Wolf, Julius

Lebensdaten
1862 – 1937
Geburtsort
Brünn (?)
Sterbeort
Berlin
Beruf/Funktion
Nationalökonom ; Demograph ; Wirtschafts-, Sozial- und Sexualwissenschaftler ; Wirtschaftswissenschaftler ; Hochschullehrer ; Volkswirt ; Dirigent
Konfession
-
Normdaten
GND: 117445029 | OGND | VIAF: 72171516
Namensvarianten

  • Wolf, Julius
  • Wolf, Josef
  • Wolf, Joseph

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Zitierweise

Wolf, Julius, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd117445029.html [12.12.2025].

CC0

  • Wolf, Julius

    | Wirtschafts-, Sozial- und Sexualwissenschaftler, * 20.4.1862 Brünn (?), † 1.5.1937 Berlin, Wilmersdorfer Waldfriedhof Stahnsdorf b. Berlin.

  • Genealogie

    V Ludwig (Lazar) (1834–1910), aus Náchod (Böhmen), Prokurist e. Brauerei in Ottakring, Dir. e. Spiritus- u. Presshefefabrik in Hernals b. Wien;
    M Sofie (1840–1909), aus Neu-Rausnitz (Mähren), T d. Abraham Bam;
    1 B Alfred (* 1873), 5 Schw Hermine Singer (1865–1900), Laura (* 1867), Emma (* 1869), Ida (* 1871), Elsa (* 1877);
    1895 Elisabeth (Else) (* 1869), emigrierte 1937 in d. USA, T d. Si(e)gmund Meyer (1840–1911, jüd.), Bankier in Hannover, u. d. Emma Strauß.

  • Biographie

    Nachdem W. die Ausbildung an der Handels-Akademie Wien 1879 abgeschlossen hatte, arbeitete er bis 1883 bei der „Anglo-Oesterreichischen Bank“ in Wien. Zugleich studierte er an der Universität, v. a. bei dem Philosophen Franz Brentano (1838–1917), dem|Volkswirt Carl Menger (1840–1921) und dem Finanzwissenschaftler Lorenz v. Stein (1815–90). 1880 machte W. mit der Monographie „Ueber die Reform der Zuckersteuer in Oesterreich“ auf sich aufmerksam, 1882 gewann er den Preis der Ungar. Landwirtschaftsgesellschaft für das beste Werk zur Reform der Branntweinsteuer in Österreich-Ungarn. Mit der Preisschrift „Die Branntweinsteuer“ (1884) wurde er 1884 an der Univ. Tübingen bei dem Finanzwissenschaftler Friedrich Julius (v.) Neumann (1835–1910) promoviert (Dr. d. Staatswiss.). 1885 habilitierte er sich an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Univ. Zürich aufgrund seiner Dissertation, der zusätzlich vorgelegten Abhandlung „Zur Lehre vom [ökonomischen] Wert“ und einer Probevorlesung; 1887 erhielt er auch die Lehrbefugnis am Polytechnikum in Zürich. An der Univ. Zürich wurde W. 1888 zum Extraordinarius, 1889 zum Ordinarius für Nationalökonomie (1890/91 Dekan d. staatswiss. Fak.) ernannt, nachdem er einen Ruf an die Hochschule für Bodenkultur in Wien abgelehnt hatte. In Zürich promovierte er seine Studentin Rosa Luxemburg (1870–1918) mit der Dissertation „Die industrielle Entwicklung Polens“ (1898).

    W. trat auch mit Vorschlägen zur Reform der Besteuerung, des Börsen- und Notenbankwesens und des Hochschulsystems der Schweiz hervor, worauf er u. a. in eine Kommission zur Neugestaltung der Branntweinsteuer berufen wurde. 1897 folgte er einem Ruf an die Univ. Breslau auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Statistik; daneben war er finanzpolitischer Berater in St. Petersburg, Wien und Budapest. 1913 wechselte W. an die TH Berlin auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie, den er nach seiner Emeritierung 1922/23 noch bis April 1926 vertrat. Auch danach blieb er wissenschaftlich wie publizistisch präsent, bis ihn die NS-Machthaber nach 1933 als „jüdischen Autor“ ächteten. In seinen letzten Lebensjahren beschäftigte sich W. mit Physiognomik und Genealogie.

    W. war ein eigenwilliger Denker und streitbarer Gelehrter. Mit seinem Werk „Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung, Kritische Würdigung beider als Grundlage der Sozialpolitik“ (1892) eröffnete er einen dauerhaften Angriff auf marxistische, kathedersozialistische und sozialdemokratische Positionen. Im Gegensatz zu diesen sah er in der Sozialen Frage kein Verelendungs- oder Verteilungs-, sondern ein Produktionsproblem, das sich in einer dynamischen kapitalistischen Wirtschaft mit freier Konkurrenz weitgehend von selbst löse. Auch um in dieser Kontroverse über eine eigene Tribüne zu verfügen, gründete W. 1898 die bis 1921 erscheinende „Zeitschrift für Socialwissenschaft“, die er bis 1909 herausgab. Ebenso polarisierte er durch seine Schrift „Das Deutsche Reich und der Weltmarkt“ (1901), in der er mit Blick auf die der europ. Wirtschaft überlegene nord„amerikanische industrielle Konkurrenz“ empfahl, als „ersten Schritt auf dem Wege zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ [ … ] die ‚Vereinigten Staaten von Mitteleuropa‘“ zu schaffen. Um gemeinsame ökonomische Interessen zu artikulieren und zu vertreten, initiierte er 1904 die Gründung eines „Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins“, der auch in Ungarn, Österreich und Belgien bis zum 1. Weltkrieg v. a. dank W.s Einsatz aktiv war.

    Fachwissenschaftlich wandte sich W. gegen die dominante Historisch-Ethische Schule, indem er vorbehaltlos für eine „Nationalökonomie als exakte Wissenschaft“ (1908) plädierte. In den Debatten über das Bevölkerungsproblem widersprach er vehement Kollegen wie Lujo Brentano (1844–1931), die den Geburtenrückgang in den „Kulturnationen“ für ein Wohlstands- oder ein Notlagenbzw. Armutsphänomen hielten, und erklärte den „Geburtenrückgang“ (1912) mit dem Schwinden der traditionellen Sexualmoral.

    Er schlug damit eine Brücke zur aufkommenden Sexualforschung und unterstützte fortan diese junge Disziplin, indem er in Beiträgen und Vorträgen die „Sexualwissenschaft als Kulturwissenschaft“ (1915) deutete. 1913 beteiligte er sich an der Gründung der „Internationalen Gesellschaft für Sexualforschung“ und übernahm zeitweilig deren Vorsitz. Um den Geburtenrückgang zu stoppen, forderte er als Mitgründer und erster Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungspolitik“ (1915) eine „quantitative“ Bevölkerungspolitik u. a. durch die Förderung von Frühehen, Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten und besonderen Schutz von Müttern und unehelichen Kindern. Während sich die Bevölkerungs- und die Sexualwissenschaft noch sporadisch auf W. beziehen, ist sein wirtschaftswissenschaftliches Werk so gut wie vergessen.

  • Auszeichnungen

    |russ. St. Annen-Orden mit Brillanten (1901);
    sächs. Verdienstkreuz (n. 1910);
    österr. Franz-Joseph-Orden, Komturkreuz mit Stern (1912);
    E. K. 2. Kl. am weiß-schwarzen Bande;
    preuß. Roter Adlerorden 3. Kl. mit d. Schleife;
    preuß. Kronenorden 3. Kl.;
    bayer. Verdienstorden v. Hl. Michael 3. Kl.;
    Großoffz.kreuze d. Ordens Stern v. Rumänien u. Krone v. Rumänien;
    Geh. Reg.rat;
    – Sektionssekr. (1897–1913) u. Präs.mitgl. (1904–13) d. Schles. Ges. f. vaterländ. Cultur;
    Ehrenbürger d. TH Berlin|(1924);
    Mitgl. d. dt. Komitees d. Internat. Union of the Scientific Investigation of Population Problems (1928) u. d. Ungar. Ak. d. Wiss.;
    Ehrenmitgl. d. ungar. Landwirtsch.ges.

  • Werke

    Weitere W Die Zuckersteuer, ihre Stellung im Steuersystem, ihre Erhebungsformen u. finanziellen Ergebnisse, in: Zs. f. d. gesammte Staatswiss. 38, 1882, S. 138–83, 297–330 u. 644–703;
    Zur Lehre v. Wert, ebd. 42, 1886, S. 415–63;
    Zur Reform d. Schweizer. Notenbankwesens, 1888;
    Sozialismus u. kapitalist. Ges.ordnung, I. Antwort auf d. Kritik Prof. Werner Sombarts, in: Archiv f. Soz. Gesetzgebung u. Statistik 6, 1893, S. 732–48;
    Die Fehler d. Kathedersozialimus, in: Die Zukunft 11, 1895, S. 21–28, 72–80;
    Illusionisten u. Realisten in d. Nat.ök., in: Zs. f. Socialwiss. 1, 1898, S. 4–12, 89–96, 249–61, 352–58, 407–13 u. 487–99;
    Ein neuer Gegner d. Malthus, ebd. 4, 1901, S. 256–89;
    Das „Ende“ d. wiss. Socialismus?, ebd., S. 617–25;
    Die ersten drei J. d. Mitteleurop. Wirtsch.vereins, ebd. 10, 1907, S. 463–68;
    Nat.ök. als exakte Wiss., ebd. 12, 1909, S. 531–36;
    Une nouvelle loi de la population, in: Revue d’Économie Politique 16, 1902, S. 499–514;
    Die Volkswirtsch. d. Gegenwart u. Zukunft, Die wichtigsten Wahrheiten d. allg. Nat.ök., 1912;
    Der Aufstieg d. theoret. Nat.ök., in: Zs. f. Socialwiss. NF 4, 1913, S. 594–606;
    Die „Rationalisierung“ d. Geschlechtsverkehrs in unseren Tagen, in: Sexual-Probleme, Zs. f. Sexualwiss. u. Sexualpol. 9, 1913, S. 289–95;
    Sexualforsch., ebd. 10, 1914, S. 83–88;
    Der Streit über d. Ursachen d. Geburtenrückgangs, in: Weltwirtsch. Archiv 8, 1916, S. 382–93;
    J. W., in: Die Volkswirtsch.lehre d. Gegenwart in Selbstdarst., hg. v. F. Meiner, 1924, S. 209–47 (W-Verz., P);
    Die neue Sexualmoral u. d. Geburtenproblem unserer Tage, 1928;
    Konjunktur u. Krise, in: K. Diehl (Hg.), Btrr. z. Wirtsch.theorie, 2. T., 1928, S. 1–38;
    Bevölkerungsfrage, in: Hdwb. d. Soziol., hg. v. A. Vierkandt, 1931, S. 52–66;
    Physiognomik u. Völkergesch. n. Vorlagen aus d. altägypt. u. altoriental. Bilderschatz, 1935.–Qu s. H. Kiesewetter, 2008 (s. L), S. 558–61.

  • Literatur

    L W. Sombart, Bespr. v. J. W., Sozialismus u. Kapitalist. Ges.ordnung, in: Archiv f. soz. Gesetzgeb. u. Statistik 5, 1892, S. 487–98;
    ders., Erwiderung auf d. Antwort Prof. J. W.s., ebd. 6, 1893, S. 147–64;
    K. Diehl, Theoret. Nat.ök., 1. Bd., Einl. in d. Nat.ök., ²1922, S. 390 f. u. 472 f.;
    Der internat. Kapitalismus u. d. Krise, FS f. J. W. z. 20. April 1932, hg. v. S. v. Kardorff u. a., 1932 (W-Verz., P), darin: E. Petermann, J. W., S. XIII–XXVII;
    H. Stöcker, GR J. W. z. 70. Geb.tag, in: Die Neue Generation 11, 1932, Nr. 6/7, S. 122;
    P. Gygax, in: NZZ, Nr. 724 v. 20.4.1932, Bl. 2–3;
    ders., in: NZZ, Bücher-Beil., Nr. 830, 9.5.1937, Bl. 4;
    ders., in: Schweizer. Arb.geber-Ztg. 32, Nr. 21 v. 22.5.1937, S. 142 f.;
    I. Eberl u. H. Marcon, 150 J. Promotion an d. Wirtsch.wiss. Fak. d. Univ. Tübingen, 1984, S. 19 u. 752 (P);
    J. Cromm, Theorienbildung zw. Natur u. Kultur, Lujo Brentano u. J. W., in: P. Khalatbari (Hg.), Thomas Robert Malthus im Widerstreit d. Wiss., 1991, S. 130–40;
    H. Fujise, Der Mitteleurop. Wirtsch.ver. in Dtld. 1904–1918, Ein Versuch d. wirtschaftl. Integration, in: G. Schulz (Hg.), Von d. Landwirtsch. z. Ind., FS f. F.-W. Hennig z. 65. Geb.tag, 1996, S. 149–61;
    U. Ferdinand, Geburtenrückgangstheorien in d. Nat.ök. Dtld.s zw. 1900 u. 1930, Fallbsp. J. W. (1862–1937), in: R. Mackensen (Hg.), Bevölkerungslehre u. Bevölkerungspol. vor 1933, 2002, S. 135–58;
    dies., Zu Leben u. Werk d. Ökonomen J. W. (1862–1937), in: R. Mackensen u. J. Reulecke (Hg.), Das Konstrukt „Bevölkerung“ vor, im u. n. d. „Dritten Reich“, 2005, S. 150–200 (W-Verz.);
    dies., Die kulturwiss. Sexualwiss. d. Ökonomen J. W. (1862–1937), in: P. Krassnitzer u. P. Overath (Hg.), Bevölkerungsfragen, 2007, S. 81–106;
    dies., Von d. „Rationalisierung d. Sexuallebens“ z. sexolog. Erklärung d. Geburtenrückgangs, Das bevölkerungswiss. Werk J. W.s (1862–1937), in: Tel Aviver Jb. f. dt. Gesch., 2007, S. 86–109;
    H. Kiesewetter, J. W. 1862–1937, zw. Judentum u. NS, Eine wiss. Biogr., 2008 (W-Verz., Qu, P);
    C. Kasprzok, Besprechung v. H. Kiesewetter, 2008, in: European Journ. of the Hist. of Economic Thought 15, 2008, S. 539–43;
    Hdwb. d. Staatswiss., Bd. 6, 1894, S. 754 f., Bd. 7, ²1901, S. 872–74 u. Bd. 8, ³1911, S. 929–31;
    Wi. 1928 u. 1935;
    Rhdb.;
    Hdb. österr. Autoren jüd. Herkunft;
    Biogr. Lex. Demographie;
    Personenlex. Sexualforsch. (P).

  • Autor/in

    Heinz Rieter
  • Zitierweise

    Rieter, Heinz, "Wolf, Julius" in: Neue Deutsche Biographie 28 (2024), S. 414-416 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd117445029.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA