Wiener, Hermann

Lebensdaten
1857 – 1939
Geburtsort
Karlsruhe
Sterbeort
Darmstadt
Beruf/Funktion
Mathematiker
Konfession
evangelisch
Normdaten
GND: 117362654 | OGND | VIAF: 20041382
Namensvarianten

  • Wiener, Hermann Ludwig Gustav
  • Wiener, Hermann
  • Wiener, Hermann Ludwig Gustav

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Zitierweise

Wiener, Hermann, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd117362654.html [30.12.2025].

CC0

  • Wiener, Hermann Ludwig Gustav

    | Mathematiker, * 15.5.1857 Karlsruhe, † 13.6.1939 Darmstadt. (evangelisch)

  • Genealogie

    V (Ludwig) Christian (1826–1896), Dr. phil., Prof. f. darstellende Geometrie an d. TH in K., GHR (s. ADB 42; NDB VIII*), S d. Alexander (1777–1845), aus Goddelau b. Groß-Gerau (Hessen), Kriminalrichter in D., u. d. Sophie Hüffel (1793–1873);
    M Pauline (1835–65), T d. August Hausrath (1806–1847), Stadtpfarrer u. Hofdiakon in K., Mitgründer d. Gustav-Adolf-Ver. in Baden (s. Bad. Biogrr. I, S. 336–40; NDB VIII*), u. d. Julie Weltzien (1805–1881);
    seit 1869 Stief-M Leopoldine (1834 – n. 1880), T d. August Friedrich Konrad Philipp v. Froben (1800–71), GR im bad. Kriegsrat, u. d. Marie Antonie Göringer ( 1850);
    Ov Karl Friedrich Wilhelm (1828–1919), Landger.dir. in Gießen, Om Adolf Hausrath (1837–1909), o. Prof. f. KGesch. u. neutestamentl. Exegese in Heidelberg (s. NDB VIII; Drüll, Heidelberger Gelehrtenlex. I), Tante-v Julie Henriette (1820–1903, Heinrich Konrad Brill, 1898–91, Buchdruckereibes. in D.);
    2 B u. a. Otto Heinrich (s. 2), 1 Halb-B Bernhard;
    Karlsruhe 1886 Anna (1863–1935), T d. Karl Friedrich Wilhelm Kühn ( v. 1886), Privatmann in Reichenbach, u. d. Johanne Christliebe Lindner ( v. 1886), angenommene T d. Moritz Reinhard, Obereinnehmer in Pforzheim;
    3 S Reinhard (* 1889), Hans (* 1890), Hermann Karl, 5 T (1 früh †) Paula (1887–1917), Hedwig (* 1892, Hans Erich Siebert,* 1892), Anneliese, Lotte;
    Vt Alexander v. Brill (1842–1935, württ. Adel 1897), o. Prof. f. Math. an d. Polytechn. Schule in D., am Polytechnikum in München u. an d. Univ. Tübingen, Mitgl. d. Bayer. Ak. d. Wiss., d. Leopoldina, d. Göttinger Ges. d. Wiss. u. d. Acc. der Lincei in Rom, Dr.-Ing. E. h. (s. Hess. Biogr.; NDB II).

  • Biographie

    Nach dem Besuch des Gymnasiums in Karlsruhe 1866–76 studierte W. – unterbrochen vom Militärdienst 1877/78–Mathematik und Naturwissenschaften an der dortigen Polytechnischen Schule. 1879 wechselte er an die Univ. und TH München (Dr. phil. 1881) und ging dann an die Univ. Leipzig, um bei Felix Klein (1849–1925) zu studieren. 1882 folgte das Staatsexamen für das Höhere Lehramt in Karlsruhe. W. war 1882–84 Assistent an der Polytechnischen Schule. Seit der Habilitation für Mathematik 1885 lehrte er als Privatdozent an der Univ. Halle. 1894 nahm er einen Ruf als Professor für Mathematik an die TH Darmstadt an (Dekan 1896–99 u. 1907–08, em. 1927).

    W. führte am Ende des für geometrische Forschung besonders empfänglichen 19. Jh. Begriffe und Methoden ein, durch die er zum Wegbereiter der Spiegelungsgeometrie und eines Paradigmenwechsels in der Geometrie wurde. Mit einer neuen Analysis suchte W. die von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) gegenüber René Descartes erhobene Forderung zu erfüllen, in der Geometrie nicht mit Zahlen, sondern mit geometrischen Objekten zu rechnen. Dabei wandte er die Methode an, eine geometrische Struktur in ihrer Automorphismengruppe zu studieren. Geometrische Beziehungen wie „Inzidenz“ und „Orthogonalität“ von Punkten P und Geraden g können so durch die Vertauschbarkeit entsprechender orthogonaler Kollineationen („Spiegelungen“) beschrieben und – wenn man wie W. Handlungen mit Gegenständen identifiziert – in Gleichungen wie PgPg = e oder ghgh = e (g ≠ h) übersetzt werden. Diesen Weg, der die Geometrie mit ihren Punkten und Geraden in die Bewegungsgruppe mit ihren involutorischen Elementen verschob, nannte W. eine „anschauliche Analysis“, weil „an jeder Stelle der Entwicklung der Uebergang von der Rechnung zur Anschauung oder umgekehrt ermöglicht“ ist. Hieraus entstand|schon zu W.s Lebzeiten durch Gerhard Hessenberg (1874–1925), Johannes Hjelmslev (1873–1950), Kurt Reidemeister (1893–1971), Gerhard Thomsen (1899–1934) und dann Friedrich Bachmann (1909–1982) die axiomatische „Spiegelungsgeometrie“, in der gruppentheoretische Begriffe veranschaulicht und geometrische Sätze rechnerisch bewiesen werden.

    Ein solcher Wandel setzte einen Verzicht auf geometrische Anschauung als Beweismittel voraus: In seinem Vortrag „Ueber Grundlagen und Aufbau der Geometrie“ (Jber. d. Dt. Mathematiker-Vereinigung 1, 1892, S. 45–48 u. Weiteres über Grundlagen u. Aufbau d. Geometrie, ebd. 3, 1894, S. 70–80) erhob W. die Forderung, beim Beweis eines Satzes nur jene Voraussetzungen zu benutzen, „von denen der Satz wirklich abhängt“. Damit stellte er, in dieser Radikalität als erster, das „Vorhandensein von gewissen Objekten und gewissen Operationen, durch die diese Objekte miteinander verknüpft werden“, an den Anfang einer Wissenschaft, in der die Operationen erst durch Gesetze („Axiome“) eine Bedeutung erhielten. Dieser Ansatz führte David Hilbert (1862–1943) – als Hörer dieses Vortrags – zu der berühmten Erklärung in seinen „Grundlagen der Geometrie“ : „Wir denken drei verschiedene Systeme: Punkte … Gerade … Ebene …“, welche den Beginn einer die Grundlagen betreffenden neuen Ontologie der Geometrie markieren.

    Als Beispiel für einen axiomatisch sparsamen Weg nannte W. den Aufbau der projektiven Inzidenzgeometrie, mit den von ihm als „Schließungssätze“ bezeichneten Dreiecksund Sechseckssatz von Desargues bzw. Pappos-Pascal. W. war der erste, der ihre Bedeutung für eine Kennzeichnung projektiver Ebenen erkannte. Sie führte ihn zu dem Hinweis, daß diese Sätze genügen, um – ohne Eigenschaften wie Metrik oder Stetigkeit benutzen zu müssen – einen graphischen Beweis des Fundamentalsatzes der projektiven Geometrie zu erbringen und so „die ganze lineare projektive Geometrie der Ebene“ zu entwickeln.

    W.s Anforderungen an wissenschaftliche Methode wurden wegweisend für geometrisches Denken in axiomatischen Strukturen. Dennoch wußte er, daß neben der Analyse und Synthese die Anschauung ein wesentliches Element der geometrischen Deduktion bildet.

    Sein kaum bekannter Weg zu einer operativen Geometrie der ‚Papierstreifen‘ und ‚Drahtmodelle‘, die räumliches Vorstellen und intuitives Erfinden mit logischem Erklären verbindet, belegt dies.

  • Auszeichnungen

    |Gründungsmitgl. d. Dt. Mathematiker-Vereinigung (1891);
    Mitgl. d. Leopoldina (1895);
    Preisträger b. d. Weltausst. in Chicago (1895);
    GHR (1907).

  • Werke

    Weitere W u. a. Über Involutionen auf ebenen Curven, 1881 (Diss.);
    Rein geometr. Theorie d. Darst. binärer Formen durch Punktgruppen auf d. Geraden, 1885 (1. T. Habil.schr.);
    Die Zus.setzung zweier endl. Schraubungen z. e. einzigen, in: Berr. über d. Verhh. d. kgl.-sächs. Ges. d. Wiss. z. Leipzig, Math.-Phys. Kl. 42, 1890, S. 13–23;
    Zur Theorie d. Umwendungen, ebd., S. 71–87;
    Ueber geometr. Analysen, ebd., S. 245–67 u. Forts., ebd. 43, 1891, S. 424–47;
    Ueber d. aus zwei Spiegelungen zus.gesetzten Verwandtschaften, ebd., S. 644–73;
    Ueber Gruppen vertauschbarer zweispiegeliger Verwandtschaften, ebd. 45, 1893, S. 555–98;
    Geometr. Invariantentheorie d. binären Formen, in: Jber. d. Dt. Mathematiker-Vereinigung 17, 1908, S. 291–313;
    Über d. Wert d. Anschauungsmittel f. d. math. Ausbildung, neue math. Modelle aus B. G. Teubners Slg., ebd. 22, 1913, S. 214–97 u. S. 299–306;
    Herstellung d. platon. Körper aus Papierstreifen, 6 Modelle hergestellt aus Draht mit eingespannten Fäden, in: W. v. Dyck (Hg.), Kat. math. u. math.-physikal. Modelle, Apparate u. Instrumente, 1893, S. 52–55;
    Die Eintheilung d. ebenen Curven u. Kegel 3. Ordnung in 13 Gattungen, 1901;
    Verz. v. H. W.s u. P. Treutleins Slg. math. Modelle f. Hochschulen, höhere Lehranstalten u. techn. Fachschulen, 1911, ²1912.

  • Literatur

    |G. Thomsen, Grundlagen d. Elementargeometrie, 1933;
    O. Blumenthal, Lebensgesch., in: David Hilberts ges. Abhh., Bd. 3, 1935, S. 388–429;
    J. Schönbeck, H. W. (1857–1939) u. d. Grundlagen d. Geometrie, in: Btrr. z. Math.unterr., 1985, S. 279–81;
    ders., H. W. (1857–1939), d. Begr. d. Spiegelungsgeometrie, in: Jb. Überblicke Math., 1986, S. 81–104 (P);
    ders., Ein geometr. Rechenverfahren, H. W.s Methode d. Spiegelgleichungen, in: Der Math.unterr. 1, 1989, S. 30–36;
    M.-M. Toepell, Über d. Entstehung v. David Hilberts „Grundlagen d. Geometrie“, 1986;
    G. Fischer, F. Hirzebruch, W. Scharlau u. W. Törnig (Hg.), Ein Jh. Math. 1890–1990, FS z. Jub. d. Dt. Mathematiker-Vereinigung, 1990;
    K. Volkert (Hg.), David Hilbert, Grundlagen d. Geometrie (FS 1899), 2015;
    M. Friedman, Two Beginnings of Geometry and Folding, H. W. and Sudara Row, in: Journ. of the British Soc. for Hist. of Mathematics 31, 2016, H. 1, S. 52–56;
    Pogg. IV–VI;
    Lex. bed. Mathematiker;
    Bad. Biogrr. NF 4.

  • Porträts

    |Photogr. (Archiv d. Univ. Halle-Wittenberg).

  • Autor/in

    Jürgen Schönbeck †
  • Zitierweise

    Schönbeck, Jürgen, "Wiener, Hermann Ludwig Gustav" in: Neue Deutsche Biographie 28 (2024), S. 87-88 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd117362654.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA