Lebensdaten
1904 – 1988
Geburtsort
Ebingen (jetzt Albstadt-Ebingen, Zollernalbkreis)
Sterbeort
Tübingen
Beruf/Funktion
Politiker ; Ministerpräsident ; Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ; Abgeordneter ; Jurist ; Rechtsanwalt ; Regierungschef
Konfession
römisch-katholisch
Normdaten
GND: 118562053 | OGND | VIAF: 110689328
Namensvarianten
  • Kiesinger, Kurt Georg
  • Kiesinger
  • Kiesinger, Georg
  • mehr

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Zitierweise

Kiesinger, Kurt Georg, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118562053.html [19.04.2024].

CC0

  • Als Parlamentarier der ersten Stunde, Ministerpräsident von Baden-Württemberg und Bundeskanzler gehört Kurt Georg Kiesinger zur ersten Reihe der Politiker der alten Bundesrepublik. Er steht für demokratische Neuanfänge wie auch für symbolische Kämpfe um die NS-Vergangenheit. Sein Weg ist typisch für das deutsche 20. Jahrhundert, in dem die atlantisch und europäisch geöffnete Nachkriegsdemokratie, für die er eintrat, durch historisch belastete Eliten mit auf den Weg gebracht wurde.

    Lebensdaten

    Geboren am 6. April 1904 in Ebingen (jetzt Albstadt-Ebingen, Zollernalbkreis)
    Gestorben am 9. März 1988 in Tübingen
    Grabstätte Stadtfriedhof in Tübingen
    Konfession römisch-katholisch
    Kurt Georg Kiesinger, Imago Images (InC)
    Kurt Georg Kiesinger, Imago Images (InC)
  • Lebenslauf

    6. April 1904 - Ebingen (jetzt Albstadt-Ebingen, Zollernalbkreis)

    1910 - 1913 - Ebingen (jetzt Albstadt-Ebingen, Zollernalbkreis)

    Schulbesuch

    Volksschule

    1913 - 1919 - Ebingen

    Schulbesuch (Abschluss: Mittlere Reife)

    Realschule

    1919 - 1925 - Rottweil

    Studium (Abschluss: eingeschränkte Hochschulreife)

    Württembergisches Katholisches Lehrerseminar

    1925 - 1926 - Tübingen

    Studium der Pädagogik

    Universität

    1926 - Stuttgart

    externe Abiturprüfung

    Friedrich-Eugen-Gymnasium

    1926 - 1931 - Berlin

    Studium der Rechtswissenschaft (Abschluss: Erste Juristische Staatsprüfung)

    Universität

    1931 - 1934 - Berlin

    Juristischer Vorbereitungsdienst (Referendariat); Zweite Juristische Staatsprüfung

    1931 - 1945 - Berlin

    privater Rechtslehrer (Repetitor)

    Mai 1933 - 1945

    Mitglied

    NSDAP

    1934 - Berlin

    selbstständiger Rechtsanwalt; zugelassen am Kammergericht

    1940 - 1945 - Berlin

    wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, zuletzt stellvertretender Leiter

    Rundfunkpolitische Abteilung des Auswärtigen Amts

    1945 - 1946 - Ludwigsburg

    Internierung

    US-Internierungslager 74 (I.C. 74)

    1946 - 1948 - Scheinfeld (Mittelfranken)

    Entnazifizierungsverfahren; Einstufung als „Mitläufer“

    Spruchkammer

    1947 - 1950 - Würzburg

    privater Rechtslehrer

    1947 - 1948 - Ansbach

    Entnazifizierung, Revisionsverfahren; Einstufung als „unbelastet“

    Berufungskammer

    April 1948 - 1988

    Mitglied

    CDU

    1948 - Tübingen

    Zulassung als Rechtsanwalt; seit 1951 nicht mehr praktizierend

    Amts- und Landgericht

    1948 - 1951 - Tübingen

    Landesgeschäftsführer

    CDU-Landesverband Südwürttemberg-Hohenzollern

    1949 - 1959 - Bonn

    Abgeordneter der CDU

    Bundestag

    1950 - 1960 - Bonn

    Mitglied

    Geschäftsführender Vorstand der CDU

    1950 - 1988 - Bonn

    Mitglied

    Bundesvorstand der CDU

    1950 - 1957 - Bonn

    Vorsitzender

    Vermittlungsausschuss des Bundestags

    1954 - 1959 - Bonn

    Vorsitzender

    Auswärtiger Ausschuss des Bundestags

    1955 - 1959 - Straßburg

    Vizepräsident

    Beratende Versammlung des Europarats

    1958 - 1966 - Stuttgart

    Ministerpräsident

    baden-württembergische Landesregierung

    1960 - 1966 - Stuttgart

    Abgeordneter der CDU

    baden-württembergischer Landtag

    1963 - 1966 - Bonn

    Bevollmächtigter für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Elysée-Vertrags

    Bundesrepublik Deutschland

    1966 - 1969 - Bonn

    Bundeskanzler

    Bundesregierung

    1967 - 1971 - Bonn

    Bundesvorsitzender; 1971 Ehrenvorsitzender

    CDU

    1969 - 1980 - Bonn

    Abgeordneter der CDU

    Bundestag

    9. März 1988 - Tübingen
  • Genealogie

    Vater Christian Kiesinger 10.11.1876–7.4.1969 aus Oberdigisheim-Michelfeld (Zollernalbkreis); evangelisch; kaufmännischer Angestellter; Geschäftsführer einer Korsettfabrik in Ebingen
    Großvater väterlicherseits Johann Georg Kiesinger 26.10.1840–4.7.1906 aus Michelfeld; Maurer
    Großmutter väterlicherseits Anna Maria Kiesinger, geb. Schneider 21.2.1840–2.5.1912 aus Oberdigisheim-Michelfeld
    Mutter Dominica (Dominika) Kiesinger, geb. Grimm 16.7.1878–28.10.1904 aus Bubsheim bei Tuttlingen; römisch-katholisch; Hauswirtschaftshilfe, später Hausfrau
    Großvater mütterlicherseits Josef Grimm 8.12.1847–23.10.1932 Bauer in Bubsheim
    Großmutter mütterlicherseits Genovefa Grimm, geb. Häring 16.12.1848–12.8.1936 aus Bubsheim; Bäuerin ebenda
    Stiefmutter Karoline Victoria Kiesinger, geb. Pfaff römisch-katholisch
    Halbgeschwister sechs Halbgeschwister aus 2. Ehe des Vaters
    Heirat 24.12.1931 in Berlin
    Ehefrau Marie-Luise Kiesinger , geb. Schneider 27.3.1908–15.11.1990 aus Berlin; Medizinstudium ohne Abschluss
    Schwiegervater Peter Schneider aus dem Saarland; Anwalt; Notar in Karlshorst bei Berlin
    Schwiegermutter Barbara Schneider
    Tochter geb. 1940
    Sohn Peter Christian Kiesinger 8.4.1942–12.12.2023 Rechtsanwalt; Kommunalpolitiker (CDU); 2004–2019 1. Stellvertretender Bürgermeister der Gemeinde Karlsbad

    Kiesinger, Adelheid, Ergotherapeutin

    Schwiegertochter Adelheid Kiesinger geb. 1944 Ergotherapeutin; 2000-2018 Mitglied des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg
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    Kiesinger, Kurt Georg (1904 – 1988)

    • Vater

      Christian Kiesinger

      10.11.1876–7.4.1969

      aus Oberdigisheim-Michelfeld (Zollernalbkreis); evangelisch; kaufmännischer Angestellter; Geschäftsführer einer Korsettfabrik in Ebingen

      • Großvater väterlicherseits

        Johann Georg Kiesinger

        26.10.1840–4.7.1906

        aus Michelfeld; Maurer

      • Großmutter väterlicherseits

        Anna Maria Kiesinger

        21.2.1840–2.5.1912

        aus Oberdigisheim-Michelfeld

    • Mutter

      Dominica Kiesinger

      16.7.1878–28.10.1904

      aus Bubsheim bei Tuttlingen; römisch-katholisch; Hauswirtschaftshilfe, später Hausfrau

      • Großvater mütterlicherseits

        Josef Grimm

        8.12.1847–23.10.1932

        Bauer in Bubsheim

      • Großmutter mütterlicherseits

        Genovefa Grimm

        16.12.1848–12.8.1936

        aus Bubsheim; Bäuerin ebenda

    • Heirat

      in

      Berlin

  • Biografie

    Jugend, Ausbildung, NS-Zeit

    Kiesinger besuchte die Volksschule und Realschule in Ebingen (jetzt Albstadt-Ebingen, Zollernalbkreis) und absolvierte nach der Mittleren Reife 1919 bis 1925 das Katholische Lehrerseminar in Rottweil, das er mit der eingeschränkten Hochschulreife abschloss. Anschließend studierte er in Tübingen Pädagogik, legte 1926 in Stuttgart die Externe Abiturprüfung ab und wechselte im selben Jahr nach Berlin, wo er ein Studium der Rechtswissenschaften begann. Er wurde Mitglied der katholischen Studentenverbindung Askania, über die er in Kontakt mit verschiedenen Zentrumspolitikern kam, u. a. mit Wilhelm Marx (1863–1946). Politische Anstöße erhielt er von dem sozialpolitisch engagierten katholischen Priester Carl Sonnenschein (1876–1929). Wie dieser sah Kiesinger im Ausgleich der Klassengegensätze und der Überwindung weltanschaulicher „Zerrissenheit“ die zentrale Aufgabe seiner Generation.

    Dies machte Kiesinger empfänglich für Volksgemeinschaftsideen und NS-Ideologie. Begeistert von der „Wiederherstellung der nationalen Gemeinschaft“, wurde er am 1.5.1933 Mitglied der NSDAP. Nach dem Zweiten Juristischen Staatsexamen 1934 lehnte er das Angebot, Richter am Kammergericht Berlin zu werden, ab, arbeitete als privater Rechtslehrer und selbstständiger Rechtsanwalt und trat 1940 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Dienst des Auswärtigen Amtes ein, weshalb er keinen Kriegsdienst leisten musste. Hier stieg er zum stellvertretenden Abteilungsleiter der Rundfunkpolitischen Abteilung auf. In dieser Position nahm er Einfluss auf die internationale Öffentlichkeit im Sinne des NS-Regimes, übermittelte die Sprachregelungen der NS-Propaganda ins Ausland und trug so durch die Verbreitung auch von antiamerikanischen und antisemitischen Parolen zur propagandistischen Flankierung der kriegerischen deutschen Hegemonialpolitik über Europa bei. Als sich die Niederlage im Zweiten Weltkrieg abzeichnete, wollte er spätestens 1944 eine Trennlinie zwischen „Deutschen“ und „Nazis“ ziehen und wurde in diesem Kontext von zwei Mitarbeitern wegen Behinderung antisemitischer Propaganda denunziert.

    Demokratische Neuanfänge im Südwesten und in Bonn

    Bei Kriegsende wurde Kiesinger von den US-Army interniert, nach 16monatiger Haft im September 1946 entlassen und im Spruchkammerverfahren in Scheinfeld (Mittelfranken) als „Mitläufer“ eingestuft, in einem Revisionsverfahren 1948 „vollständig entlastet“. Er arbeitete in Würzburg wieder als Repetitor. 1948 wurde er auf Vorschlag seines Freundes Gebhard Müller (1900–1990) Landesgeschäftsführer der CDU Südwürttemberg-Hohenzollern und trat in die CDU ein. 1949 kandidierte er für den ersten Bundestag im Wahlkreis Ravensburg-Tettnang-Wangen und erreichte mit 75,2 % das drittbeste Resultat im Bundesgebiet.

    In Bonn wurde Kiesinger dank seines rhetorischen Talents bald für wichtige Partei- und Staatsämter gehandelt. Seinen Aufstieg verdankte er auch seiner regionalen Herkunft, da in der Bundes-CDU Ämter nach landsmannschaftlichem und konfessionellem Proporz vergeben wurden. Kiesinger stützte sich auf ein Netzwerk südwestdeutscher Abgeordneter, als deren Mann er 1950 in den ersten CDU-Bundesvorstand gewählt wurde, begann als Rechtspolitiker und prägte ab 1950 die Arbeit des Vermittlungsausschusses als dessen erster Vorsitzender. Weiteren Kreisen wurde Kiesinger durch die kontroversen Debatten im Bundestag um die Wiederbewaffnung bekannt: Er vertrat die Position einer „Politik der Stärke“ innerhalb der „westlichen Schutzgemeinschaft“, da nur diese den Weg zur Wiedervereinigung ebnen könne. Als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses ab 1954 zielte er dagegen auf eine Überwindung der außenpolitischen Polarisierung, worüber er sich mit Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967) entzweite, was seine bundespolitischen Perspektiven begrenzte. Die schon sicher erwartete Ernennung zum Bundesjustizminister 1957 wurde von Adenauer in letzter Minute zurückgezogen. Ende 1958 nahm er das Angebot der vier südwestdeutschen CDU-Landesverbände an, Ministerpräsident von Baden-Württemberg zu werden.

    Integrator Baden-Württembergs und Bildungsreformer

    Kiesingers erfolgreiche Stuttgarter Amtszeit von 1958 bis 1966 war bestimmt von zwei großen Themen: Der Integration der beiden Landesteile des 1952 gegründeten Bundeslandes und dessen Modernisierung mit Fokus auf Bildungspolitik und Hochschulbau. Hierbei suchte Kiesinger eine baden-württembergische Identität auch durch Gründungen von Universitäten zu fördern, so in Ulm (1964) und Konstanz (1966), sowie durch den Ausbau der TH Karlsruhe und der Handelshochschule Mannheim zu Universitäten. Bildungspolitisch setzte sich Kiesinger für die später sozial-liberal konnotierte Forderung nach „Bildung als Bürgerrecht“ ein, die sein enger hochschulpolitischer Berater Ralf Dahrendorf (1929–2009) propagierte. Von 1963 bis 1966 war er der erste Bevollmächtige der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Elyséevertrags. Er trieb den Ausbau der Infrastruktur des Landes voran, entschied jedoch gegen eine Schiffbarmachung des Hochrheins bis zum Bodensee.

    Kiesinger, der stets auch bundespolitisch dachte, war jedoch beteiligt an der Aushöhlung von Länderkompetenzen durch von ihm mitangestoßene Modernisierungsprojekte, die dem Bund das Tor zur Mitsprache in der Bildungspolitik öffnete; ein Meilenstein war das Bund-Länder-Abkommen über die Finanzierung von Universitätsneugründungen 1964, woran er signifikanten Anteil hatte.

    Kanzler der Großen Koalition

    Als ein von den jahrelangen Querelen um Adenauers Nachfolge kaum belasteter Politiker und populärer Hoffnungsträger, der als konservativer, aber weltoffener Modernisierer galt, wurde Kiesinger am 1. Dezember 1966 im Bundestag von CDU/CSU und SPD zum Kanzler gewählt. Am Kabinettstisch saßen prominente Politiker, wobei Vizekanzler Willy Brandt (1913–1992), Verteidigungsminister Gerhard Schröder (1910–1989) und Finanzminister Franz Josef Strauß (1915–1988) selbst Ambitionen auf die Position des Kanzlers hatten; gleichzeitig nahmen ehrgeizige Nachwuchspolitiker wie Rainer Barzel (1924–2006) und Helmut Schmidt (1918–2015) als Fraktionsvorsitzende großen Einfluss. Das Verhältnis zur CDU/CSU-Bundestagsfraktion blieb schwierig, auch aufgrund der komplexen und neuartigen „Großen Koalition“, deren Management sich in ein informelles Koalitionsgremium, den „Kressbronner Kreis“ verlagerte. 1967 sicherte Kiesinger sich den CDU-Parteivorsitz. In seiner Amtszeit wurde 1968, nach intensiver Vorarbeit von Bruno Heck (1917–1989) auf dem neu geschaffenen Posten des CDU-Generalsekretärs, ein neues Grundsatzprogramm, das „Berliner Programm“, erarbeitet.

    Als Konfliktpunkt in der Regierung Kiesinger erwies sich erneut, wie schon unter seinem Amtsvorgänger Ludwig Erhard (1897–1977), die Außenpolitik, der Kiesingers Hauptinteresse galt. Erste ostpolitische Schritte, die der Hallstein-Doktrin widersprachen, wurden von Brandt und Kiesinger gemeinsam eingeleitet, aber z. T. im Widerspruch zu einflussreichen Unionspolitikern wie Strauß, so im Januar 1967 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Rumänien, im September 1967 die Errichtung einer Handelsvertretung in der Tschechoslowakei und im Januar 1968 der Austausch von Botschaftern mit Jugoslawien. Schwierig gestaltete sich das Verhältnis zur DDR. Kiesinger nahm im Juni 1967 erstmals einen Brief von Ministerpräsident Willy Stoph (1914–1999) an, was zu erregten Diskussionen in der Unionsfraktion führte. Sein Vorschlag an Stoph, persönliche Beauftragte für Verhandlungen zu benennen, scheiterte jedoch an Maximalforderungen der DDR als Vorbedingung für Verhandlungen. Auch fehlte es an sowjetischer Kooperationsbereitschaft für die ersten Ansätze einer Entspannungspolitik, da in diese Phase der „Prager Frühling“ fiel. Das Verhältnis zu Frankreich und den USA war ebenfalls konfliktreich, weil Charles de Gaulle (1890–1970) europäische Integrationsschritte blockierte und mit den USA Auseinandersetzungen um Stationierungskosten und den Atomwaffensperrvertrag geführt wurden.

    Innenpolitisch bewirkte die Große Koalition einen Reformschub: die Einführung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und das Arbeitsförderungsgesetz, ferner das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG), das Stabilitätsgesetz und eine Reform der Finanzverfassung mit der Einführung der Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern. Mehr als 400 Gesetzesvorhaben wurden in knapp drei Jahren auf den Weg gebracht. Keine Bundesregierung setzte in so kurzer Zeit so viele Änderungen des Grundgesetzes durch wie die Große Koalition unter Kiesinger, darunter 1968 die Einfügung der höchst umstrittenen Notstandsgesetze. Die von Kiesinger erhoffte Wahlrechtsreform mit der Einführung eines Mehrheitswahlrechts nach britischem Vorbild scheiterte.

    Zugleich wurde Kiesinger als früheres Mitglied des Auswärtigen Amts in der NS-Zeit zum Objekt von Skandalisierungsstrategien der Außerparlamentarischen Opposition, der 1968er Studentenbewegung und prominenter Kritiker wie Günter Grass (1927–2015), Karl Jaspers (1883–1969) und Heinrich Böll (1917–1985), denen Kiesinger als Symbol einer unzulänglichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit galt. Die Angriffe erreichten mit der öffentlichen Ohrfeige von Beate Klarsfeld (geb. 1939) im November 1968 auf dem CDU-Parteitag in Berlin einen Höhepunkt. Enttäuscht und geschlagen durch den Ausgang der Bundestagswahl 1969, die zu der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Brandt führte, nahm Kiesinger von 1969 bis 1980 noch sein Bundestagsmandat wahr. 1971 verzichtete er auf eine weitere Kandidatur für den CDU-Parteivorsitz, wurde Ehrenvorsitzender der Partei, zog sich aber seit Mitte der 1970er Jahre zunehmend an seinen Wohnort Tübingen zurück.

    Nachwirkung

    Kiesinger, der wie wenige andere Politiker seiner Zeit als Vermittler und für eine Überwindung innerer und äußerer Gegensätze wirken wollte, ist aufgrund seiner NS-Belastung eine polarisierende Figur, die noch an seinem 100. Geburtstag in seiner Heimatstadt Ebingen erbitterte Kontroversen provozierte. Außerhalb Baden-Württembergs, wo er als bedeutender Bildungsreformer und Hochschulgründer in Erinnerung ist, ist Kiesinger mit seiner kurzen Kanzlerschaft in der ersten Großen Koalition, die für die SPD die Übergangsphase zum „sozialdemokratischen Jahrzehnt“, für die Union den Beginn von 13 Jahre Opposition bedeutete, kein großer Name mehr. Doch liegen seine Verdienste im demokratischen Aufbau und der Unterstützung der Westbindung der Bundesrepublik sowie in der Integration und Modernisierung des Südwestens. Auch hat er als Kanzler der Großen Koalition erste wichtige Schritte zur neuen Ostpolitik unternommen und mit dem Gestus des Moderators wichtige Reformen auch im Inneren begleitet.

  • Auszeichnungen

    1956 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland mit Stern und Schulterband (Großkreuz 1960)
    1957 Großkreuz des Verdienstordens der Italienischen Republik
    1964 Verfassungsmedaille des Landes Baden-Württemberg
    1964 Großkreuz des Real Orden Isabel la Católica (Spanien)
    1965 Dr. h. c., Universität Köln
    1967 Dr. h. c., Universität New Delhi (Indien)
    1968 Dr. h. c., Universität Coimbra (Portugal)
    1968 Dr. h. c., University of Maryland (College Park, USA)
    1968 Großkreuz des Real y Distinguida Orden Española de Carlos III (Spanien)
    1968 Großkreuz des Falkenordens (Island)
    1969 Ehrenbürger der Stadt Albstadt-Ebingen
    1971 Ehrenvorsitzender der CDU
    1975 Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg
    1976 Dr. h. c., Universität Konstanz
    1976 Ehrenbürger der Stadt Konstanz
    1979 Ehrenbürger der Stadt Tübingen
    Bayerischer Verdienstorden
    Großkreuz des Päpstlichen Piusordens
  • Quellen

    Nachlass:

    Archiv für Christlich-Demokratische Politik, St. Augustin, 01226, NL Kurt Georg Kiesinger.

    Gedruckte Quellen:

    Christlich-Demokratische Union Deutschlands, 16. Bundesparteitag Berlin, 4.–7. 11. 1968. Niederschrift, 1968.

    Beate Klarsfeld, Die Geschichte des PG 2 633 930 Kiesinger. Dokumentation mit einem Vorwort v. Heinrich Böll, 1969.

    „Es mußte alles neu gemacht werden“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1950–1953, bearb. v. Günter Buchstab, 1986.

    „Wir haben wirklich etwas geschaffen“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1953–1957, bearb. v. Günter Buchstab, 1990.

    „… um den Frieden zu gewinnen“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1957–1961, bearb. v. Günter Buchstab, 1994.

    Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages. Sitzungsprotokolle 1949–1957, bearb. v. Wolfgang Hölscher, 1998.

    Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949–1953, bearb. v. Helge Heidemeyer, 1998.

    „Stetigkeit in der Politik“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1961–1965, bearb. v. Günter Buchstab, 1998.

    Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages. Sitzungsprotokolle 1953–1957, bearb. v. Wolfgang Hölscher, 2 Halbbde., 2002.

    Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1953–1957, bearb. v. Helge Heidemeyer, 2003.

    Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1957–1961, bearb. v. Reinhard Schiffers, 2004.

    Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages. Sitzungsprotokolle 1957–1961, bearb. v. Joachim Wintzer, 2004.

    „Wir leben in einer veränderten Welt“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1965–1969, bearb. v. Günter Buchstab, 2005.

    Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1966–1969, bearb. v. Stefan Marx, 2011.

  • Werke

    Entstehung und Aufgaben des Europarates, in: Der Aufbau (Zürich), Nr. 42 v. 26.10.1956, S. 330–332.

    Ideen vom Ganzen. Reden und Betrachtungen, 1964.

    Entspannung in Deutschland, Friede in Europa. Reden und Interviews 1967, 1968.

    Reden und Interviews 1968, 1969.

    Stationen 1949–1969, 1969.

    Erlebnisse mit Konrad Adenauer, in: Dieter Blumenwitz (Hg.), Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers, Bd. 1: Beiträge von Weg- und Zeitgenossen, 1976, S. 59–72.

    [Die] Große Koalition 1966–1969. Reden und Erklärungen des Bundeskanzlers, hg. v. Dieter Oberndörfer, 1979.

    [Die] geistigen Grundlagen der wirtschaftlichen Entwicklung Württembergs, in: 125 Jahre Papierfabrik Scheufelen 1855–1980, 1981, S. 28–47.

    [Der] Kampf im Bundestag um den Südweststaat, in: Max Gögler/Gregor Richter in Verbindung mit Gebhard Müller (Hg.), Das Land Württemberg-Hohenzollern 1945–1952. Darstellungen und Erinnerungen, 1982, S. 405–424.

    Fügung und Verantwortung. Interview mit Hans Bausch. Festgabe des Landtages aus Anlaß des 80. Geburtstages von Bundeskanzler a. D. und Ministerpräsident a. D. Dr. h. c. Kurt Georg Kiesinger, 1984.

    Dunkle und helle Jahre. Erinnerungen 1904–1958, hg. v. Reinhard Schmoeckel, 1988.

  • Literatur

    Monografien:

    Paul Feuchte, Verfassungsgeschichte von Baden-Württemberg, 1983.

    Frank Bösch, Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, 2001.

    Günter Buchstab/Philipp Gassert/Peter Lang/Peter Thaddäus (Hg.), Kurt Georg Kiesinger 1904–1988. Von Ebingen ins Kanzleramt, 2005. (P)

    Andreas Grau, Gegen den Strom. Die Reaktion der CDU/CSU-Opposition auf die Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition 1969–1973, 2005.

    Otto Rundel, Kurt Georg Kiesinger. Sein Leben und sein politisches Wirken, 2006. (P)

    Philipp Gassert, Kurt Georg Kiesinger, 1904–1988. Kanzler zwischen den Zeiten, 2006. (P)

    Aufsätze:

    Paul Feuchte, Zum 100. Geburtstag von Kurt Georg Kiesinger, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 152 (2004), S. 503–553.

    Philipp Gassert, Kurt Georg Kiesinger, Rainer Barzel und das europäische Projekt, in: Hanns Jürgen Küsters (Hg.), Deutsche Europapolitik Christlicher Demokraten. Von Konrad Adenauer bis Angela Merkel (1945–2013), 2014, S. 157–178.

    Philipp Gassert, Ein Kanzler mit nationalsozialistischer Vergangenheit?, in: Wolfgang Proske (Hg.), Täter, Helfer, Trittbrettfahrer, Bd. 9: NS-Belastete aus dem Süden des heutigen Baden-Württemberg, 2018, S. 237–249.

    Philipp Gassert, Die CDU in der (ersten) Großen Koalition und Opposition. Reformerische Aufbrüche unter Kiesinger und Barzel, in: Norbert Lammert (Hg.), Handbuch zur Geschichte der CDU. Grundlagen, Entwicklungen, Positionen, 2022, S. 147–164.

    Festschrift:

    Dieter Oberndörfer (Hg.), Begegnungen mit Kurt Georg Kiesinger. Festgabe zum 80. Geburtstag, 1984.

    Lexikonartikel:

    Wolfgang Stump, Art. „Kiesinger, Kurt Georg“, in: Siegfried Koß/Wolfgang Löhr (Hg.), Biographisches Lexikon des KV, Teil 4, 1996, S. 67-69. (P)

    Christian Hacke, Art. „Kurt Georg Kiesinger“, in: Udo Kempf/Hans-Georg Merz (Hg.), Kanzler und Minister 1949–1998, 2001, S. 353–359.

    Ausstellungskatalog:

    Albrecht Ernst (Bearb.), Kurt Georg Kiesinger (1904–1988). Rechtslehrer, Ministerpräsident, Bundeskanzler. Katalog zur Ausstellung des Hauptstaatsarchivs Stuttgart, 2004. (P)

  • Onlineressourcen

  • Porträts

    Gemälde (Öl/Leinwand) v. Günter Rittner (1927–2020), 1976, Kanzlergalerie im Bundeskanzleramt, Berlin. (Onlineressource)

    Gemälde (Öl/Leinwand) von Ruth Heppel, Villa Reitzenstein, Stuttgart. (Onlineressource)

    Fotografien, in: Bundesarchiv, Bilddatenbank. (Onlineressource)

  • Autor/in

    Philipp Gassert (Mannheim)

  • Zitierweise

    Gassert, Philipp, „Kiesinger, Kurt Georg“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.03.2024, URL: https://www.deutsche-biographie.de/118562053.html#dbocontent

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