Wollheim, Norbert

Lebensdaten
1913 – 1998
Geburtsort
Berlin
Beruf/Funktion
Wirtschaftsprüfer ; Steuerberater ; Funktionär jüdischer Organisationen
Konfession
jüdisch
Namensvarianten

  • Wollheim, Norbert

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Zitierweise

Wollheim, Norbert, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/sfz142966.html [15.12.2025].

CC0

  • Wollheim, Norbert

    | Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Funktionär jüdischer Organisationen, * 26.4.1913 Berlin, † 1.11.1998 Queens (New York City). (jüdisch)

  • Genealogie

    V Moritz (1881–1942 Auschwitz), aus Ostrowo (Prov. Posen), Handelsvertr. ebd., später in B., im 1. Weltkrieg Soldat, Mitgl. d. Reichsbunds jüd. Frontsoldaten, S d. Heimann (Hermann?), preuß. Soldat, u. d. Bertha Agnielska;
    M Elsa (1877–1942 Auschwitz), aus B., T d. Moritz Cohn, preuß. Soldat, u. d. Frieda Cohn;
    Schw Ruth (1910–43 Auschwitz);
    1938 Rosa Mandelbrod (1912–43 Auschwitz), 2) 1947 Frieda (Friedel) Senta (1921–1977), Überlebende u. a. d. KZ Stutthof, T d. Georg Löwenberg (1879–1942) u. d. Taube Nochem (1887–1942), 3) Charlotte (1928 – vermutl. 2004, 1] Harry Sprung), emigrierte 1938 in d. USA, T d. Fritz Levy, Textilkaufm. in Aschaffenburg, u. d. Lucie N. N.;
    1 S aus 1) Uriel Peter (1939–42/43 Auschwitz), 1 S aus 2) Peter (1948–2015 Suizid), M. A., Ausbilder, Gesundheitsberater, Prof. in New York, Gründungsmitgl. d. Idaho Suicide Prevention Action Network,|1 T aus 2) Ruth Wachter Carroll (* 1950), in Lakewood (New Jersey USA), 2 Stief-S aus 3) Peter, Jeffrey, in Seattle.

  • Biographie

    Nach dem Abitur 1931 in Berlin studierte W. hier Rechtswissenschaften und Nationalökonomie mit dem Ziel, Rechtsanwalt zu werden. 1933 gab er sein Studium auf, weil sein Berufswunsch für ihn als Jude im NS-Staat nicht zu erreichen war, und wandte sich der jüd. Jugend- und Sozialarbeit zu. Er unterstützte die Reichsvertretung der Juden in Deutschland dabei, Jugendliche in handwerklichen Berufen auszubilden und auf ihre Ausreise vorzubereiten. 1935–38 arbeitete er in Berlin zudem für eine auf den Im- und Export von Erz spezialisierte Firma. Nach den Novemberpogromen 1938 betätigte er sich für den Reichsverband bzw. die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland als Leiter der „Kindertransporte“ von Berlin nach Großbritannien, von denen er viele begleitete.

    Seit Ende 1941 mußte er Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten. Im März 1943 wurde er nach Auschwitz deportiert, wo er im Lager Monowitz unter der Häftlingsnummer 107984 als Zwangsarbeiter im Buna-Werk des I.G. Farben-Konzerns eingesetzt wurde.

    Im Zuge der Lagerräumung im Jan. 1945 wurde er in das KZ Sachsenhausen verlegt und von dort auf einen Todesmarsch geschickt, bei dem ihm Anfang Mai 1945 die Flucht gelang. W.s gesamte Familie wurde ermordet, insgesamt etwa 70 Personen.

    W. ließ sich in Lübeck nieder, wo er sich für den Aufbau des jüd. Gemeindelebens einsetzte und sich um die Überlebenden des KZ Bergen-Belsen kümmerte. Im Sept. 1945 wurde er 2. Vorsitzender des Zentralkomitees der befreiten Juden in der brit. Zone, 1946 Vorsitzender des Zonenausschusses der jüd. Gemeinden, Vorsitzender des Verbands der Jüd. Gemeinden Nordwestdeutschlands und Mitbegründer der Jewish Trust Corporation der brit. Zone sowie 1950 Mitglied des ersten Direktoriums des Zentralrats der Juden in Deutschland. W. sagte in mehreren Prozessen als Zeuge aus: 1947/48 im Nürnberger Prozeß gegen die I.G. Farben, 1949 vor dem Landgericht Hamburg im Prozeß gegen den Filmregisseur Veit Harlan (1899–1964) und 1964 vor dem Landgericht Frankfurt/M. im Auschwitz-Prozeß. Ehe W. 1951 in die USA emigrierte, wo er als Buchprüfer und Wirtschaftsberater tätig war und sich weiterhin ehrenamtlich für jüd. Organisationen engagierte, bereitete er mit dem Rechtsanwalt Henry Ormond (1901–1973) eine zivilrechtliche Klage beim Landgericht Frankfurt/M. gegen die I.G. Farben AG in Liquidation (i.L.) vor: auf Schadensersatz, Schmerzensgeld und Arbeitslohn für seine erzwungene Arbeit.

    Die Klage wurde im Nov. 1951 eingereicht, im Jan. 1952 folgte der Musterprozeß. Im Juni 1953 erhielten die Kläger in allen Punkten Recht. Das Gericht verurteilte die I.G. Farben i.L. auf der Grundlage des BGB zur Zahlung von 10 000 DM plus Zinsen. Das war ein aufsehenerregendes Grundsatzurteil: Zum ersten Mal wurde einem ehemaligen KZ-Häftling ein Entschädigungsanspruch gegen ein privatwirtschaftliches Unternehmen zugesprochen. Im Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/M. kam es im Febr. 1957 zu einer außergerichtlichen Einigung, an der auch die Claims Conference beteiligt war. Die I.G. Farben i.L. verpflichteten sich, 30 Mio. DM zu zahlen. Über 5800 jüd. und einige hundert nichtjüd. ehemalige Zwangsarbeiter des Konzerns erhielten am Ende eine Einmalzahlung von jeweils zwischen 2500 und 5000 DM.

    W.s Klage war ein großer Erfolg, auch wenn die I.G. Farben i.L. weitere Geldleistungen ausschlossen und den Vergleich nicht als Anerkennung einer rechtlichen Verpflichtung, sondern als Akt guten Willens verstanden.

    Der Claims Conference gelang es danach, weitere Entschädigungsabkommen mit Industriekonzernen zu schließen. Erst in den späten 1990er Jahren – auf massiven Druck aus den USA – leisteten dt. Unternehmen Entschädigung: 2000 entstand die „Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ mit einem Fonds von 10 Mrd. DM, aufgebracht von der Bundesregierung und der Stiftungsinitiative der dt. Wirtschaft, der etwa 6500 Unternehmen beitraten, darunter mit Bayer und BASF zwei Nachfolgegesellschaften der I.G. Farben.

    Etwa 1,6 Mio. Männer und Frauen, v. a. aus Osteuropa, erhielten bis 2007 Entschädigungsleistungen. W. erlebte die Durchsetzung seiner moralisch-humanitären Forderungen nicht mehr.

  • Auszeichnungen

    |Gedenktafel im Hauptgebäude d. Univ. Frankfurt/M., ehem. Konzernsitz d. I.G. Farben Werke (2001);
    W.-Memorial, entworfen v. H. Blum, auf d. Campus Westend d. Univ. Frankfurt/M. (2008);
    N.-W.-Platz v. d. Hauptgebäude d. Univ. Frankfurt/M. (2014);
    Mitgl. d. World Federation of Bergen-Belsen Survivors, d. World Federation of Holocaust Survivors, d. United Jewish Appeal, d. World Gathering of Jewish Holocaust Survivors u. d. United States Holocaust Memorial Council;
    Vors. d. jüd.kons. Gde. in Fresh Meadows, New York.

  • Werke

    |Zum 9. Nov. 1948, Rede an d. Jüd. Gde. Hamburg auf d. Gedenkstunde z. zehnten J.tag d. Beginns d. Pogrome in Dtld., 1948;
    Die Behandlung d. Judenfrage durch d. nat.sozialist. Reg., in: H. Pardo u. S. Schiffner (Hg.), Jud Süß, Hist. u. jur. Material z.|Fall Veit Harlan, 1949, S. 11–14;
    Belsen’s Place in the Process of „Death-and-Rebirth“ of the Jewish People, in: Irgun Sheerit Hapleita Me’haezor Habriti (Hg.), Belsen, 1957, S. 52–66;
    Jüd. Selbstverw. in d. brit. Zone, in: M. Brenner (Hg.), Nach d. Holocaust, Juden in Dtld. 1945–1950, 1995, S. 141–47;
    „Wir haben Stellung bezogen“, in: R. Ch. Schneider (Hg.), Wir sind da!, Die Gesch. d. Juden in Dtld. v. 1945 bis heute, 2000, S. 108–20;
    – Publizist. Tätigkeit 1948–51 f. d. Jüd. Gde.bl. bzw. d. spätere Allg. Wochenztg. d. Juden in Dtld., darunter programmat. Art. z. Arb. in jüd. Organisationen, z. Kritik an nationalist. u. antisemit. Kontinuitäten in d. dt. Ges. u. Kommentare z. Gründung d. Staates Israel, Übersicht in d. Internetseiten d. Wollheim-Memorial;
    Nachlaß: United States Holocaust Memorial Mus., Washington DC (P);
    gedr. Qu: M. J. Harris u. D. Oppenheimer, Kindertransport in e. fremde Welt, 2000, darin Aussagen v. N. W., S. 62–65, 111–13, 129–31, 161 f., 189–95, 302 f., 366 f. u. 433 f.;
    Y. A. Jelinek (Hg.), Zw. Moral u. Realpol., Dt.-israel. Beziehungen 1945–65, Eine Dok.slg., 1997, darin Berr. v. N. W. über seine beiden Treffen mit Bundespräs. Theodor Heuss 1950, Dok. Nr. 4, S. 135–38, u. Nr. 7, S. 143–47;
    E. Lüth, Die Friedensbitte an Israel 1951, Eine Hamburger Initiative, Mit Btrr. v. R. Küstermeier, Dr. Moshe Tavor u. N. W., 1976, darin Brief v. N. W. an E. Lüth v. 26. April 1976, S. 102–05;
    Interviews mit d. Filmemacher N. Creutzfeldt, 1986–88, u. d. United States Holocaust Memorial Mus., 1991;
    Internetseiten d. Wollheim-Memorial.

  • Literatur

    L W. Benz, In Sachen W. gegen I.G. Farben, Von d. Feststellungsklage z. Vgl., Der Frankfurter Lehrprozeß, in: Dachauer Hh. 2, 1986, S. 142–74;
    ders., Der W.-Prozeß, Zwangsarb. f. I.G. Farben in Auschwitz, in: L. Herbst u. C. Goschler (Hg.), Wiedergutmachung in d. Bundesrep. Dtld., 1989, S. 303–26;
    ders., Dt. Juden im 20. Jh., Eine Gesch. in Porträts, 2011, S. 145–83;
    A. Byers, Saving German Children from the Holocaust, The Kindertransport, 2011, S. 14–25;
    J. Hersey, Tattoo Number 107,907, in: ders., Here to Stay, 1963, S. 189–239 (Kurzgesch. auf d. Basis v. Berr. W.s), dt. Übers. u. d. T. „Auschwitz-Häftling Nr. 107.907“ in: Die Zeit v. 20. u. 27.1.1995;
    S. Jochims-Bozic, „Lübeck ist nur e. kurze Station auf d. jüd. Wanderweg“, Jüd. Leben in Schleswig-Holstein 1945–1950, 2004, S. 58–68;
    Th. Irmer, „Ihr langes Schweigen ist sicherl. tiefe Resignation …“, N. W., Edmund Bartl, Hermann Langbein u. d. Auseinandersetzung um Entschädigung f. NS-Zwangsarbeit n. 1945, in: K. Stengel (Hg.), Opfer als Akteure, Interventionen ehem. NS-Verfolgter in d. Nachkriegszeit, 2008, S. 87–105;
    K. Stengel, Konkurrenz um verknappte Mittel, Jüd., poln., kommunist. Auschwitz-Häftlinge in d. Verhh. z. Wollheim-Abkommen, 2008 (Internetseiten d. Wollheim-Memorial);
    P. Heuss, N. W. (26. April 1913–1. Nov. 1998), Eine biogr. Skizze, 2009 (Internetseiten d. Wollheim-Memorial);
    J. R. Rumpf, Der Fall W. gegen d. I.G. Farbenind. AG in Liquidation, Die erste Musterklage e. ehem. Zwangsarbeiters in d. Bundesrep. Dtld., Prozess, Pol. u. Presse, 2010;
    K. Rauschenberger u. W. Renz (Hg.), Henry Ormond, Anwalt d. Opfer, Plädoyers in NS-Prozessen, 2015;
    Internetseiten d. Wollheim Memorial (P), d. Goethe-Univ. u. d. Fritz Bauer Inst., Frankfurt/M.;
    Nachruf: New York Times v. 3.11.1998 (Internet).

  • Autor/in

    Sybille Steinbacher
  • Zitierweise

    Steinbacher, Sybille, "Wollheim, Norbert" in: Neue Deutsche Biographie 28 (2024), S. 486-488 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/sfz142966.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA