Lebensdaten
1804 – 1878
Geburtsort
Königgrätz (Böhmen)
Sterbeort
Wien
Beruf/Funktion
Arzt ; Pathologe ; Anatom
Konfession
katholisch
Normdaten
GND: 11874951X | OGND | VIAF: 77111220
Namensvarianten
  • Rokitansky, Carl Freiherr von
  • Rokitansky, Karl Freiherr von
  • Rokitansky, Carl Freiherr von
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Objekt/Werk(nachweise)

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Zitierweise

Rokitansky, Karl Freiherr von, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd11874951X.html [28.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    Aus böhm. Fam.;
    V Prokop R. (1771-1812), aus Jičin, Kreiskommissär in K. bzw. Leitmeritz;
    M Theresia, T d. Kreiskommissärs Wenzel Lodgman v. Auen, aus ir. Fam.;
    Wien 1834 Marie Weis (1806–88);
    5 S (1 früh †) Hans (1835–1909, Th. Lablache-Falcon, E d. Luigi Lablache, 1794–1858, Sänger in Paris, s. MGG; Riemann), k. u. k. Kammer- u. Hofopernsänger, Gesangspäd. (s. MGG; Riemann; ÖBL), Viktor (1836–96), Bariton, Komp., Gesangstheoretiker, seit 1860 in Italien, 1871-80 Prof. f. Gesang am Konservatorium in W. (s. ÖBL), Karl (1839–98), Dr. med., Assistent b. Carl Braun v. Fernwald, 1871 Habil., 1880 ao. Prof., 1892 o. Prof. d. Geburtshilfe u. Gynäkol. in Graz (s. Pagel; ÖBL), Prokop (1843–1928), Dr. med., Assistent b. Joseph Skoda, 1876-1907 o. Prof. d. speziellen med. Pathol., Therapie u. Med. Klinik in Innsbruck, 1877-1907 Vorstand d. Med. Klinik ebd., k. k. Hofrat (s. DBJ XI, Tl.; ÖBL), 2 T (1 früh †);
    E Friedrich Karl (1866–1942), Pol., Publ., 1896 Gründer d. Christl. Bauernbunds, Angest. e. Vers.ges., führte seit 1926 e. agrar. Anzeigendienst in W., 1928-33 Hg. d. nat.soz. Zs. „Unsere Zukunft“ (s. ÖBL), Marie (* 1868, Hans Wimmer, Vizepräs. d. nieder-österr. Landesreg.), Karl (* 1876), Dr. iur., Oberlandesreg.rat. Egon (* 1888, Friedrike Freiin v. Rokitansky, * 1891), Reg.oberkommissär d. Kärntner Landesreg.

  • Biographie

    R. besuchte das Gymnasium in Königgrätz und Leitmeritz und übersiedelte 1818 nach Prag, um den dreijährigen phil. Kurs, derauf das Medizinstudium vorbereitete, zu absolvieren. Anschließend studierte er 1822/23 in Prag und 1824-28 in Wien. Seit 1827 fungierte er hier im Allgemeinen Krankenhaus als unbesoldeter Praktikant in der pathologisch-anatomischen Prosektur und wurde 1830 Assistent seines Lehrers Johannes Wagner ( 1833). 1834 ao. Professor, erfolgte 1844 R.s Ernennung zum Ordinarius für pathologische Anatomie, als dieses Fach in Wien zum obligaten Lehr- und Prüfungsgegenstand erhoben wurde (Dekan 1849/50, 1856/57, 1859/60 u. 1862/63, Rektor 1852/53).

    1827-75 erstellte R. etwa 60 000 eigenständige Sektionsprotokolle, wobei er zu Beginn seiner Amtszeit auch alle gerichtsmedizinischen Obduktionen an sich zog. Neben der Chirurgie, der Geburtshilfe und der Augenheilkunde profitierte v. a. der interne Kliniker Joseph Skoda (1805–81) von R.s Befunden. Durch den Vergleich der autoptischen Befunde mit der akustischen Diagnostik (Perkussion, Auskultation) am Patienten gewann dieser neue Erkenntnisse für die Klinik. So erlangte etwa die Diagnostik der Brustkrankheiten eine vorher nicht gekannte Sicherheit. Seine Befunde ermöglichten R. die Abfassung seines völlig neuartigen „Handbuchs der pathologischen Anatomie“ (3 Bde., 1842–46, ²1855-61, engl. 1845 u. 1849-54). In dessen 2. und 3. Band („Specieller Theil“) erfuhr die pathologisch-anatomische Nomenklatur eine Neuordnung und Systematisierung Rudolf Virchow setzte daraufhin R.s Bedeutung für die pathologische Anatomie mit jener von Linné für die Botanik gleich. Durch seine Fähigkeit zu abstrahieren, erkannte R. über das Nebeneinander der Veränderungen hinaus auch das Nacheinander einzelner Symptome und schuf damit die neuartige Vorstellung vom „Krankheitsprozeß“. Der 1. Band des Handbuchs, welcher die allgemeine Pathologie behandelt, erschien als letzter 1846. Darin versuchte R. eine allgemeine Hypothese für jene tödlichen Erkrankungen aufzustellen, bei welchen durch die Sektion kein anatomisches Korrelat aufzufinden war. R. vermutete in den flüssigen Bestandteilen des Blutes den Sitz der Krankheit und postulierte in der Folge eine typhöse, eine rheumatische, eine exanthematische, eine tuberkulöse Krase etc. Als spekulativer Rückschritt wurde dieser Denkansatz R.s von Virchow 1846 in einer Rezension vehement abgelehnt. Die medizinhistorische Forschung des 20. Jh. stellte aber mehrfach die Frage, ob nicht in der Krasenlehre R.s eine Vorahnung der Serologie und Immunologie angenommen werden darf. R. entfernte im Sinne Virchows seine Krasenlehre in der 2. Auflage seines Handbuchs (1855). Zahlreiche von R. beschriebene Krankheitssyndrome tragen heute noch seinen Namen, z. B. Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom, Rokitansky-Becken, Rokitansky-Divertikel, Rokitansky-Frerichs-Krankheit, Rokitansky-Hernie, Rokitansky-Maude-Abbott-Syndrom und Rokitansky-Trias.

    Seit 1863 Fachberater im Ministerium für Kultus und Unterricht, forderte R. die Vereinheitlichung des Ärztestandes und die Abtrennung des „Doctorencollegiums“ aus dem Universitätsverband. Darüber hinaus ging die Wiederherstellung der Universitäten Graz (1863) und Innsbruck (1869) auf seinen Einfluß zurück. An der Wiener Med. Fakultät bewirkte er die Gründung des Instituts für allgemeine und experimentelle Pathologie (Salomon Stricker, 1868) und die Berufung von Theodor Meynert an die Psychiatrische Klinik (1870). 1862 konnte er auch den Neubau seines eigenen Instituts realisieren.

    Durch R.s Tätigkeit wurde der Wechsel von der damals im dt. Sprachraum vorherrschenden spekulativen Medizin der romantischen Naturphilosophie zu einer auf Naturforschung beruhenden Medizin mitbewirkt. R. wurde so zu einem der Begründer der Zweiten Wiener Medizinischen Schule. Den Vorwurf des Materialismus, der damals der gesamten Naturwissenschaft gemacht wurde, beantwortete R. damit, daß dieser nur als Methode, niemals aber als Weltanschauung angenommen werden dürfe. Persönlich war R. ein Anhänger der pessimistisch gefärbten Philosophie Arthur Schopenhauers.|

  • Auszeichnungen

    Mitgl. d. Wiener Ak. d. Wiss. (1848, Vizepräs. 1866–69, Präs. 1869/70);
    Präs. d. Ges. d. Ärzte in Wien (1850);
    Mitgl. d. Leopoldina (1856);
    Hofrat (1867);
    Mitgl. d. Herrenhauses (1867);
    Präs. d. Obersten Sanitätsrates im österr. Innenministerium (1870);
    Ehrenbürger v. Wien (1874);
    Rr.kreuz u. (seit 1871) Commandeurkreuz mit Stern d. Franz-Joseph-Ordens.

  • Werke

    Weitere W Zur Orientierung über Med., 1858;
    Die Conformität d. Universitäten mit Rücksicht auf gegenwärtige österr. Zustände, 1863;
    Zeitfragen, betr. d. Univ. mit bes. Beziehung auf d. Med., 1863;
    Der selbständige Werth d. Wissens, 1867, ²1869;
    Die Solidarität alles Thierlebens, 1869;
    Die Defecte d. Scheidewände d. Herzens, 1875;
    Abschiedsrede, 1875;
    Aufss.
    in: Med. Jbb. d. k. k. österr. Staates;
    Zs. d. k. k. Ges. d. Aerzte zu Wien;
    Denkschrr. d. ksl. Ak. d. Wiss. in Wien;
    SB Wien.

  • Literatur

    ADB 29;
    R. Heschl, K. R. u. d. Grundlagen d. wiss. Med., in: Wiener med. Wschr. 24, 1874, S. 121 ff.;
    Wiener med. Presse 19, 1878, S. 965 ff., 1355 ff.;
    S. Stricker, in: Allg. Wiener med. Ztg. 24, 1879, S. 141-43;
    A. Weichselbaum, in: Wiener klin. Wschr. 11, 1898, S. 559-62;
    R. Maresch, Das Lebenswerk R.s., ebd., S. 353-57 u. in: Med. Klinik 30, 1934, S. 495;
    M. Neuburger, R. als Vorkämpfer d. mechanist. Forsch.methode u. d. idealist. Weltanschauung, in: Wiener klin. Wschr. 47, 1934, S. 358 ff.;
    H. Chiari, C. v. R.s Bedeutung f. d. pathol. Anatomie, ebd. 66, 1954, S. 134 ff.;
    M. Müller, R.s Krasenlehre. in: Sudhoffs Archiv 23, 1930, S. 10-39;
    L. Schönbauer, Das Med. Wien. ²1947, S. 213 ff.;
    H. E. Sigerist, Gr. Ärzte, ³1954;
    E. Lesky, C. v. R., Selbstbiogr. u. Antrittsrede, in: SB Wien, Phil.-hist. Kl. 234/3, 1960 (S. 99-103 W-Verz., L. P);
    dies., in: NÖB XII, 1957, S. 38-51 (P);
    dies., Die Wiener Med. Schule im 19. Jh., ²1978, S. 129 ff.;
    L. J. Rather u. E. Rohl, An English Translation of the hitherto untranslated Part of R.s „Einleitung“ to Vol. 1 of the „Hdb. d. allg. Pathol.“ (1846), in: Clio medica 7, 1972, S. 215-227 (W-Verz.);
    C. Frhr. v. R. 1804-1878, Pathologe, Politiker, Philosoph, Gründer d. Wiener Med. Schule d. 19. Jh., hg. v. H. Gröger, 2004 (Qu, W, L, P);
    Pagel;
    Wurzbach;
    BLÄ;
    Ostdt. Biogrr., 1955, Nr. 194;
    ÖBL;
    Hist. Lex. Wien.

  • Porträts

    Lith. v. J. Kriehuber, 1839;
    Denkmal v. A. Swoboda, 1898 (Univ. Wien, Arkadenhof).

  • Autor/in

    Gabriela Schmidt
  • Zitierweise

    Schmidt, Gabriela, "Rokitansky, Karl Freiherr von" in: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 8-9 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd11874951X.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Rokitansky: Karl Freiherr v. R., berühmter Arzt und Begründer der pathologisch-anatomisch-ärztlichen Schule in Deutschland, ist als Sohn des im J. 1813 im 42. Lebensjahre verstorbenen Kreiscommissars Procop R. am 19. Februar 1804 zu Leitmeritz in Böhmen geboren. Hier und in Königgrätz, wohin die Mutter nach des Vaters Tode übersiedelte, genoß er den ersten Unterricht, respective seine Gymnasialbildung, machte alsdann unter sehr schwierigen materiellen Verhältnissen in Prag die vorbereitenden dreijährigen philosophischen Studien und begann darauf ebendaselbst das Studium der Medicin, das er in Wien zwei Jahre lang fortsetzte. Nachdem er von 1827—28 seine Examina absolvirt und im letztgenannten Jahre den Doctorgrad erlangt hatte, wurde er Assistent von Johann Wagner am pathologisch-anatomischen Museum, bewarb sich 1830 erfolglos um den Lehrstuhl der Anatomie in Klagenfurt. 1832 mit gleichem Mißerfolge um eine Kreisarztstelle in Hradisch, fungirte 1831 als Choleraarzt in Galizien, versah nach dem 1833 erfolgten Tode von Wagner kurze Zeit seine Stelle und wurde 1834 als dessen Nachfolger zum außerordentlichen Professor der pathologischen Anatomie und Prosector des Wiener allgemeinen Krankenhauses ernannt, eine Stellung, mit der zugleich das Amt eines Gerichtsanatomen der Residenz verbunden war. Er trat das Amt am 17. März des letztgenannten Jahres an und zwar unter Assistenz von J. Kolletschka, späterem Professor der gerichtlichen Medicin und Staatsarzneikunde, und von Schuh, und hat es seitdem ununterbrochen bis zu seinem 70. Lebensjahre, wo er nach den bekannten in Oesterreich geltenden gesetzlichen Bestimmungen in den Ruhestand treten mußte, verwaltet. 1844 wurde die pathologische Anatomie zum obligaten Lehrgegenstand erhoben und R. zum ordentlichen Professor dieses Faches ernannt. 1862 wurde das auf seine Veranlassung von der Regierung neu erbaute pathologische Museum eröffnet. 1863 wurde er Referent der medicinischen Studien mit dem Titel eines Hofraths, 1867 lebenslängliches Mitglied des österreichischen Herrenhauses, 1869 Präsident der Akademie der Wissenschaften, der er schon seit 1848 als ordentliches Mitglied angehörte. 1870 Mitglied der Pariser Akademie der Wissenschaften und Präsident des Wiener anthropologischen Vereins. 1874 feierte er seinen 70jährigen Geburtstag, bei welcher Gelegenheit er in den Freiherrnstand erhoben und ihm zahlreiche andere Auszeichnungen und Ehrenbezeigungen sowohl aus heimathlichen Kreisen wie vom Auslande erwiesen wurden. Darauf legte er seine akademischen Aemter nieder, behielt aber noch das Referat im Unterrichtsministerium bei. Nachdem er in den letzten Lebensjahren mehrfach an Anfällen von Herzneuralgie verbunden mit astmatischen Beschwerden gelitten hatte, starb er während eines dieser Anfälle ganz plötzlich am 23. Juli 1878. — In der Geschichte der Medicin wird Rokitansky's Name für alle Zeiten einen hervorragenden Platz einnehmen. Speciell ist er für die Disciplin der pathologischen Anatomie, die sich das Studium und die Beschreibung der Beschaffenheit der Organe im krankhaft veränderten Zustande zur Aufgabe macht, ungefähr von derselben grundlegenden, epochemachenden Bedeutung geworden, wie Linné für die Botanik. Die Arbeiten Rokitansky's bezeichnen mit Recht einen Wendepunkt auf dem Gebiete der genannten Wissenschaft. Zu einer Zeit, wo über das Wesen der Krankheiten zum allergrößten Theil ganz verworrene, geradezu phantastische, durch die mannichfaltigsten naturphilosophischen Speculationen getrübte Anschauungen herrschten, wo auf pathologisch-anatomische Forschungen seitens des großen Haufens der Aerzte ein geringer oder gar kein Werth gelegt wurde, da hat er unter Zugrundelegung eines ganz colossalen Untersuchungsmateriales, das ihm in seiner Eigenschaft als gerichtlicher Profector zu Gebote stand und das er in großartiger Weise wissenschaftlich zu verwerthen verstanden hatte, durch seine Forschungen und seine klassischen Beschreibungen der makroskopisch, d. h. mit bloßem Auge sichtbaren anatomischen Veränderungen des kranken menschlichen Körpers nicht nur der pathologischen Anatomie ein sicheres naturwissenschaftliches Fundament verliehen, sondern ihr auch zuerst auf deutschem Boden zu allgemeiner Anerkennung und Bedeutung verholfen, und diese Disciplin selbst hinwiederum zur Grundlage der naturwissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiet der klinischen Medicin überhaupt gemacht. Wie seine eigenen Worte in der bei der Niederlegung seines Lehramtes gehaltenen Abschiedsrede lauteten, hat er „die pathologische Anatomie vor Allem im Geiste einer die klinische Medicin befruchtenden Forschung betrieben und ihr auf deutschem Boden jene Bedeutung errungen, daß dieselbe als das eigentliche Fundament einer pathologischen Physiologie und als die elementare Doctrin für Naturforschung auf dem Gebiete der Medicin“ bezeichnet werden kann u. s. w. — In dem berühmten dreibändigen „Handbuch der pathologischen Anatomie“ (Wien 1841—46; 3., vollkommen umgearbeitete und mit Illustrationen ausgestattete Auflage, ebendas. 1855—61), das die Frucht seiner Forschungen und gewissermaßen das Werk seines Lebens darstellt, lieferte R. überdies eine so systematisch erschöpfende, naturgetreue und geradezu plastische Beschreibung seiner pathologisch anatomischen Beobachtungen zugleich in so meisterhafter, mustergültiger, klarer, lebendiger, nüchterner und „durch Hervorhebung des Charakteristischen auch dem Anfänger das Selbststudium ermöglichender“ Sprache (Scheuthauer), wie das vorher nie jemals von irgend einem Autor auf diesem Gebiete geschehen war. Und was diesem Werke noch ganz besonderen Reiz und Werth verleiht, ist der Umstand, daß überall als die wichtigste Aufgabe der pathologischen Anatomie die Betrachtung der Entwickelungsgeschichte der krankhaften Vorgänge hingestellt und auf die Nothwendigkeit des Gebrauchs des Mikroskops bei diesen Studien verwiesen wird. — Eine Darlegung der Lehren und Anschauungen Rokitansky's in extenso ist hier nicht angängig. Es genüge an dieser Stelle die allgemeine Bemerkung, daß R. ein Anhänger der sog. Hämatopathologie war, d. h. derjenigen Lehre, welche die letzte Quelle aller krankhaften Veränderungen im Blute sucht. Bekanntlich ist diese Lehre später von Virchow und seiner Schule glänzend widerlegt und durch die Cellularpathologie ersetzt worden. Im Speciellen möge noch eine kurze Inhaltsangabe aus dem zuletzt (1846) erschienenen 1. Bande des genannten Werkes (dessen Bände in umgekehrter Reihenfolge, der 3. 1841, der 2. 1844 der Oeffentlichkeit übergeben wurden) gestattet sein. Der betreffende, höchst wichtige 1. Band, mit dem das ganze Werk seinen Abschluß erhielt, hat die allgemeine pathologische Anatomie zum Gegenstande, woraus sich am besten und leichtesten der Charakter der Lehren Rokitansky's ergibt. Im I. Hauptstück, das von den|Anomalien in Bezug auf die Zahl der Theile handelt, ist eine übersichtliche Darstellung der Morphologie, jedoch mehr im entwickelungsgeschichtlichen Sinne gegeben. Das zweite Hauptstück handelt von den Anomalien der Größe, Hypertrophie, Atrophie. Dann folgen die Anomalien der Gestalt zugleich mit einer Abhandlung über die Zwitterbildungen, hierauf die Anomalien der Lage (situs mutatus), dann diejenigen der Verbindung, wobei die Spalt- und Confusionsmißbildungen zur Sprache kommen, ferner die Anomalien der Farbe, der Consistenz, die Zusammenhangstrennungen, endlich die Anomalien der Textur. In dem letztgenannten Capitel kommen 1) die organisirten Neubildungen zur Erörterung, das Blastem und seine Metamorphosen, mit besonderer Rücksicht auf den Faserstoff, Hyperämie, Congestion, Hämorrhagie, Anämie, Entzündung und ihre Exsudate, 2) die organisirten Neubildungen im besonderen, Zellgewebsbildung, Fasergewebe, elastisches Gewebe, die Bildung der Ringfaserhaut der Arterien, Knorpelbildungen, Knochenbildungen, Gefäßbildung, Fettbildung, Epidermeal- und Haarbildung, Pigmentbildung, Colloid, Cystenbildung, Sarcom, Carcinom, die Tuberkelbildung, albuminöse rohe Blasteme u. s. w. Hieran reihen sich als X. Capitel die Anomalien des Inhalts, Pneumatosis, Hydrops, Fremdkörper, Parasiten und besonders die eigentlichen Blutkrankheiten, „Krasen“ von R. genannt, wie 1) die Faserstoffkrase (einfache, croupöse und Tuberkelkrase), 2) Venositas, wozu R. die Plethora, Typhuskrase, Ausschlagskrase, Hypinose bei Krankheiten des Nervensystems, die Säuferdyscrasie und die Krase bei der acuten Tuberculose rechnet, 3) Hydrämie und Anämie, 4) die Sepsis und faulige Krase. Im Anhang wird noch Einiges über selbständige Anomalien der Blutkörperchen mitgetheilt. — Von Virchow und anderen Autoren der jüngeren Richtung ist mit Recht allerdings gegen R. und seine Lehre der Vorwurf einer gewissen Einseitigkeit erhoben und namentlich getadelt worden, daß in seinen Arbeiten, abgesehen von vielfachen Irrthümern und willkürlichen Hypothesen, wozu die ganze hämatopathologische Anschauung gehört, abgesehen ferner von einem gewissen Mangel litterarisch-historischer Nachweise auch das eigentliche Gebiet der pathologischen Anatomie überschritten und diese gewissermaßen in eine anatomische Pathologie übergeführt, daß zu viel das Krankheitsproduct betont, dagegen der Krankheitsproceß und die Aetiologie zu wenig berücksichtigt und dadurch indirect der viel berufene „therapeutische Nihilismus“ der „Wiener Schule“ mit verschuldet sei, indem man angesichts der augenfälligen krankhaften Veränderungen der Organe an der Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen verzweifeln zu müssen geglaubt habe. Aber alle diese Schwächen und Mängel fallen nicht ins Gewicht gegenüber der für die damalige Zeit so überaus verdienstvollen Thatsache, daß R. zuerst eine umfassende Bearbeitung der pathologischen Anatomie in allen ihren Theilen auf ganz neuer, durchaus rationeller und positiv naturwissenschaftlicher Basis durchgeführt und ihr erfolgreicher, als es seinen Vorgängern gelungen war, in Deutschland Bahn gebrochen hat. Freilich darf nicht unerwähnt bleiben, daß ihm die Franzosen, speciell Männer wie Bayle, Laënnec, Louis, Cruveilhier, vorgearbeitet hatten. Indem nun aber R. diese Richtung der Pariser Schule mit einem so immensen Aufwand von Arbeitskraft und mit so großem Erfolge auf deutschen Boden übertrug, hat er andererseits auch das nicht gering zu veranschlagende weitere Verdienst sich um die klinische Medicin erworben, daß nunmehr erst die Möglichkeit gegeben war, mit Hülfe der Kenntniß der pathologisch-anatomischen Veränderungen die Bedingungen der Physikalisch-diagnostischen Erscheinungen wissenschaftlich festzustellen, ein Gebiet, auf dem bekanntlich der langjährige Genosse und Freund Rokitansky's und zugleich das Haupt der Wiener Schule, Skoda, so glänzende Resultate erreichen sollte. Neben Rokitansky's unsterblichen Leistungen für die|Wissenschaft ist sein erfolgreiches Wirken für das Wohl und Gedeihen der medicinischen Facultäten in Oesterreich, speciell in Wien, zu erwähnen. Als Medicinalreferent erreichte er eine zweckmäßigere Einrichtung der medicinischen Facultäten in Innsbruck und Graz, ferner die Gründung der ersten psychiatrischen Klinik in Oesterreich (unter Meynert in Wien), eines Instituts für experimentelle Pathologie (unter Stricker ebendaselbst) und bewirkte außerdem die Berufung von Billroth nach Wien, von Klebs und Breisky nach Prag. Daß infolge seiner Bemühungen 1862 der prächtige Neubau eines pathologisch-anatomischen Museums eröffnet werden konnte, ist schon mitgetheilt worden. — Als Mensch und akademischer Lehrer erfreute sich R. großer Beliebtheit. Seine Vorträge und Reden zeichnen sich ebenso sehr durch rhetorischen Schwung wie durch ihren tiefen, geistvollen, philosophischen Inhalt aus. In seiner politischen Stellung als Mitglied des Herrrenhauses vertrat R. die Richtung unbedingten Fortschritts am jedem Gebiet. Aufsehen erregte nicht bloß in Oesterreich, sondern auch im Auslande seine bei der Berathung des Unterrichtsgesetzes im März 1868 gehaltene Rede, worin er mit großer Wärme und Begeisterung und mit männlichem Freimuth für die Freiheit des Unterrichts eintrat. — Ein vollständiges Verzeichniß seiner Publicationen, die sich fast ausschließlich auf dem Gebiet seiner vorher bezeichneten Specialdisciplin bewegen, bringt die nachstehend genannte Quelle. Dort berichtet auch sein Biograph Scheuthauer zur näheren Charakterisirung Rokitansky's, wie folgt: „R. war unermüdlicher und scharfer Beobachter; bei scheinbarer Insichversunkenheit war er schlicht, fern von jedem Gelehrtendünkel und Prunken mit Geist und Wissen, ernst und wortkarg, was jedoch Blitze eines den Kern der Sache unfehlbar treffenden Humors, ja den Geschmack am Burlesken, nicht ausschloß.“

    • Literatur

      Vgl. Biogr. Lexikon hervorragender Aerzte u. s. w., herausgegeben von A. Hirsch. Bd. V, S. 63—67.

  • Autor/in

    Julius Leopold Pagel.
  • Zitierweise

    Pagel, Julius Leopold, "Rokitansky, Karl Freiherr von" in: Allgemeine Deutsche Biographie 29 (1889), S. 69-72 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd11874951X.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA