Lebensdaten
1920 – 1970
Geburtsort
Frankfurt am Main
Sterbeort
Saint-Paul-de-Vence (Département Alpes-Maritimes, Frankreich)
Beruf/Funktion
Psychiater ; Sexualforscher ; Sexualwissenschaftler
Konfession
evangelisch-reformiert
Normdaten
GND: 118932446 | OGND | VIAF: 52488404
Namensvarianten
  • Giese, Hans-Ernst Friedrich
  • Giese, Hans
  • Giese, Hans-Ernst Friedrich
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Zitierweise

Giese, Hans, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118932446.html [19.04.2024].

CC0

  • Giese war der bedeutendste Sexualforscher der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik, der sich von der Sexualwissenschaft der 1920er Jahre abgrenzte, indem er deren sozialreformerische Projekte nicht fortsetzte, sich politisch von der Linken fernhielt und eine engagierte Emanzipationspolitik in Nachfolge von Magnus Hirschfeld (1868–1935) unterließ. Während seiner gesamten Karriere arbeitete Giese mit NS-belasteten Personen zusammen. Gleichwohl trug er dazu bei, die gesellschaftliche und juristische Benachteiligung sexueller Minderheiten aufzubrechen. Kernthema war die Entkriminalisierung des gleichgeschlechtlichen Begehrens im öffentlichen Diskurs und im Strafgesetzbuch, was 1969 teilweise gelang.

    Lebensdaten

    Geboren am 26. Juni 1920 in Frankfurt am Main
    Gestorben am 21./22. Juli 1970 (ungeklärter Unfalltod) in Saint-Paul-de-Vence (Département Alpes-Maritimes, Frankreich)
    Grabstätte Familiengrab (in den 1990er Jahren aufgelöst) in Königstein im Taunus
    Konfession evangelisch-reformiert
    Hans Giese, BArch / Bildarchiv (InC)
    Hans Giese, BArch / Bildarchiv (InC)
  • Lebenslauf

    26. Juni 1920 - Frankfurt am Main

    1926 - 1930 - Frankfurt am Main

    Schulbesuch

    Volksschule

    1930 - 1939 - Frankfurt am Main

    Schulbesuch (Abschluss: Abitur)

    Gymnasium

    1939 - 1946 - Frankfurt am Main; Jena; Marburg an der Lahn; Freiburg im Breisgau

    Studium der Humanmedizin sowie der Philosophie und Germanistik (Abschluss: medizinisches Staatsexamen, März 1945)

    Universität

    1943 - Freiburg im Breisgau

    Promotion (Dr. phil.)

    Universität

    1946 - Marburg an der Lahn

    Promotion (Dr. med.)

    Universität

    1946 - Oktober 1947 - Frankfurt am Main

    Assistent

    Universitätsklinik

    November 1947 - Oktober 1948 - Neustadt (Schwarzwald); Freiburg im Breisgau

    Assistent

    Institut für Hirnforschung

    1949 - März 1949 - Freiburg im Breisgau

    Volontär

    Psychiatrische Universitätsklinik

    1949 - 1970 - Kronberg im Taunus; seit 1950 Frankfurt am Main; seit 1959 Hamburg

    Gründer und Leiter

    Institut für Sexualforschung

    1959 - Hamburg

    Habilitation für Psychiatrie und Sexualwissenschaft

    Universität

    1959 - 1970 - Hamburg

    Dozent

    Psychiatrische Universitätsklinik

    1965 - 1967 - Hamburg

    außerplanmäßiger Professor für Psychiatrie und Sexualwissenschaft

    Universität

    1967 - 1970 - Hamburg

    wissenschaftlicher Rat und Professor für Psychiatrie und Sexualwissenschaft

    Universität

    21./22. Juli 1970 (ungeklärter Unfalltod) - Saint-Paul-de-Vence (Département Alpes-Maritimes, Frankreich)
  • Genealogie

    Vater Dietrich Kaspar Friedrich Giese 17.8.1882–25.4.1958 aus Eitorf an der Sieg; Jurist; Professor für Staats-, Verwaltungs- und Kirchenrecht in Greifswald, Posen (Preußen, heute Poznań, Polen) und Frankfurt am Main; 1930 Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Staatspartei; Autor von Gesetzeskommentaren zur Weimarer Reichsverfassung und zum Grundgesetz der Bundesrepublik; zuletzt in Wiesbaden
    Großvater väterlicherseits Dietrich Giese 1839–1916 Direktor einer Silberwarenfabrik
    Großmutter väterlicherseits Marie Giese, geb. Damm 1848–1936
    Mutter Annemarie Giese, geb. Crampe 1893–1975
    Großvater mütterlicherseits Ernst Alfred Crampe 21.5.1864–1930 aus Halberstadt; evangelisch-reformiert; Dr. med.; praktischer Arzt; Sanitätsrat
    Großmutter mütterlicherseits Johanne Natalie Auguste Helene Crampe, geb. Thurm geb. 10.1.1863 aus Halle an der Saale
    Schwester Evemarie Siebecke-Giese 1919–1996 Dr. med.; Ärztin; Psychoanalytikerin
    Lebenspartner seit 1949/50 August Engert 19.12.1918–25.2.1969 Jura-Studium; Schauspieler; Assistent von Giese in dessen Institut für Sexualforschung
    Diese Grafik wurde automatisch erzeugt und bietet nur einen Ausschnitt der Angaben zur Genealogie.

    Giese, Hans (1920 – 1970)

    • Vater

      Dietrich Kaspar Friedrich Giese

      17.8.1882–25.4.1958

      aus Eitorf an der Sieg; Jurist; Professor für Staats-, Verwaltungs- und Kirchenrecht in Greifswald, Posen (Preußen, heute Poznań, Polen) und Frankfurt am Main; 1930 Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Staatspartei; Autor von Gesetzeskommentaren zur Weimarer Reichsverfassung und zum Grundgesetz der Bundesrepublik; zuletzt in Wiesbaden

      • Großvater väterlicherseits

        Dietrich Giese

        1839–1916

        Direktor einer Silberwarenfabrik

      • Großmutter väterlicherseits

        Marie Giese

        1848–1936

    • Mutter

      Annemarie Giese

      1893–1975

      • Großvater mütterlicherseits

        Ernst Crampe

        21.5.1864–1930

        aus Halberstadt; evangelisch-reformiert; Dr.·med.; praktischer Arzt; Sanitätsrat

      • Großmutter mütterlicherseits

        Helene Crampe

        geb. 10.1.1863

        aus Halle an der Saale

    • Schwester

      Evemarie Siebecke-Giese

      1919–1996

      Dr.·med.; Ärztin; Psychoanalytikerin

  • Biografie

    Giese besuchte seit 1926 eine Volksschule und ein Gymnasium in Frankfurt am Main und erhielt 1939 das Abitur. Eigentlich an Katholischer Theologie interessiert, studierte er auf Anraten der Familie Medizin und parallel Philosophie bei Hans Lipps (1889–1941), später bei Martin Heidegger (1889–1976). Er engagierte sich im NS-Studentenbund und wurde 1941 Mitglied der NSDAP. Giese sah keinen Widerspruch in seinem eigenen sexuellen Begehren und der nationalsozialistischen Ideologie.

    1943 wurde er an der Universität Freiburg im Breisgau zum Dr. phil. und 1946 mit der Dissertation „Die Formen männlicher Homosexualität“ bei Werner Villinger (1887–1961) an der Universität Marburg an der Lahn zum Dr. med. promoviert. Anschließend bildete er sich als Assistent an der Universitätsklinik in Frankfurt am Main sowie 1947/48 am Institut für Hirnforschung in Neustadt (Schwarzwald) und Freiburg im Breisgau psychiatrisch weiter. Im Entnazifizierungsverfahren des Badischen Staatskommissariats für politische Säuberung in Freiburg im Breisgau 1948 erhielt er eine Jugendamnestie.

    1949 begann Giese mit dem Aufbau des privaten Instituts für Sexualforschung und gründete mit dem Hamburger Psychiater Hans Bürger-Prinz (1897–1976) die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, deren Nestor Giese zeitlebens blieb. Er initiierte die Schriftenreihe „Beiträge zur Sexualforschung“, die neben Monografien Tagungsbeiträge der Gesellschaft herausgab und dem Fachpublikum sowie interessierten Laien und Studenten Einblick in die neueste Forschung gewährte. Hierzu trugen auch weitere Publikationen (Wörterbuch der Sexualwissenschaft, 1952; Mensch, Geschlecht, Gesellschaft, 1954) bei. Giese positionierte sich und seine Kollegen als Gegenspieler zu Alfred Charles Kinsey (1894–1956) und ordnete sich in das ordoliberale Gesellschaftsbild der Bundesrepublik ein. 1959 verlegte Giese das Institut und seinen Wohnsitz nach Hamburg, wo ihm Bürger-Prinz Arbeitsmöglichkeiten an der psychiatrischen Universitätsklinik bereitstellte. Giese wurde mit der Studie „Der homosexuelle Mann in der Welt“ für Psychiatrie und Sexualwissenschaft habilitiert. Eine öffentliche Förderung des Instituts erfolgte erst nach Gieses Tod.

    Giese trug entscheidend dazu bei, den Diskurs über Sexualität auf wissenschaftlicher Ebene zu entpathologisieren und von Vorurteilen zu befreien. Er wirkte als Lektor für die Reihe „rororo sexologie“, beriet bei Filmproduktionen, z. B. 1956 bei der Neuinterpretation des Aufklärungsfilms „Anders als die Anderen“ durch Veit Harlan (1899–1964), und fungierte als Gerichtsgutachter bei Sittlichkeitsprozessen. Gieses Hauptaugenmerk galt der vorurteilslosen Erforschung und Entkriminalisierung der Homosexualität, die er als soziale Erscheinung betrachtete, ohne nach der Ätiologie zu fragen. Giese unterschied jedoch zwischen den wertvollen, die Kultur bereichernden Homosexuellen in festen Partnerschaften und den „haltlosen“, nur an sexuellem Genuss interessierten Personen. Im gesellschaftlichen Reformklima der 1960er Jahre begleitete er groß angelegte empirische Studien seiner Schüler Volkmar Sigusch (1940–2023) und Gunter Schmidt (geb. 1938) zur Ergründung des Sexualverhaltens verschiedener Teile der bundesdeutschen Bevölkerung (Arbeiter, Studenten) und trug so zur Institutionalisierung und Professionalisierung der Sexualwissenschaft in der Bundesrepublik bei. Als weitere Schüler zählen Martin Dannecker (geb. 1942) und Reimut Reiche (geb. 1941). Gegen Ende seines Lebens zerstritt sich Giese mit seinen Schülern über die grundsätzliche Frage einer Möglichkeit der „Therapie“ der Homosexualität im Zusammenhang mit der Forschungsrichtung der Lobotomie.

  • Auszeichnungen

    1950 Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung
    1965 außerplanmäßiger Professor, Universität Hamburg (1967 Professor)
  • Quellen

    Nachlass:

    Bundesarchiv, Koblenz, N 1134. (weiterführende Informationen)

    Weiteres Archivmaterial:

    Universitätsarchiv Frankfurt am Main, R9361-II-293706. (studentische Unterlagen, NS-Tätigkeit)

    Universitätsarchiv Freiburg im Breisgau, B0024_5119 u. B0067_0351. (Entnazifizierung, Bewerbungsunterlagen)

  • Werke

    Das Polaritätsprinzip in Goethes Dichtung, 1943. (Diss. phil.)

    Die Formen männlicher Homosexualität. Untersuchung an 130 Fällen, 1947. (Diss. med.)

    Wörterbuch der Sexualwissenschaft, 1952. (Hg.)

    Mensch, Geschlecht, Gesellschaft. Das Geschlechtsleben unserer Zeit gemeinverständlich dargestellt, 1954. (Hg.)

    Die Sexualität des Menschen. Handbuch der medizinischen Sexualforschung, 1953–1955, 21968–1971, poln. 1976.

    Der homosexuelle Mann in der Welt, 1959, 21964, Taschenbuch 1972, franz 1959, span. 1965. (Habilitationsschrift)

    Hans Giese/Victor E. v. Gebsattel (Hg.), Psychopathologie der Sexualität, 1962.

    Hans Giese/Gunter Schmidt, Studenten-Sexualität. Verhalten und Einstellung. Eine Umfrage an 12 westdeutschen Universitäten, 1968.

    Hans Giese/Hans Bürger-Prinz (Hg.), Beiträge zur Sexualforschung. Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, 1950–1970. (47 Bde.)

  • Literatur

    N. N., Hans Giese, in: Der Spiegel Nr. 32 v. 2.8.1970. (Onlineressource)

    Volkmar Sigusch, Hans Giese und seine Theorie der Homosexualität, in: Zeitschrift für Sexualforschung 10 (1997), S. 245–252.

    Volkmar Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, 2008, S. 391 ff.

    Martin Dannecker, Art. „Hans Giese (1920–1970)“, in: Volkmar Sigusch/Günter Grau (Hg.), Personenlexikon der Sexualforschung, 2009, S. 226–235.

    Bernd-Ulrich Hergemöller, Art. „Giese, Hans“, in: ders. (Hg.), Mann für Mann. Biographisches Lexikon, 2010, S. 402–404. (P)

    Moritz Liebeknecht, Wissen über Sex. Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung im Spannungsfeld westdeutscher Wandlungsprozesse, 2020.

  • Onlineressourcen

  • Porträts

    Fotografien, 1949–1968, Bundesarchiv, Koblenz. (weiterführende Informationen)

  • Autor/in

    Florian G. Mildenberger (Berlin)

  • Zitierweise

    Mildenberger, Florian G., „Giese, Hans“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.03.2024, URL: https://www.deutsche-biographie.de/118932446.html#dbocontent

    CC-BY-NC-SA