Lebensdaten
1905 – 1967
Geburtsort
Breslau
Sterbeort
(Ost-)Berlin
Beruf/Funktion
Volkskundler ; Finnougrist ; Sprachwissenschaftler ; Wissenschaftsorganisator
Konfession
konfessionslos
Normdaten
GND: 118798626 | OGND | VIAF: 25398781
Namensvarianten
  • Steinitz, Wolfgang
  • Steinitz, W.
  • Štejnic, Volʹfgang

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Zitierweise

Steinitz, Wolfgang, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118798626.html [28.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Kurt (1872–1929), aus Laurahütte (Oberschlesien), Dr. iur., RA in Breslau, S d. Sigismund (um 1845–89), Kohlenhändler, Wasserspeditionskaufm. (s. Gen. 1), u. d. Auguste Cohn (um 1850–1906;
    M Else (1877–1950), aus Breslau, T d. Hugo Jacobsohn (1848–1921), u. d. Elise Levy (1855–1921;
    Ov Ernst (s. 1);
    B Hans (1902–86, 1] Lotte Löwenthal, 1901–58, Psychol., emigrierte n. Palästina, T d. Siegfried Löwenthal, 2] Eva [Chawa], 1901–90, Wwe d. Ludwig (Arieh) Strauss, 1892–1953, Schriftst., Lit.wiss., s. NDB 25, T d. Martin Buber, 1878–1965, Schriftst., Rel.philos.), Arzt, emigrierte 1933 n. Palästina, Schw Ruth (1903–84, Jürgen Peters, 1905–82, s. L, S d. Fritz Cohn, 1866–1921, Prof. f. Astronomie in Berlin, Dir. d. Recheninst. ebd., s. NDB III, u. d. Johanna Peters, 1871–1955), emigrierte in d. Sowjetunion u. n. Schweden, kehrte 1946 n. Dtld. zurück, Marianne (Jannu) (1910–2001, Adrian [Adnan] Waly, 1910–2002, Physiker), Gymnastiklehrerin, emigrierte 1938 über Ägypten in d. USA, Ursula (Ulla) (1916–2008, Marco [Mordko] Tenenbaum, 1911–2009, Arzt, Mitarb. d. Internat. Refugee Organisation [IRO] u. d. United Nations Relief and Rehabilitation Administration [UNRRA], 1953–70 Dir. d. Organizzazione Sanitaria Ebraica in Rom), Hebamme, emigrierte 1934 n. Italien; 22 Verwandte überlebten d. NS-Zeit nicht;
    Helsinki 1930 Inge (1904–87), T d. Karl Kasten (1874–1955), u. d. Auguste Stephan (1882 – um 1971);
    1 S Klaus (* 1932, Lucienne Stern, * 1935,Dr. med., Fachärztin f. Pädiatrie in Berlin, T d. Kurt Stern, 1907–89, Erzähler, Filmautor, Publ., Übers., s. NDB 25), Dr. rer. oec. habil., Wirtsch.wiss., 1967–71 Leiter d. Abt. Prognose, 1971–79 d. Hauptabt. Wiss. u. Technik d. Staatl. Plankommission d. DDR, 1969 Prof., 1980–89 stellv. Dir. d. Zentralinst. f. Wirtsch.wiss. d. Ak. d. Wiss. d. DDR, 1989 korr. Mitgl. ders., 1990–93 Vorstandsmitgl. d. PDS, 1990 MdB (s. Kürschner, Gel.Kal. 2011; Biogr. Hdb. MdB; L), 1 T Renate (* 1936), Dr. phil. habil., Germanistin, Sprachwiss., 1965–90 wiss. Mitarb. an d. Dt. Ak. d. Wiss. zu Berlin (s. Kürschner, Gel.-Kal. 2011; L); Gr-N Yuval (* 1958), Ph. D., Senior Lecturer f. Philos. an d. Univ. Haifa, isr. Pol., seit 1999 Mitgl. d. Knesset, 2009 isr. Finanzminister.

  • Biographie

    S., der schon als Knabe folkloristische Texte (Rätsel, Abzählreime, Märchen) sammelte und 1923 am Johannes-Gymnasium in Breslau sein Abitur ablegte, studierte 1923–28 Ethnologie und Finnougristik in Berlin. 1933 wurde er, seit 1928 Assistent bei Ernst Lewy|(1881–1966) am Ungar. Institut, ,aus rassischen Gründen` relegiert. Seine für die komparative Folkloristik methodisch bahnbrechende Dissertation zum finn.-karel. Parallelismus verteidigte er daher in Estland und ließ sie in Finnland drucken. Über Tartu (Dorpat) ging S. (1923 Mitgl. d. SPD, 1927 d. KPD) ins sowjet. Exil (1934–37 Gastprof. am Inst. der Nordvölker in Leningrad) und wandte sich der Lebenswelt ugrischer Ethnien in zivilisationsfernen Regionen Sibiriens zu. Als ,ausländischer Spezialist` mit reichsdt. Paß übernahm er zugleich geheimdienstlich nutzbare Aufträge der Komintern. Er dokumentierte ostjak. Volksdichtung und entwarf zum Erhalt des Ostjakischen eine phonologisch fundierte Lateinschrift. Dies trug ihm nach dem 1935 verfügten Übergang zum russ. Alphabet Anfeindungen ein und führte zur Kündigung von Professur und Visum. 1937 emigrierte S. daher mit seiner Familie zu Verwandten nach Stockholm. Er verkehrte in der dortigen Emigrantenszene als ,jüd. Flüchtling` aus Dtld. und erhielt mit Unterstützung durch deren Hilfefonds eine Anstellung als Dozent an der Universität. Inoffiziell leistete S. im Auftrag der Exil-KPD publizistisch und praktisch Volksfrontarbeit in Kreisen linker Intellektueller, u. a. als Sekretär d. „Schutzbundes dt. Schriftsteller“ (Vorsitz: Bertolt Brecht) sowie in der „Emigranten-Selbsthilfe“.

    Als Philologe betätigte sich S. bis 1946 auf drei Gebieten: Mit Publikationen, die auf Aufzeichnungen der Leningrader Zeit und der Expedition 1935 an den Ob beruhten, etablierte er die Ostjakologie als wiss. Fach. Mit dem befreundeten Roman Jakobson (1896–1982) gründete S. 1940 den „Cercle linguistique de Stockholm“, der die Ideen und Methoden der Prager Schule fortführte. S., der bereits in Berlin Russisch gelernt hatte und in Stockholm dt. (u. a. für Vladimir Semënov [1911–92] v. der sowjet. Botschaft) und russ. Sprachunterricht (u. a. für Norbert Masur v. World Jewish Congress) erteilte, schrieb als philologischen Beitrag zur „kulturellen Erneuerung Deutschlands“ – im Vorgriff auf den Sieg der Alliierten – 1944–45 ein didaktisch vorzügliches, später in der SBZ/DDR sehr erfolgreiches Russisch-Lehrbuch. Die von S. eingeführte Umschrift russ. Namen wird als „aussprachenahe Transkription“ (Duden) bezeichnet und bis heute in den Medien benutzt.

    1946 kehrte S. nach Berlin zurück und übernahm im sowjet. Sektor zahlreiche wiss. und politische Funktionen. 1946–67 war er Professor für Finnougristik und Direktor des gleichnamigen Instituts an der Humboldt-Univ. (u. a. Prorektor 1947–50, Dekan 1949–51), zugleich 1951–53 Vorsitzender der Berliner Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion, 1947–49 Mitgl. d. Landesleitung der SED (1954–58 im ZK) und 1949–50 des Vorstands des Kulturbunds. Für eine Neuorientierung in Bildung und Erziehung sah S. seine Aufgabe darin, die „völkische“ dt. Volkskunde der NS-Zeit durch eine dt. Volkskunde „demokratischen Charakters“ zu ersetzen. Dies gelang ihm, indem er, anknüpfend an die finnougr. Folklore und im Konnex zur Völkerkunde, einen neuartigen Umgang mit der dt. Volksdichtung empfahl und diesen mit der Lieder-Sammlung (DV) (1955–62) vorbildlich ausführte. Die Entnazifizierung und Neubegründung der Germanistik in Forschung und Lehre betrieb S. durch innovative Langzeitprojekte an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin: Das von ihm initiierte „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (WDG) ist eine lexikographische Pionierleistung und war bis in die späten 80er Jahre das Leitwörterbuch. Zudem gründete und leitete S. 1961–73 an der Akademie der Wissenschaften die „Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik“, deren theoretische Grundlagen ihm Roman Jakobson (seit 1941 in den USA) zur Anwendung aufs Deutsche empfohlen hatte. Das „Dialektologische und etymologische Wörterbuch der ostjakischen Sprache“ (DEWOS), in Inhalt und Zuschnitt S.s persönlichstes Projekt, ist der komplette Wissensspeicher eines kleinen Fachs.

    Die durch System- und Ortswechsel (Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Deutschland, Stalins Sowjetunion, Schweden, SBZ/DDR) politisch bestimmte Vita von S. bedingte die Wahl und den Wechsel seiner Arbeitsgebiete: finn. Volksdichtung, Verschriftung sibir. Minderheiten, Ostjakologie, Arbeit zur „kulturellen Erneuerung Deutschlands“ mit Russisch als Schulfremdsprache in der SBZ und Neuorientierung von Germanistik und Volkskunde als akad. Fächern in der DDR. S. gelang es, in allen Lebenslagen mit flexibler Könnerschaft Philologie zu betreiben und dabei stets Motivation und Methode erstaunlich gut zu verbinden.

  • Auszeichnungen

    A Nat.preis d. DDR III. Kl. (1950), II. Kl. (1965 u. 1978);
    Mitgl. d. Dt. Ak. d. Wiss. zu Berlin (1951, Vizepräs. 1954–63, Dir. d. Inst. f. dt. Volkskde. 1953–67) u. d. Comité Internat. Permanent des Linguistes (1962);
    Ehrenmitgl. d. Ungar. (1958) u. d. Finn. Ak. d. Wiss. (1967);
    Vizepräs. d. Internat. Union of Anthropological and Ethnological Sciences (Paris) (1960); Johannes R. Becher-Medaille in Gold (1965).

  • Werke

    u. a. Finno-Ugrica: Der Parallelismus in d. finn.karel. Volksdichtung, 1934 (Diss.);
    Gesch. d. finn.ugr. Vokalismus, 1944;
    Gesch. d. ostjak. Vokalismus, 1950;
    Ostjak. Grammatik u. Chrestomathie, 1950;
    Dialektol. u. etymol. Wb. d. ostjak. Sprache, 15 Lfgg., Unter Mitarb. v. G. Sauer u. a., 1966–93;
    Kalevala, Das Nat.epos der Finnen, Nach d. dt. Übertrag. v. Anton Schiefner u. Martin Buber neu bearb., 1968, ²1984;
    Ostjakol. Arbb., bearb. v. G. Sauer u. a., I–IV, 1975–89;
    - Russica: Russ. Lehrb., 1945, 101961 (auch schwed. u. dän., dt. in Braille);
    Russ. Konjugation, Berlin 1948, ⁴1955;
    Russ. Lautlehre, 1953, ⁵1964;
    Dt. Volkslieder demokrat. Charakters aus 6 Jhh. (DV), 2 Bde., 1955–62, Nachdr. 1979;
    Wb. d. dt. Gegenwartssprache (WDG), 6 Bde., 1961–77 (mit R. Klappenbach);
    W-Verz.: Isačenko, 1965 (s. L),aktualisiert in: OA IV, 1980, S. 463–93;
    Nachlaß: Archiv d. Berlin-Brandenburg. Ak. d. Wiss.;
    Privatarchiv Renate Steinitz.

  • Literatur

    Btrr. z. Sprachwiss., Volkskde. u. Lit.forsch., FS f. W. S. z. 60. Geb.tag, hg. v. A. V. Isačenko u. a., 1965;
    Parallelismus u. Etymol., Studien z. Ehren v. W. S. z. 80. Geb.tag, hg. v. E. Lang u. G. Sauer, 1987;
    Nachrufe:
    G. Ortutay u. a., In memoriam W. S., in: A Magyar Tudományos Akadémia Nyelv és Irodalomtudományi Osztályának Közleményei 25, 1968, S. 267–87;
    G. Sauer u. a., W. S., Biogr. Skizze, in: Ethnograph.-archäol. Zs. 9, 1968, S. 197–218;
    – Zweimal Stockholm – Berlin 1946, Briefe nach d. Rückkehr, Jürgen Peters – W. S., hg. v. J. Peters, 1989;
    A. Leo, Leben als Balance-Akt, W. S., Kommunist, Jude, Wissenschaftler, 2004;
    E. Lang, Biogr. Kohärenz in d. Wechselwirkung v. Philol. u. (R-)Emigration, W. S. (1905–1967), in: Historiographia Linguistica 32/1, 2005, S. 149–180;
    ders.: W. S.'Russ. Lehrb., e. Reminiszenz, in: Zs. f. Slawistik 50/2, 2005, S. 199–206;
    ders., „Vom Rand d. Philol. in die Mitte d. Wiss.pol.“, W. S. (1905–1967), in: Gegenworte 14, Herbst 2004, S. 52–57;
    W. S., Ich hatte unwahrscheinliches Glück, Ein Leben zw. Wiss. u. Pol., hg. v. Klaus Steinitz u. W. Kaschuba, 2006;
    Renate Steinitz, Eine dt. jüd. Fam. wird zerstreut, 2008 (P);
    U. Maas, Verfolgung u. Auswanderung dt.sprachiger Sprachforscher 1933–1945, 2010;
    BHdE II;
    Mitteldt. Jb. 11, 2004;
    Biogr. Hdb. SBZ-DDR;
    Kosch, Lit.-Lex.³ (W, L);
    Enz. Märchen (W, L);
    Lex. grammaticorum (L).

  • Autor/in

    Ewald Lang
  • Zitierweise

    Lang, Ewald, "Steinitz, Wolfgang" in: Neue Deutsche Biographie 25 (2013), S. 208-210 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118798626.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA