Lebensdaten
1818 – 1884
Geburtsort
Elliehausen bei Göttingen
Sterbeort
Leipzig
Beruf/Funktion
Chemiker
Konfession
evangelisch
Normdaten
GND: 119151375 | OGND | VIAF: 2551354
Namensvarianten
  • Kolbe, Hermann
  • Geh. Hofrath Dr. Kolbe
  • Kolbe, Adolf W.
  • mehr

Objekt/Werk(nachweise)

Orte

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Zitierweise

Kolbe, Hermann, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd119151375.html [19.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Carl (1790–1870), Lehrer in Ilfeld, 1815-26 Pastor in E., bis 1840 in Stöckheim/Leine, dann in Lutterhausen, S d. Georg Wilhelm, Lehrer in Gr.-Schneen, dann Insp. in Adelebsen;
    M Auguste (* 1800), T d. Adolph Friedrich Hempel (1767–1834), Prof. d. Anatomie in Göttingen (s. BLÄ), u. d. Marie Cath. Luise Grabenstein;
    1853 Charlotte (1832–76), T d. Wilhelm v. Bardeleben (1796–1859), kurhess. Gen.-Major, u. d. Johanna Holzförster;
    1 S, 3 T, u. a. Karl (1856–1909), Dr. phil., Dir. d. chem. Fabrik v. Heyden in Radebeul (s. L), Johanna ( Ernst v. Meyer, 1847–1916, Prof. d. Chemie a. d. TH Dresden, vf. u. a.Gesch. d. Chemie“, ⁴1914, s. Pogg. III-V, VII a);
    N Hermann Ost (1852–1931), Prof. d. techn. Chemie a. d. TH Hannover (s. L);
    E Ferd. Herm. Krauss (1889–1938), Prof. d. Chemie (s. Pogg. VI, VII a).

  • Biographie

    K. genoß seinen ersten Unterricht im ländlichen Pfarrhause – die Familie siedelte 1826 nach Stöckheim im Leinetal über –, bezog 13jährig das Gymnasium in Göttingen und nahm nach dem Abitur (1838) das Chemiestudium an der dortigen Universität auf. Erste Publikationen entstanden unter der Obhut Wöhlers, an dessen Ratschläge und Kritik K. sich stets dankbar erinnerte. 1842 ging er zu Bunsen nach Marburg als dessen Vorlesungs- und Unterrichtsassistent. Hier vollendete er seine bereits in Göttingen begonnene Doktorarbeit (Promotion 1843). Auch wurde er in Bunsens Laboratorium gründlich mit gasanalytischen Methoden vertraut, die er 1845-47 in London verwertete, wo er auf Bunsens Empfehlung Lyon Playfair am Museum of Economic Geology bei Schlagwetteruntersuchungen unterstützte und auch Gelegenheit zu eigener experimenteller Arbeit fand. Wertvoller Gewinn war die Bekanntschaft mit E. Frankland, mit dem er lebenslang in Freundschaft und wissenschaftlichem Austausch verbunden blieb. Nach Deutschland zurückgekehrt, übernahm er nach kurzem Zwischenaufenthalt in Marburg im Herbst 1847 die Redaktion des vom Verlag Fr. Vieweg und Sohn in Braunschweig herausgegebenen, von Liebig, Poggendorff und Wöhler begründeten „Handwörterbuchs der reinen und angewandten Chemie“. Diese Tätigkeit brachte ihn mit vielen Gelehrten in Kontakt. Auch theoretische Abhandlungen entstanden. Doch fehlte die Möglichkeit zu experimenteller Arbeit. Daher folgte er gern einem Ruf an die Universität Marburg, der ihn 1851 überraschend traf. Bunsen, der nach Breslau ging, hatte ihn zu seinem Nachfolger vorgeschlagen. Als Professor, dem Habilitation und Dozentenzeit erspart blieben, übernahm K. das kleine, äußerst dürftig ausgestattete Marburger Institut, das er jedoch im Laufe der Jahre ausbauen konnte und an dem er als Forscher und Lehrer 14 Jahre lang außerordentlich erfolgreich wirkte. 1865 wurde er nach Leipzig berufen. Nach seinen Plänen wurde hier ein großzügig angelegtes Institut errichtet, das damals größte an einer deutschen Universität, dem er bis zum Tode vorstand.

    K.s Studienjahre fallen in eine Zeit heftiger Kämpfe um eine einheitliche Auffassung der noch jungen organischen Chemie. Als gesichert galt, daß die organischen Verbindungen dem Gesetz der konstanten Proportionen gehorchen, so daß empirische Formeln angebbar waren. Dagegen war ihre Konstitution umstritten. In Anlehnung an die von Berzelius entwickelte, für die anorganische Chemie so fruchtbare dualistische Vorstellung, die aussagte, daß jeder chemische Körper aus einem elektropositiven und einem elektronegativen Bestandteil aufgebaut sei, bildete sich die Theorie von den „zusammengesetzten Radikalen“ aus. Sie war dem elektrochemischen Grundgedanken angepaßt. Relativ festgefügten Atomkomplexen, die im Reaktionsgeschehen als Ganzes erhalten blieben, wurde die Rolle der anorganischen Elemente zugesprochen; Cyan, Benzoyl, Äthyl galten unter anderen als Beispiele. Im Zuge der experimentellen Erfahrung mehrfach modifiziert, rief diese dualistische Auffassung schließlich zu heftiger Kritik auf, als der französische Chemiker Dumas 1839 mit der Entdeckung hervortrat, daß der positive Wasserstoff im Methylradikal der Essigsäure durch das negative Chlor ersetzbar sei, ohne daß diese Substitution den Charakter der Ursprungssubstanz wesentlich änderte. „Unitarische Systeme“, die den organischen Substanzen nicht einen binären Aufbau abverlangten, wurden vor allem in Frankreich entwickelt (Dumas, Laurent, Gerhardt, Substitutions-, Kern-, Reste- und Typentheorie) und dem Dualismus entgegengestellt.

    Im Widerstreit der Meinungen entschied sich K., ein enthusiastischer Bewunderer von Berzelius, dessen hohe Anerkennung ihm während der Assistentenzeit zuteil geworden war, für die elektrochemische Theorie, und gerade die letzte Anstrengung Berzelius', die dualistische Lehre aufrechtzuerhalten, die „Paarlingstheorie“, wurde für K. die Ausgangsbasis eines Systems, das ihm die größten Erfolge bringen sollte. Um den Erscheinungen der Substitution Rechnung zu tragen, deutete Berzelius die Trichloressigsäure und auch die Essigsäure als „gepaarte Verbindungen“ der Oxalsäure mit den „Paarlingen“ C2Cl3 beziehungsweise C2H3. Die Paarlinge hielt|er für Körper anderer Art als die Radikale. Den Bestandteilen des ganzen Atomkomplexes wurden nun im Reaktionsgeschehen ungleichwertige Funktionen zugedacht, und Substitutionen im Paarling sollten den Charakter der Gesamtverbindung nur unwesentlich ändern. Der Formel der Essigsäure C2H3-C2O3-OH, also aufgeteilt in den Paarling Methyl und die damals als einbasisch aufgefaßte Oxalsäure (alte Schreibweise in Äquivalenten), entsprach die Formel der Trichloressigsäure C2Cl3-C2O3-OH. Der Substitution des Wasserstoffs durch Chlor im Paarung Methyl wurde von den Dualisten nur untergeordneter Einfluß beigemessen.

    So kurzlebig die Paarlingstheorie auch war, so fruchtbar wurde für K. der Gedanke einer Aufgliederung des Verbindungskomplexes. Schon im Rahmen seiner Doktorarbeit über das Thema Einwirkung von Chlor auf Schwefelkohlenstoff suchte er Berzelius' Konstitutionsidee zu stützen. Gleichzeitig fand er eine der ersten Synthesen eines organischen Körpers aus den Elementen. Die unter den Reaktionsprodukten auftretende Trichlormethansulfonsäure, die er bis zur Methansulfonsäure reduzierte, faßte er, ebenso wie die Reduktionsprodukte, als gepaarte Verbindung der Unterschwefelsäure auf. Er hob die Analogie zum Fall der Trichloressigsäure, deren Synthese aus den Elementen ihm gelungen war, im Verhältnis zu ihrem Reduktionsprodukt, der Essigsäure, hervor und machte überdies darauf aufmerksam, daß die Essigsäure, „bisher nur als Oxydationsprodukt organischer Materie bekannt“, auf diesem Wege „aus ihren Elementen fast unmittelbar zusammengesetzt werden kann“.

    Während seines Aufenthaltes in London fand K. in Playfairs Assistent, E. Frankland, einen ebenbürtigen Partner. K. war überzeugt, daß die Alkoholradikale als fertig vorgebildete Bestandteile in den Fettsäuren existieren. Diesem Nachweis galten Versuchsreihen, die die Nitrile der entsprechenden Radikale, unter anderem Cyanmethyl und Cyanäthyl, in die mit gleichem Kohlenstoffgehalt ausgestatteten Fettsäuren Essigsäure und Propionsäure überführten, ein Verfahren, das sich allgemein zur Synthese von Carbonsäuren eignete. Die Paarlingstheorie gewann weiter an Glaubwürdigkeit, als sich bei der Elektrolyse von fettsauren Salzen an der Anode Gase entwickelten, die K. für die aus dem Atomkomplex isolierten freien Radikale „Valyl“ beziehungsweise „Methyl“ hielt – sie wurden erst später als gesättigte Kohlenwasserstoffe C2H6 und so weiter erkannt –, und als auch Frankland in einem aus Zink und Äthyljodid erhaltenen Reaktionsprodukt das freie Äthyl vermutete.

    K. hat nach eigenen Worten sein „Streben nach dem Vorgange von Berzelius darauf gerichtet, … die Constitution der chemischen Verbindungen durch Ermittelung näherer Bestandteile, deren Zusammensetzungsweise und Funktionen, zu erforschen, und mit geistigem Auge einen Einblick in ihre rationelle Zusammensetzung zu gewinnen“. Diesem Vorsatz blieb er sein Leben lang treu. Da die Paarlingstheorie in ihrer bisherigen strengen Form sich nicht aufrechterhalten ließ, stellte K. in seiner Braunschweiger Zeit die abgewandelte Hypothese von den „gepaarten Radikalen“ auf. Literarische Beschäftigung mit dem Kakodyl, das er aufgrund des chemischen Verhaltens als (C2H3)2 As, ein mit Methyl gepaartes Arsen, interpretierte, legte den Gedanken nahe, „in der Essigsäure ein dem Kakodyl ähnlich constituiertes, gepaartes Kohlenstoffradikal anzunehmen von der Zusammensetzung (C2H3)C2. Der Bügel in der Formel sollte die Paarung symbolisieren. K. baute ein System auf, in dem das Doppelatom C2 – er unterschied begrifflich nicht zwischen Atom, Äquivalent und Molekül – mit Alkoholradikalen gepaart ist. Ameisensäure, HC2, O3-OH, und Essigsäure, (C2H3)C2, O3-OH, bildeten darin die ersten Glieder einer homologen Reihe. Die Vorzüge des Systems waren wesentlich. Der Paarung wurde dem Radikal einverleibt. Damit wurde die These von der Unveränderlichkeit der Radikale endgültig aufgegeben. Aber die dem Paarlingsgedanken entstammende Aufgliederung des Atomkomplexes in unterschiedliche Funktionsbereiche ging in die neue Hypothese als charakteristisches und wichtiges Merkmal über. Der Bestandteil C2 sollte „ausschließlich den Angriffspunkt für die Verwandtschaftskräfte des Sauerstoffs, Chlors und so weiter“ darbieten. Parallel dazu führte K. die Sulfonsäuren auf gepaarte Schwefelradikale (C2H3)S2, (C4H5)S2, … zurück, und er fand in den metallorganischen Verbindungen, die allenthalben entdeckt und von ihm nach dem Muster des Kakodyls als gepaarte Radikale von Sb, Sn und so weiter aufgefaßt wurden, eine Stütze seiner Ansichten.

    Mit dem Übergang an die Marburger Universität traten Unterrichtsverpflichtungen, Vorarbeiten für ein eigenes Lehrbuch und experimentelle Prüfung der theoretischen Spekulationen in den Vordergrund. Indessen zog Frankland aus dem Studium metallorganischer Verbindungen Schlüsse, die auch für K.s theoretische Ansichten folgenreich|waren. Durch das Hinzutreten eines Paarlings sollte ein Körper keine Änderung in seinem wesentlichen Charakter erfahren. Diese Forderung erfüllten die metallorganischen Verbindungen nicht. Die Aufnahmefähigkeit der Metalle gegenüber Sauerstoffäquivalenten wurde, wie Frankland nachwies, durch das Zutreten von Alkoholradikalen vermindert (Beispiele Kakodylsäure As (C2H3)2O3 gegenüber AsO5). Er kam zu einer neuen Auffassung dieser Körperklasse, die Zweifel an der elektrochemischen Theorie nach sich zog. „Selbst einem oberflächlichen Beobachter“ muß auffallen, daß im Bereich der anorganischen Verbindungen eine „Symmetrie der Formeln“ besteht. So bilden Stickstoff, Phosphor, Arsen, Antimon Verbindungen nach den Äquivalenzverhältnissen 1 : 3 (zum Beispiel NO3, NH3, NJ3; PO3, PH3, PCl3) und 1 : 5 (zum Beispiel NO5, NH4O, NH4J; PO5, PH4J). Die Befriedigung der Affinität geschieht also stets durch dieselbe Zahl zutretender Atome. Sie hängt aber nicht von deren chemischem Charakter (ob positiv oder negativ) ab. Frankland nimmt die metallhaltigen organischen Verbindungen „aus der Klasse der organischen Radicale heraus“. In einer Art typischer Auffassung betrachtet er die Sauerstoff-, Schwefel- und Halogenverbindungen der Metalle als „Molekulartypen“, aus denen er die metallorganischen Verbindungen durch Substitution ableitet, indem er unter anderem AsS2 und As (C2H3)2, SbO3 und Sb (C4H5)3, SbO5 und Sb (C4H5)3O2 und so weiter einander gegenüberstellt.

    Durch diese auch für die Valenztheorie bedeutsamen Überlegungen wurde K., der mit Frankland in engem Kontakt stand, angeregt, auch für die organische Chemie ein System zu erdenken, das in Verzicht auf die gepaarten Radikale und analog der Rückführung der metallorganischen Verbindungen auf anorganische Typen sich auf Substitutionen gründete. Als „natürlicher“ Weg bot sich an, die organischen Substanzen vor allem aus der Kohlensäure durch einfache Substitutionsprozesse abzuleiten, eine Idee, die in der um die gleiche Zeit entdeckten Synthese der Propionsäure aus Äthylnatrium und Kohlensäure (Wanklyn 1858) eine Stütze fand. Eine auf theoretische Erwägungen und Experimentalarbeiten gegründete Zusammenfassung „über den natürlichen Zusammenhang der organischen und unorganischen Verbindungen“ erschien 1860 in den Annalen. Nach einem übersichtlichen Substitutionsverfahren werden die Sauerstoffatome (Sauerstoffäquivalente) der Kohlensäure C2O4, oder in weiterer Aufgliederung als (C2O2)O2 mit zwei intraradikalen und zwei extraradikalen Sauerstoffatomen formuliert, schrittweise durch Wasserstoffatome oder Alkoholradikale ersetzt, wodurch die grundlegenden organischen Körper entstehen. Ersatz eines Sauerstoffatoms liefert die einbasischen fetten und aromatischen Säuren, Ersatz auch des zweiten führt je nach Substituenten zu Aldehyden oder Acetonen. Mit dem dritten Schritt gelangt man zu Alkoholen, mit dem vierten zu Kohlenwasserstoffen. Die Zusammenstellung der Formeln HO-(C2H3) (C2O2) O (Essigsäure), (C2H3, H) (C2O2) (Aldehyd) und HO-(C2H3, H2) C2O (Alkohol) läßt die Oxidationsstufen deutlich erkennen. Das scheinbar willkürliche Zufügen von HO-Gruppen, aus der dualistischen Theorie übernommen, hängt mit der Anzahl der außerhalb des Radikals stehenden Sauerstoffatome zusammen. K. sagt die Existenz der sekundären und tertiären Alkohole voraus, indem er die „selbständigen“ Wasserstoffatome im Alkohol durch Methyl, Äthyl und so weiter substituiert, und er erklärt das Aceton als Oxidationsprodukt der sekundären Alkohole. Das Äthylen und verwandte Verbindungen leitet er vom Kohlenoxid ab, und er weist auf die diesen Körpern gemeinsame Additionsfreudigkeit hin. Auf eine Behandlung der mehrbasischen Säuren, die er auf eine entsprechende Anzahl von Kohlensäureatomen (Molekülen) zurückführt, folgen die „von unorganischen Schwefelverbindungen derivierenden organischen Körper“ und schließlich die Abkömmlinge der Elemente der Stickstoffgruppe.

    Waren auch in K.s System wichtige Standpunkte der Berzelius’schen Lehre aufgegeben, so war doch in Anlehnung an die Paarlingstheorie das besondere Merkmal der gegliederten Konstitutionsformel und damit die Möglichkeit beibehalten, chemischen Veränderungen innerhalb des Moleküls einen Platz zuzuweisen. Schon 1853/54 hatte er die Benzaminsäure als eine im Radikal der Benzoësäure substituierte Amidosäure gedeutet, die sich in die erst später als Salicylsäure erkannte Oxybenzoësäure umwandeln ließ. Jetzt setzte er die Reihe Propionsäure, Alanin, Milchsäure mit anderen Reihen, zum Beispiel mit Essigsäure, Glykokoll, Glykolsäure und mit Bernsteinsäure, Asparaginsäure, Äpfelsäure in Parallele, wobei er in allen Fällen vergleichbare Substitutionen in Alkoholradikalen annahm. Unter den Abkömmlingen der Schwefelsäure klärte er unter anderem die Beziehung des Taurins und der Isäthionsäure zur Äthylschwefelsäure auf. Ein Triumph seiner Theorie war die Entdeckung der prognostizierten sekundären und tertiären Alkohole (1862, Ch. Friedel, beziehungsweise 1864, A. Butlerow).

    K. siedelte 1865 nach Leipzig über, wo er nach Fertigstellung des neuen Institutes wieder eigene Laboratoriumsarbeiten aufnahm. Bei den Bemühungen, Nitroessigsäure herzustellen, entdeckte er das Nitromethan, das einfachste Glied der Nitroparaffine. Über mehrere Jahre beschäftigte ihn die Salicylsäure. Ihm gelang eine für industrielle Herstellung geeignete Synthese aus Phenolnatrium und Kohlensäure (1874), ein wesentlich vereinfachtes Verfahren gegenüber früheren Versuchen, die auf der Gegenwart von Alkalimetall beruhten. Die durch die Firma von Heyden in Radebeul aufgenommene Fabrikation der Salicylsäure wurde ein wirtschaftlicher Erfolg. An Versuchen über deren gärungs- und fäulnishemmende Wirkung war K. selbst beteiligt. Seine letzte Experimentaluntersuchung „zur Ermittlung der chemischen Constitution des Isatins“ kam nicht mehr zur Vollendung. K. bildete eine Schar von Mitarbeitern aus, unter ihnen P. Griess, Fr. Guthrie, E. Lautemann, Rudolf Schmitt, W. Kalle, J. Volhard, E. Drechsel, A. Saytzeff, N. Menschutkin, G. von Hüfner, H. E. Armstrong, A. Weddige, E. von Meyer, E. Beckmann, H. Ost.

    K.s System der organischen Chemie fand um die Zeit seiner Entstehung verdiente Anerkennung. Die Fesseln der dualistischen Radikaltheorie waren gelockert, dabei aber war das von Berzelius gesteckte Ziel, den inneren Aufbau der Verbindungen zu erforschen, mit großem Erfolg weiterverfolgt. Durch Konstitutionsbestimmungen, Hinweise auf konstitutionsbedingte Verwandtschaftsbeziehungen und durch Voraussage noch unbekannter Körper wirkte K. in weiten Fachkreisen belehrend und anregend. Doch brachten ihm die späteren Lebensjahre Vereinsamung und Enttäuschungen, die nicht zuletzt charakterlich bedingt waren. In starrer konservativer Haltung, die er als Sendeverpflichtung gegenüber seinen Vorbildern, namentlich Berzelius, auslegte, und überzeugt von der Gültigkeit und ausschließlichen Berechtigung seiner Ideen, sagte K. allen Andersdenkenden erbitterte Fehde an. Vor allem richtete sich sein Haß gegen die Gerhardtsche Typentheorie, diesen „Ausfluß des französischen Geistes“. In deren Klassifizierungsprinzip einzudringen war er nicht willens, und ebenso lehnte er die sich in den Anfängen der 60er Jahre daraus mächtig entwickelnde Strukturchemie als „papierne Chemie“ ab. Zielscheibe ständiger Angriffe war deren Verkünder Kekulé, der „auf die junge Generation den allerverderblichsten Einfluß“ ausübe. Indem K. die Strukturformeln als „chimärische Vorstellungen“ verwarf, mit ihnen die Theorie der Kettenbildung und die so erfolgreiche Benzoltheorie Kekulés – eine eigene Auffassung der Benzolkonstitution als Trimethincarbinol fand keine Resonanz –, verlor er den Kontakt zur jungen Chemikergeneration, die sich mit den neuen Darstellungsmethoden der Strukturchemie besser zurechtfand als mit K.s mühsam übersehbaren Formeln (Lothar Meyer). Dem Kongreß in Karlsruhe (1860), der die Festlegung der Begriffe Atom, Molekül, Äquivalent und eine Einigung über die chemische Zeichensprache zum Ziel hatte, blieb er fern. Erst 1870 schloß er sich notgedrungen der neuen Symbolik an. Das „Journal für praktische Chemie“, dessen einziger Redakteur er nach O. L. Erdmanns Tod (1869) wurde, benutzte er zu maßlos polemischen Ausfällen. Zu seiner Erbitterung fanden sie oft nur geringe oder gar keine Erwiderung. Bereits 1861 hatte der junge Kekulé jede kritische Auseinandersetzung mit K. abgelehnt. Ähnlich verfuhr 1877 der 25jährige van't Hoff, dessen Schrift „Die Lagerung der Atome im Raum“ nach K.s Urteil „aus der die Verirrungen des menschlichen Geistes beherbergenden Rumpelkammer“ stammte. Auch als K. 1881 für Frankland und sich Prioritätsansprüche in bezug auf die Valenztheorie stellte, brachte Kekulé, dem dieser Angriff galt, auf dringende Bitten Volhards, damals Redakteur der Annalen, eine auf begriffliche und chronologische Beweisführung gegründete Richtigstellung um des Friedens willen nicht zum Druck. Sie wurde erst 50 Jahre später durch R. Anschütz der Öffentlichkeit zugänglich. Vergeblich bemühten sich wohlmeinende Freunde und Kollegen, unter ihnen sein Schüler und Vertrauter Volhard, auch Lothar Meyer, Kopp, Frankland, K. die Sinnlosigkeit seiner weder sachlich noch moralisch berechtigten Angriffe klarzumachen und ihn zu überzeugen, daß er zur Vorbereitung und zum Ausbau der so erfolgreichen Strukturchemie selbst wesentlich beigetragen habe. Obwohl er scharfe Zurechtweisungen (Volhard) und „Glaubensbekenntnisse zur Strukturchemie“ (Frankland, 1883) hinnehmen mußte, wurde er nicht müde, sein Journal bis in sein Todesjahr mit Artikelfolgen „Blumenlese modern-chemischer Aussprüche“, „Kritisch-chemische Gänge“ und Ähnliches (unter anderem auch gegen A. Baeyer und Emil Fischer gerichtet) zu versehen.

    Die Entwicklung der Chemie ging über K.s Proteste hinweg. Zu Beginn der 80er Jahre war die Untersuchung komplizierter organischer Körper, unter anderem der mehrgliedrigen Ringsysteme und der heterocyclischen Verbindungen, mit den Mitteln der Strukturchemie|in vollem Gange, und die von K. abgelehnte Molekularphysik (kinetische Gastheorie, Clausius, Maxwell und andere) wurde längst in die Modellvorstellungen der Chemiker einbezogen. Nach K.s unerwartetem Tod (Herzschlag) versuchten seine Schüler, das Verhalten ihres Lehrers, der ihnen stets ein väterlicher Freund gewesen war, zu rechtfertigen (E. von Meyer), während die große Schar der von der Kritik Betroffenen mit kühler Zurückhaltung den Verlust eines hervorragenden, aber ihnen fremd gewordenen Vertreters ihrer Wissenschaft bedauerten (A. W. Hofmann).|

  • Auszeichnungen

    Geh. Hofrat;
    Dr. med. h. c. (Tübingen 1877);
    Mitgl. bzw. Ehrenmitgl. mehrerer gel. Ges., u. a. d. Sächs. Ges. d. Wiss., d. Univ. Kasan u. Kiew, d. Edinburgh Royal Society, Maximiliansorden f. Kunst u. Wiss. (1872);
    Davymedaille (v. d. London Royal Society).

  • Werke

    Btrr. z. Kenntniß d. gepaarten Verbindungen, in: Ann. d. Chemie u. Pharmacie 54, 1845, S. 145-88;
    Über d. Zersetzungsproducte d. Cyanäthyls durch Einwirkung v. Kalium, ebd. 65, 1848, S. 269-87 (mit E. Frankland);
    Über d. chem. Constitution d. Säuren d. Reihe (C2H2)nO⁴ u. d. unter d. Namen Nitrile bekannten Verbindungen, ebd., S. 288-304 (mit dems.);
    Unterss. üb. d. Elektrolyse organ. Verbindungen, ebd. 69, 1849, S. 257-94;
    Über d. chem. Constitution u. Natur d. organ. Radicale, ebd. 75, 1850, S. 211-39, u. 76, 1850, S. 1-73;
    Über d. rationelle Zusammensetzung d. fetten u. aromat. Säuren, Aldehyde, Acetone u.s.w. u. ihre Beziehungen z. Kohlensäure, ebd. 101, 1857, S. 257-65;
    Über d. Constitution d. Milchsäure, ebd. 109, 1859, S. 257-68;
    Über d. natürl. Zusammenhang d. organ. mit d. unorgan. Verbindungen, d. wiss. Grundlage zu e. naturgemäßen Classification d. organ. chem. Körper, ebd. 113, 1860, S. 293-332 (wieder in: Ostwalds Klassiker d. exakten Wiss. 92, 1897);
    Über d. Constitution u. Basicität d. Salicylsäure, ebd. 115, 1860, S. 157-206 (mit E. Lautemann);
    Über d. chem. Constitution u. künstl. Bildung d. Taurins, ebd. 122, 1862, S. 33-47;
    Über d. secundären Alkohole, ebd. 132, 1864, S. 102-17;
    Über d. Structurformeln u. d. Lehre v. d. Bindung d. Atome, in: Journal f. prakt. Chemie 111 (NF 3), 1871, S. 127-36;
    Moden d. modernen Chemie, ebd. 112 (NF 4), 1871, S. 241-71;
    Über e. neue Darst.methode u. einige bemerkenswerthe Eigenschaften d. Salicylsäure, ebd. 118 (NF 10), 1874, S. 89-112;
    Über d. chem. Natur d. Salicylsäure, ebd. 120 (NF 12), 1875, S. 151-57;
    Kritik d. Rectoratsrede v. Aug. Kekulé: „Über d. wiss. Ziele u. Leistungen d. Chemie“, ebd. 125 (NF 17), 1878, S. 139-63;
    Meine Betheiligung an d. Entwickelung d. theoret. Chemie I-IV, ebd. 131 (NF 23) u. 132 (NF 24), 1881;
    Formeln, chem., in: Hdwb. d. reinen u. angew. Chemie, hrsg. v. J. Liebig, J. C. Poggendorff u. F. Wöhler, III, S. 174-78;
    Gepaarte Verbindungen, ebd., S. 439-44;
    Kakodyl, ebd. IV, S. 218-45;
    Acethyl, ebd., Suppl.bd., S. 6-23;
    Ausführl. Lehrb. d. organ. Chemie I, 1854, II, 1860, III, 1, bearb. v. E. v. Meyer u. A. Weddige, 1878, III, 2, bearb. v. H. v. Fehling, 1869 (= Graham-Otto's ausführl. Lehrb. d. Chemie, ³III-V), 2. Aufl. bearb. v. H. v. Meyer, I, 1880, II, 1884;
    Das chem. Laboratorium d. Univ. Marburg u. d. seit 1859 darin ausgeführten chem. Unterss. …, 1865;
    Das chem. Laboratorium d. Univ. Leipzig u. d. seit 1866 darin ausgeführten Unterss., 1872;
    Kurzes Lehrb. d. Chemie, 1. T.: Anorg. Chemie, 1877, 2. T.: Organ. Chemie, 1883. -
    Redaktion: Hdwb. d. reinen u. angew. Chemie III-VI u. Suppl.bd., 1848–54, VII u. VIII (mit H. v. Fehling), 1859/61.

  • Literatur

    ADB 51;
    E. v. Meyer (Schwieger-S), zur Erinnerung an H. K., in: Journal f. prakt. Chemie 138 (NF 30), 1884, S. 416-66 (P);
    A. W. Hofmann, in: Berr. d. Dt. Chem. Ges. 17, 1884, S. 2809-12;
    Chemiker-Ztg. 8, 1884, S. 1725 f.;
    Journal of the Chemical Society London 47, 1885, S. 323-27;
    A. Kekulé, Zur Gesch. d. Benzoltheorie, Zur Gesch. d. Valenztheorie, in: R. Anschütz, Aug. Kekulé, I: Leben u. Wirken, 1929, S. 540-69;
    ders., Cassierte Kap. aus d. Abh.: Über d. Carboxytartronsäure u. d. Constitution d. Benzols, 1965;
    G. Lockemann, in: G. Bugge, Das Buch d. gr. Chemiker II, 1930, S. 124-35 (L, P);
    W. Strube, in: Bedeutende Gel. in Leipzig II, 1965, S. 25-35 (W, L, P);
    H. M. Leicester, in: Dict. of Scientific Biogr. VII, 1973, S. 450-53 (W, L);
    Pogg. I, III, IV, VI. |

  • Quellen

    Qu.: München, Dt. Mus. (Urkk., Briefe, P). - Zu S Karl: Zs. f. angew. Chemie 22, 1909, S. 2272; - zu N H. Ost: F. Quincke, in: Zs. f. angew. Chemie 44, 1931, S. 557; G. Keppeler, in: Chemiker-Ztg. 55, 1931, S. 517; Pogg. III-VII a.

  • Autor/in

    Grete Ronge
  • Zitierweise

    Ronge, Grete, "Kolbe, Hermann" in: Neue Deutsche Biographie 12 (1980), S. 446-451 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119151375.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Kolbe: Hermann K. In dem genialen und verdienstvollen Chemiker Hermann K. erblicken wir einen der hervorragendsten Vertreter der Gelehrtenwelt, dessen Leben fast lediglich seiner Wissenschaft gewidmet war und im wesentlichen aus unermüdlichem Streben nach der Erkenntniß des wahren inneren Zusammenhangs chemischer Vorgänge und aus oftmals harten Kämpfen um einzelne Fragen auf verschiedenen chemischen Gebieten bestand. — Er zählt nicht zu denen, welche von Anfang an zum Studium naturwissenschaftlicher Disciplinen prädestinirt erschienen, es war vielmehr eine Combination von Zufälligkeiten, welche die in ihm schlummernde Begabung und das Interesse für jene Wissenschaft erweckten, in der er später Großes und Unvergängliches leisten sollte.

    Hermann K. wurde am 27. September 1818 zu Elliehausen bei Göttingen geboren, woselbst sein Vater Karl K. die Stellung eines Landgeistlichen bekleidete. Die Mutter Kolbe's war eine Tochter des Göttinger Professors der Anatomie Hempel. In ländlicher Einfachheit wuchs der Knabe auf; seinen ersten Unterricht leitete der Vater, dessen Amts- und Wohnsitz im J. 1826 nach Stöckheim in Hannover verlegt worden war. Im vierzehnten Lebensjahre verließ Hermann das Elternhaus, um das Gymnasium in Göttingen zu besuchen. Als Primaner, im J. 1837, machte er die Bekanntschaft eines Mitschülers namens v. Knesebeck, welche für seine zukünftige Berufswahl von schwerwiegender Bedeutung werden sollte. Der junge v. Knesebeck besaß als Gymnasiast tüchtige naturwissenschaftliche, besonders chemische Kenntnisse, die er dem Verkehr mit dem damaligen Göttinger Privatdocenten Robert Bunsen verdankte, und von denen er seinem Freund K. mittheilte, indem er letzteren mit chemischen Erscheinungen und einzelnen Vorgängen bekannt machte. K. bemerkt in einer späteren persönlichen Aufzeichnung selbst: „Durch v. Knesebeck wurde ich zunächst mit chemischen Vorgängen und Erscheinungen bekannt gemacht, von deren Existenz, wie überhaupt von der Chemie, ich bisher keine Ahnung hatte“. An anderer Stelle betont K., daß die Bekanntschaft mit v. Knesebeck für die Wahl seines Berufes entscheidend gewesen sei; und bereits im April 1838, nach bestandener Maturitätsprüfung, bezog K. als stud. chemiae die Universität Göttingen, um daselbst unter Wöhler's anregender Leitung seine Studien zu beginnen. Das erste Ergebniß der praktisch chemischen Thätigkeit des jungen K. war ein in Liebig's Annalen (Bd. 41) erschienener Aufsatz: „Ueber die Zusammensetzung des Getreidefuselöles“, in welchem er einige bis dahin übersehene Bestandtheile dieses Abfallproductes nachwies. — Aus jener Zeit erzählte K. gern von dem Einfluß, den Wöhler als Lehrer auf ihn ausgeübt und ihn auch dazu angehalten hatte, die im Laboratorium gemachten|Beobachtungen in kurzer, fachgemäßer Form schriftlich darzustellen. Für den erzieherischen Einfluß, den Wöhler hier wie auch im praktischen Unterrichte ausübte, ist K. ihm stets dankbar gewesen. Betreffs seines Stiles — welcher anfangs etwas breit und umständlich gewesen sein soll — schreibt K. zu jener Zeit seinem Vater: „Ich habe mir Bunsen zum Vorbild genommen, der von den deutschen Chemikern anerkannt am besten schreibt“. Robert Bunsen hatte inzwischen in richtiger Erkenntniß der Begabung und Leistungsfähigkeit Kolbe's denselben zu seinem Assistenten erwählt und war im Herbste 1843 mit ihm nach Marburg übergesiedelt. Hier erlangte K. die philosophische Doctorwürde auf Grund einer Dissertation: „Ueber die Producte der Einwirkung des Chlors auf Schwefelkohlenstoff“. Diese Arbeit bildet den Ausgangspunkt für zahlreiche werthvolle Beobachtungen Kolbe's, sie führte zur Entdeckung des Chlorkohlensulfids und zur Kenntniß der Bildung von Tetrachlormethan. Die Resultate dieser Arbeit, welche bereits die Aufmerksamkeit der Fachgenossen auf den jungen Forscher gelenkt hatte, sind gesichtet und ergänzt in Liebig's Annalen Bd. 45 und unter dem Titel „Beiträge zur Kenntniß der gepaarten Verbindungen“ erweitert in Liebig's Annalen Bd. 54 niedergelegt. Eins der Ergebnisse dieser Untersuchungen war auch die Synthese der Essigsäure. K. hatte die Trichlormethylsulfonsäure (damals von ihm Chlorkohlen-Unterschwefelsäure benannt) aufgefunden und deren Analogie mit der Trichloressigsäure erkannt. Er stellte die letztere synthetisch dar durch Einwirkung von Chlor auf Kohlenstoffchlorid und Wasser im Sonnenlicht. Durch Reduction der so erhaltenen Chloressigsäure gelangte er zur Essigsäure. Die Schranke zwischen anorganischer und organischer Chemie war ja bereits mit der Wöhler’schen Harnstoffsynthese gefallen, allein seither war keine Synthese von gleicher Einfachheit und Eleganz ausgeführt worden.

    E. v. Meyer sagt in seiner Schrift „Zur Erinnerung an Hermann Kolbe“ (Journal f. prakt. Chemie [2], Bd. 30 [1884], S. 417 ff.): „Man geht nicht fehl, wenn man behauptet, daß in dieser Abhandlung Kolbe's die Keime seiner späteren Auffassung der Carbon- und Sulfonsäure enthalten sind. Die Annahme, daß 'Methyl' (CH₃) in der Essigsäure sowie in der 'Methyl-Unterschwefelsäure' (s. o.) als Paarling fungire, war der erste Schritt zu der so wichtigen Erkenntniß von der Rolle, welche Methyl und andere Radicale in den organischen Säuren spielen.“ Somit kann die erste größere Untersuchung Kolbe's mit Recht als grundlegend bezeichnet werden, — sie legt außerdem Zeugniß ab für Kolbe's selbständige Denkungsweise und außerordentlich scharfe Beobachtungsgabe. —

    Die in Marburg verlebten drei Jahre sind für K. stets Gegenstand angenehmer Erinnerung geblieben. Als Assistent Bunsen's war seine Thätigkeit eine sehr anregende und vielseitige, aber auch anstrengende, sodaß es der großen Arbeitskraft und dem unermüdlichen Fleiß des jungen Gelehrten zuzuschreiben ist, daß er noch Muße fand, Mulder's Physiologische Chemie aus dem Holländischen ins Deutsche zu übertragen.

    Die Zeit von 1845 bis Anfang 1847 verlebte K. in London, wohin er auf Veranlassung Bunsen's als Assistent Lyon Playfair's gegangen war. Nachdem er in Playfair's Laboratorium zunächst eine Reihe gasometrischer Untersuchungen vorgenommen hatte, begann er seine unvergeßlichen Arbeiten über die Wirkungen des galvanischen Stromes auf organische Verbindungen. Diese Untersuchungen, welche K. zum größten Theil gemeinsam mit E. Frankland ausführte, wurden in der Absicht unternommen, durch die Einwirkung der Elektricität die Radicale, welche die organischen Verbindungen zusammensetzen, zu isoliren, — Hoffnungen, welche sich zum Theil verwirklichten. K. war in|London außer mit Graham und Faraday mit E. Frankland in Berührung gekommen, und namentlich die sich innig gestaltenden Beziehungen zu letzterem sind für die Wissenschaft sehr ersprießlich geworden. Die obengenannten Arbeiten, welche die beiden Forscher gemeinsam in London begonnen hatten, wurden in Marburg, in Bunsen's Laboratorium, zum Abschluß gebracht, wohin E. Frankland seinem Freund und Mitarbeiter im Frühjahr 1847 gefolgt war. Mit den Arbeiten über das elektrolytische Verhalten organischer Verbindungen in engem, geistigem Zusammenhange steht die ebenfalls von beiden Gelehrten gemeinsam gemachte Beobachtung der Ueberführbarkeit der sog. Nitrile in Carbonsäuren (Annalen d. Chemie u. Pharmacie, Bd. 65, S. 288). Die Nitrile (Cyanide) liefern beim Erhitzen mit Kalilauge unter Austritt von Ammoniak die Kaliumsalze von Carbonsäuren mit gleichem Kohlenstoffgehalt. Da nun z. B. aus dem Methylcyanid durch Einwirkung von Alkali Kaliumacetat erhalten wurde, war der Beweis für das Vorhandensein des Radicals Methyl in der Essigsäure erbracht. Diese Synthese sowie die ebenfalls mit Frankland ausgeführte Darstellung von Propionsäure aus Cyanäthyl zeigten zuerst den Weg, wie man, von einem Alkohol ausgehend, zu der Säure der benachbarten, nächst höheren homologen Reihe zu gelangen hatte, ein Weg, der nachdem unzählige Male zu ähnlichen Endzwecken beschritten wurde. Mehrere später durchgeführte Synthesen sind eigentlich nur glückliche Ausbeutungen dieser Methode. K. selbst betrat den gleichen Weg bei der gemeinsam mit Hugo Müller aus Essigsäure dargestellten Malonsäure. —

    K. und Frankland erblickten in dieser neu entdeckten Bildungsweise eine Stütze für ihre damalige Annahme, daß die Fettsäuren „mit Radicalen gepaarte Oxalsäuren" seien. — Wie schon angedeutet, wurden die Arbeiten Kolbe's: „Ueber Elektrolyse organischer Verbindungen" (Annalen d. Chem. u. Pharm., Bd. 69, S. 252), sowie seine mit Frankland gemeinsam veröffentlichte Untersuchung: „Ueber die Zersetzungsproducte des Cyanäthyls durch Einwirkung von Kalium“ (Annalen d. Chem. u. Pharm., Bd. 65) durch die Hoffnung angeregt, aus den Säuren resp. Cyaniden die in diesen Verbindungen enthaltenen Radicale abzuscheiden, ähnlich wie dies Bunsen mit dem Kakodyl gelungen war. Bei Gelegenheit der letztgenannten Untersuchung, deren Ziel die Isolirung des Radicals „Aethyl“ war, wurde ein Gas erhalten von der gleichen Zusammensetzung wie Methyl; das Aethyl wurde auf diesem Wege nicht erhalten. Dagegen erhielt K. bei elektrolytischer Zersetzung einer Lösung von Kaliumacetat das „Methyl“ (Aethan) neben Kohlensäure und zog folgerecht hieraus den Schluß, daß das Methyl ein näherer Bestandtheil der Essigsäure sei. Wenn wir heute auch wissen, daß dieses Methyl nicht das freie Radical „CH₃“, sondern ein gesättigter Kohlenwasserstoff „C₂H₆“, „Aethan“, ist, so ist doch der von K. aus der nicht völlig richtig angenommenen Zusammensetzung der Essigsäure als mit Methyl gepaarte Oxalsäure gezogene Schluß, das Methyl sei ein Radical der Essigsäure, nichtsdestoweniger vollkommen zutreffend. — Auf diese kurze, kaum ein Jahr währende Periode fruchtbringenden experimentellen Schaffens folgte für K. eine Zeit rein litterarischer Arbeit. Einem Anerbieten der berühmten Verlagsfirma Vieweg & Sohn folgend, siedelte er nach Braunschweig über, um dort die Redaction des von Liebig und Wöhler begründeten Handwörterbuchs der Chemie zu übernehmen. Seine Braunschweiger Thätigkeit brachte K. in Beziehung zu fast allen namhaften Fachgenossen; auch sind innerhalb dieser Zeit manche theoretische Abhandlungen entstanden, unter denen der Aufsatz „Ueber die chemische Constitution und Natur der organischen Radicale“ (Liebig's Annalen, Bd. 75 u. 76) besonders hervorzuheben ist. Naturgemäß konnte einen Mann wie K., welcher|sich der experimentellen Forschung mit Begeisterung hingegeben und deren Wichtigkeit stets hervorgehoben hat, eine ausschließlich litterarische Thätigkeit auf die Dauer nicht befriedigen. Um so willkommener wird es ihm gewesen sein, als er im J. 1851 an die Universität Marburg berufen und zum ordentlichen Professor der Chemie, zum Nachfolger Bunsen's, der damals nach Breslau ging, ernannt wurde. K. war solchergestalt ordentlicher Professor geworden, ohne je die Laufbahn eines Privatdocenten beschritten zu haben. Seine neue Position versetzte ihn in die Lage, sich wieder experimentellen Forschungen im Laboratorium hingeben zu können. Die Erwartungen, welche die Universität bezüglich der Leistungen Kolbe's gehegt hatte, sind in überreichem Maße in Erfüllung gegangen, denn diese zweite Marburger Epoche war die fruchtbarste im Leben des Gelehrten. Der ersten Zeit dieser Epoche entstammen keine größeren Experimentaluntersuchungen, da Lehr- und Amtsthätigkeit den neu berufenen Professor stark in Anspruch nahmen; hingegen liegen litterarische Arbeiten aus jener Zeit vor. K. beschäftigte sich damals bereits mit Vorbereitungen für ein ausführliches Lehrbuch der organischen Chemie und war auch speculativ sehr thätig. Viele seiner später in praxi verwirklichten Ideen stammen aus dieser Zeit, viele in gemeinschaftlichem Arbeiten mit Frankland, mit dem K., obwohl seit Ende 1847 getrennt, doch in regem und innigen Wechselverkehr geblieben war. Die wichtigste theoretische Veröffentlichung aus jener Epoche ist der Aufsatz „Zur Entwicklungsgeschichte der theoretischen Chemie“, welcher die Entstehung und die Läuterung seiner Ansichten über die Constitution organischer Verbindungen schildert. Dieser Aufsatz ist im Journal für praktische Chemie in vier Abtheilungen (Bd. 23 u. 24) und außerdem als Monographie (Leipzig, J. A. Barth) erschienen. K., welcher sein besonderes Augenmerk von jeher den organischen Säuren zugewandt hatte, erkannte mit sicherem Blick die Analogie zwischen Carbon- und Sulfonsäuren, wenn ihn auch die Deutung derselben als mit organischen Radicalen gepaarte Oxal- resp. Unterschwefelsäuren bald nicht mehr befriedigte. In seinen „Formeln“ und „Gepaarte Verbindungen“ betitelten Aufsätzen im Handwörterbuch der Chemie, III. Bd., S. 177 u. 422 (1848) findet sich zuerst die Idee ausgesprochen, daß die Fettsäuren Sauerstoffverbindungen der mit dem Doppeläquivalent Kohlenstoff C₂ verbundenen Radicale Methyl, Aethyl etc. seien, und daß das Glied C₂ ausschließlich den Angriffspunkt der Verwandtschaft für Sauerstoff bilde, die Radicale quasi nur Anhängsel hieran vorstellten. Letztere Idee wird durch den Hinweis begründet, daß es für die Natur der Fettsäuren nicht wesentlich sei, ob Methyl oder ein homologes Radical mit dem Doppeläquivalent C₂ gepaart sind. Im Gegensatz zu Berzelius macht K. zwischen Paarlingen und Radicalen keinen Unterschied, er gibt vielmehr die Substituirbarkeit des elektropositiven Wasserstoffs durch elektronegative Elemente oder zusammengesetzte Radicale zu. Seine Ansichten über die chemische Constitution und Natur der organischen Radicale führt K. in einem ebenso betitelten Aufsatze näher aus (Annalen d. Chem. u. Pharm., Bd. 75, S. 211 u. Bd. 76, S. 1) und zeigt in seinen Darlegungen, wie weit er in der Erkenntniß der chemischen Constitution organischer Verbindungen den meisten seiner Zeitgenossen vorausgeeilt war. Man braucht in seinen Formeln nur die Aequivalente C, O und S durch die Atomzeichen zu ersetzen, um die heute üblichen Formeln zu erhalten. K. gestaltete in dieser Abhandlung die ältere Radicaltheorie, welche sich bereits in Widerspruch mit den Thatsachen gesetzt hatte, zu einer lebensfähigen Lehre um, die ihm bei seinen ferneren speculativen und experimentellen Forschungen als Führerin gedient hat. Ueber diesen Umwandlungsproceß hat sich K. in der Einleitung zu der Schrift „Das chemische Laboratorium der Universität Marburg|und die seit 1859 darin ausgeführten Untersuchungen“ (erschienen 1865 bei Vieweg in Braunschweig) bestimmt und zusammenfassend ausgesprochen. (Eine übersichtliche Zusammenstellung der in obengenannter Schrift ausgesprochenen Ansichten Kolbe's befindet sich in E. v. Meyer's Aufsatz „Zur Erinnerung an Hermann Kolbe [Journal f. praktische Chemie, Bd. 30, 1884, S. 432]). Aus den Ideen dieser grundlegenden Arbeit haben sich die Theorieen entwickelt, welche in einer Abhandlung vom Jahre 1859 zusammengefaßt sind. Die allmähliche Entstehung der fundamentalen Auffassung, daß die organischen Verbindungen Abkömmlinge der anorganischen sind, hat K. in obengenannter Einleitung sowie in der Schrift „Zur Entwicklungsgeschichte der theoretischen Chemie“ deutlich geschildert und dabei stets das Verdienst Frankland's rückhaltlos anerkannt und hervorgehoben sowie eigene Schwächen eingestanden. E. v. Meyer citirt in seiner Schrift „Zur Erinnerung an H. Kolbe“ aus obiger Abhandlung u. a. Folgendes: „Eine große Schwäche jener Hypothese der gepaarten Radicale bestand in der unklaren Vorstellung von der chemischen Verbindungsweise der sog. Paarlinge. Es ist Frankland's Verdienst, hierüber zuerst Licht verbreitet und damit zugleich den Begriff des Paarlings ganz beseitigt zu haben, indem er erkannte, daß den einzelnen Elementen bestimmte Sättigungscapacitäten zukommen“. Weiterhin betont K. das Verdienst Frankland's um die Erkenntniß der Valenz bei seinen Beobachtungen über metallorganische Verbindungen: „Frankland folgerte aus seinen Beobachtungen, daß die Affinität eines Elementes stets durch dieselbe Zahl der zutretenden Atome (einatomiger Radicale) ohne Rücksicht auf den chemischen Charakter der letzteren befriedigt wird“.

    Die Beziehungen der organischen zu den anorganischen Verbindungen bildeten für längere Zeit das Ziel gemeinsamer Thätigkeit Kolbe's und Frankland's. Die Früchte dieser Arbeiten sind in verschiedenen Publicationen niedergelegt; eine größere Abhandlung erschien in Liebig's Annalen, Bd. 113. Von besonderem Interesse ist Kolbe's Aeußerung (in der obenerwähnten Einleitung), durch welche klar wird, wie er zu seinen Ansichten über Radicale und über die Sättigungscapacität der Elemente gelangte, und in welcher auch das von ihm und Frankland entworfene Programm ihrer Arbeiten enthalten ist. „Wir theilten die Ueberzeugung, daß ähnlich, wie die Kakodylsäure als Arsensäure aufzufassen ist, worin 2 Atome Methyl die Stelle von 2 Atomen Sauerstoff einnehmen, wie das Aethylzinnoxyd eines der beiden Sauerstoffatome des Zinnoxyds durch Aethyl ersetzt enthält, und wie endlich nach Hofmann's Entdeckung die organischen, stickstoffhaltigen Basen auf das anorganische Ammoniak zu beziehen sind, so auch in der Kohlensäure Substitutionen des Sauerstoffs durch Alkoholradicale müssen bewerkstelligt werden können. Wir zweifeln nicht, daß es uns gelingen werde, die Kohlensäure und das Chlorkohlenoxyd durch geeignete Behandlung mit Zinkmethyl in Essigsäure und Aceton zu verwandeln und in gleicher Weise auch im Schwefelkohlenstoff und im Chlorkohlenstoff Schwefel resp. Chlor durch Alkoholradicale zu ersetzen“. (Vgl. E. v. Meyer loc. cit.) Die gleichen Gedanken hat K. in einer Gelegenheitsschrift (Wetterauer Gesellschaft f. Naturkunde zur Feier ihres 50jähr. Bestehens, 1858) über die chemische Constitution organischer Verbindungen ausgesprochen. In dieser Schrift wird, wie auch an andern Orten, ausdrücklich das Irrige der Ansicht betont, die gesammten organischen Stoffe auf die drei „Typen“ Wasserstoff, Wasser und Ammoniak zurückführen zu können. Trotz wiederholter Proteste von Seiten Kolbe's war von verschiedenen Fachgenossen behauptet worden, daß er auf dem Boden jener Gerhardt’schen Typentheorie stünde. Den schlagendsten Beweis für die Nichtigkeit jener Behauptung liefert seine 1859 vollendete Abhandlung: „Ueber den natürlichen Zusammenhang der organischen|mit den anorganischen Verbindungen; die wissenschaftliche Grundlage einer naturgemäßen Classification der organischen, chemischen Körper" (Annalen d. Chem. u. Pharm., Bd. 113, S. 293). Der in dieser Abhandlung enthaltene Satz: „Die organischen Körper sind durchweg Abkömmlinge anorganischer Verbindungen und aus diesen zum Theil direct durch wunderbar einfache Substitutionsprocesse entstanden", bildet sozusagen die Quintessenz der Kolbe’schen Ideen über die chemische Constitution organischer Stoffe. Diese und ähnliche Aussprüche, seine Ansichten über die Structur der Alkohole (er prognosticirte die Existenz der jetzt als „secundäre“ und „tertiäre“ bezeichneten Alkohole) legen zusammen mit dem Umstande, daß K. stets die Forderung stellte, daß Formeln unzweideutige Ausdrücke bestimmter Gedanken sein müssen, Zeugniß ab von der Sicherheit seines Blickes auf theoretisch chemischen Gebieten sowie für seine Fähigkeit, die im Laboratorium beobachteten Erscheinungen einfach und einwandfrei zu deuten.

    Durch die obengenannte Arbeit, welche mit dem Satze schließt, daß die Chemie sich dadurch, daß sie die organischen Körper auf die unorganischen Körper des gemeinschaftlichen, einfachsten Stammradicals zurückführe, eine Brücke baue, über welche sie fortschreitend sicher zur richtigen Erkenntniß der Zusammensetzung auch der complicirtesten Verbindungen der organischen Natur gelangen werde, wurde die Gerhardt’sche Typentheorie unmöglich gemacht. Mit Frankland gemeinsam lieferte K. den Vertretern der Typentheorie den Schlüssel zur Erkenntniß der chemischen Constitution; denn allen seinen Darlegungen lag die Idee der Vierwertigkeit des Kohlenstoffs zu Grunde. Daß K. speciell die Valenz des Kohlenstoffatoms erkannt hat und gemeinschaftlich mit Frankland eine Lehre von der Sättigungscapacität der Elemente schuf, ist mit Bestimmtheit in der Schrift „Zur Entwicklungsgeschichte der theoretischen Chemie“ bewiesen.

    Die in jenen Aufsätzen ausgesprochenen theoretischen Anschauungen sind wesentlich gestützt worden durch die in jener Zeit von K. und seinen Schülern ausgeführten Experimentaluntersuchungen, unter denen namentlich die über Constitution und Basicität der Milchsäure (Annalen d. Chem. u. Pharm., Bd. 109, S. 257 u. Bd. 113, S. 217, 220) hervorzuheben sind. Diesen Arbeiten sowie den Untersuchungen über das Alanin und über das Analogieverhältniß zwischen Milchsäure und Alanin einerseits sowie zwischen Glycolsäure und Glycocoll andererseits verdankt die Wissenschaft die Erkenntniß von der rationellen Zusammensetzung der Oxy- und Amidosäuren. Von ähnlichen Gesichtspunkten geleitet sind die classisch zu nennenden Arbeiten über die Salicylsäure (Annalen d. Chem. u. Pharm., Bd. 115, S. 156). Bereits in den fünfziger Jahren finden wir eine Mittheilung über die Constitution derselben. Im J. 1859 war es K. gemeinsam mit seinem Schüler Lautemann gelungen, durch Einwirkung von Kohlensäure auf Phenol (Carbolsäure) in Gegenwart von Alkalimetallen die Salicylsäure zu erhalten. Durch verschiedene Reactionen sowie durch die obige Darstellungsweise erbrachten beide Forscher den Nachweis, daß diese Säure nicht, wie bisher angenommen worden war, zweibasisch ist, sondern als Oxyphenylkohlensäure zu betrachten sei. Später fand K., daß Phenolnatrium (aus Phenol und Natriumhydroxyd gewonnen) in der Wärme Kohlensäure zu fixiren vermag. Von diesem Augenblicke an ist die Salicylsäure Gegenstand großer Fabrikation geworden.

    In jene Zeit, von 1859 bis 1864, welche E. v. Meyer als die Sonnenhöhe in Kolbe's wissenschaftlichem Leben bezeichnet, fallen noch eine Reihe von Arbeiten, durch welche die Frage nach der chemischen Constitution mehrerer natürlich vorkommender Stoffe beantwortet wurde. Besonders erwähnenswerth|ist die von K. und Schmitt beobachtete Umwandlung von Aepfel- und Weinsäure in Bernsteinsäure, eine Arbeit, über deren theoretischen Werth sich Liebig, der bisher andere Ansichten über die Constitution dieser Körper hatte, in selbstloser Anerkennung äußerte und sie einen Triumph der Constitutionstheorie nannte. Der Kreis dieser bahnbrechenden Untersuchungen, welche die Aufklärung der rationellen Zusammensetzung von sog. Oxy- und Amidosäuren bezweckten, wird durch die Abhandlung „Ueber die chemische Constitution und künstliche Bildung des Taurins“ (Annalen d. Chem. u. Pharm., Bd. 122, S. 33), worin das letztere als Amidoäthylsulfonsäure erkannt wurde, würdig geschlossen. Liebig zollte allen diesen Arbeiten seine höchste Bewunderung und hat derselben zu verschiedenen Malen begeistert Ausdruck gegeben. —

    Alle diese Untersuchungen haben äußerst anregend auf weitere Forschungen gewirkt, wozu auch Kolbe's Ueberlegenheit in Bezug auf Speculation und deductive Behandlung chemischer Fragen gegenüber seinen Zeitgenossen, besonders gegenüber den Typentheoretikern, nicht wenig beitrug.

    In selten glücklicher Vereinigung gingen Experiment und Theorie bei Kolbe's Arbeiten Hand in Hand. Er prognosticirte nicht allein die Existenz, sondern zugleich das wahrscheinliche chemische Verhalten neuer, noch unbekannter Körper und Körperclassen; und wol alle seine wissenschaftlichen Prognosen haben sich als richtig erwiesen. Die von ihm vorausgesagten secundären und tertiären Alkohole wurden kurze Zeit darauf thatsächlich erhalten. Friedel stellte 1862 den einfachsten secundären Alkohol, den Isopropylalkohol, aus Aceton dar, und Butlerow erhielt auf synthetischem Wege den tertiären Butylalkohol. Außer diesen Alkoholen sind noch eine ganze Reihe organischer Stoffe dargestellt worden, über deren Existenz und Eigenschaften sich K. vorher bereits ziemlich präcis geäußert hatte. Aus der letzten Marburger Zeit stammen noch die Beobachtungen Kolbe's über die Umwandlung einbasischer in kohlenstoffreichere zweibasische, organische Säuren. Die damaligen Schüler Kolbe's, von denen eine Anzahl, wie z. B. Grieß, sich einen glänzenden Namen in der Wissenschaft erworben haben, blickten mit Begeisterung auf jene Marburger Zeit zurück; die hervorragendsten Chemiker, vor allen Liebig, schätzten K. als einen der originellsten Theoretiker und zielbewußten Gelehrten. Auch die Mitglieder der Marburger Universität, von denen manche K. anfangs quasi als Eindringling betrachtet hatten, sahen bald ein, daß dessen Lehren und Wirken der Universität nur zur Ehre gereichen und ihr Ansehen erhöhen konnte. —

    Schon im J. 1864 eröffnete sich für K. die Aussicht auf eine Berufung nach Bonn; doch ehe die definitive Berufung erfolgte, befand sich K. bereits in Leipzig, wohin er als Nachfolger O. B. Kühn's berufen worden war. Am 14. October 1865 war K. nach der neuen Heimath übergesiedelt; eine bedeutende Anzahl von Schülern war ihm dorthin gefolgt. Sofort nahm er die Organisation des chemischen Unterrichtes in Angriff, das Laboratorium wurde der Neuzeit entsprechend renovirt. Die Experimentaluntersuchungen aus dieser Zeit sind nicht so zahlreich, da die sich immerfort steigernden Berufspflichten den neuberufenen Professor stark in Anspruch nahmen; indessen sind mehrere Untersuchungen damals von seinen Schülern, auf die sich Kolbe's chemische Denkungsart und Arbeitsweise übertragen hatte, ausgeführt worden. In diese Epoche fallen die Arbeiten von E. Drechsel über die Umwandlung von Kohlensäure in Oxalsäure vermittelst Kalium sowie die Beobachtungen Beckmann's über die Oxydation der Dialkylsulfide und andere mehr.

    Inzwischen (Ende 1868) war das neue chemische Institut in der Liebigstraße, welche vordem Waisenhausstraße hieß, vollendet und eröffnet worden; es war das größte und besteingerichtete seiner Zeit. Nun kehrte auch K. zu|eigenen Experimentaluntersuchungen zurück. Er entdeckte 1872 das Nitromethan (sein Nitrocarbol) und nahm gleichzeitig seine Untersuchungen über die Salicylsäure (s. oben) wieder auf. Die Salicylsäure-Arbeiten lieferten technisch sowie wissenschaftlich anregendes Material zu weiteren Forschungen. Eine ganze Reihe von Untersuchungen, welche das Studium der Oxybenzoësäuren zum Gegenstand haben, sind von Schülern Kolbe's ausgeführt worden. An diese Arbeiten schließen sich noch eine Anzahl experimenteller Untersuchungen an, von denen hier nur die über die antiseptische Wirkung der Kohlensäure sowie die über die Constitution des Isatins, welche unvollendet blieb, erwähnt seien. — Im J. 1876 hatte der Tod ihm seine Gattin, geborene v. Bardeleben, mit welcher er seit 1853 vermählt war, entrissen. Der Verlust warf einen tiefen Schatten auf Kolbe's Leben. Er selbst hatte durch Einathmen giftiger Dämpfe (1878) seine Gesundheit stark erschüttert. Dieses sowie öftere Erkrankung der Athmungsorgane sind die Vorläufer seines Todes gewesen. Am Abend des 25. November 1884 machte ein Herzschlag dem Leben des großen Gelehrten ein jähes Ende, nachdem er Klarheit der Sinne bis zum letzten Augenblicke bewahrt hatte. —

    Ebenso wie die litterarische, ist die Lehrthätigkeit Kolbe's eine außerordentlich fruchtbare gewesen. Er lehrte nicht nur im Hörsaal, sondern mehr noch im Laboratorium. Sein oberstes Princip war es, den Schüler vor bloßem Auswendiglernen zu bewahren und zur Selbständigkeit im chemischen Denken zu erziehen. Einen Beweis dafür, daß K. als Lehrer den rechten Weg einschlug, bildet die Thatsache, daß viele seiner Schüler zu wissenschaftlicher Bedeutung gelangt sind und heute noch in hohem Ansehen stehen. Was Kolbe's litterarische Thätigkeit anbetrifft, so sind außer den zahlreichen Publicationen in verschiedenen Fachzeitschriften hauptsächlich zu nennen sein „Ausführliches Lehrbuch der organischen Chemie“, als Theil des Handwörterbuches der Chemie bei Vieweg & Sohn 1864 vollständig erschienen; ferner sein „Kurzes Lehrbuch der Chemie“ 1877 und 1883. Im J. 1870 hatte K. die Redaction des von O. L. Erdmann begründeten „Journal für praktische Chemie“ übernommen, in welchem er seitdem seine eigenen sowie Arbeiten seiner Schüler niederlegte. Die aus dem Marburger und Leipziger Laboratorium hervorgegangenen Arbeiten sind in 2 Bänden bei Vieweg erschienen. Namentlich in dem 2. Bande findet sich eine Reihe theoretischer Abhandlungen, in denen uns K. auch als Kritiker entgegentritt. Allen diesen Aufsätzen ist die Klarheit und Schärfe des Ausdrucks gemeinsam. Letzteres war ihm besonders wichtig; er bekämpfte schonungslos die einreißende Verwilderung in der Nomenclatur. Wie er der Nomenclatur der von ihm als Structurchemiker bezeichneten Fachgenossen gegenübersteht, zeigen u. a. seine „Kritischchemischen Gänge" sowie seine „Blumenlese moderner chemischer Aussprüche". Zu derartigen Schriften zählen auch die über „Moden der modernen Chemie“ sowie „Ueber die Structurformeln und die Lehre von der Bindung der Atome“. — Kolbe's theoretische Ansichten standen vielfach im Widerspruch mit denen anderer hervorragender Fachgenossen. Die Lehre von der Verkettung der Atome hielt er für eine aus Ueberschätzung der wirklich erkannten Thatsachen hervorgegangene Verirrung. Die Sorge um die wirkliche Wissenschaftlichkeit sowie eiserne Selbstzucht im chemischen Denken trieb ihn in den Kampf; und so entstanden jene Schriften, in denen schneidigste Kritik mit schonungsloser Polemik gepaart sind, welche ihm Viele zum bittersten Vorwurf gemacht haben. Daß es nicht die bloße Lust am Streiten war, welche ihn zum Kämpfen zwang, wissen alle diejenigen, welche mit ihm in nähere Beziehung gekommen sind. K. pflegte die Freundschaft und die Geselligkeit; von seinen Leipziger|Collegen waren ihm namentlich der Physiologe Karl Ludwig und der Zoologe Rud. Leuckart theuer. In Liebig, Wöhler und Bunsen verehrte er seine Lehrer, diese schätzten ihn wiederum als Freund. Auch von seinen ehemaligen Schülern sind ihm Viele treue Freunde geworden; und ebenso stand er mit mehreren seiner Fachgenossen trotz öfterer wissenschaftlicher Differenzen auf freundschaftlichem Fuße, so z. B. mit A. W. v. Hofmann, mit H. Kopp und R. Fresenius. Im persönlichen Leben traten Schärfen seiner Kritik gänzlich zurück; er war leutselig und zu heiterem Scherz geneigt. Daß es einem Manne wie K. nicht an ehrenden Auszeichnungen fehlte, kann uns nicht Wunder nehmen. Er war Ehrenmitglied vieler gelehrter Gesellschaften und Ehrendoctor verschiedener Universitäten. Außerdem war er Inhaber der großen Davymedaille, welche ihm seitens der London Royal Society verliehen worden war, sowie Ritter des bairischen Maximilianordens für Kunst und Wissenschaft.

    Die Lebensarbeit Kolbe's erstreckt sich über mehr als vier Jahrzehnte; wie wenig Andere hat er das Gebiet der organischen Chemie durch werthvolle Forscherarbeit bereichert und gefestigt. Wir können in dankbarer Anerkennung Hermann K. zu den bedeutendsten Chemikern des 19. Jahrhunderts zählen, dessen Name mit der chemischen Wissenschaft dauernd verknüpft sein wird.

    • Literatur

      Benutzte Litteratur: E. v. Meyer, Zur Erinnerung an Hermann Kolbe (Journal f. praktische Chemie, Jahrg. 1884, Bd. 30). — A. W. Hofmann, Nekrolog für H. Kolbe (Ber. d. chem. Gesellsch., Bd. 17). —
      Poggendorff's Biogr.-litt. Handwörterbuch z. Gesch. d. exakten Wiss. — Originalabhandlungen von H. Kolbe.

  • Autor/in

    A. Strigel.
  • Zitierweise

    Strigel, A., "Kolbe, Hermann" in: Allgemeine Deutsche Biographie 51 (1906), S. 321-329 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119151375.html#adbcontent

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