Lebensdaten
1900 – 1992
Geburtsort
Reval (Tallinn)
Sterbeort
Marburg/ Lahn
Beruf/Funktion
Historiker ; Bibliothekar ; Politiker in Estland ; Wissenschaftsorganisator
Konfession
lutherisch
Namensvarianten
  • Weiss, Hellmuth, Weiss, Franz Robert Hellmuth

Verknüpfungen

Von der Person ausgehende Verknüpfungen

Personen im NDB Artikel

Verknüpfungen zu anderen Personen wurden aus den Registerangaben von NDB und ADB übernommen und durch computerlinguistische Analyse und Identifikation gewonnen. Soweit möglich wird auf Artikel verwiesen, andernfalls auf das Digitalisat.

Orte

Symbole auf der Karte
Marker Geburtsort Geburtsort
Marker Wirkungsort Wirkungsort
Marker Sterbeort Sterbeort
Marker Begräbnisort Begräbnisort

Auf der Karte werden im Anfangszustand bereits alle zu der Person lokalisierten Orte eingetragen und bei Überlagerung je nach Zoomstufe zusammengefaßt. Der Schatten des Symbols ist etwas stärker und es kann durch Klick aufgefaltet werden. Jeder Ort bietet bei Klick oder Mouseover einen Infokasten. Über den Ortsnamen kann eine Suche im Datenbestand ausgelöst werden.

Zitierweise

Weiss, Hellmuth, Weiss, Franz Robert Hellmuth, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/sfz140135.html [28.04.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Robert (1863–1944), Buchhändler, Verl., Mitinh. d. Fa. Kluge & Ströhm, Mitgl., zeitweise Ältermann d. Gr. Gilde in R., S d. Carl Georg (1832–69), Dr. med., u. d. Adeline Franziska Charlotte Kluge (1841–1918), beide aus R.;
    M Emma Johanna Elisabeth (1868–1944), aus Memel, T d. Friedrich August Heinrich Gleich (1841–1900), aus Prökuls b. Memel, Kaufm. in Berlin, u. d. Friederike Lisette Emma Frobeen (1845–1924), aus Memel;
    Reval 1928 Lis-Mari (1905–76), aus R., T d. Carl Alexander Stempel (1869–1945), aus R., Textilkaufm. ebd., u. d. Mary Julie Bade (1870–1956), aus Helsinki.

  • Biographie

    W. wuchs dreisprachig auf (Dt. als Muttersprache, estn. u. russ.) und besuchte ab 1910 die Domschule zu Reval (Reifeprüfung 1918). Anschließend begann er, an der im Sept. 1918 wiedereröffneten Univ. Dorpat (estn. Tartu) Geschichte zu studieren. Vom Nov. 1918 bis März 1920 kämpfte er als Freiwilliger im „Baltenregiment“ im estn. Freiheitskrieg gegen die Bolschewiki. Sein Studium der Geschichte, Geographie und Germanistik setzte er in Greifswald, ab 1921 in Tübingen fort, wo er 1925 bei dem Mediävisten Johannes Haller (1865–1947) zum Dr. phil. promoviert wurde.

    Zurück in Reval, absolvierte W. 1925 / 26 die Ausbildung zum Bibliothekar und wurde 1927 Direktor der Bibliothek der „Estländischen Literärischen Gesellschaft“. Hier gelang ihm 1929 der spektakuläre Fund der Fragmente des ältesten Buchdrucks in estn. Sprache („Wanradt-Koell’scher Katechismus“). Diese edierte er 1929 / 30 zusammen mit seinem Freund Paul Johansen (1901–65), dem Leiter des Stadtarchivs Reval. 1930 übernahm W. die Leitung des 1925 eingerichteten Kulturamts der Dt. Kulturselbstverwaltung, die aufgrund des in Europa als vorbildlich geltenden estn. Gesetzes über die Kulturautonomie der nationalen Minderheiten von 1925 eingeführt worden war. Seit 1933 Vizepräsident der Kulturselbstverwaltung, seit 1938 deren Präsident, war W. in Nachfolge von Wilhelm v. Wrangell (1894–1976) höchster Repräsentant der dt. Minderheit in Estland. 1937–39 gehörte W. der zweiten Kammer der estn. Nationalversammlung an, wo er die Kulturselbstverwaltungen der Deutschen und der Juden vertrat. Von Okt. bis Dez. 1939 mußte er die im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes vom Aug. 1939 vorgesehene Umsiedlung der Deutschen aus Estland in die als „Reichsgau Wartheland“ von Deutschland annektierten poln. Gebiete organisieren. Im März 1940 kam er nach Posen, in die Hauptstadt des neugeschaffenen „Reichsgaus“, und erhielt die dt. Staatsbürgerschaft. W. wurde Anfang 1940 dt.balt. Berater der (reichs)dt. Kommission für die dt.-estn. Kulturgüterverhandlungen. Bis Aug. oder Sept. 1940 begleitete er auch die Arbeit der dt. Archivkommission in Estland, danach die Vorbereitung der Nachumsiedlung.

    Nach der Umsiedlung wurde W. im Mai 1940 trotz häufiger Abwesenheit (wegen des Einsatzes im Baltikum) wiss. Leiter der Buchsammelstelle der neugegründeten Reichsuniv. Posen. W. soll wohl im Rahmen dieser Tätigkeit Ende Sept. 1940 an der Schließung der exilruss. Turgenev-Bibliothek in Paris beteiligt gewesen sein, aus der im Okt. ca. 100000 Bände und das Literaturarchiv im Auftrag des „Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg“ konfisziert und abtransportiert wurden. Einzelheiten über die Beteiligung von W. sind noch zu klären. Die Leitung der Buchsammelstelle hatte W. de jure bis zum Ende der Reichsuniv. Posen inne, faktisch allerdings nur bis Jan. 1941, als er Gebietsbevollmächtigter für die Nachumsiedlung von Deutschen aus dem inzwischen sowjet. besetzten Estland wurde. Ein Anfang Mai 1941 gestellter Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP trat zum 1. 1. 1942 in Kraft. Nach der dt. Besetzung der balt. Staaten im Juli 1941 wurde W. per Notdienstverpflichtung Leiter der Abt. Kulturpolitik der dt. Zivilverwaltung in Estland, wo er sich u. a. für die Wiedereröffnung der Univ. Dorpat einsetzte. Als die dt. Truppen nach dem Zusammenbruch der Ostfront im Sommer 1944 die balt. Region verlassen mußten, organisierte W. die Evakuierung von etwa zwei Dritteln des Bestands „Ratsarchiv Reval“ aus dem dortigen Stadtarchiv nach Deutschland, wo diese bis 1979 in Göttingen, später in Koblenz aufbewahrt wurden, bis sie gemäß dem von W. 1944 unterzeichneten Übergabeprotokoll 1990 nach Tallinn zurückgebracht wurden. Im Sept. 1944 wurde W. zur Wehrmacht eingezogen und im Sept. 1945 aus sowjet. Kriegsgefangenschaft entlassen. Bis 1947 war er als Dolmetscher in Potsdam tätig, floh dann aber in den Westen Deutschlands. 1949 wurde er durch den Entnazifizierungs-Hauptausschuß in Lüneburg als „entlastet“ eingestuft.

    1950 gehörte W. neben 22 weiteren Gelehrten zu den Gründern des J. G. Herder-Forschungsrats und des von diesem getragenen Herder-Instituts in Marburg. Beruflich kam er schon im Sept. 1951 in das Institut und übernahm 1952 die Leitung der Bibliothek (Aufbau des „Gesamtkatalogs Ostmitteleuropa“), von 1959 bis zu seiner Pensionierung 1965 war er Direktor des Instituts, wobei er insbesondere für den Auf- und Ausbau der wiss. Sammlungen sorgte. Darüber hinaus war er bis 1970 Geschäftsführer des Herder-Forschungsrats und trug so an zentraler Stelle Verantwortung für diesen „Forschungsverbund Ostmitteleuropa“, der neben dem Herder-Institut aus fünf bis sieben Fachkommissionen bestand und zu dem sechs, später sieben Historische Kommissionen für die historischen dt. Ost- und Siedlungsgebiete im östlichen Mitteleuropa| gehörten. 1960–90 war W. Mitherausgeber der „Zeitschrift für Ostforschung“, 1960–69 Herausgeber der „Marburger Ostforschungen“. 1954–78 (Berichtszeitraum 1945–77) erschienen die Lieferungen der „Baltischen Bibliographie“ in der „Zeitschrift für Ostforschung“. Besondere Verdienste erwarb sich W. um die Förderung der balt. Studien. Mit weit über 100 eigenen Publikationen, meist in Sammelwerken und Handbüchern, hat er selbst aktiv an dieser Arbeit mitgewirkt. W. gilt als „der letzte deutschbaltische Landespolitiker (…), der aber immer auch Wissenschaftler war und blieb“ (v. Pistohlkors).

  • Auszeichnungen

    |estn. Adler-Kreuz-Orden (1935);
    BVK 1. Kl. (1972);
    Ehrenmitgl. d. Balt. Hist. Komm. (1975);
    Ehrenurk. d. Dt.balt. Landsmannschaft im Bundesgebiet (1976);
    Ehrenbrief d. Landes Hessen (1980);
    FS „Reval u. d. balt. Länder“ (1980);
    Mare Balticum Medaille d. Martin-Carl-Adolf-Böckler-Stiftung (1981);
    o. Mitgl. d. Gel. Estn. Ges. in Dorpat (1938, Ehrenmitgl. 1992).

  • Werke

    |u. a. Frankr.s Pol. in d. Rheinlanden am Vorabend d. Hundertj. Krieges, Diss. Tübingen, gedr. Reval 1927;
    Bruchstücke e. niederdt.-estn. Katechismus v. J. 1535, in: Btrr. z. Kunde Estlands 15, 1929 / 30, S. 95–133 (mit P. Johansen), estn. Übers. 1935;
    mehrere NDB-Art. (A. Knopken, W. Hasselblatt, W. Hau, B. Hoeneke u. P. Johansen);
    W-Verz., bearb. v. H. v. Chmielewski, in: Reval u. d. balt. Länder, FS f. H. W. (s. L), S. 509–16.

  • Literatur

    |J. v. Hehn u. R. Schmidt, Zum 80. Geb.tag v. H. W., in: Reval u. d. balt. Länder, FS f. H. W. z. 80. Geb.tag, hg. v. J. v. Hehn u. C. J. Kenéz, 1980, S. XI– XVI (W-Verz., P);
    P. Kaegbein, in: Btrr. zu e. balt. Kunstgesch., [1983], S. 24–30;
    E. Schubbe, in: Kulturpolit. Korr. (Bonn), Nr. 836 v. 15. 7. 1992, S. 9 f.;
    H. Weczerka, in: Zs. f. Ostforsch. 41, 1992, H. 4, S. 481–88;
    B. Filaretow, Lex. dt.balt. Wissenschaftler, 1994, S. 298–301;
    G. v. Pistohlkors, in: Jb. d. balt. Dt.tums 41, 1994, S. 9–15;
    W. Lenz, Die Verlagerung d. Revaler StadtA im Rahmen d. „Archivschutzes“ während d. Zweiten Weltkrieges, in: Reval, Handel u. Wandel v. 13. bis z. 20. Jh., hg. v. N. Angermann u. W. Lenz, 1997, S. 397–443;
    P. Kennedy Grimsted, The Odyssey of the Turgenev-Library from Paris, 1940–2002, 2003;
    D. M. Goeze u. P. Wörster, Balt. Gesch. im Archiv, 2017, S. 78 f. (P);
    P. Wörster, Zw. Wiss., Pol. u. Administration, H. W. als Wissenschaftler u. letzter dt.balt. Landespolitiker (im Druck);
    Lex. wiss. Bibliothekare II;
    Kürschner, Gel.-Kal. 1992;
    Dt.balt. Biogr. Lex.;
    Mitt. v. Hans-Jürgen Weiss, Alzenau.

  • Autor/in

    Peter Wörster
  • Zitierweise

    Wörster, Peter, "Weiss, Hellmuth, Weiss, Franz Robert Hellmuth" in: Neue Deutsche Biographie 27 (2020), S. 690-692 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/sfz140135.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA