Lebensdaten
1875 – 1921
Geburtsort
Buttenhausen (Württemberg)
Sterbeort
Bad Griesbach (Schwarzwald)
Beruf/Funktion
Zentrumspolitiker
Konfession
katholisch
Normdaten
GND: 11853100X | OGND | VIAF: 14927251
Namensvarianten
  • Erzberger, Matthias
  • Erzberger
  • Erzberger, M.
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Orte

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Zitierweise

Erzberger, Matthias, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd11853100X.html [28.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Josef (1847–1907), Schneider u. Postbote, Weberssohn aus Gundelfingen b. Münsingen;
    M Katherina (1845–1916), T des Bauern Josef Flad in B.;
    Rottenburg 1900 Paula Eberhard, Kaufmannstochter;
    1 S, 2 T.

  • Biographie

    E. hatte nur die Vorbildung eines Volksschullehrers. Nach 2 Jahren Schuldienst wurde er 1896 Redakteur an der Stuttgarter Zentrumszeitung „Deutsches Volksblatt“. Daneben betätigte er sich als Organisator des Württembergischen Volksvereins, des Schwäbischen Bauern- und Handwerkerbundes. Er spielte auch eine führende Rolle bei der Begründung der christlichen Gewerkschaften in Mainz (1899). Sein Hauptinteresse galt jedoch der Politik, 1903 wurde er als Kandidat des Zentrums im Wahlkreis Biberach in den Reichstag entsandt.

    E. gelang es erstaunlich schnell, sich in seiner Partei eine Stellung zu verschaffen, obwohl seine derbe Art dem konservativen Führungsgremium auf die Nerven ging. Er kam zu einem Zeitpunkt in den Reichstag, als die Demokratisierung des parlamentarischen Lebens sich mehr und mehr durchsetzte. Das Zentrum konnte sich dieser Strömung um so weniger entziehen, als es auf die Zustimmung der breiten Massen in besonderem Maße angewiesen war. E. gehörte dem neuen Typus des Parlamentariers an; er war außerordentlich vital, arbeitsam, ehrgeizig und mit der Psychologie des kleinen Mannes vertraut. Durch die Herausgabe einer sensationellen Zentrumskorrespondenz und durch zahllose Zeitungsartikel und Aufsätze machte er sich bald bekannt und unentbehrlich. Sein Kampf gegen die Kolonialskandale 1905-06 war einer der Gründe der Reichstagsauflösung 1907. E. war entschiedener Demokrat süddeutscher Färbung und strebte eine grundsätzliche Reform im Reich und in Preußen an. Dabei war er aber auch gläubiger Katholik, so daß ein Zusammengehen mit der Sozialdemokratie für ihn vor dem Kriege nicht in Frage kam. Er widmete sich vor allem der Finanzpolitik; in der einflußreichen Budget-Kommission erwarb er sich in wenigen Jahren den Ruf eines der besten Kenner in Kolonial- und Budget-Fragen. So arbeitete er besonders an der Finanzreform von 1909 und am Wehrbeitrag von 1913 mit.

    Der 1. Weltkrieg gab E. große Betätigungsmöglichkeiten. Im Auftrage von Bethmann Hollweg organisierte er die deutsche Propaganda in ausländischen katholischen Kreisen und ein weitverzweigtes System vertraulicher Berichterstattung, welches gleicherweise vatikanische und freimaurerische Quellen benutzte. Ferner war er in verschiedenen diplomatischen Missionen tätig; vergeblich bemühte er sich gemeinsam mit Fürst Bülow darum, den Eintritt Italiens in den Krieg 1915 zu verhindern. Auch E. ließ sich zunächst von der allgemeinen nationalen Welle tragen und befürwortete in einer Denkschrift vom 2.9.1914 weitgehende Annexionen, unter anderem die vollständige Angliederung Belgiens. Bald aber setzte sich sein Wirklichkeitssinn durch. Er wurde einer der schärfsten Gegner des uneingeschränkten U-Boot-Krieges und Befürworter des Verständigungsfriedens. In Stockholm kam er im April 1917 mit einem russischen Unterhändler in Verbindung, zu einem Separatfrieden fehlten jedoch die inneren und äußeren Voraussetzungen.

    E. vermochte den Beginn des uneingeschränkten U-Boot-Krieges am 1.2.1917 nicht zu verhindern, im Juli des gleichen Jahres griff er im Hauptausschuß des Reichstages die Marineleitung wegen ihrer irreführenden Zahlen scharf an und trat für eine Friedensresolution durch die Parlamentsmehrheit ein, um zu baldigen Verhandlungen mit der Entente zu kommen. Da er zu Bethmann kein Vertrauen mehr hatte und ihn durch Bülow zu ersetzen hoffte, war er mitbeteiligt am Sturz Bethmanns. Die Folgen waren aber ganz andere, als er erwartet hatte; die Richtung Ludendorff ging in Führung und damit verpuffte auch die Friedensresolution außenpolitisch wirkungslos, obwohl sich zum ersten Male die Linke zu einer Mehrheit zusammengefunden hatte. Um den rechten Flügel seiner Partei von der unbedingten Notwendigkeit eines Verständigungsfriedens zu überzeugen, gab E. auf einer vertraulichen Konferenz in Frankfurt am 23.7.1917 Kenntnis von einem überaus pessimistischen Geheimbericht des österreichischen Außenministers Graf Czernin an Kaiser Karl. Dieser Bericht ist zur Kenntnis der Entente-Mächte gelangt; ein Beweis, daß E.s Unvorsichtigkeit hierfür verantwortlich war, ist nie erbracht worden. Trotzdem galt E. seitdem in der radikalen Rechten als Landesverräter.

    Unter den Nachfolgern Bethmanns hatte E. nur wenig Einfluß auf die deutsche Politik. Für die Annahme des Friedensvertrages von Brest-Litowsk setzte er sich ein, wünschte aber eine ehrliche Durchführung des Selbstbestimmungsrechtes für die Ostvölker. Nach der Bildung des Kabinetts des Prinzen Max von Baden wurde er am 3.10.1918 zum Staatssekretär ohne Portefeuille ernannt, mit besonderer Verantwortung für das Propagandawesen. Die Abdankung des Kaisers hat er nicht gewünscht. Am 6.11. wurde er zum Mitglied der Waffenstillstandskommission ernannt und unterzeichnete in Compiègne am 11.11. den harten Waffenstillstand. Die Ebert-Haase-Regierung drängte er zu scharfen Maßnahmen gegen die Spartakisten und riet zur Anberaumung baldiger Wahlen zur Nationalversammlung. Im Kabinett Scheidemann (13.2.1919) wurde er Reichsminister ohne Portefeuille mit Verantwortung für alle Waffenstillstandsfragen. Die Zugeständnisse, die er Foch machen mußte, wurden ihm von der Rechten sehr verübelt. Er befürwortete auch die Annahme des Versailler Vertrages und geriet deshalb in scharfen Gegensatz zu dem Außenminister Graf Brockdorff-Rantzau. E. war überzeugt, daß die Nichtannahme zur Auflösung der Reichseinheit und zur Hungersnot führen werde. Im neuen Kabinett Bauer wurde er Vizekanzler und Finanzminister. E. konnte seine großen Fähigkeiten für das Finanzwesen unter Beweis stellen. Durch die Begründung einer reichseigenen Steuerverwaltung gelang ihm eine völlige Neuordnung, die Finanzhoheit des Reiches wurde dadurch ungemein verstärkt. Diese Neuordnung hat auch seine Zeit überdauert; eine wirklich geordnete Finanzwirtschaft wurde durch die Inflation und die alliierten Reparationsforderungen unmöglich gemacht. Auch an der Verreichlichung des deutschen Eisenbahnsystems war E. stark beteiligt.

    E.s Steuergesetzgebung verschärfte die Hetze, die bereits wegen seiner Haltung im Kriege und in der Waffenstillstandskommission gegen ihn eingesetzt hatte. Der frühere Vizekanzler Helfferich unternahm es, den gefährlichen Gegner unschädlich zu machen. Seine Broschüre „Fort mit Erzberger!“ (1919) enthielt außer Angriffen gegen seine Politik schwere Vorwürfe wegen Unwahrhaftigkeit, Verfehlungen gegen die Wohlanständigkeit und Verquickung von privaten und öffentlichen Interessen. Im Beleidigungsprozeß vor dem Landgericht Berlin-Moabit vom 19.1.-12.3.1920 gelang es E. nicht, seine Unschuld einwandfrei zu erweisen. In einigen Fällen hielt das Gericht die Vermengung privater und politischer Interessen für erwiesen. E. mußte infolgedessen als Finanzminister zurücktreten. Zum Zwecke seiner Rehabilitierung verlangte E. ein Meineidsverfahren gegen sich selbst; die sehr sorgfältige Voruntersuchung zeigte aber 1921, daß kein genügender Verdacht für ein Verfahren vorlag.

    Im Juni 1920 wurde er wieder in den Reichstag gewählt; E. hatte die Absicht, im Herbst 1921 seine parlamentarische Tätigkeit wieder aufzunehmen. Im August 1921 wurde er von 2 ehemaligen Marineoffizieren, Schulz und Tillessen, im Schwarzwald ermordet. Das Attentat war von dem Germanen-Orden unter Manfred von Killinger sorgfältig vorbereitet worden. Die Mörder entkamen nach Ungarn. Mit E. sollte auch der Weimarer Staat getroffen werden.

    E. war gewiß charakterlich keine durchaus erfreuliche Erscheinung, aber er gehörte sicherlich zu den Politikern, die sich durch rasche Auffassungsgabe und regen politischen Instinkt auszeichneten. Sein Optimismus und seine Verantwortungsbereitschaft ließen ihn auch vor den schwierigsten Aufgaben nicht zurückschrecken. E. schadete jedoch seinem Ruf durch seine ungewöhnliche Wendigkeit, seine rücksichtslose Kampfweise sowie seine naive Unbekümmertheit in Geldsachen, so daß an seiner persönlichen Ehrenhaftigkeit Zweifel – obwohl unberechtigt – aufkommen konnten.

  • Werke

    u. a. Christl. od. sozialdemokr. Gewerkschaften?, 1898; Die Säkularisation in Württemberg v. 1802-10, 1902;
    Die Kolonialbilanz, 1906;
    Der Toleranzantrag d. Zentrumsfraktion d. Reichstages, 1906;
    Warum ist d. Reichstag aufgelöst worden?, 1906;
    Bilder aus d. Reichstagswahlkampf 1907, 1907;
    Die Wahrheit üb. d. dt. Kolonien, 1908;
    Der Kampf geg. d. Katholizismus in d. Ostmark, 1908;
    Der Humor im Reichstage, 1910;
    Millionengeschenke, 1910;
    Der Modernisteneid, 1911;
    Der Stille Kulturkampf, 1912;
    Das dt. Zentrum, Amsterdam 1912;
    Kolonial-Berufe, 1912;
    Duell u. Ehre, 1913;
    Der Wehrbeitrag 1913, 1913;
    Politik u. Völkerleben, 1914;
    Die Rüstungsausgaben d. dt. Reichs, 1914;
    Der Völkerbund, 1918;
    Erlebnisse im Weltkrieg, 1920;
    Christl. Solidarismus als Weltprinzip, 1921; Der Solidarismus, 1921.

  • Literatur

    F. Hussong, E.s Wege u. Wandlungen, 1918; H. Frenzel, E., d. Reichsverderber, 1919;
    M. Taube, E. – der Totengräber d. dt. Reiches, 1919;
    Der E.-Prozeß, Stenogr. Ber. üb. d. Verhh. …, 1920;
    S. Löwenstein, Der Prozeß E. – Helfferich, 1921;
    E. Bauer, E., 1925 (einzige Biogr.);
    E.-Heft, Dt. Republik 1, Heft 44 vom 26.8.1927;
    B. Frye, E. and German Politics, 1914-21, Ann Arbor, University Microfilms, 1954;
    DBJ III (Tl. 1921, W, L);
    Heyd VIII, 2;
    Briefe u. Materialien in zahlr. Memoiren u. Biogr., z. B. Fürst B. v. Bülow, Gf. B. v. Hutten-Czapski, A. v. Tirpitz, R. v. Valentini;
    – K. Epstein, E. and the Dilemma of German Democracy, Princeton 1959 (P). – Qu.: Nachlaß (Bundesarchiv Koblenz);
    Bachem-Nachlaß (Stadtarchiv Köln).

  • Autor/in

    Klaus Epstein
  • Zitierweise

    Epstein, Klaus, "Erzberger, Matthias" in: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 638-640 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd11853100X.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA