodonten“, 1852 „Ueber Synapta digitata und über die Erzeugung von Schnecken in Holothurien“ heraus. Außerdem veröffentlichte er an 200 Abhandlungen, Reden, Bemerkungen, Berichte, meist in den Monatsberichten und Abhandlungen der Akademie und in seinem Archive. Nach einem Schiffbruche auf der Rückkehr von Norwegen in der Nacht zum 10. September 1855, bei welchem er in höchste Lebensgefahr gerathen war und einen jungen wissenschaftlichen Begleiter verloren hatte, war seine Gesundheit erschüttert, im Winter 1857—58 kränkelte er, und am Morgen des 28. April 1858 wurde er todt im Bette gefunden.

    Die Physiologie verdankt Johannes M. die Sicherung des Bell’schen Gesetzes, die Principien der Lehren von der Reflexbewegung, Mitbewegung, Mitempfindung, das Gesetz von den specifischen Energieen der Sinnessubstanzen, das Gesetz der excentrischen Empfindungen, das Verständniß des Kehlkopfes als einer häutigen Zungenpfeife, eine Fülle von Einsicht in das Sehen und Hören, die gesicherte grundlegende Kenntniß von der Beschaffenheit des Blutes, der Lymphe und des Chylus, den Nachweis der Unabhängigkeit der Qualität der Drüsensecrete vom groben Bau der Drüsen, die Kenntniß des Chondrins, der Lymphherzen der Amphibien, der Mikropylen an Holothurien- und Fischeiern u. a. m. Für die Anatomie und Histologie hat er vor allem|den Bau der Drüsen, dann des Knorpel- und Knochengewebes, weiter das erectile Gewebe mit seinen Rankenarterien und organischen Nerven, die Rücken- und Dammmuskulatur, das Peritoneum aufgehellt. Die Entwickelungsgeschichte hat er mit der Membrana capsulo-pupillaris im Auge des Säugethierfötus bereichert und mit den Urnieren bei den nackten Amphibien, wie mit dem Faden, der seinen Namen trägt und zur Tuba wird, womit auch für die Wolff’schen Körper und für den Hermaphroditismus das Verständniß eröffnet war. In die pathologische Anatomie hat er die mikroskopische Untersuchung hineingetragen, und bleibende Denkmale seines zeitweiligen Interesses für das Gebiet sind seine Ermittelungen über den Bau der Geschwülste, insbesondere der Knorpel- und Knochengeschwülste, ist sein Nachweis, daß die pathologische Entwickelung mit der embryonalen übereinstimmt. Endlich was er im Bereiche der Zoologie und vergleichenden Anatomie geleistet, spottet jedes Versuches einer kurzen Zusammenfassung. Denn von den Säugethieren bis zu den Infusorien hat er die Thierwelt, die lebende wie die untergegangene, gemustert, neue Thierformen entdeckt, Sein und Werden aufgeklärt, Bau und Entwickelung, Verwandtschaft und Lebensweise ergründet; und besonders die Fische und die Echinodermen, über welche er die mangelhaftesten Kenntnisse vorfand, hat er den besterforschten Thieren angereiht.

    Doch mit der überwältigenden Fülle der, oft so großen Einzelleistungen ist Johannes Müller's Bedeutung für die biologischen Wissenschaften nicht erschöpft. Verwirrt durch den Galvanismus, überwuchert durch eitle philosophische Speculation, war die Physiologie zu Anfang des Jahrhunderts verfallen und zu einem, vielfach bloß phrasenhaften Anhängsel der Anatomie geworden; und die trefflichen Arbeiten von Magendie und Flourens, von Tiedemann und E. H. Weber hatten eine allgemeinere Besserung nicht zu erzielen vermocht. Da war es Johannes M., nachdem er von den Banden der Naturphilosophie, in die er zuerst selber verstrickt war, unter Rudolphi's Einfluß sich befreit hatte, der mit seinem Handbuche der Physiologie durchschlagend wirkte und die Physiologie wieder als eine echte Naturwissenschaft herstellte. An der Hand der Erfahrung, der Beobachtung und des Versuches, die gesammte Ueberlieferung prüfend und aller Orten mächtig erweiternd, dazu das Erfahrene streng naturwissenschaftlich denkend, führte er die Physiologie von neuem auf festen Fundamenten und zugleich in überraschendem Umfange auf und sicherte die methodische Weiterführung des stolzen Baues, für welche er öfters, so besonders in der Nervenphysik, geradezu die Linien vorzeichnete. Aehnlich Großes hat er danach für die zoologischen Wissenschaften erstrebt. Denn seine überall durch die Thierwelt durchgeführten Vergleichungen der Organe und Functionen, seine steten Betrachtungen des Allgemeinen im Besonderen, des Besonderen im Allgemeinen, seine außerordentlichen Bemühungen gerade um die den systematischen Grenzgebieten angehörigen Thiere lassen keinen Zweifel, daß es ihm nicht bloß um die Mehrung der thatsächlichen Kenntnisse zu thun war, daß er noch den „Plan der Schöpfung“ suchte. Und wenn ihm auch hier der Wurf nicht gelang, wenn ihm schließlich der Schneckenschlauch in der Holothurie sogar die Grundlage zu erschüttern drohte, auf welcher er so lange gebaut hatte, so hat er doch der vergleichenden Anatomie die physiologische Richtung fest eingepflanzt und wichtigste Vorarbeiten für die dereinstige physiologische Geschichte der Thierwelt geliefert. Mit Recht hat man ihn darum den Haller des 19. Jahrhunderts und zugleich den deutschen Cuvier nennen können. Mag er hinter jedem einzelnen dieser Heroen in gewisser Hinsicht zurückbleiben, er hat vor Beiden doch auch noch voraus, wie er durch seine Lehre fortzeugend gewirkt: Henle und Schwann, Bischoff und Remak, Reichert und Traube, du Bois-Reymond und Brücke,|Helmholtz und Virchow, Max Schultze und Häckel, um nur diese zu nennen, sind ein Ruhmeskranz einzig in seiner Art für Johannes M.

    • Literatur

      Emil du Bois-Reymond, Gedächtnißrede auf Johannes Müller. Aus den Abhandlungen der Berliner Akademie 1859. Berlin 1860. (Im Anhang das genaue Verzeichniß von Joh. Müller's Veröffentlichungen.) — Rudolf Virchow, Johannes Müller. Eine Gedächtnißrede. Berlin 1858. (Nr. 1 der Anmerkungen gibt weitere biographische Litteratur.) — Th. L. W. Bischoff, Ueber Johannes Müller und sein Verhältniß zum jetzigen Standpunkt der Physiologie. Festrede der bayerischen Akademie. München 1858. — Proceedings of the R. Soc. of London. Vol. IX. p. 556 f.

  • Autor/in

    Hermann Munk.
  • Zitierweise

    Munk, Hermann, "Müller, Johannes" in: Allgemeine Deutsche Biographie 22 (1885), S. 625-628 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118585053.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA