Lebensdaten
1858 – 1941
Geburtsort
Bremen
Sterbeort
Genf
Beruf/Funktion
Historiker ; Pazifist ; Nobelpreisträger für Frieden (1927)
Konfession
konfessionslos
Normdaten
GND: 11874318X | OGND | VIAF: 66593560
Namensvarianten
  • Quidde, Ludwig
  • Quidde, L.

Orte

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Zitierweise

Quidde, Ludwig, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd11874318X.html [19.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Ludwig August (1821–85), Kaufm., Teilh. e. Großhandelsfirma, S d. Carl Christoph Friedrich (1786–1845), Justizkommissar u. Stadtrat in Halberstadt, u. d. Emilie Jäger (1792–1864);
    M Anna Adelheid (1837–68), T d. Georg Cassebohm (1804–51), Handelsmakler in B., u. d. Metta Ehlers (1802–65);
    B Rudolph (1861–1942), Richter, Präs. d. Brem. Bürgerschaft (s. L);
    Königsberg (Pr.) 1882 Margarethe (1858–1940, jüd., später ev.), Musikerin, Schriftst. (s. Rhdb.), T d. Julius Jacobson (1828–89), Dr. med., Geh. Med.rat, Prof. d. Augenheilkde. an d. Univ. Königsberg (s. NDB X), u. d. Hermine Haller, aus Wien, ghzgl. sachsen-weimar. Hofopernsängerin; Lebensgefährtin Charlotte Kleinschmidt (1891–1974), aus Berlin; 1 unehel. T (Mündel).

  • Biographie

    Q. studierte seit 1877 in Straßburg Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaftslehre und setzte 1878 sein Geschichtsstudium in Göttingen fort, wo er sich unter der Anleitung Julius Weizsäckers (1828–89) in die Edition der Reichstagsakten (Ältere Reihe) einarbeitete und 1881 promoviert wurde. In Göttingen ergriff er Partei gegen die studentische Antisemitenagitation (Die Antisemitenagitation u. d. dt. Studentenschaft, 1881). Seit 1881 Mitarbeiter bei der Edition der dt. Reichstagsakten (Ältere Reihe) durch die Historische Kommission bei der Bayer. Akademie der Wissenschaften (BAdW), übersiedelte Q. nach Frankfurt/M., wo er Verbindung mit der DVP aufnahm. Seine Entscheidung für die Editionstätigkeit und für den Verzicht auf Habilitationspläne wurde durch eine Erbschaft erleichtert, die ihm durch den Tod seines Vaters zufiel. 1887 wurde Q. zum ao. Mitglied der Historischen Kommission der BAdW gewählt, 1889 als verantwortlicher Redaktor der Edition zum Nachfolger Weizsäckers berufen. Im selben Jahr gründete er die „Dt. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“. Private sowie forschungs- und editionsorganisatorische Gründe veranlaßten 1890 Q.s Übersiedlung nach München. Im selben Jahr unter Ernennung zum Professor als Leitender Sekretär des Preuß. Historischen Instituts in Rom berufen, ließ sich Q. 1892 von dieser Aufgabe wieder entbinden. Seine Leistung als Editor fand Anerkennung durch seine Wahl als ao. Mitglied in die Historische Klasse der BAdW. Q. war der eigentliche Organisator des ersten Deutschen Historikertages 1893 in München, auf dem er sich für den Widerstand der Geschichtswissenschaft gegen jeden Versuch ihrer Vereinnahmung für staatliche Zwecke einsetzte. Mit der gegen Ks. Wilhelm II. gerichteten Satire „Caligula, Eine Studie über röm. Cäsarenwahnsinn“ (1894) erregte er einen Eklat, der ihm jede Aussicht auf eine Professur an einer dt. Universität verbaute, beinahe zum Verlust seiner Editorenstellung führte und ihn infolge des Boykotts der Fachgenossen zur Aufgabe seiner Zeitschrift zwang. 1896 wurde er aus nichtigem Anlaß wegen Majestätsbeleidigung zu einer dreimonatigen Gefängnishaft verurteilt.

    Seine Marginalisierung in der Geschichtswissenschaft kompensierte Q. durch seine politische Tätigkeit für die DVP, deren Agitation im Reichstagswahlkampf 1893 er mit der Schrift „Der Militarismus im heutigen dt. Reich, Eine Anklageschrift, Von einem dt. Historiker“ (1896) unterstützte und der er sich wenig später anschloß. Seit 1896 stand er an|der Spitze des Demokratischen Vereins in München und der bayer. Landesorganisation der DVP, die er seit der Jahrhundertwende im Münchener Gemeindekollegium, seit 1907 im bayer. Landtag vertrat und für die er mit der „Münchener Freien Presse“ 1895 ein Organ für Oberbayern schaffen half.

    Neben der politischen Arbeit und dem Kampf gegen Vivisektion stand die pazifistische Tätigkeit im Vordergrund von Q.s öffentlichem Wirken. Eine Brücke von seinen historischen Forschungen zum Pazifismus schlug sein Interesse an der Geschichte der Landfriedensbewegung und der Überwindung des Fehderechts im späten Mittelalter. Q. wurde 1894 Gründer und Leiter des Münchener Friedensvereins. Er beteiligte sich an der Agitation für die dt. Teilnahme an der Ersten Haager Friedenskonferenz von 1899 und für die Beendigung des Burenkrieges. Seit 1902 gehörte er dem Präsidium der Dt. Friedensgesellschaft an, die er als Mitglied, später auch als Vizepräsident des Rates des Internationalen Friedensbüros (IFB) in Bern (später Genf) vertrat. Außerdem war er Mitglied der dt. Gruppe der Interparlamentarischen Union. Intensiv setzte er sich für eine dt.-franz. Verständigung ein, weshalb er z. B. 1913 an der dt.-franz. Parlamentarierkonferenz in Bern teilnahm. Seit 1914 Vorsitzender der Dt. Friedensgesellschaft, vermochte er während des 1. Weltkriegs deren Spaltung abzuwenden. Der Reichsleitung gegenüber vertrat er pazifistische Positionen in der Kriegszielpolitik, sah sich aber dem Vorwurf radikaler Pazifisten im In- und Ausland ausgesetzt, er habe dem dt. Annexionismus bedenkliche Zugeständnisse gemacht.

    1918/19 trat Q. in den provisorischen Bayer. Nationalrat als dessen Vizepräsident ein. Als Abgeordneter der DDP votierte er in der Weimarer Nationalversammlung gegen die Unterzeichung des Vertrags von Versailles. 1924 entging er knapp einem Prozeß wegen angeblichen Landesverrats, da er die vertragswidrigen dt. Rüstungen öffentlich kritisiert hatte. 1927 erhielt er mit Ferdinand Buisson (1841–1932) den Friedens-Nobelpreis. Während er im Vorsitz des Dt. Friedenskartells weniger angefochten war, sah er sich wegen seiner moderaten pazifistischen Linie 1929 durch radikalere Kräfte aus der Führung der Dt. Friedensgesellschaft verdrängt, blieb aber bis 1931 deren Mitglied. 1930 verließ er die DDP wegen ihrer Entwicklung nach rechts und beteiligte sich an der Gründung der Radikaldemokratischen Partei.

    Die Errichtung des NS-Staates zwang ihn 1933 ins Exil nach Genf, wo Q. weiterhin im IFB mitwirkte. Bereits in den 20er Jahren verarmt und auf Einnahmen aus journalistischer Arbeit angewiesen, auch um den Ertrag des Friedens-Nobelpreises gebracht, lebte er im Exil in bescheidenen Verhältnissen, die nur durch jährliche Zuwendungen des Osloer Nobel-Komittees für eine Darstellung der Geschichte der dt. Friedensbewegung im 1. Weltkrieg erträglicher wurden. Zur Linderung der Not exilierter Pazifisten baute Q. eine Hilfsorganisation auf. Von der Historischen Kommission bei der BAdW wurde er 1935 aus seiner Editorenstellung entfernt. 1940 verfügte der NS-Staat seine Ausbürgerung.

    Als Politiker mit großdt.-demokratischer Orientierung stand Q. in der Tradition der März-Revolution. Er war Repräsentant des „bürgerlichen“ und demokratischen Pazifismus in Deutschland, in welchem sich weltbürgerliche Gesinnung mit Patriotismus, die Bejahung des nationalen Verteidigungskriegs mit dem Willen zum friedlichen Ausgleich unter den Völkern, Realitätssinn mit Pragmatismus in der Methode verbanden. Er vertrat einen Pazifismus, der, ausgehend vom ethischen Rigorismus Immanuel Kants, den Friedenswillen im wesentlichen als Ausdruck individueller Einsicht, Entscheidung und Anstrengung begriff.

  • Werke

    Weitere W Kg. Sigmund u. d. Dt. Reich v. 1410 bis 1419, 1. Die Wahl Sigmunds, Diss. Göttingen 1881;
    Der Rhein. Städtebund v. 1381, in: Westdt. Zs. f. Gesch. u. Kunst 2, 1883, S. 323-92;
    Die Entstehung d. Kurfürstencollegiums, Eine vfg.geschichtl. Unters., 1884;
    Der Schwäb.-Rhein. Städtebund im J. 1384 bis z. Abschluß d. Heidelberger Stallung, 1884;
    Stud. z. Dt. Vfg.- u. Wirtsch.gesch., 1. Stud. z. Gesch. d. Rhein. Landfriedensbundes v. 1259, 1885;
    Vorwort zu: O. Hartmann, Die Volkserhebung d. J. 1848 u. 1849 in Dtld., 1900;
    Histoire de la paix publique en Allemagne au moyen âge, in: Ac. de droit internat., Recueil des cours 1929, III, T. 28, 1930, S. 453-597;
    Sicherheit u. Abrüstung, Vortrag gehalten am 12. Dez. 1927 in d. Aula d. Univ. Oslo, in: A. Hartung (Hg.), Der Friedens-Nobelpreis, Stiftung u. Verleihung, Die Reden d. vier dt. Preisträger, o. J. (1972), S. 41-59 (P);
    Caligula, Schrr. üb. Militarismus u. Pazifismus, hg. v. H.-U. Wehler, 1977;
    Der dt. Pazifismus während d. Weltkrieges 1914-1918, Aus d. Nachlaß L. Q.s, hg. v. K. Holl unter Mitwirkung v. H. Donat, 1979 (P). – Hg.: Dt. Zs. f. Gesch.wiss., 12 Bde., 1889-95;
    Freiheitsklänge, Eine Slg. v. Liedern u. Gedichten, Weckrufe aus alten u. neuen Freiheitskämpfen, 1896.

  • Literatur

    H. Wehberg, in: Die Waage 25, 1922, S. 61-63;
    ders. (Hg.), L. Q., Ein dt. Demokrat u. Vorkämpfer d. Völkerverständigung, 1948;
    G. Seger (Hg.), Der Fall Quidde, Tatsachen u. Dok., 1924;
    Btrr. z. 80. Geb.tage v. L. Q., in: Die Friedens-Warte, Jg. 1938, S. 71-119 (P, W-Verz.);
    U.-F. Taube, L. Q., Ein Btr. z. Gesch. d. dem. Gedankens in Dtld., 1963 (W-Verz.);
    |K. Holl, in: liberal 13, 1971, S. 224-29;
    ders., in: H. Donat u. K. Holl (Hg.), Die Friedensbewegung, Organisierter Pazifismus in Dtld., Österr. u. in d. Schweiz (Hermes Handlex.), 1983, S. 316 ff. (P);
    ders., in: H. Josephson (Hg.), Biogr. Dict. of Peace Leaders, 1985, S. 774-77;
    ders., in: Ch. Rajewsky u. D. Riesenberger (Hg.), Wider d. Krieg, Gr. Pazifisten v. Immanuel Kant bis Heinrich Böll, 1987, S. 133-38;
    ders., German Pacifists in Exile, 1933–1940, in: Ch. Chatfield u. P. v. d. Dungen (Hg.), Peace Movements and Political Cultures, 1988, S. 165-83;
    ders., in: H. Donat u. A. Röpcke (Hg.), „Nieder die Waffen – die Hände gereicht!“, Friedensbewegung in Bremen 1898-1958, Ausst.kat. Bremen 1989 (P);
    ders., in: Der Friedens-Nobelpreis v. 1901 bis 1932, 1989, S. 142-53 (P);
    ders., Zum Q.-Porträt d. Bremer Malers Hans Lehmkuhl, in: Brem. Jb. 70, 1991, S. 11-16 (P);
    ders., L. Q.s Prager „Schützlinge“ 1935-1938, in: Exil, Forsch., Erkenntnisse, Ergebnisse XIV, 1994, S. 70-77;
    ders., H. Kloft u. G. Fesser, Caligula, Wilhelm II. u. d. Caesarenwahnsinn, Antikenrezeption u. wilhelmin. Pol. am Beisp. d. „Caligula“ v. L. Q., 2001;
    ders., in: Das Kaiserreich, Portrait e. Epoche in Biogrr., hg. v. M. Fröhlich, 2001, S. 262-74;
    R. Rürup, in: H.-U. Wehler (Hg.), Dt. Historiker, 1973, S. 358-81;
    B. M. Goldstein, L. Q. and the Struggle for Democratic Pacifism in Germany 1914-1930, Diss. New York 1984;
    R. Schumann, in: O. Groehler (Hg.), Alternativen, Schicksale dt. Bürger, 1987, S. 93-131;
    I. Abrams, The Nobel Peace Prize and the Laureates, An Illustrated Biogr. Hist. 1901-1987, 1988, S. 106 ff. (P);
    Rhdb. (P);
    Brem. Biogr. (auch zu Rudolph);
    BHdE I;
    Demokratische Wege (P). – Fernsehfilm v. H. Bretschneider (Bayer. Rundfunk, 2002). |

  • Nachlass

    Nachlaß größtenteils im BA Koblenz.

  • Porträts

    Gem. v. H. Lehmkuhl, 1930 (Privatbes., als Dauerleihgabe im Focke-Mus., Bremen;
    dort auch e. Slg. v. Fotos);
    Gem. v. J. Beilin, 1937 (Genf, später München, verschollen);
    Gem. v. dems., undatiert (Privatbes);
    Büste, um 1930 in Berlin entstanden, verschollen.

  • Autor/in

    Karl Holl
  • Zitierweise

    Holl, Karl, "Quidde, Ludwig" in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 45-47 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd11874318X.html#ndbcontent

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