Lebensdaten
1841 – 1909
Geburtsort
Ofen (Buda, heute Budapest)
Sterbeort
Graz
Beruf/Funktion
Strafrechtler ; Kriminalpolitiker
Konfession
-
Normdaten
GND: 115487964 | OGND | VIAF: 74582560
Namensvarianten
  • Vargha, Julius von (bis etwa 1863)
  • Vargha, Julius
  • Vargha, Julius von (bis etwa 1863)
  • mehr

Quellen(nachweise)

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Zitierweise

Vargha, Julius, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd115487964.html [20.04.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Ludwig v. V., Gutsbes. in Pest (Budapest);
    M N. N.; ledig.

  • Biographie

    Früh verwaist, kam V. zu Verwandten nach Linz und später nach Neuhaus (Böhmen), wo er das Gymnasium abschloß. 1860 begann er das rechtswissenschaftliche Studium in Prag, das er nach Absolvierung des rechtshistorischen Studienabschnitts in Graz fortsetzte und 1863 abschloß (Dr. iur. 1866). Die Absicht, sich 1869 bei Wilhelm Wahlberg (1824–1901) in Wien zu habilitieren, gab er zunächst auf und unternahm Studienreisen nach Italien, Frankreich, Deutschland und in die Schweiz. Die Freundschaft mit Martino Beltrani-Scalia (1828–1909), dem Herausgeber der „Rivista di discipline carcerarie“, ermöglichte V. Einblick in das ital. Gefängniswesen. Zeitweise lehrte er auch am Liceo Dante in Florenz. 1875 habilitierte er sich in Graz (Die Verteidigung im Vorverfahren n. d. österr. Strafprozeßordnung v. 23. Mai 1873, ungedr.). 1879 erschien „Die Verteidigung in Strafsachen“, worauf er 1880 ein unbesoldetes, 1882 ein besoldetes Extraordinariat erhielt. Nach dem Erscheinen seiner Streitschrift „Die Abschaffung der Strafknechtschaft“ (2 T., 1896/97) 1897 nur mit dem Titel eines o. Professors ausgestattet, erhielt er 1902 das Ordinariat für Rechtsphilosophie und Völkerrecht ad personam, 1905 wurden ihm Strafrecht und Strafprozeßrecht als Nominalfächer übertragen.

    Aus heutiger Sicht liegt V.s herausragendes Verdienst auf dem Gebiet der Kriminalpolitik und der Kriminologie. Er hatte schon in seiner Habilitationschrift vehement die Möglichkeit einer langen Verwahrungshaft, den Ausschluß der Öffentlichkeit im Vorverfahren und speziell die Nichtzulassung eines Verteidigers im Zuge der Vernehmung des Beschuldigten sowie der Zeugen kritisiert. Weitere Vorstellungen von einem besseren Strafrecht legte V. in „Die Abschaffung der Strafknechtschaft“ nieder, die in den USA rezipiert und zitiert wurden. Seine Theorien bauten auf den Ideen und Ansätzen der Vertreter der Lyoner Schule wie Alexandre Lacassagne (1843–1924) oder Gabriel Tarde (1843–1904) sowie auf den Erkenntnissen Émile Durkheims (1858–1917) und den soziologischen Überlegungen von Carl Menger (1840–1921) und Ludwig Gumplowicz (1838–1909) auf. V., der 1906 die Einladung zur Kommentierung des österr. Strafgesetzbuchentwurfs ablehnte, um nicht dessen Annahme zu präjudizieren, forderte u. a. die Beschränkung in der Anwendung unbedingter Freiheitsstrafen nur auf schwerste Taten, v. a. bei Jugendlichen. Er plädierte stattdessen für die Einführung einer – von ihm „Bevormundungsstrafe“ genannten – bedingten Verurteilung, bedingtem Straferlaß und bedingter Entlassung aus dem Strafvollzug unter Setzung einer Bewährungshilfe, um die Möglichkeit der Besserung offen zu halten. Die Todesstrafe lehnte er als reinen Rachevollzug ab. Im Prozeßrecht forderte V. daher ein Schuldinterlokut und für die anschließende Strafzumessung die Zuziehung von Strafvollzugsfachleuten; die Generalprävention als Strafzumessungsgrund lehnte er als unwirksame|Abschreckungsmaßnahme ab. Die von V. geforderten Maßnahmen fanden schrittweise über längere Zeit Eingang in das Straf- und Strafvollzugsrecht (Österr. Gesetz über d. Bedingte Verurteilung, 1920; Jugendger.gesetz [JGG] 1929; v. a. Österr. StGB 1975 u. Österr. Strafvollzugsgesetz 1971 u. 1975 ).

    Im Bereich der Kriminologie formulierte V. in „Die Abschaffung der Strafknechtschaft“ die sog. Etikettierungstheorie (labeling-approach) mehr als ein halbes Jahrhundert vor Louis Wirth (1897–1952), Howard S. Becker (* 1928) oder David Matza (* 1930) (USA) vollständig aus. Ausgehend davon, daß die täterorientierten Kriminalitätstheorien keine ausreichende Basis für die Definition der Begriffe Verbrechen und Verbrecher boten, kam V. zu der Erkenntnis, daß diese Definition nur vom legalen Standpunkt aus gefunden werden könne: Je nach Rechtssystem könne die gleiche Handlung ein Verbrechen sein oder nicht. Das dem Strafurteil folgende Ausstoßen des als Verbrecher Abgestempelten (Etikettierten) verstärke weiteres abweichendes Verhalten, woran die Gesellschaft Mitschuld trage. V.s Theorie wurde von Fachkollegen heftig und polemisch kritisiert und nur von wenigen als mutig bezeichnet. Ende des 19. Jh. war eine Mitschuld der Gesellschaft an der Kriminalität unvorstellbar, obwohl V. nicht, wie spätere dt. Kriminalsoziologen wie etwa Fritz Sack (* 1931) seinen Etikettierungsansatz mit Ausschließlichkeitsanspruch versah, sondern im Gegenteil versuchte, ihn mit den täterorientierten Kriminalitätstheorien zu vereinen. Die Nichtbeachtung von V.s Überlegungen in Europa führte dazu, daß die anglo-amerik. Strafrechtswissenschaft, deren interaktionistische Kriminalitätstheorie man in Deutschland in den 1960er Jahren intensiv diskutierte, auf diesem Gebiet führend wurde. V.s Streitschrift „Die Abschaffung der Strafknechtschaft“ ist an der Harvard Univ. seit 1919 vorhanden und wurde auch in der dt. Fassung von Georg Rusche und Otto Kirchheimer, „Punishment and Social Structure“, 1939 (s. L) zitiert.

  • Auszeichnungen

    A Rr. d. schwed. Wasa-Ordens.

  • Werke

    Weitere W Das rechtswidrige Besitzergreifen v. bewegl. Sachen, Krit. Gesichtspunkte z. österr. Strafgesetzentwurf;
    Das Strafprozeßrecht, 1885, ²1907;
    Nekr. f. Prof. Theodor Reinhold Schütze, in: Der Ger.saal 55, 1898, S. 455–58.

  • Literatur

    L R. Hoegel, Buchbesprechung: Die Abschaffung d. Strafknechtschaft, in: Jur. Bll. 3, 1896, S. 28–31;
    E. Lohsing, Buchbesprechung, Das Strafprozeßrecht, 2. Aufl., ebd. Nr. 28, 1907, S. 329 ff.;
    ders., ebd. Nr. 6, 1909, S. 64;
    G. Rusche u. O. Kirchheimer, Punishment and Social Structure, 1939, dt. Übers. u. d. T. Soz.struktur u. Strafvollzug, 1974, S. 200;
    K. Probst, Die moderne Kriminol. u. J. V., in: Mschr. f. Kriminol. u. Strafrechtsreform, H. 6, 1976, S. 335–51;
    ders., Der Labeling-approach, Eine österr. Theorie, in: Österr. Richterztg. 3, 1977, S. 45–51;
    ders., Der allg. T. d. österr. StGB 1975, Ein Produkt d. vorigen Jh., in: Kriminalsoziolog. Bibl., H. 22, 1979, S. 15–32;
    ders., in: Strafrecht, Strafprozeßrecht, Kriminol., Gesch. d. Rechtswiss. Fak. d. Univ. Graz, 1987, Bd. 9/3, Text S. 23–30, Anm. 126–29 (P);
    M. Bock, Hans Gross u. J. V., Die Anfänge wiss. Kriminalistik u. Kriminalpol., in: K. Acham (Hg.), Rechts-, Soz.- u. Wirtsch.wiss. aus Graz, 2011, S. 329–42;
    Wi. 1909; BJ 14, Tl.

  • Autor/in

    Karlheinz Probst
  • Zitierweise

    Probst, Karlheinz, "Vargha, Julius" in: Neue Deutsche Biographie 26 (2016), S. 713-714 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd115487964.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA