Lebensdaten
1759 – 1813
Geburtsort
Rhaude (Ostfriesland)
Sterbeort
Halle/Saale
Beruf/Funktion
Anatom ; Internist
Konfession
lutherisch?
Normdaten
GND: 118599224 | OGND | VIAF: 51756479
Namensvarianten
  • Reil, Christian
  • Reil, Johann Christian
  • Reil, Christian
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Orte

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Zitierweise

Reil, Johann Christian, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118599224.html [19.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Johann Julius Friedrich (1716–80), Pastor in R. u. Norden, aus Braunschweiger Fam. (s. A. Reershemius, Ostfries. luth. Predigerdenkmal, 1765);
    M Anna Jansen-Streng (1731–1802); 4 jüngere Geschw;
    1788 Wilhelmine Le Veaux (1770–1813);
    2 S u. a. Johann Christian (1792–1858), Geh. Bergrat, Oberhüttenverw. v. Schlesien (s. W. Serlo, Männer d. Bergbaus, 1937), 4 T Johanna Friederikke Wilhelmine (1789–1868, Friedrich v. Schele, 1782–1815, Geh. Reg.rat in H.), Auguste (1793–1881, Peter Krukenberg, 1788–1865, o. Prof. f. Pathol. u. Therapie in H., Geh. Med.rat, s. NDB 13), Amalie (1798–1872, Dietrich Georg v. Kieser, 1779–1862, o. Prof. d. Med. in Jena, Mitgl. bzw. Vizepräs. d. sachsen-weimar. LT, Präs. d. Leopoldina, s. NDB XI), Luise Charlotte Marianne (1802–65, Friedrich Blu(h)me, 1797–1874, o. Prof. d. Rechte in H., Göttingen u. Bonn, Rechtshist., s. NDB II); Nachfahre Hans Holfelder (1891–1944), Prof. f. Chirurgie u. Röntgenol. in Frankfurt/M. u. Posen (s. NDB IX).

  • Biographie

    R. besuchte in Norden (Ostfriesland) die Schule, immatrikulierte sich 1779 für Medizin in Göttingen und wechselte 1780 nach Halle, wo ihn der Kliniker Johann Friedrich Georg Goldhagen förderte. 1782 wurde er mit einer Arbeit über Gallenerkrankungen (Tractatus de polycholia) promoviert. Während des obligaten Besuches des „Collegium medico-chirurgicum“ in Berlin wohnte er bei Henriette und Marcus Herz, die ihn sowohl in ihren Salon als auch in die Kant-Rezeption einführten. 1785 ließ sich R. als praktischer Arzt in Norden nieder, 1787 wurde er ao. Professor am neu etablierten Hallenser klinischen Institut und richtete ein chemischphysikalisches Laboratorium für den klinischen Unterricht ein (1788 o. Prof.). 1789 folgte die Ernennung zum Stadtphysikus, so daß R. neben der Universitätsklinik auch dem städt. Spital vorstand. Er verkehrte im Kreis der Hallenser Romantiker und förderte Henrik Steffens (1773–1845). 1806 erhielt er die Oberaufsicht über das preuß. Lazarettwesen. R.s Gutachten zur klinischen Ausbildung spielte bei der Gründung der Berliner Universität eine Rolle, wo R. 1811 Dekan der med. Fakultät und Leiter der Universitätsklinik wurde. Beim Lazarettdienst während der Völkerschlacht von Leipzig 1813 infizierte sich R. mit Typhus, an dem er kurz darauf in Halle verstarb.

    R. war einer der einflußreichsten Ärzte in der oft als „Romantische Medizin“ bezeichneten Übergangsperiode im frühen 19. Jh. Einerseits machte er sich rasch als glänzender Organisator, Kliniker und Hirnanatom einen Namen, andererseits war er wichtiger Fürsprecher für romantische Naturforscher wie Steffens. R. erweiterte in Halle den bislang nur an ambulanten Patienten erteilten klinischen Unterricht, weshalb 1791 den Hallenser Studenten der für die Approbation ansonsten erforderliche Besuch des Berliner „Collegium medico-chirurgicum“ erlassen wurde. Seine Pläne für ein kleines akademisches Lehr- und Behandlungskrankenhaus mit 12 Betten konnten erst 1808 realisiert werden. Wenig später bezogen auch die unter R.s Ägide begründeten chirurgischen und gynäkologischen Unterabteilungen der Schola clinica eigene Räume in der Stadt. Daneben wurde er auch als Gründer öffentlicher Badeanstalten, Qualm- und Solbäder sowie als Mitbegründer des Hallenser Theaters aktiv. Seiner Reorganisation des kommunalen Gesundheitswesens entsprang das hauptsächlich theoretisch formulierte Konzept einer „psychischen Behandlung“ (1803), worin er den üblichen Umgang mit Geisteskranken scharf kritisierte, allerdings ohne an den Verhältnissen etwas ändern zu können.

    Die von R. 1804 entwickelten Reformvorschläge sahen eine Zweiteilung in wissenschaftlich ausgebildete Ärzte einerseits und medizinkundige Praktiker andererseits vor, die in einer Art Fachschule ausgebildet werden sollten. Als Dekan der Berliner Fakultät geriet er zunehmend mit Traditionalisten wie Christoph Wilhelm Hufeland in Konflikt. Seit 1795 unternahm R. intensive Studien zur Hirnanatomie. Mit den einfachen Mitteln seiner Zeit lieferte er wichtige Beiträge zur Funktion des autonomen Nervensystems, der Basalganglien und zu den topographischen Lagebeziehungen der Großhirnrinde, für die das bis heute gebräuchliche Eponym für eine Schläfenlappenregion (Insula Reilii) zeugt. Während viele dieser Studien in dem von Friedrich Albert Karl Gren begründeten „Archiv für Physik“ erschienen, eröffnete R. 1796 mit dem „Archiv für die Physiologie“ die erste physiologische Fachzeitschrift der Welt. Sein einleitender Aufsatz über die „Lebenskraft“ war eine umfassende Auseinandersetzung mit vitalistischen Traditionen, worin R. gegen die Annahme besonderer vitaler Kräfte eintrat und deren Rückführung auf die physikalische und chemische „Mischung der [organischen] Materie“ forderte. In seinen späteren Schriften näherte sich R. dagegen einer romantischen Naturanschauung an. Insbesondere im nachgelassenen „Entwurf einer allgemeinen Pathologie“ (3 Bde., hg. v. Ch. F. Nasse u. P. Krukenberg, 1815/16) skizzierte er eine kosmologische und geognostische Sicht auf die Entstehung und Formung des Lebens, die sich mit den drei dynamischen Erscheinungsformen Magnetismus, Elektrizität und chemischer Prozeß eng an Friedrich Willhelm Joseph Schellings „System des transzendentalen Idealismus“ anlehnt. Diese naturphilosophische Wende wird in der neueren Historiographie als dezidiert politische Entscheidung betrachtet, wobei sich R. von der Schellingschen Naturphilosophie eine nationale Erneuerung versprach. – Mitgl. d. Leopoldina (1793).

  • Werke

    u. a. Memorabilium clinicorum medico-practicorum, 4 Bde., 1790-95;
    Über d. Lebenskraft, in: Archiv f. d. Physiol. 1, 1796, S. 8-162 (Nachdr. 1910);
    Über d. Erkenntnis u. Cur d. Fieber, 5 Bde., 1799-1815;
    Rhapsodien über d. Anwendung d. psych. Heilmethode auf Geisteszerrüttungen, 1803;
    Pepinieren z. Unterr. ärztl. Routiniers, 1804;
    Hirnanatom. Atlas, in: J.-H. Scharf (Hg), J. Ch. R., Nova Acta Leopoldina NF 144, 1960, S. 64-98. – Hg.: Mag. f. d. Psych. Heilkunde, seit 1805/06;
    Beyträge z. Beförderung e. Kurmethode auf psych. Wege, seit 1808.

  • Literatur

    ADB 27;
    R. Beneke, in: Mitteldt. Lb. II, 1927, S. 30-45 (P);
    H.-H. Eulner, in: Nova Acta Leopoldina N. F. 144, 1960, S. 7-50 (W-Verz., P);
    W. Kaiser u. R. Mocek, J. Ch. R., 1979;
    H. Schott, Zum Begriff d. Seelenorgans b. J. C. R., in: Gehirn, Nerven, Seele, Anatomie u. Physiol. im Umfeld S. Th. Soemmerings, hg. v. G. Mann, 1988, S. 183-210;
    ders., J. C. R. u. d. Physiol. d. Seelenlebens, in: Bedeutende Gel. d. Univ. zu Halle seit ihrer Gründung im J. 1694, hg. v. H.-H. Hartwich u. G. Berg, 1995, S. 59-74;
    W. Kaiser u. A. Völker (Hg.), J. C. R. u. seine Zeit, 1989;
    R. Mocek, J. Ch. R., 1995;
    M. Stürzbecher, in: Biogr. Lex. Ostfriesland II, 1997.

  • Porträts

    Ölgem. v. J. F. A. Tischbein, um 1802;
    Büste, Abb. in: Mitteldt. Lb. II (s. L).

  • Autor/in

    Volker Hess
  • Zitierweise

    Hess, Volker, "Reil, Johann Christian" in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 332-333 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118599224.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Reil: Johann Christian R., Arzt, wurde am 28. Februar 1759 zu Rhaude in Ostfriesland, wo sein Vater Prediger war, geboren. Nach dem Besuche der Schule zu Norden widmete er sich im J. 1779 zu Göttingen dem Studium der Medicin, siedelte später nach Halle über, erwarb sich dort (1782) den Doctorgrad, und wirkte nun nach Beendigung seiner Studien einige Jahre in seiner Heimath als praktischer Arzt. Im J. 1787 als außerordentlicher Professor der Medicin nach Halle berufen, erhielt er im nächsten Jahre die ordentliche Professur der Therapie, verbunden mit der Direction des Klinikums dortselbst, und wurde im J. 1789 noch überdies zum Stadtphysikus ernannt. Als die neue Universität in Berlin errichtet wurde, folgte er einem Rufe als innerer Kliniker dorthin. Der Befreiungskrieg unterbrach seine Lehrthätigkeit, nach der Schlacht bei Leipzig übernahm er die oberste Leitung der Kriegshospitäler auf dem linken Elbeufer. Als ein Opfer dieser Wirksamkeit starb er am 22. November 1813 zu Halle a. d. S. am Hospitaltyphus. In R. tritt uns an der Schwelle der neuesten Zeit einer der damals bedeutendsten deutschen Aerzte und medicinischen Schriftsteller entgegen. Alle Zweige der theoretischen und praktischen Medicin beherrschte er in umfassender Weise. Gleich hervorragend als innerer Kliniker, wie als Chirurg und Augenarzt, war er auf den verschiedensten Gebieten seiner Wissenschaft litterarisch productiv. Seine Untersuchungen über den Bau des Gehirns und der Nerven in „Excercitationum anatomicarum Fasc. I, de structura nervarum“, 1796, sind geradezu bahnbrechend gewesen. In dem von ihm gegründeten Archiv für Physiologie verfolgte er das Bestreben,|der praktischen Medicin durch innige Vereinigung mit der Physiologie eine wissenschaftliche Grundlage zu schaffen. Die einleitende Abhandlung über die Lebenskraft, welche sein Programm enthält, stellt den Satz auf, daß alle Erscheinungen entweder Materie oder Vorstellungen sind, und daß, soweit die sinnliche Wahrnehmung reicht, alle an thierischen Körpern vorkommenden Erscheinungen auf der Verschiedenheit der thierischen Grundstoffe und auf der Mischung und Form derselben beruhen. „Kraft ist das Verhältniß der Erscheinungen zu den Eigenschaften der Materie, durch welche sie erzeugt werden.“ Die Aeußerungen der Lebenskraft beruhen gleichfalls auf materiellen Zuständen, welche sich allerdings, hauptsächlich infolge der Unvollkommenheit der organischen Chemie und der Lehre von den Imponderabilien, der sinnlichen Wahrnehmung entziehen. Da jedes Organ, namentlich jedes Gewebe, Erscheinungen darbietet, die nur ihm eigenthümlich sind, so besitzt jedes von ihnen seine besondere Lebenskraft, Irritabilität und Krankheitsanlage. Bei der Unzulänglichkeit, seine Thesen durch den damaligen Stand der Erfahrungswissenschaften zu begründen, verlor sich R. in philosophische Speculationen und gerieth auf die Abwege der Naturphilosophie, so daß er dahin gelangte, das Leben als einen „potenzirten galvanischen Proceß“ zu bezeichnen. Weniger auffallend ist diese Richtung in seinem Hauptwerke ("Ueber die Erkenntniß und Cur der Fieber.“ 5 Bde. Halle 1799—1815), das sich durch brillante, geistreiche Darstellung, wie durch breite Basis der ärztlichen Erfahrung auszeichnet. Eine wahrhaft reformatorische Bedeutung erlangten seine „Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen.“ 1803, in denen er wesentlich eine neue Periode in der Entwicklung der Psychiatrie anbahnte, so daß man ihn den „Urheber der psychischen Medicin“ in Deutschland nannte. In diesem von ihm selbst nur als Entwurf bezeichneten Werke verbreitete sich R. in zwangloser Form über das ganze Gebiet der Psychiatrie. Seinen Hauptwerth erhält dieses Werk durch den Versuch, die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten auf eine fruchtbare Weise an das Nervensystem anzuschließen und durch die Betonung der psychischen Kurmethode, deren Erforschung der eigentliche Zweck der ganzen Abhandlung ist. R. giebt ihre Entwicklungsgeschichte, stellt ihren Begriff fest und spricht dann des Weiteren über die einzelnen Mittel. Vor allem deckte er die Schäden der bisherigen Irrenanstalten rücksichtslos auf. In einem späteren Anhange zur Uebersetzung von Cox, „Praktische Bemerkungen über die Geisteszerrüttung“ (1811) gab er Beiträge zur Organisation der Versorgungsanstalten. Für Berlin und Halle verlangte er, daß Heilanstalten, verbunden mit Lehrstühlen der Psychiatrie errichtet würden, seine Bemühungen scheiterten an der Ungunst der politischen Zustände und an seinem frühen Tode. Kein geringes Verdienst erwarb sich auch R. dadurch, daß er zuerst die periodische Litteratur für die Psychiatrie angeregt hat. Das erste psychiatrische Journal, „Magazin für psychische Heilkunde“ gründete er mit dem Naturphilosophen Kayßler (1803 bis 1805), später gab er mit dem Philosophen J. Ch. Hoffbauer von 1808—1812 „Beiträge zu einer Curmethode auf psychischem Wege“ heraus.

    • Literatur

      Steffens, Johann Christian Reil, eine Denkschrift. Halle 1815.

  • Autor/in

    Bandorf.
  • Zitierweise

    Bandorf, "Reil, Johann Christian" in: Allgemeine Deutsche Biographie 27 (1888), S. 700-701 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118599224.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA