Lebensdaten
1831 – 1899
Geburtsort
Berlin-Charlottenburg
Sterbeort
Skyren bei Crossen/Oder
Beruf/Funktion
Reichskanzler ; General der Infanterie
Konfession
evangelisch
Normdaten
GND: 11851900X | OGND | VIAF: 78748660
Namensvarianten
  • Caprivi, Georg Leo Graf von
  • Caprivi de Caprara de Montecuculi, Leo Graf von
  • Caprivi, Leo von (bis1891)
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Objekt/Werk(nachweise)

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Zitierweise

Caprivi, Leo Graf von (seit 1891), Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd11851900X.html [19.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    Aus einem aus Krain stammenden, gegen Ende des 17. Jh. nach Schlesien eingewanderten Geschl., ältester nachweisbarer Ahnherr Andreas Kopriva ( um 1570), Namensschreibung C. durch den in Schlesien angesessenen Urur-Großvater väterlicherseits Carl Leop. (gef. 1708), russischer Oberst;
    V Leop. v. C. (1797–1865), preußischer Geh. Obertribunalrat, Kronsyndikus, S des Frdr. (1743–1821), preußischer Oberst, u. der Dor. Sophie (1775–1855), T des preußischen Gen.lt., Geh. Staatsrats u. Kriegsministers Heinr. Gottlob v. Kannewurff (1726–99);
    M Emilie (1803–71), T des Gust. Köpke (1773–1837), Prof. der Theol. u. Dir. des Gymnasiums z. Grauen Kloster in Berlin, Lehrer Bismarcks (s. ADB XVI), u. der Pfarrers-T Henriette Rohleder;
    B Raimund (1840–1913), preußischer Gen.lt.;
    Vt 2. Grades Alfr. v. Tirpitz (1849–1930), Großadmiral; ledig;
    N Leo (1873–1921), preußischer Major, Flügeladjutant des Kaisers.

  • Biographie

    C. wurde 1870 Oberstleutnant und Chef des Generalstabes des X. Armeekorps und zeichnete sich 1870/71 bei Mars-la-Tour aus. 1871 Abteilungsleiter im Kriegsministerium, hatte er seit Anfang 1872 Kommandeurstellungen in Stettin, Berlin und Metz inne. 1883 wurde er Chef der Admiralität, 1888 nach kurzer Pensionierung Kommandierender General des X. Armeekorps. Am 20.3.1890 erfolgte seine Ernennung zum Reichskanzler, preußischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten und (bis 24.3.1892) preußischen Ministerpräsidenten. Indem der homo novus, der von Bismarck selbst noch zum preußischen Ministerpräsidenten vorgeschlagen worden war, sich dem Votum seiner Experten anschließend, den Rückversicherungsvertrag mit Rußland aufgab, beging er - vielleicht keinen „kardinalen“ - jedenfalls einen taktischen Fehler. Ihm selber schien die Beschränkung auf den Dreibund einfacher und anständiger. Das nach Bismarcks Ansicht verfrühte Abkommen mit England (Helgoland - Sansibar 1.6.1890) sollte ebenfalls die Möglichkeit von Komplikationen aus dem Wege räumen. C. trieb eine Versöhnungspolitik, die das Gute zu nehmen bereit war, von wem es kam, und sogar die Hoffnung nicht aufgab, die Sozialdemokratie für den Staat zu gewinnen - eine Utopie, denn der Staat C.s war der christlichmonarchische, fürsorgerisch-soziale, konstitutionelle Obrigkeitsstaat, mit der herkömmlichen Klassenschichtung in Besitzende und|Besitzlose, die gleichmäßig den Schutz einer gerechten Regierung genießen sollten. C. selber hat seine Politik als „gemäßigt konservativ“ bezeichnet, seine Handelspolitik war ausgesprochen wirtschaftsliberal, sein Regiment erfreute sich aber auch der Unterstützung der Zentrumspartei. Das Regieren mit wechselnden Majoritäten war keine Besonderheit des Systems C., sondern des nichtparlamentarischen Konstitutionalismus überhaupt, drückte aber einer Geschäftsführung ohne dämonisch-geniale Züge um so stärker den Stempel schwankender Unsicherheit („Zickzackkurs“) auf. C.s Reformen wirkten sich zunächst auf dem Gebiet der Sozialpolitik aus, wo im Sinne der kaiserlichen Februarerlasse wenigstens Anfangserfolge erzielt wurden (Gewerbegerichte, Novelle zur Gewerbeordnung), sodann durch die Miquelsche Steuerreform und die Herrfurthsche Landgemeindeordnung, die unter Bismarck „Liegengebliebenes nachholten“, schließlich aber durch die Handelsverträge, an deren Zustandekommen der Kanzler ganz persönlich beteiligt war, und die wiederum auch sozialpolitischen Zwecken dienten. Er zog sich hierdurch die dauernde Todfeindschaft einer bestimmten Interessenschicht zu (Bund der Landwirte, 1893). Neben den Handelsverträgen war die Heeresreform von 1893 der größte Erfolg des Kanzler-Generals. Am unglücklichsten und moralisch-fragwürdig, wenn auch als Gegenoffensive gedacht und in Mannentreue, operierte er beim Wiener Bismarckbesuch. Den berüchtigten Erlaß des Kaisers vom 9.6.1892 hat der Kanzler umredigiert, damit die Aufmerksamkeit von Wilhelm II. und dessen „Uriasbrief“ an Franz Joseph auf die eigene Person abgelenkt wurde. Aber die Aktion entfremdete C. dem Kaiser, der das Schicksal auch dieses Kanzlers war. Seine Entlassung am 26.10.1894 ist im letzten nicht eine Folge des Gegensatzes zum preußischen Ministerpräsidenten Grafen Botho Eulenburg in der Ausnahmegesetzgebung gewesen, sondern war eine herrschaftliche Angelegenheit: der Kaiser hatte „die ewigen Kämpfe“ mit der „Schroffheit“ und dem „Starrsinn“ des „alten“ General-Kanzlers, der ihm „bei jeder Gelegenheit den Stuhl vor die Türe stellte“, satt. Der Rede mächtig, doch kein Meister der Überredung - bei aller Verhandlungsbereitschaft -, unhöfisch bis zur Unhöflichkeit im Gespräch mit der Kaiserin, kein politischer General und auch als Kanzler im Waffenrock nur ein Politiker von begrenztem Geschick und Instinkt, war C. doch eine gewissenhafte Persönlichkeit, die überzeugen und überzeugt sein wollte, die durch zähen Fleiß und mühsames Studium sich aneignete, was anderen anflog. Trop honnête und von sich selbst bis zum Übermaß bescheiden denkend, stoisch-enthaltsam - war er fast in allem das Gegenteil Bernhard von Bülows. Besonders kennzeichnend für ihn ist sein Glaube an Preußen und das Reich und die Überzeugung, daß an jedem Menschen sein Verhältnis zu Gott das wesentlichste sei.

  • Werke

    Reden. hrsg. v. R. Arndt, 1894 (P);
    Briefe, hrsg. v. M. Schneidewin, in: Dt. Revue 47/2, 1922.

  • Literatur

    ADB XLVII;
    G. Gothein, Reichskanzler Gf. C., Eine krit. Würdigung, 1918;
    v. Ebmeyer, C.s Entlassung, in: Dt. Revue 47/4, 1922;
    J. Haller, Aus d. Leben d. Fürsten Phil. zu Eulenburg-Hertefeld, 1924;
    E. Zechlin, Staatsstreichpläne Bismarcks u. Wilh. II. 1890-94, 1929;
    R. Geis, Der Sturz d. Reichskanzlers C., 1930, = Hist. Stud. 192;
    L. Raschdau, Unter Bismarck u. C., Erinnerungen eines dt. Diplomaten aus d. J. 1885/94, 1939;
    E. Eyck, Das persönl. Regiment Wilh.s II., Erlenbach-Zürich 1948;
    J. Öhlmann, Stud. z. Innenpol. d. Reichskanzlers L. v. C., Diss. Freiburg i. Br. 1953 (ungedr.);
    R. Stadelmann, Der neue Kurs in Dtld., in: GWU 4, 1953, S. 538-64;
    H. C. Sievers, Die Innenpolitik d. Reichskanzlers C., Diss. Kiel 1954 (ungedr.);
    H. O. Meisner, Der Reichskanzler C., in: ZGStW 111, 1955, S. 669-752;
    Alex. Meyer, in: BJ IV, S. 3-14. - Qu.: Nachlaß im Hauptarchiv Berlin-Dahlem. - Zu B Raimund:
    BJ XVIII (Tl. 1913, L);
    - zu Heinr. Gottlob Kannewurff:
    Priesdorff II, S. 263 f. (P).

  • Autor/in

    Heinrich Otto Meisner
  • Zitierweise

    Meisner, Heinrich Otto, "Caprivi, Leo Graf von" in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 134-135 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd11851900X.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Caprivi: Georg Leo von C. de Caprera de Montecuculi, königlich preußischer General der Infanterie, des Deutschen Reiches zweiter Kanzler, einem aus Krain stammenden, gegen das Ende des 17. Jahrhunderts nach Schlesien gekommenen Geschlechte angehörend, ein Sohn des Obertribunalrathes v. C., am 24. Februar 1831 zu Charlottenburg geboren, trat, nachdem er unter des Director Bonnell Leitung, der auch des ersten Reichskanzlers Lehrer gewesen war, auf dem Friedrichs-Werder’schen Gymnasium in Berlin den Grund zu einer guten allgemein-wissenschaftlichen Bildung gelegt und das Zeugniß der Reife für den Universitätsbesuch erworben hatte, am 1. April 1849 beim Kaiser Franz Garde-Grenadierregimente Nr. 2 zu Berlin in das Heer und wurde am 19. September 1850, nachdem er die Prüfung zum Officier mit Allerhöchster Belobigung bestanden hatte, zum Secondlieutenant befördert. Dann besuchte er von 1854—1857 die Allgemeine Kriegsschule (jetzige Kriegsakademie) und wurde nach Beendigung dieses Commandos Regimentsadjutant, im Mai 1860 aber, inzwischen zum Premierlieutenant aufgerückt, dem Topographischen Bureau des Großen Generalstabes zugetheilt und im December 1860 als Hauptmann in den letzteren eingereiht. Er gehörte nun zunächst dem Generalcommando des I. Armeecorps zu Königsberg i. P., dann dem Stabe der 5. Division zu Frankfurt a. O. an. Mit diesem rückte er im März 1864 unter General v. Tümpling (s. A. D. B. XXXVIII, 785) auf den Kriegsschauplatz in den Elbherzogthümern, kam aber, da der Stab in Kiel belassen wurde, nicht vor den Feind. Nach Abschluß des Wiener Friedens trat Hauptmann v. C. zum Stabe des mit dem Oberbefehle der dort verbleibenden preußischen Truppen betrauten Generals Herwarth von Bittenfeld über, ward im Sommer 1865 zum Compagniechef im 8. Brandenburgischen Infanterieregimente Nr. 64 zu Angermünde ernannt und bei Ausbruch des Krieges gegen Oesterreich als Major in den Generalstab zurückversetzt. Den Feldzug machte er im Stabe der I. Armee unter dem Prinzen Friedrich Karl von Preußen in Böhmen mit. Nach Friedensschluß gehörte er dem Generalstabe des Gardecorps an bis er im April 1870 zur Vertretung des Chefs des Generalstabes des X. Armeecorps nach Hannover entsandt wurde.

    Als ein Vierteljahr später der Krieg gegen Frankreich ausbrach, wurde dem, gleichzeitig zum Oberstlieutenant beförderten C. diese Stellung endgültig übertragen. Sie konnte besseren Händen nicht anvertraut werden. An den Erfolgen, welche das Corps gehabt hat und an der Anerkennung, welche seinen Leistungen gezollt wird, gebührt C. ein wesentlicher Antheil. Mit dem commandirenden General v. Voigts-Rhetz (s. A. D. B. XL, 216) in voller Uebereinstimmung denkend und handelnd war er die Seele und das treibende Element bei Ausführung der vielen und schwierigen Aufträge, welche dem Corps in der Schlacht von Vionville-Mars la Tour, bei der Einschließung von Metz, in den Tagen von Orléans und während der Januartage von 1871 auf dem Zuge nach Le Mans zugewiesen waren. Sein General besprach mit ihm eingehend die jedesmalige Sachlage und die daraufhin zu ergreifenden Maßregeln. Die Anordnungen im einzelnen zu treffen und ihre Ausführung zu überwachen, blieb dem Stabschef anheimgestellt, welcher seinen Vorgesetzten der Sorge um das Minderwichtige überhob und, wo es angängig war, selbständig verfuhr. Kaltblütig in Gefahr, klar im Kopfe und ruhig abwägend, standhaft und tapfer, stets gemessen und formvoll, höflich und freundlich, war er gleich mustergültig bei Erledigung der schriftlichen Arbeiten wie im Gewühle des Kampfes und im geselligen Verkehr. Zwei Mal ist er im Laufe des Feldzuges auf dem Schlachtfelde ganz besonders hervorgetreten. Zum ersten Male am 16. August. Am Frühmorgen des Tages begleitete er die Cavalleriedivision des Generals v. Rheinbaben (s. A. D. B. XXVIII, 379), welche entsandt war um den Verbleib des französischen Heeres mit endgültiger Sicherheit festzustellen, auf ihrem Marsche gegen den Feind, und traf, als dieser Zweck erreicht war, auf seine eigene Verantwortung Anordnungen, welche dem gesammten X. Armeecorps die Theilnahme am Kampf ermöglichten, und als am Abend die geschlagene 38. Infanteriebrigade des Generals v. Wedell (siehe A. D. B. XLI, 405) zurückfluthete, stellte er sich der Bewegung entgegen, verhinderte deren Fortsetzung auf Thiaucourt und sorgte dafür, daß die Truppe bei Tronville gesammelt wurde. Durch die am Morgen getroffenen Anordnungen befreite er das III. Armeecorps aus einer sehr gefährdeten Lage; durch sein Einschreiten am Abend sicherte er die Erfolge der Tagesarbeit und wandte unberechenbaren Schaden ab. Und am 28. November erwarb er sich in der Schlacht von Beaune la Rolande das Verdienst, daß der durch eine — später als irrig erkannte — Meldung veranlaßte Gedanke eines Rückzuges nicht zur Ausführung kam. Die Verhältnisse ruhig abwägend wandte er übereilte Entschließungen ab, blickte furchtlos der Gefahr ins Auge und sah die stets wiederholten, heftigen Angriffe des Feindes an der Gegenwehr der Truppen, denen er vertraut hatte, und an dem Beistande zerschellen, welchen als Entgelt für die am 16. August gebrachte Hülfe das III. Corps jetzt dem X. leistete. Mit dem Eisernen Kreuze beider Classen und daneben mit dem Orden pour le mérite geschmückt kehrte er aus dem Feldzuge zunächst nach Hannover zurück, wurde aber im December 1871 nach Berlin in das Kriegsministerium versetzt, in welchem er anfangs an der Spitze der Abtheilung B, dann der Abtheilung A des Allgemeinen Kriegsdepartements stand; jenes hatte das Bildungs-, das Gerichts-, das Kirchenwesen etc., dieses den Ersatz, die Uebungen, die Mobilmachung etc. zu bearbeiten. C., seit dem 18. Januar 1872 Oberst, war daneben vielfach als Mitglied von Commissionen zur Herstellung neuer Dienstvorschriften thätig; während der Uebungszeit war er bemüht durch Commandos zur Truppe sich mit dieser in Fühlung zu erhalten. Als Generalmajor kehrte er zu ihr infolge seiner am 12. Januar 1878 geschehenen Ernennung zum Commandeur der 5. Infanteriebrigade in Stettin zurück, eine Stellung, welche er am 6. April 1880 mit der gleichen an der Spitze der 2. Garde-Infanteriebrigade zu Berlin und am 23. November 1882, nachdem er im Herbst zu den großen Uebungen des französischen Heeres in der Gegend von Nantes entsandt gewesen war, mit dem Commando der 30. Division zu Metz vertauschte; gleich darauf wurde er Generallieutenant.

    In Metz blieb er nur kurze Zeit. Schon am 20. März des nächsten Jahres ward er an Stelle des Generals v. Stosch zum Chef der Admiralität ernannt, zugleich wurde er Viceadmiral mit dem Dienstalter vom 20. Februar 1880. Durch diesen Wechsel trat General v. C. in einen ihm ganz fremden Wirkungskreis, welchen er sich nicht gewünscht hatte. Als er ihn übernahm, gehorchte er dem Befehle seines Kriegsherrn und als pflichttreuer Soldat widmete er sich mit voller Hingabe den Pflichten, welche das Amt ihm auferlegte. Mit großem Fleiße und mit zäher Ausdauer arbeitete er sich bald in die technischen Einzelheiten der Marine ein, erkannte ihre Mängel und wußte Mittel zur Abhülfe zu finden. Als Zweck und Aufgabe der Flotte betrachtete er den Schutz des eigenen und die Störung des feindlichen Handels und die Mitwirkung bei der Vertheidigung unserer Küsten. Altpreußischer Ueberlieferung getreu wollte er jedoch des Deutschen Reiches Zukunft auf ein möglichst starkes Landheer gründen; der Marine gestand er dabei nur eine|bescheidene Rolle zu. Daher legte er das Hauptgewicht auf Hebung der Vertheidigungskraft der Flotte und auf ihre Befähigung zum Schutze des Verkehrs. Im Vorhandensein von schnellen Kreuzern und von Avisos erblickte er die zur Erreichung dieser Ziele geeigneten Werkzeuge; eine überlegene Ausbildung und Bewaffnung sollten Ersatz bieten für das Fehlen großer Schlachtschiffe, gegen deren Bau er sich durchaus ablehnend verhielt. Im parlamentarischen Leben bis zu seinem Amtsantritte ganz unerfahren, verstand er es durch ruhige, sachliche Darstellung der Verhältnisse und durch ein ebenso würdevolles wie entgegenkommendes Auftreten im Reichstage die Geldmittel zu erlangen, deren er bedurfte um seine Pläne durchführen zu können. Daß er aber auch im Stande war eine scharfe Tonart anzuschlagen, bewies die Art und Weise, in welcher er am 20. Jan. 1885 die Angriffe der Socialdemokratie zurückwies. Drei Gebiete sind es, auf welchen er sich besonderes Verdienst um die Marine erwarb: das Torpedowesen, die Vermehrung und die Ausbildung des Personals. Für das Torpedowesen bewilligte der Reichstag im J. 1885 einen besonderen Credit von 17 000 000 Mark; das Personal wurde derart vermehrt, daß bei einer allgemeinen Mobilmachung ausgebildete Mannschaften in ausreichender Menge auch für den Fall zur Verfügung standen, daß ein Theil der Schiffe für den politischen Dienst im Auslande gebraucht werden würde; die Ausbildung von Officieren und Mannschaften wurde namentlich durch die Aufstellung von Schulgeschwadern gefördert, welche alljährlich etwa sechs Monate hindurch in einheimischen und fremden Gewässern kreuzten. Die Erfolge seiner Thätigkeit traten merklich zu Tage als um die Mitte der achtziger Jahre die Colonialpolitik des Deutschen Reiches große Anforderungen an die Flotte stellte, denen sie vollständig Genüge zu leisten im Stande war. Die Allerhöchste Cabinetsordre, durch welche General v. C. am 5. Juli 1888 seiner Stellung enthoben wurde, hebt als sein besonderes Verdienst hervor: seine organisatorische Thätigkeit und deren Vervollständigung durch den Erlaß von Dienstanweisungen und Bestimmungen; seine Sorge für das Torpedowesen und seine Einwirkung auf den Sinn des Officiercorps. Daneben sind zur Kenntniß von Caprivi's Thätigkeit als Chef der Admiralität noch zwei in die Zeit seiner Amtsführung für die Marine hochwichtige Ereignisse zu erwähnen: die Eröffnung einer zweiten Einfahrt in Wilhelmshaven und der Bau des Nordostseecanals.

    Aber die im wesentlichen auf Vertheidigungsziele sich beschränkende Aufgabe, welche C. sich gestellt hatte, entsprach nicht den Absichten, die Kaiser Wilhelm II. hegte. Sie konnte nicht genügen für die Ziele, welche dieser seiner äußeren Politik gesteckt hatte. Schon elf Tage nach dem Regierungsantritte des Kaisers, am 26. Juni 1888, bat C. um Enthebung von dem Posten als Chef der Admiralität; am 5. Juli wurde dem Gesuche durch die obenerwähnte Cabinetsordre entsprochen. Sie verfügte die Pensionirung, ordnete aber gleichzeitig an, daß er der Armee in dem Verhältniß à la suite auch ferner angehören solle und verhieß, daß er in ihr in nächster Zeit von neuem Verwendung finden werde. Es geschah bereits am 12. des nämlichen Monats durch die Ernennung zum commandirenden General des X. Armeecorps, dessen Generalstabschef er im Kriege gegen Frankreich gewesen war. Im Herbst 1889 führte er es bei dem Kaisermanöver dem Allerhöchsten Kriegsherrn vor. Dieser ernannte ihn damals zum Chef des Infanterieregiments Herzog Friedrich Wilhelm von Braunschweig (Ostfriesisches) Nr. 78, welches C. als Oberst während der großen Herbstübungen vom Jahre 1874 geführt hatte. Aber auch in Hannover war seines Bleibens nicht lange.

    Zum zweiten Male in seinem Dienstleben mußte er aus einer Stellung scheiden, welche ihm lieb und für die er vorzüglich geeignet war, um in einen ihm ganz fernliegenden Wirkungskreis überzugehen. Am 20. März 1890, dem nämlichen Tage, an welchem er sieben Jahre früher aus Metz an die Spitze der Admiralität berufen worden war, wies ihm seines Monarchen Wille die Stelle des höchsten Reichsbeamten und seines nächsten Rathgebers an, indem er ihn zum Reichskanzler und zum Präsidenten des Preußischen Staatsministeriums und am 26. als Ersatz für den ausgeschiedenen Grafen Herbert Bismarck auch zum Minister der Auswärtigen Angelegenheiten ernannte. Die Aufgabe, welche ihm damit übertragen wurde, war um so schwieriger in einer die Anforderungen der Welt befriedigenden Weise zu lösen, als er der Nachfolger des Fürsten Bismarck wurde. Manchem erschien es als ein Frevel, daß C. es unternahm an Stelle seines großen Vorgängers zu treten. Im allgemeinen aber wurde die Wahl als eine glückliche angesehen. Seine Amtsführung an der Spitze der Marine hatte in mancher Hinsicht befriedigt, wenn auch Viele, namentlich die Flotte selbst, mit der Beschränkung, welche er ihrer Bestimmung auferlegen wollte, nicht einverstanden waren, und wenn man sich auch nicht verhehlen konnte, daß er der mächtig sich regenden Colonialbewegung keineswegs freundliche Gesinnungen entgegenbrachte. Man wußte, daß er conservativ und Aristokrat in des Wortes bester Bedeutung war, aber er vertrat keinen Parteistandpunkt und in allen Kreisen erfreute er sich der höchsten Achtung.

    In seiner ersten im Abgeordnetenhause am 16. April gehaltenen Rede versprach er die Geschäfte im Geiste seines großen Vorgängers zu führen, dem er nicht fremd war und mit welchem er sofort nach seinem Amtsantritte von neuem persönliche Beziehungen angeknüpft hatte. Auch sein zweites, am 12. Mai 1890, im Reichstage erfolgendes parlamentarisches Auftreten, bei welchem er, den von ihm vielfach gehegten Erwartungen entgegen, erklärte, daß er auf dem von der Regierung in der Colonialfrage eingeschlagenen Wege zu verbleiben gedenke, fand den Beifall der Mehrzahl der Versammlung wie der Nation und die im Juni 1891 vollzogene Erneuerung des Dreibundes lieferte den Beweis, daß der alte Curs beibehalten werden würde. Das Alles machte einen guten Eindruck. Sehr getheilt waren dagegen die Ansichten schon gewesen als das am 1. Juli 1890 mit Großbritannien geschlossene Abkommen bekannt wurde, durch welches die beiderseitigen Interessensphären in Ostafrika abgegrenzt wurden, das Deutsche Reich Wituland und Sansibar aufgab und im Austausche die Insel Helgoland erhielt. C. legte auf ihren Besitz besonderen Werth, weil er in der Insel ein wichtiges Glied der Küstenvertheidigung erblickte; die Colonialfreunde aber erachteten des Reiches Interessen als durch den Tausch in hohem Grade benachtheiligt; der Dank des Kaisers hatte damals in der Verleihung des Schwarzen Adlerordens bestanden. Noch größerem Widerspruche begegnete eine zweite wichtige Regierungshandlung, für welche C., wie sie ihm seitens Kaiser Wilhelm's II. als Allerhöchste Anerkennung den Grafentitel brachte, die Verantwortung zu übernehmen hatte. Es war der Abschluß von Handelsverträgen mit Oesterreich-Ungarn, Italien und Belgien. Die Landwirthschaft, welche sich ohnehin schon in einer schwierigen Lage befand, sah sich durch die zu Gunsten von Gewerbe und Handel getroffenen Abmachungen in ihren Interessen schwer geschädigt; die conservative Partei erblickte fortan in dem Reichskanzler ihren Widersacher. Nicht lange nachher war sein Verbleiben im Amte in Frage gestellt. Als die Regierung sich durch die Haltung des preußischen Abgeordnetenhauses veranlaßt sah einen nach dem Minister für die geistlichen und Medicinalangelegenheiten, Graf|Zedlitz-Trützschler, benannten, von den Mittelparteien bekämpften Schulgesetzentwurf fallen zu lassen, welchem C. zugestimmt hatte, weil er durch seine Annahme die Religiosität im Volke gefördert zu sehen hoffte, bat am 18. März 1892 um seine Entlassung; sein Scheiden aus dem Amte als Reichskanzler ward jedoch dadurch verhindert, daß er als Präsident des preußischen Staatsministeriums durch den Grafen Botho Eulenburg ersetzt wurde; er blieb außerdem Minister der Auswärtigen Angelegenheiten. Das Mißfallen aller deutschgesinnten Kreise erregte er bald nachher in hohem Grade, als er den deutschen Botschafter am österreichisch-ungarischen Hofe, Prinz Reuß, anwies dem Fürsten Bismarck gegenüber, welcher im Sommer 1892 auf der Reise zur Hochzeit seines ältesten Sohnes begriffen war, bei des Fürsten Anwesenheit in Wien sich auf die Erwiderung der conventionellen Formen zu beschränken. In den Verhandlungen des Reichstages, welche die schon bei Caprivi's Amtsantritte schwebende Frage der Verstärkung des Heeres zum Gegenstande hatten, konnte er sich dagegen eines Erfolges rühmen. Da die Volksvertreter sich gegen die Forderungen der Regierung ablehnend verhielten, wurde ihre Versammlung am 6. Mai 1893 aufgelöst. Die Neuwahlen ergaben eine Mehrheit der für die sogenannte Militärvorlage stimmenden Mitglieder, am 15. Juli d. J. wurde der Gesetzentwurf angenommen und am 3. August erfolgte die Veröffentlichung der daraufhin angeordneten Neuerungen, welche hauptsächlich in der versuchsweisen Einführung der zweijährigen Dienstzeit bei den Fußtruppen und in der durch die Vermehrung der Präsenzstärke ermöglichten Aufstellung von vierten (Halb-) Bataillonen bei den Infanterieregimentern bestand. Die erstgenannte Maßregel, zu welcher C. persönlich sich sehr ungern verstanden hatte, weil er ihr grundsätzlicher Gegner war, begegnete in der Armee vielfachem Widerspruche; die andere erwies sich als ganz verfehlt und wurde schon im J. 1897 rückgängig gemacht; beide zusammen aber entzogen C. das Vertrauen des Heeres auf seine organisatorische Wirksamkeit und verminderten die ihm bis dahin von diesem entgegengebrachte Werthschätzung.

    Immer mehr schwand sein Ansehen und verringerten sich die Hoffnungen, welche zu Anfang seiner Amtsführung, trotz mancher gegen seine Befähigung geltend gemachter Bedenken, in weiten Kreisen an seine Wahl geknüpft waren; im Reichstage gab es keine Partei, auf welche er mit Sicherheit rechnen und sich stützen konnte und mochte; nur Freisinn und Socialdemokratie, so fern er ihren Bestrebungen und Zielen stand, wünschten sein Verbleiben im Amte, weil er dem Erlasse von Ausnahmegesetzen abgeneigt war, und die Ultramontanen, welchen namentlich der bei Behandlung der Schulfrage von ihm eingenommene Standpunkt zusagte, hofften von ihm eine gewisse Förderung ihrer Ziele. Auch bei den hohen Beamten, welche berufen waren mit ihm Hand in Hand zu gehen, fand er keineswegs allgemeine Zustimmung und freudige Unterstützung.

    Unter solchen Verhältnissen wurde am 26. October 1894 das von ihm eingereichte Abschiedsgesuch vom Kaiser genehmigt. Der Grund seines Ausscheidens ist nicht aufgeklärt. Zunächst beruhte er auf einem Gegensatze, welcher zwischen C. und dem Ministerpräsidenten Graf Botho Eulenburg inbetreff der sogenannten Umsturzvorlage bestand. Es handelte sich dabei um die Entscheidung der Frage, ob es gerathen sei den Bestrebungen der Socialdemokratie durch den Erlaß von Ausnahmebestimmungen entgegenzutreten oder ob die geltenden Gesetze der Regierung die Möglichkeit böten, ohne solche die von ihr als richtig erkannte Aufgabe zu lösen. C. war der letzteren Ansicht,|der Ministerpräsident glaubte weiterer Mittel zu bedürfen. Ihr Zusammenbleiben im Amte war ausgeschlossen, beide hatten Entlassungsgesuche eingereicht. Es lag mithin keine Nothwendigkeit für ihren gleichzeitigen Rücktritt vor. Einer von ihnen hätte auf seinem Posten verbleiben können. Zu größter Ueberraschung der Oeffentlichkeit wurden jedoch beide Gesuche genehmigt. Es hieß, daß für nöthig erachtet sei die Aemter des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten wiederum in einer und derselben Person zu vereinigen, daß aber C. abgelehnt habe die Stellung zu übernehmen. Auch war die Rede von einer zwischen dem Monarchen und seinem vornehmsten Berather eingetretenen Mißstimmung.

    C., welcher unvermählt war, zog sich nach Skyren zurück, einem Dorfe bei Crossen a. d. Oder, wo ein mit einer seiner Schwestertöchter verheiratheter Herr v. Schierstaedt ein Gut besaß. Dort hat er die letzten Jahre seines Lebens, ganz abgeschieden von der großen Welt, in würdevoller Zurückgezogenheit verbracht. Keinerlei Anfeindung in der Presse, keine abfällige Beurtheilung seines Wollens und Wirkens, kein schiefes Urtheil, selbst kein Entstellen der Thatsachen hat ihn veranlaßt aus der Reserve hervorzutreten, welche seiner Ansicht nach ein abgetretener Staatsmann sich auferlegen muß. Auch Aufzeichnungen wird er nicht hinterlassen haben; er war kein Freund des Schreibens.

    Sein Geschick war ein tragisches. Zwei Mal wurde er aus einer Laufbahn jäh herausgerissen, an welcher er mit Leib und Seele hing und für welche er vorzüglich geeignet war, und beide Male endete er mit einem Mißerfolge. Daß er in jedem der beiden Fälle dem Rufe folgte, durch welchen er in Stellungen gebracht wurde, für die er sich selbst die Befähigung nicht zutraute, beruhte auf einer seiner hervorstechendsten Charaktereigenschaften, auf seiner Pflichttreue. Er gehorchte dem Befehle seines Kriegsherrn und strebte mit allen Kräften danach, den Anforderungen der ihm übertragenen Aemter voll zu genügen. Dabei halfen ihm zwei andere Vorzüge, welche er in hohem Grade besaß, Fleiß und Arbeitskraft; die Beherrschung der Sprache in Wort und Schrift gab ihm die Möglichkeit diese Eigenschaften nutzbringend zu verwerthen; ein zurückhaltendes und formvolles, aber zugleich freundliches und verbindliches Auftreten, großes Wohlwollen für den Einzelnen, Gradheit und Unparteilichkeit, volles Aufgehen im Berufe und gänzliche Rücksichtslosigkeit in Ansehung der eigenen Person erweckten Vertrauen und Achtung für ihn in allen Kreisen, mit denen er in Berührung kam. Seine vorzüglichen soldatischen Eigenschaften sind schon oben gekennzeichnet.

    • Literatur

      C. war eine stattliche, militärische Erscheinung, hochgewachsen und kraftvoll, mit energischem, aber gütigem Gesichtsausdrucke, kurzgeschorenem, zuletzt weißem Haar und Schnurrbart, kernig und gesund, bis nicht lange vor seinem am 6. Februar 1899 zu Skyren erfolgten Tode die Anzeichen eines Gehirnleidens sich bemerkbar machten, welches auf das Bewegungsvermögen und die Beherrschung der Sprache seinen Einfluß äußerte und dem er nach kurzer Zeit erlag.

  • Autor/in

    B. v. Poten.
  • Zitierweise

    Poten, Bernhard von, "Caprivi, Leo Graf von" in: Allgemeine Deutsche Biographie 47 (1903), S. 445-450 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd11851900X.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA