Lebensdaten
1812 – 1878
Geburtsort
Naumburg/Saale
Sterbeort
Jena
Beruf/Funktion
Nationalökonom
Konfession
evangelisch
Normdaten
GND: 118550942 | OGND | VIAF: 22933176
Namensvarianten
  • Hildebrand, Bruno
  • Hildebrand, Brunus
  • Hildebrand, Frid. Bruno
  • mehr

Objekt/Werk(nachweise)

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Zitierweise

Hildebrand, Bruno, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118550942.html [19.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Joh. Frdr. Chrstn. (1780–1864), Landgerichtskanzlist in N., S d. Frdr. Chrstn. aus Weißenfels, Schreib- u. Rechenmeister u. Amtskopist in N., u. d. Joh. Regina Haas;
    M Joh. Rosine (1783–1860), T d. Schuhmachermeisters Joh. Nik. Leidecker in N.;
    Breslau 1839 Clementine (1817–79), T d. Samuel Simon Guttentag (1786–1850), Dr. med., Sanitätsrat, dirigierender Arzt u. jüd. Hospitalarzt, Privatdozent in Breslau, u. d. Sophie Panofka; Schwägerinnen Sophie ( Frdr. Ritschl, 1806–76, Prof. d. klass. Philologie in Leipzig), Agnes Friederike ( Imanuel Guttentag, 1815–81, Verlagsbuchhändler in Berlin);
    K Richard (s. 3), Adolf (s. 1) Otto (1858–1927), Prof. d. Chirurgie in Berlin (s. Fischer), Bertha ( Johs. Conrad, 1915, Nat.ök., s. NDB III);
    E Elisabeth (⚭ Frdr. Glum, * 1891, Prof., Gen.-dir. d. Kaiser-Wilhelm-Ges.)

  • Biographie

    Nach dem Besuch der Fürstenschule in Schulpforta studierte H. 1832 in Leipzig ein Semester Theologie, dann Philosophie, Philologie und Geschichte. Er ging noch 1832 nach Breslau, wo er wegen seiner Teilnahme an der Leipziger Burschenschaft in Untersuchungshaft kam. 1836 wurde er promoviert und habilitierte sich für Geschichte. 1839 zum außerordentlichen Professor ernannt, wurde er 1841 auf den Lehrstuhl für Staatswissenschaften der Universität Marburg berufen. Als Prorektor von 1844/45 sah er sich gezwungen, persönliche Rechte und solche der Universität gegen die Regierung zu verteidigen. Daraufhin wurde er im Januar 1847 der Funktion des Vice-Prorektors enthoben. Die im Februar folgende Suspension vom Lehramt wurde erst mit der allgemeinen Amnestie im März 1848 aufgehoben; in einem gegen ihn geführten Strafverfahren war er freigesprochen worden. In der deutschen Nationalversammlung zählte er zur demokratischen Linken; er gewann Einfluß auf Robert Blum, war Mitglied des volkswirtschaftlichen Ausschusses und später des Stuttgarter Rumpfparlamentes. In Frankfurt ließ H. 1848 auch sein vorwiegend dogmenkritisches Hauptwerk „Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft“ erscheinen. Als Abgeordneter der Stadt Bockenheim in der kurhessischen Ständeversammlung beantragte er im Sommer 1850, dem Ministerium Hassenpflug den Finanzzuschuß nicht zu bewilligen; einem gegen ihn dann im Herbst 1851 wegen seiner Teilnahme am Stuttgarter Rumpfparlament angestrengten Hochverratsprozeß entzog er sich durch die Flucht in die Schweiz. Als Professor der Staatswissenschaften in Zürich (1851–56) und Bern (1856–61) entfaltete H. seine organisatorischen Fähigkeiten: Hatte er schon in Marburg eine Witwenkasse errichtet, so gründete er in Zürich die Nordostbahn, in Bern eine Spar- und Leihbank, das kantonale statistische Büro (das erste der Schweiz) und (mit anderen) die Ostwestbahn. Seit 1861 Ordinarius der Staatswissenschaften in Jena, begründete er 1862 die Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik und 1864 das statistische Büro vereinigter thüringischer Staaten. Die Errichtung einer Witwenkasse und der Bau der Saale-Eisenbahn gehen auf seine Initiative zurück. 1872 half er den Verein für Socialpolitik gründen. In seinen letzten Lebensjahren war er Vertreter Jenas im Weimarer Landtag.

    H. zählt mit Röscher und Knies zur „älteren historischen Schule der Nationalökonomie“. Dem unruhigen Geist lag zwar der systematische Ausbau seiner wissenschaftlichen Lehre weniger als politische und organisatorische Tätigkeit; H. hat sein Hauptwerk so wenig vollendet wie einen Teil seiner Detailuntersuchungen. Die nach 1848 nicht mehr geänderten Grundzüge der von ihm geforderten historischen Nationalökonomie werden jedoch aus dem Vorhandenen hinreichend klar. Seine Konzeption hat eine normativ-explikative Doppelfunktion. In ihr trafen sich der historistische Gedanke, daß die Vollkommenheit einer Zivilisation von der Vielfalt ihrer Individualitäten (von deren allseitigem Zusammenspiel H. schließlich die Herstellung geistigen und politischen Gleichgewichts erwartete) abhänge, und der aufklärerische Glaube an den Fortschritt der Menschheit. H. folgerte daraus die „fortschreitende Verallgemeinerung der Civilisation des Individuums“ und damit zunehmenden gesellschaftlichen Interessenausgleich in der Geschichte. Das war die direkte Übertragung der Herbartschen Vorstellungspsychologie, die Charakterbildung von der Vielseitigkeit der Ausbildung des Gedankenkreises abhängig machte und der H. bis in das Detail Anregungen entnahm, auf die Staats- und Wirtschaftswissenschaften. Der Wissenschaft oblag es für H., in allen Veränderungen die Zunahme der Individualitäten und deren fortschreitende Kommunikation nachzuweisen und aus der Kenntnis des Fortschrittsstandes die Zukunftsaufgaben zu bestimmen. – Dies ergab eine liberale politische, nicht aber, weil sozialpolitisch, stets eine liberale wirtschaftliche Praxis. Für die Politik bedeutete es den Nachweis fortschreitender Demokratisierung und die Forderung einer freien Staatsverfassung (nach englischem Vorbild). Die Nationalökonomie wollte H. analog der vergleichenden Sprachwissenschaft aufbauen: Gleich der Sprache galt ihm das Privateigentum als unentbehrliche Voraussetzung der Individualitätsbildung; die Nationalökonomie sollte in allen nationalen Eigentumsformen die entwicklungsgesetzliche Verallgemeinerung des Privateigentums verfolgen wie die Sprachwissenschaft die Verwirklichung der Sprachidee (das ist sprachliche Vollkommenheit) in den verschiedenen Sprachen. Der zunehmende Eigentumsausgleich steht auch im Mittelpunkt von H.s Wirtschaftsstufen: Auf die Naturalwirtschaft (Besitzmonopol der Grundherren, Gebundenheit der Dienstverhältnisse) folgt die Geldwirtschaft (Beweglichkeit des Kapitals, Freizügigkeit in Gewerbe und Arbeitsverhältnis) und auf diese zukünftig die Kreditwirtschaft, in welcher der besitzlose Arbeiter durch auf Vertrauensbasis gewährte Personalkredite Unternehmer werden kann. Der Nationalökonom hatte in Kenntnis der differierenden nationalen Bedingungen des entwicklungsgesetzlichen Fortschritts als Geburtshelfer der neuen Wirtschaftsstufe zu wirken; H. forderte Hilfe für Arbeiter und proletarisches Handwerk: die Errichtung von Arbeiterassoziationen, Produktionsgenossenschaften und Kreditinstituten.

    Nicht H.s Entwicklungsdenken und Erziehungsdenken überhaupt, wohl aber seine historischen Entwicklungsgesetze, deren utopische Endstufe schon von seinen Zeitgenossen kritisiert wurde, sind in ihrem Kern wissenschaftlich unhaltbar, weil normativ und damit empirisch unüberprüfbar. H. hat auf eine kritische Wissenschaftsauffassung, wie sie später etwa Schmoller vertrat, vor allem durch Dogmenkritik und realistische Implikationen seines Systems gewirkt: Liberale Ökonomie, historische Rechtsschule und Sozialismus, gegen die er seine Lehre entwickelte, verwarf er als kosmopolitisch, ungeschichtlich und nicht auf dem Boden der Wirklichkeit stehend. Dem Privategoismus als psychologischem Prinzip des Wirtschaftsliberalismus stellte er die differenzierte Herbartsche Psychologie entgegen, die sich auch der dogmatischen Alternative, Materialismus oder Idealismus, entzog. Indem er es ablehnte, zwischen der Gesellschaft als dem den „Naturgesetzen“ unterworfenen Bereich der Notwendigkeit und dem Staat als dem Bereich der „ethischen“ Beziehungen oder der Freiheit zu trennen, schützte er sich vor Staatsmetaphysik und einer methodologischen Schranke realistischer Wirtschaftsforschung. Gegenüber dem liberalen Allheilmittel der Handels- und Gewerbefreiheit wünschte er eine pragmatische, auf historische Detailstudien und statistische Untersuchungen gestützte Wirtschaftspolitik; gerade in der Statistik, die der Überprüfung von Theorien und der Gewinnung empirischer Regelmäßigkeiten dienen sollte, lag der Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit.

  • Werke

    Vollst. Verz. in: Jbb. f. Nat.ök. u. Statistik 30, 1878, S. VII ff. -
    De veterum Saxonum republica, 2 T., 1836;
    Xenophontis et Aristotelis de oeconumia publica doctrinae illustratae, 2 T., 1845;
    Die Nat.ök. d. Gegenwart u. Zukunft I, 1848, unter dems. Titel zusammen mit d. theoret. Aufsätzen hrsg. v. H. Gehring, 1922;
    Die kurhess. Finanzverwaltung u. d. Antrag d. Abgeordneten H., 1850;
    Statist. Mitt. üb. d. volkswirtsch. Zustände Kurhessens, 1853;
    Btrr. z. Statistik d. Kt. Bern I, 1863;
    Statistik Thüringens, 2 Bde., 1866-78;
    Programmat. Aufsätze u. hist. Detailstud. in d. Jbb. f. Nat.ök. u. Statistik.

  • Literatur

    ADB XII;
    P. Schwarzenberg, Der Hochverratsprozeß gegen kurhess. Abgeordnete d. Dt. Nat.verslg., 1863;
    C. Grünberg, B. H. üb. d. kommunist. Arbeiterbildungsver. in London, in: Archiv f. d. Gesch. d. Sozialismus u. d. Arbeiterbewegung 11, 1925;
    G. Franz, Stud. üb. B. H., Diss. Marburg 1928;
    R. Bovensinpen, in: Lb. aus Kurhessen u. Waldeck III, 1942 (W, L);
    G. Eisermann, Die Grundlagen d. Historismus in d. dt. Nat.ök., 1956;
    A. Müssiggang, Die soz. Frage i. d. hist. Schule d. dt. Nat.ök., 1968.

  • Porträts

    in: Die Univ. Zürich 1833-1933 u. ihre Vorläufer, Festschr., 1938;
    Büste v. Adolf v. Hildebrand

  • Autor/in

    Dieter Lindenlaub
  • Zitierweise

    Lindenlaub, Dieter, "Hildebrand, Bruno" in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 121-122 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118550942.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Hildebrand: Bruno H., Nationalökonom und Statistiker, geb. am 6. März 1812 zu Naumburg als der Sohn eines Gerichtskanzlisten. am 29. Januar 1878 als Geh. Regierungsrath, Professor der Staatswissenschaften zu Jena und Director des statistischen Büreau vereinigter thüringischer Staaten. Schon frühzeitig regte sich in dem Knaben der sehnliche Wunsch, sich den classischen Studien widmen zu können; eine Freistelle am Gymnasium in Schulpforta, für welche sich der kaum 14jährige ohne Wissen der Eltern in ganz selbständiger Weise vorbereitet hatte, gab dazu die erwünschte Gelegenheit. Im J. 1832 betrat er, dem Wunsche der Eltern gemäß, als Theologe die Universität Leipzig, wandte sich jedoch schon im nächsten Semester philosophischen, philologischen und historischen Studien zu, in welche sich aber bald lebhaftes Interesse an den politischen Vorgängen der Zeit und eine rege Betheiligung an der Burschenschaftsbewegung störend einmischte. Durch die Verfolgungen, welchen die Burschenschaften damals in Folge der republikanischen Kundgebungen in Hambach und Frankfurt von den reactionären Regierungen auf's Neue ausgesetzt waren, veranlaßt, wandte sich H. zur Fortsetzung seiner Studien und Ableistung seiner Militärpflicht nach Breslau, konnte aber doch einer längeren Untersuchungshaft nicht entgehen, die wegen seiner Betheiligung an der Leipziger Burschenschaft über ihn verhängt wurde. Dennoch vermochte er nach vierjährigem Universitätsstudium im J. 1836 nicht nur zu promoviren, sondern sich auch schon als Privatdocent für Geschichte auf Grund seiner historischen Arbeit „De veterum Saxonum republica“. Pars I. II, Breslau 1836, zu habilitiren. Die Sorgen des täglichen Lebens blieben auch ihm nicht erspart und mußten durch Unterricht am Realgymnasium, später durch eine Anstellung an der Universitätsbibliothek überwunden werden. Doch wurde H. schon 1839 außerordentlicher Professor in Breslau und erhielt 1841 von Marburg einen Ruf als ordentlicher Professor für Staatswissenschaften, denen er seit einigen Semestern seine wissenschaftliche Arbeit besonders zugewendet hatte. Der zehnjährige Aufenthalt in Kurhessen bildet unstreitig die bedeutsamste Periode im Leben und Wirken Hildebrand's. Während derselben vertiefte er sich mit ächt historischem Geiste in den Entwickelungsgang der nationalökonomischen Ideen und lieferte als Frucht dieser Arbeit sein nationalökonomisches Hauptwerk „Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft“, I. (einz.) Bd. 1848, in welchem er die geistvollste Kritik der nationalökonomischen Systeme und zugleich die Grundlinien einer Volkswirthschaftslehre auf historischer Grundlage lieferte. Derselben Periode gehören seine ersten statistischen Arbeiten an, in welchen er die volkswirtschaftlichen Zustände Kurhessens beleuchtete, und durch die Art der Erhebung des Materials sowol als durch die bisher ganz unbekannte wissenschaftliche Durchdringung des Stoffes mit nationalökonomischen Ideen sich als ebenso origineller wie fruchtbarer Arbeiter erwies. Endlich aber gehört dieser Zeit namentlich sein politisches Wirken an und damit im Zusammenhang stehen die wechselvollen Lebensschicksale, welche er wegen seiner Charakterstärke und Ueberzeugungstreue zu ertragen hatte. Seit er 1845 als Rector der Universität Marburg energisch die Rechte derselben einer gewaltthätigen Regierung gegenüber vertheidigte, war er Gegenstand fortwährender Anfeindung und unglaublicher Angriffe; einige Artikel in der Deutschen Londoner Zeitung, welche man ihm fälschlich zuschrieb, gaben im J. 1846 sogar Veranlassung zu einer Untersuchung wegen Majestätsbeleidigung und zur Suspendirung vom Amte, die erst 1848 in Folge|seiner Freisprechung wieder aufgehoben wurde. Gleich darauf wurde er berufen, den Marburger Wahlkreis in der Frankfurter Nationalversammlung zu vertreten und war nun hier, wie in dem kurhessischen Landtage, wo er 1849—1850 als Vertreter Bockenheim's saß, ganz von der Politik in Anspruch genommen. Als entschiedenster Gegner des im J. 1850 wieder mit der Leitung der Regierungsgeschäfte betrauten Hassenpflug stellte H. den Antrag, dem im Widerspruch mit der landesherrlichen Declaration vom 11. März 1848 stehenden Ministerium den begehrten Finanzzuschuß zu verweigern, worauf die Ständeversammlung am 2. September 1850 aufgelöst, gegen H. selbst aber ein Verhaftsbefehl erlassen wurde, dem er sich nur durch die Flucht zu entziehen wußte. So hatte er Amt und Einkommen seiner politischen Ueberzeugung geopfert und mußte nun in der Schweiz, wohin er sich gewendet, eine neue Stellung und gesicherte Existenz für seine Familie aufsuchen. Bald nahm ihn Zürich gastlich auf, bot ihm die Professur der Staatswissenschaften und verlieh ihm später das Ehrenbürgerrecht. Von dort aus wurde er 1856 nach Bern berufen, wo er bis 1861 in akademischer Wirksamkeit verblieb. Sein Schweizer Aufenthalt führte ihn auch mannigfacher praktischer Thätigkeit zu, wofür der thatkräftige, schaffensfreudige Geist Hildebrand's mit seinen hervorragenden organisatorischen Talenten immer eine besondere Neigung empfand. Hatte er schon in Marburg eine Wittwenkasse ins Leben gerufen, so ging er jetzt an die Ausführung größerer praktischer Probleme; die Nordostbahn, welcher er in Zürich Jahre lang als Director Vorstand, die schweizerische Ostwestbahn, die Spar- und Leihbank in Bern sind vornehmlich seine Schöpfungen. Bei derartigen Unternehmungen, auch bei seinen späteren, der Wittwenkasse in Jena und der Saaleisenbahn, war das allgemeine Beste, das damit gefördert werden sollte, die einzige Richtschnur für Hildebrand's Verhalten; keinerlei persönliche Interessen trübten die Aechtheit und Lauterkeit dieses gemeinnützigen Wirkens; „ja er hat wiederholt sein Vermögen eingesetzt, wenn es galt, ein von ihm im öffentlichen Interesse geschaffenes Unternehmen in kritischen Augenblicken zu stützen und seine Uneigennützigkeit war bei allen öffentlichen Fragen eine unbedingte.“ (Conrad.) Es ist das um so wichtiger hervorzuheben, da auch dieser hervorragende Charakterzug Hildebrand's nicht ohne Verdächtigung blieb, als die von ihm eingeleiteten Arbeiten für die Ostwestbahn nicht in rechten Gang kommen wollten; doch wurde ihm für solchen Undank und ungerechtfertigte Kränkung volle Sühne zu Theil, als die Bahn lange nach seinem Abgang von Bern wirklich ins Leben trat. Indessen hatten doch gerade diese Verhältnisse ihm den Aufenthalt in der Schweiz verleidet, und mit Freuden nahm er 1861 einen Ruf an die Universität Jena an, der ihn wieder ganz seiner wissenschaftlichen Wirkungssphäre und der geliebten Heimath zurückführte. Hier entfaltete nun H. ein ebenso intensives wie vielseitiges wissenschaftliches Leben; die wirthschafts-geschichtliche Forschung verdankt ihm eine Reihe der geistvollsten und gründlichsten Untersuchungen; zugleich bereicherte er die nationalökonomische Litteratur mit den von ihm 1862 gegründeten „Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik“, die sich seitdem (seit 1873 von Conrad mitherausgegeben) zur nationalökonomischen Zeitschrift ersten Ranges entwickelt haben. Außerdem aber war der Jenenser Aufenthalt Hildebrand's besonders reich an statistischen Leistungen; wie er schon seinerzeit in Bern das erste statistische Büreau der Schweiz gegründet hatte, so ließ er sich jetzt in Jena die Errichtung eines statistischen Büreau vereinigter thüringischer Staaten angelegen sein, welches am 1. Juli 1864 unter seiner Leitung eröffnet wurde und seitdem eine Reihe stattlicher, besonders durch den streng wissenschaftlichen Geist der Bearbeitung hervorragender Publikationen aufzuweisen hat. Die enge Verbindung, welche zwischen dieser Staatsanstalt und dem Lehrstuhl der Nationalökonomie an der thüringischen Universität bestand,|gab H. auch die beste Gelegenheit das Büreau zu einem rechten Laboratorium für exacte nationalökonomische Forschung und damit zu einer hervorragenden Pflanzschule junger Nationalökonomen zu machen, als welche sich das von ihm geleitete staatswissenschaftliche Seminar auch stets erwies. Kein anderer zeitgenössischer Nationalökonom in Deutschland hat so viel hervorragende Schüler aufzuweisen, wie sie in den Endemann, Conrad, Scheel, Miaskowski, Weibezahn, R. Hildebrand, Straßburger, Cohn u. A. von der eminenten Lehrbefähigung und Lehrfreudigkeit Hildebrand's Zeugniß ablegen. Doch fand H. auch hier, trotz der so vielseitigen wissenschaftlichen Thätigkeit, noch Zeit und Lust zu praktischer Thätigkeit; er leitete die mühevollen Arbeiten für Erbauung der Saaleisenbahn ein, denn er wollte die einzige deutsche Universität, welche noch abseits der modernen Verkehrsstraßen lag, in lebendigere Verbindung mit der großen Welt setzen und es gelang seiner Energie auch, dieses praktische Project zu verwirklichen. Selbst der Politik blieb er nicht ganz fremd, indem er in den letzten Jahren seines Lebens Vertreter Jena's im weimarischen Landtage war.

    Die Bedeutung Hildebrand's für die Entwickelung deutschen Lebens und deutscher Wissenschaft ist, diesem äußeren Lebensgange entsprechend, eine vielseitige. Als praktischer Staatsmann hat er im Frankfurter Parlament besonders an der Ausbildung der Grundrechte und des Heimathrechts mitgearbeitet, in der kurhessischen Ständeversammlung das Panier der Volksrechte und der constitutionellen Verfassungsform hochgehalten, für die Ausbildung des Grundsteuersystems sowie für die Ordnung des Staatshaushalts gewirkt, als praktischer Volkswirth zur Verbreitung des Eisenbahnwesens und der zeitgemäßen Ausbildung von Unterstützungs- und Creditvereinen beigetragen. Aber seine vornehmsten Leistungen liegen auf dem Gebiete der volkswirtschaftlichen Theorie. Als Kritiker früherer und herrschender Wirthschaftsdoctrinen bringt er den Entwicklungsgang der Wirthschaftswissenschaft in Verbindung mit den gleichzeitigen Erscheinungen in anderen Theilen der Staatswissenschaft, namentlich im philosophischen Staatsmächte, und stellte insbesondere die Lehre Adam Smith's dar als eine Phase in der Entwicklung der politischen Oekonomie, welche ähnlichen gleichzeitigen Erscheinungen der naturrechtlichen Schule der Staatslehre entspreche. In der Kritik des Socialismus, welcher in H. seinen entschiedensten und gründlichsten Gegner gefunden hat, weist er die unhistorische Ausfassung desselben nach und ficht in der Verkennung der Lebensbedingungen der Gesellschaft durch denselben den schlagendsten Beweis seiner Unhaltbarkeit. Noch deutlicher aber als in seinen kritischen Arbeiten prägt sich Hildebrand's historischer Sinn und seine wissenschaftliche Gesammt-auffassung in den späteren Abhandlungen über „Die gegenwärtige Aufgabe der Wissenschaft der Nationalökonomie" (1863), über „Natural-, Geld- und Creditwirthschaft“ (1864) und „Die Entwicklungsstufen der Geldwirthschaft“ (1876) aus, wo er direct das wirtschaftliche Leben, nicht blos die Theorie analysirt. Die Oekonomie der Völker, sagt er selbst, ist wie ihre Sprache, ihre Litteratur, ihr Recht und ihre Kunst ein Zweig der Civilisation; sie bewegt sich wie die übrigen Culturzweige in bestimmten naturgesetzlichen Grenzen; aber innerhalb dieser Grenzen ist sie ein Product der Freiheit und der Arbeit des menschlichen Geistes. Ihre Wissenschaft ist deshalb keine abstracte, die gleich den Naturwissenschaften für alle Verhältnisse in Zeit und Raum das gleiche Gesetz aufstellt und alles nach gleichem Maße mißt, sondern sie hat die Aufgabe, den historischen Entwicklungsgang sowol der einzelnen Völker als der ganzen Menschheit von Stufe zu Stufe zu erforschen, und auf diesem Wege den Ring zu erkennen, den die Arbeit des gegenwärtigen Geschlechts der Kette gesellschaftlicher Entwickelung hinzufügen soll. Nationalökonomische Culturgeschichte in Zusammenhang mit der Geschichte der gesammten politischen und rechtlichen Entwickelung der Völker, und|die Statistik der gegenwärtigen Zustände sind die einzig sicheren Grundlagen, auf denen ein gedeihlicher Weiterbau der nationalökonomischen Wissenschaft möglich erscheint. Von solchen Gesichtspunkten geleitet pflegte H. auch mit ausgesprochener Vorliebe die Wirthschaftsgeschichte, besonders der alten Welt mit ihrer abgeschlossenen Cultur (über die Bevölkerung des alten Italiens 1861 und 1866, die Vertheilung des Grundeigenthums im classischen Alterthum 1862 und 1869) und einzelner Zweige mittelalterlicher Wirthschaft (über deutsche Wollen- und Leinenindustrie 1866 und 1869, Preise, Löhne und Steuern in Althessen 1872 und 1875) und die Statistik, der er immer auf's Neue Probleme der theoretischen Nationalökonomie zur Lösung vorlegte; alle diese Arbeiten sind nicht blos durch die Fülle der Kenntniß und den Reichthum der Ideen, sondern auch die strenge Methode der Forschung Muster exacter nationalökonomischer Untersuchungen. Aber die Geschichte, sagt H. auch einmal, soll nicht der Deckmantel der Gesinnungslosigkeit werden und dahin führen, daß Männer der Wissenschaft den praktischen Zeitfragen aus dem Wege gehen. Das Verständniß der Gegenwart steht in lebendigster Wechselbeziehung mit dem Verständniß der Vergangenheit, und wem die Lebensbedingungen und Lebensaufgaben seiner eigenen Zeit fremd sind, dem fehlt auch das rechte Verständniß der Geschichte.

    • Literatur

      Ein vollständiges Verzeichniß seiner Schriften und Abhandlungen bei Conrad in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 30, wo auch ausführliche biographische Daten. Biographien u. A. von Scheel in Augsb. Allg. Zeitung 1878, Beil. Nr. 64. Neumann-Spallart in Statist. Monatsschrift, 1878. — Mohl, Geschichte und Litteratur der Staatswissenschaften, Bd. III. Roscher, Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland.

  • Autor/in

    Inama.
  • Zitierweise

    Inama von Sternegg, Theodor, "Hildebrand, Bruno" in: Allgemeine Deutsche Biographie 12 (1880), S. 399-402 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118550942.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA