Lebensdaten
1751 – 1792
Geburtsort
Seßwegen (Livland)
Sterbeort
Moskau
Beruf/Funktion
Dichter
Konfession
evangelisch
Normdaten
GND: 118571656 | OGND | VIAF: 90638588
Namensvarianten
  • Lenz, Jakob Michael Reinhold
  • Lenz, Jakob M. R.
  • Lenz, Jacob Michael Reinhold
  • mehr

Verknüpfungen

Von der Person ausgehende Verknüpfungen

Personen im NDB Artikel

Verknüpfungen zu anderen Personen wurden aus den Registerangaben von NDB und ADB übernommen und durch computerlinguistische Analyse und Identifikation gewonnen. Soweit möglich wird auf Artikel verwiesen, andernfalls auf das Digitalisat.

Orte

Symbole auf der Karte
Marker Geburtsort Geburtsort
Marker Wirkungsort Wirkungsort
Marker Sterbeort Sterbeort
Marker Begräbnisort Begräbnisort

Auf der Karte werden im Anfangszustand bereits alle zu der Person lokalisierten Orte eingetragen und bei Überlagerung je nach Zoomstufe zusammengefaßt. Der Schatten des Symbols ist etwas stärker und es kann durch Klick aufgefaltet werden. Jeder Ort bietet bei Klick oder Mouseover einen Infokasten. Über den Ortsnamen kann eine Suche im Datenbestand ausgelöst werden.

Zitierweise

Lenz, Jakob, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118571656.html [29.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Christian David (s. Einl.), S d. Kupferschmieds Joh. Jakob in Köslin (Pommern) u. d. Maria Zickel;
    M Dorothea (1721–78), T d. Pastors Michael Theobald Neoknapp in Neuhausen (Livland);
    B Friedrich David (s. Einl.); - ledig.

  • Biographie

    L.s Leben und Schaffen wurden entscheidend geprägt vom Bezug zum Vater, einem unduldsamen Pietisten und eifernden Prediger, der L. den Abbruch seines Theologiestudiums nie verzieh. Seit 1759 wohnte die Familie in Dorpat. Der Verkehr mit Rigaer Kreisen vermittelte vielleicht Ideen Herders. L. fand früh Beifall, z. B. mit zwei Theaterstücken und mit religiösen Gedichten nach dem Muster Klopstocks, des Kirchenlieds, der väterlichen Predigten. Als Theologiestudent in Königsberg (1768) geriet L. in den Bann moderner literarischer Strömungen und Kants, dem er 1770 mit einer Ode zur Professur gratulierte. 1771 begleitete er zwei|Brüder v. Kleist, die in die franz. Armee eintraten, als Hofmeister ins Elsaß. Vergebens bot er unterwegs dem Berliner Buchhändler F. Nicolai eine Übersetzung von Popes „Essay on Criticism“ an. In Straßburg schloß er sich der „Tischgesellschaft“ des Aktuars J. D. Salzmann, seines späteren Mentors, an, befreundete sich mit Goethe und trug in der Société de Philosophie et Belles Lettres seine „Anmerkungen übers Theater“ vor. 1772 folgte er dem jüngeren Kleist nach Fort Louis und verliebte sich in die 1771 von Goethe verlassene Friederike Brion im nahen Sesenheim (Gedichte). 1773 wieder in Straßburg, beteiligte er sich an der „Literarischen Gesellschaft“ Salzmanns und intensivierte den Briefwechsel mit Goethe. Dieser vermittelte 1774 den Druck der Arbeiten, die, zunächst ihm selbst zugeschrieben, L. bald neben ihm berühmt machten: „Lustspiele nach dem Plautus“, „Der Hofmeister“, „Der neue Menoza“, „Anmerkungen übers Theater“ u. a. 1774 brach L. mit den Kleists wegen Cleophe Fibich, der Braut des älteren und der Arimente des Ich-Romans „Das Tagebuch“ (gedr. 1827). Gewissermaßen dessen Fortsetzung bildet die „Moralische Bekehrung eines Poeten“ (1789): L.s Läuterung durch seine platonische Liebe zu Goethes Schwester Cornelia Schlosser. Die schriftstellerische Tagesberühmtheit Henriette Waldner inspirierte den formal an „Werther“ angelehnten Briefroman „Der Waldbruder“ (1797 in Schillers „Horen“) und die Dramen „Die Freunde machen den Philosophen“ (1776), „Der Engländer“ (1777). – Neben der literarischen Tätigkeit mußte auch die theologische Hauptschrift „Meinungen eines Laien“ (1775) den Vater verstimmen, der auf Heimkehr drängte. Statt dessen erneuerte und leitete L. im Geiste Hamanns und Herders die Gesellschaft Salzmanns als „Deutsche Gesellschaft in Straßburg“ oder auch „Gesellschaft deutscher Sprache“. In zahlreichen Vorträgen warb er für Pflege und Reinerhaltung deutscher Sprache im Grenzgebiet, erörterte Theater, Theologie, Moral und feierte Shakespeare, „Götz“, „Werther“. „Die Soldaten“ und die Erzählung „Zerbino oder die neuere Philosophie“ (1776) schildern das sittenlose Treiben der Offiziere. Mit Herder und Sophie La Roche schloß L. Brieffreundschaft. Im Kampf der Stürmer und Dränger gegen Wieland übernahm er die Führung, indem er 1774 Goethes Farce „Götter, Helden und Wieland“ drucken ließ, ferner mit Gedichten, dem revueartigen „Pandämonium Germanicum“ (1819), der bedeutendsten Literatursatire der Zeit, und in der höhnischen Streitschrift „Verteidigung des Herrn W. gegen die ‚Wolken‘“, die er jedoch gleich nach dem Druck vernichtete.

    Tiefverschuldet verließ er 1776 Straßburg, wurde in Frankfurt von Klinger, Merck und Schleiermacher in Wertherkleidung gefeiert und wollte in Weimar seine moralische Heeresreform unterbreiten („Über die Soldatenehen“, 1914). Er versöhnte sich mit Wieland und schrieb für dessen „Teutschen Merkur“. Beim genialischen Treiben um Hzg. Karl August und den inzwischen eingetroffenen Goethe zogen ihm Verstöße gegen die Hofetikette Spott und Verweise zu (Gedicht „Tantalus“, 1798). Statt einem Ruf an Basedows Philanthropin zu folgen, gab er Frau v. Stein Englischunterricht und provozierte dabei vermutlich Goethe, der beim Herzog seine Ausweisung bewirkte: der auch für seine Geltung in der Nachwelt verhängnisvolle Wendepunkt in L.s Leben.

    L. suchte jetzt Schlosser auf und noch einmal nach Cornelias Tod 1777. Er zeigte sich bei der Straßburger „Deutschen Gesellschaft“, durchstreifte die Schweiz, schrieb Gedichte und arbeitete an dem 1775/76 entworfenen Künstlerdrama „Catharina von Siena“. Während eines Besuchs bei dem „Genieapostel“ C. Kaufmann befielen ihn erstmals Geistesstörungen. Anfang 1778 wanderte er zu Pfarrer Oberlin, dem Urbild des Sozialreformers der idyllischen Erzählung „Der Landprediger“ (1777). Oberlins Tagebuch über L.s Aufenthalt diente 1836/37 als Vorlage für Georg Büchners Erzählung „Lenz“. L.s Zustand verschlechterte sich. Er lebte abwechselnd bei einem Schuhmacher, einem Arzt und bei Schlosser. Auf dessen Betreiben schickte der nach dem Tod der Mutter soeben neuverheiratete Vater Reisegeld, und L. kehrte mit einem Bruder leidlich wiederhergestellt in die Heimat zurück.

    Die Etappen einer zwölfjährigen Stellungssuche endeten alle mit Enttäuschung. Auf Empfehlung Herders wurde Johann Heinrich Voß statt L. Rektor der Rigaer Domschule. Eine Stelle am Hof, um die L. sich mit Lobeshymnen auf Kaiserin und Thronfolger bewarb, fiel an Klinger, der ihm 1778 mit einer Roßkur vorübergehend half. Einem Zwischenspiel als Hofmeister und neuer Herzensverwicklung in Livland folgte 1781 ein Posten beim Petersburger Kadettenkorps, wo ihn bald A. v. Kotzebue ablöste. In Moskau unterrichtete er zeitweilig am Institut der Madame Exter, arbeitete am Lehrprogramm zweier Adelsschulen und pries den Adel in pädagogischen Abhandlungen. Aus|dem Russischen übersetzte L. Geschichtliches und Patriotisches. Er plante eine Moskauer literarische Gesellschaft, hatte Kontakt mit den Freimaurern um Prof. I. W. Schwarz und dem Schriftsteller N. J. Nowikow, in dessen Haus er wohnte. Durch einen Hausgenossen, den Dichter N. Karamsin, erneuerte er den Briefwechsel mit Lavater, dem einzigen treuen Freund im Westen. L.s Geisteszustand blieb labil. In den letzten Jahren kränkelte er körperlich. Eingeschüchtert von dem unerbittlichen Vater, wagte die Familie nicht, den Notleidenden zu unterstützen. Er wurde nachts auf einer Moskauer Straße tot aufgefunden und in Maria Roschtschah b. Moskau beerdigt.

    Goethe beschreibt L. in „Dichtung und Wahrheit“: „Klein, aber nett von Gestalt; ein allerliebstes Köpfchen, dessen zierlicher Form niedliche, etwas abgestumpfte Züge vollkommen entsprachen; blaue Augen, blonde Haare; […] einen sanften, gleichsam vorsichtigen Schritt, eine angenehme, nicht ganz fließende Sprache und ein Betragen […] zwischen Zurückhaltung und Schüchternheit. […] Kleinere Gedichte, besonders seine eigenen las er sehr gut vor.“ Eine „liebliche Zärtlichkeit“ schmeichelte ihn allenthalben als „guten Jungen“ ein, wie ihn Wieland nannte. Mit einer Abhandlung „Über unsere Ehe“ drängte er sich an Goethe, der sein Talent tief, reich, zart, schön und beweglich fand, seine Person aber „whimsical“ (schrullig, exzentrisch), phantasiebeherrscht und daher wirklichkeitsblind, geneigt zu wertherischer Selbstbeobachtung und -quälerei, zu unfruchtbarem Moralismus und zur „Intrige an sich“. Mitteilungsbedürftig, mimisch-komisch begabt, war L. ein beliebter Gesellschafter. Blieb seinen geschickt organisierten literar- und kulturpolitischen Unternehmen der erhoffte Erfolg versagt, schlug die Euphorie seiner Weltbeglückungspläne um in Melancholie. Angst, Mißtrauen, Haß gegen sich und jeden. Seine schizophrene Gefährdung, seine Leistung und sein Schicksal – der von ihm befürchtete ruhmlose Untergang – wurzeln, bezeugen und präfigurieren sich in seinem zentralen Hang zum Nachahmen: zur artistischen Rollenmimik und existentiellen Nachfolge. Er liebte in der Rolle eines anderen und liebte das Phantasiebild der Beziehung. Sein Identitäts- und Selbstgefühl behauptete sich in oft gehässiger Rivalität und Überheblichkeit. Das neue Drama („Anmerkungen“) und den neuen Menschen („Pandämonium“) wollte er vor Herder und Goethe konzipiert haben. Er begründete sein privates und öffentliches Tun als Mission und war daher schmerzlich überrascht, wenn sein Auftreten verletzte.

    L.s Missionstrieb wurzelte in den pädagogischen Tendenzen der Aufklärung (Kant, Rousseau, Herder, Basedow), erhielt religiösen Schwung und richterliche Strenge vom Pietismus seines Vaters. L. respektierte dessen Autorität zeitlebens, rebellierte aber gegen die größte Sünde, die Unterdrückung seiner Kräfte, der kostbarsten Gottesgabe: des prometheisch-schöpferischen Seelenfunkens. L. deutet Jesu „Metanoeite!“ (bei Luther = Tuet Buße!) als „Verändert eueren Sinn, erhebt ihn, folgt mir immer höher herauf in ewiger Bewegung!“ So wird Gutseinwollen besser als Gutsein. Selbstlosigkeit kann gipfeln im Verzicht auf Gemeinschaft mit Gott. Um der göttlichen Wahrheit willen darf man sich abkehren vom leiblichen Vater, obwohl er Stellvertreter Gottes ist: „Gott gegen Gott“. Gottes Verbote reizen zum Übertreten und zum Erfüllen höherer Gebote. Ebenso soll der Vater bei Strafe sein Kind bewahren und es zugleich dem Leiden aussetzen wie Gott seinen Sohn. Leiden ist Strafe für begangene und vielleicht unbekannte Sünden. Es ist Nachfolge Christi und bringt dem Gekreuzigten und Gott nahe. Wir sollen die Hand segnen, die uns schlägt. Sünde ist neue Kreuzigung Christi, Aufstand gegen Gott – und ebenso berechtigt wie der gegen den Vater; denn Christi Opfertod garantiert Vergebung, und Gottes rächende Hand beschert ja Leiden, das mit ihm vereint. Die Sünde des Hochmuts führt zum Fall und ist doch nötig, um höher und Gott näher zu kommen. Viele dieser Gedanken deuten voraus auf die Romantik. Als blasphemisch-gewagte Theologisierung des Lebensgefühls von Sturm und Drang verkörpern sie sich im Bild des Gekreuzigten Prometheus, der trotz aller Leiden niemals oder nur scheinbar aufhört zu rebellieren.

    L. will die Menschen bessern. Er verunglimpft predigerhaft rigoros den Sexus, feiert jedoch die Konkupiszenz, die bilderschaffende Begehrlichkeit, die Luther negativ bewertet, als Motor des Höherstrebens, ja als prometheischen Funken. Gedichte preisen die Geliebte als Zugang zu Gott. In den autobiographischen Schriften erscheint die Faszination durch das Geschlechtliche überzeugender als die Abstoßung und Selbstverurteilung, die dank Übertreibung und koketter Märtyrerattitüde unglaubwürdig wirken.

    Pietistische Selbstbeobachtung zeitigt die reichnuancierte Darstellung von „Wechsel, Veränderung und Fortgang“ der Empfindungengen. Sprunghaft-widerspruchsvolle Gedankengänge schaffen einen Eindruck von Aufrichtigkeit, Vertraulichkeit, Unmittelbarkeit, wie ihn Goethe selten erreicht. L. wendet sich oft direkt an den Leser, dringt überall auf Dialogsituation und zitiert deshalb in fingierten Briefen die Gedanken des beantworteten Schreibens. Bruchstückhafte Sätze und Werke verweisen auf das Höhere, das Unaussprechliche, Unendliche der Seele und des Lebens. Bei allem Andrängen wahrt L. zugleich Distanz mit Hilfe eines Masken-, Rollen- und Versteckenspiels, das oft an Clownerie grenzt. L. kritisiert die pietistische Selbstentzweiung, bleibt ihr jedoch verfallen, nimmt sie auf sich als Märtyreropfer und prometheisches Schöpfertum, das Achtung und Mitleid verdiene – und entlarvt all das als Selbstbetrug. Ebenso feiert er ein ganzes Werk hindurch seine einzigartige Liebe zu einer Frau, um zuletzt zu bekennen, daß er daneben eine andere liebt. Das Drama „Die Kleinen“ entwickelt die höchste Tugend, die Selbstaufopferung, um zuletzt das Opfer für sinnlos zu erklären. Solche ironischen Schlüsse erinnern in der Lyrik an Heine; doch unterlaufen auch mitten im Gedicht übermütige Stilbrüche ein feierliches Pathos. Der heroische Kampf des lyrischen Ich gegen Lebensüberdruß, innere Entleerung und das Zerriebenwerden zwischen Widersprüchen, die Forciertheit, die Unruhe dieser Lyrik und die Inkonsistenz ihrer Bilder wirken modern.

    L.s Polemik trifft durch heimtückisch-ironisches Lob (Gellert, Wieland, Jakobi) und lächerliche Selbstdarstellung des Verspotteten in Rollengedichten und besonders im „Pandämonium“. Hier stellt L. sich neben Goethe als Dichter von geringerer Vollendung, aber größerem Potential. L. schuf keine großen Menschen. Seine Stärke lag im Komischen. Er übertrug Shakespeares „Love's Labours Lost“ und fünf Komödien des Plautus. Von dort hat er die drastische Albernheit der Witze, die entwaffnend naive Selbstentlarvung der Figuren, womit er Schule macht über Büchner bis zu Brecht. Nach dem „Götz“ brachte L. das offene Drama zur Blüte. Der Theoretiker bemängelte am aristotelischen Theater die vordergründige Enge. Die unendlichen Assoziationen der genialen Phantasie beleuchten dagegen nie erkannte Winkel des Herzens, die unerschöpflichen Einzelzüge und Verwandlungen einer Situation, die Unendlichkeit von Motiven, Raum und Zeit. L. definiert den Menschen der Tragödie als den großen, der die Begebenheit und damit sein Schicksal selber schafft. Der Mensch seiner Dramen jedoch muß sich gegen die Stöße des Schicksals wehren. Wichtiger als der Mensch sind die Begebenheit, der thematische Zusammenhang und die karikierende Hervorhebung der Vorgänge. Solche Komödien erreichen auch den Ungelehrten, sollen ihn bessern, für das Rollenspiel des Lebens üben und so zum Publikum der Tragödie zubereiten. Dort blickt man in die Höhe, hier mit dem Dichter, dem „launigten Genie“, herab auf Laster und Torheiten der Gesellschaft. L. entlarvt und geißelt Schwärmerei, das Mißverhältnis von Anspruch und Vermögen, vor allem Selbstbetrug, die Grundtendenz des Menschen. Verstand und Bildung geben der Narrheit den Anschein von Vernunft und bemänteln Ungerechtigkeit. Die Tragikomik des Lebens macht uns mehr lachen als weinen. Das Tragische selbst ist so lächerlich wie das ganze vergeblich-eitle Narrentreiben. Das schließt die tragischen Affekte Rührung, Schrecken, Mitleid, Furcht nicht aus, ordnet sie aber dem überlegenen Lächeln der Satire unter.

    Diese Konzeption hat L. am besten wohl in seinem ersten Stück, dem „Hofmeister“, verwirklicht. Der „Held“ verführt seine Schülerin, die in einer literarischen Phantasiewelt lebt – ein Lieblingsthema des Sturm und Drang. Aus Reue entmannt er sich und heiratet ein Bauernmädchen, das mit einem solchen „Herrn Mandel“, „Hermännchen“ zufrieden ist. Der Verführten verzeiht der Jugendfreund aus Menschlichkeit und weil ihre Reue ihren Gehorsam garantiert. Fragwürdiger sind die Eltern, vor allem die Väter, die die Hauptverantwortung tragen, wenn die Kinder auf Abwege geraten. Zahlreiche Parallelen wandeln das Thema des verlorenen Sohnes ab, ohne es zu erschöpfen, und geben dem Stück Lebenstiefe, zumal der Karikaturist L. eine Reihe unvergeßlicher Figuren schafft.

    „Der neue Menoza“ hat das natürliche Gutsein im ge- und verbildeten Europa zum Problem. Bildungsschwätzer heucheln ebenso wie machtgierige adlige Verbrecher. Der gesunde Menschenverstand des Bürgers verdient sich mehr Vertrauen als das ehrliche Pathos des moralischen Idealisten. Alberne Großtuerei und rührende Gutherzigkeit wechseln mit erschreckender Wildheit (L. nannte sich selbst gern einen Wilden). Die exzentrischen Verbrecher täuschen sich und scheitern. Schwieriger fügt sich in die Komödie das rührende Wiederfinden von Vater und Tochter samt der Bestrafung des Schuldigen in den „Soldaten“, einem Stück|über die verderblichen Folgen des Selbstbetrugs. Emanzipationssucht und Standesdünkel, das Theaterspiel des Lebens und der Bühne entfesseln die Jagd von Offizieren auf Bürgermädchen, das grausame Spiel aller mit allen, auch mit Berufsgenossen. Das abschließend vorgeschlagene Heilmittel, eine Pflanzschule für Soldatenfrauen, war der Aufklärung geläufig.

    Im Gegensatz zu diesen drei Werken charakterisieren die zahlreichen Dramen der nächsten zwei Jahre nicht die geschichtliche Wirklichkeit. Sie spiegeln, was L. schärfstens verurteilt hatte und jetzt auch nicht künstlerisch zu variieren und integrieren vermag: die Subjektivität des Autors, seine unglücklichen Erfahrungen, Ängste und Wunschträume. Wo L. wie hier der Klassik-Mode Weimars zu entsprechen sucht (vornehmlich in der „Catharina“), arbeitet er gegen seine Begabung. Seine Geisteskraft erlischt in einer künstlerischen Krise, die vielleicht ohne Ausweg war.

    Aufgeführt wurde zu L.s Lebzeiten nur „Der Hofmeister“, dann gelegentlich im 20. Jh., meist in Brechts Bearbeitung; „Die Soldaten“ wurden einmal im 19. Jh. gespielt, öfters Im 20. Jh., „Der neue Menoza“ erst nach 1960, die Plautusübersetzungen neuerdings in Bearbeitungen, meist auf Experimentierbühnen. L. entwickelte viele Ideen seiner Zeit, die von Klassikern und Romantikern aufgegriffen und ausgearbeitet wurden: so in Schillers Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ und in F. Schlegels Lehre von der unendlichen Dialektik des Geistes in der Ironie. Spätere Dichter haben ihn zum Beispiel genommen und an seiner Figur das Los des rebellischen und unglücklichen Einzelgängers gestaltet – vorzüglich Büchner, der ihm auch in der Verwendung der offenen Form kongenial folgte und deren Einfluß auf die moderne Bühne vermittelte.

  • Werke

    Ges. Schrr., hrsg. v. L. Tieck, 3 Bde., 1838;
    Dramat. Nachlaß, hrsg. v. K. Weinhold, 1884;
    Gedichte, hrsg. v. dems., 1891;
    Ges. Schrr., hrsg. v. F. Blei, 5 Bde., 1900-13;
    Ges. Schrr., hrsg. v. E. Lewy, 4 Bde., 1909, ²1917;
    Werke u. Schrr., hrsg. v. B. Titel u. H. Lange, 2 Bde., 1966 f.;
    Ges. Werke, hrsg. v. R. Daunicht (4 Bde.), 1. Bd., 1967;
    Briefe v. u. an J. M. R. L., ges. u. hrsg. v. K. Freye u. W. Stammler, 2 Bde., 1918 (Nachdr. 1969);
    Goedeke IV, S. 774-99;
    D. P. Benseler, J. M. R. L., An indexed bibliogr. with an introduction on the hist. of the manuscripts and editions, Diss. University of Oregon 1971. |

  • Nachlass

    Nachlaß: Berlin, Stiftung Preuß. Kulturbes., Staatsbibl.; Weimar, Goethe- u. Schiller-Archiv.

  • Literatur

    ADB 18;
    O. F. Gruppe, R. L., Leben u. Werke, 1861;
    E. Schmidt, L. u. Klinger, 1878;
    M. N. Rosanow, J. M. R. L., 1901 (russ.), 1909 (dt.);
    E. Schröder, Die Sesenheimer Gedichte v. Goethe u. L., 1905, S. 51-115;
    P. Th. Falck, Der Stammbaum d. Fam. L. in Livland, 1907;
    H. Kindermann, J. M. R. L. u. d. dt. Romantik, 1925;
    P. Heinrichsdorff, J. M. R. L.s rel. Haltung, 1932;
    F. J. Schneider, Die dt. Dichtung d. Geniezeit, 1952, S. 199-215;
    K. O. Conrady, Zu d. dt. Plautusüberss., in: Euphorion 48, 1954, S. 373-96;
    C. Grünager, La crisi etico religiosa dello Sturm u. Drang e il titanismo christiano di Lenz, in: Studi Germanici II, 1957;
    W. Höllerer, Die Soldaten, in: Das dt. Drama, hrsg. v. B. v. Wiese, 1958;
    A. Schöne, Säkularisation als sprachbildende Kraft (Hofmeister), 1958, ²1968;
    V. Klotz, Geschlossene u. offene Form im Drama, 1960;
    K. S. Guthke, Geschichte u. Poetik d. dt. Tragikomödie, 1961;
    H. Dwenger, Der Lyriker L., Seine Stellung zw. petrarkist. Formensprache u. Goethescher Erlebniskunst, Diss. Hamburg 1961 (W, L);
    K. R. Eissler, Goethe, A Psychoanalytic Study, 1963, I, S. 17-31;
    W. Hinck, Das dt. Lustspiel d. 17. u. 18. Jh., 1965;
    E. Genton, J. M. R. L. et la scène allemande, 1966 (W, L);
    R. Girard, L., Genêse d'une dramaturgie du Tragicomique, 1968, 1968;
    G. Mattenklott, Melancholie in d. Dramatik d. Sturm u. Drang, 1968;
    H. Boecker, Die Zerstörung d. Persönlichkeit d. Dichters J. M. R. L. durch d. beginnende Schizophrenie, 1969;
    F. Martini, Die Einheit d. Konzeption in J. M. R. L.s „Anmerkungen übers Theater“, in: Jb. d. dt. Schillerges. 14, 1970, S. 159-82;
    H. Pausch, Zur Widersprüchlichkeit in d. L.-schen „Dramaturgie“, Eine Unters. d. „Anmerkungen übers Theater“, in: Maske u. Kothurn 17, 1971, S. 97-108;
    O. Rudolf, J. M. R. L. Moralist u. Aufklärer, 1970;
    R. Frank, L. contra Wieland, An episode in 18th Century polemics, Diss. Rice University 1972;
    A. G. Blunden, J. M. R. Lenz, in: German Men of Letters 6, 1972, S. 207-40;
    B. Duncan, A „Cool Medium“ as Social Corrective, J. M. R. L.s Concept of Comedy, in: Colloquia Germanica 9, 1975, S. 232-245;
    J. Osborne, J. M. R. L., The Renunciation of Heroism, 1975 (W, L);
    R. Petrich, Die Funktion d. Komik in d. Dramen „Der Hofmeister“ u. „Die Soldaten“ v. J. M. R. L., Diss. Columbus/Ohio 1975;
    dies., Rel. u. Komödie: „Der Hofmeister“ v. J. M. R. L., in: Festschr. F. W. Fleischhauer, hrsg. v. D. Riechel, 1978, S. 277-87;
    W. Hinderer, J. M. R. L., Der Hofmeister, in: Die dt. Komödie, hrsg. v. W. Hinck, 1977;
    C. Hohoff, J. M. R. L. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten, 1977 (W, L);
    E. Oehlschläger, in: Dt. Dichter d. 18. Jh., hrsg. v. B. v. Wiese, 1977;
    E. McInnes, J. M. R. L. „Die Soldaten“, Text, Materialien, Kommentar, 1977;
    L. Kreuzer, Literatur als Einmischung, J. M. R. L., in: Sturm u. Drang, hrsg. v. W. Hinck, 1978, S. 213-29;
    W. Wittkowski, Georg Büchner, 1978, S. 332-39;
    A. Huysen, Drama d. Sturm u. Drang, 1980, S. 111-21 (Anm. übers Theater), S. 157-73 (Hofmeister);
    R. C. Zimmermann, Marginalien z. Hofmeister-Thema u. z. „Teutschen Misere“ b. L. u. Brecht, in: Drama u. Theater im 20. Jh., hrsg. v. H. D. Irmscher, 1983, S. 213-27;
    Goedeke IV, 1, S. 774-99;
    J.-M.-R.-L.-|Bibliogr., in: Bibliogr. Kal.bll. d. Berliner Stadtbibl., Folge 5, 1967;
    Kindlers Lit.-Lex.

  • Porträts

    Zeichnung v. H. Pfenninger (Wien, Nat.bibl.), Abb. b. Rave;
    Kupf. v. G. F. Scholl, um 1775 (Weimar, Goethe-Mus.).

  • Autor/in

    Wolfgang Wittkowski
  • Zitierweise

    Wittkowski, Wolfgang, "Lenz, Jakob" in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 226-231 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118571656.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Lenz: Jacob Michael Reinhold L., Dichter, geb. am 12. Januar 1751 zu Seßwegen in Livland, Sohn des späteren Generalsuperintendenten, damaligen Pastors David L. (s. o.) und der Frau Dorothea, geb. Neoknapp, übersiedelte im Februar 1759 mit seinen Eltern nach Dorpat und debütirte früh als Dichter, denn 1766 erschien die Klopstockisirende Ode „Versöhnungstod Jesu Christi". Der Dorpater Brand 1763 und eine Wassersnoth regten die sehr unreifen „Landplagen" in üblen Hexametern 1769 an. Er besang das „Begräbniß Christi", dichtete aus dem Pietismus des Vaterhauses heraus geistliche Lieder, zur Igelstroem-Lauw’schen Hochzeit 1766 lieferte er aber, Erlebnisse behandelnd, ein auffallend gewandtes Gelegenheitsstück „Der verwundete Bräutigam“ (ed. Blum, 1845). Andere Dramen, ein Trauerspiel „Diana“ z. B., sind verloren; ob die 1774 veröffentlichte Uebersetzung von Love's labours lost „Amor vincit omnia“ (Verg. Ecl. 10, 69) großentheils identisch ist mit der Jugendarbeit|"Die Liebe besiegt alles“, darf bezweifelt werden, doch steht frühe Vertrautheit mit Shakespeare fest. Auch den Tasso kannte er schon in der Heimath. L. bezog 1768 als stud. theol. die Universität Königsberg. Wir besitzen eine steife Ode an Kant von ihm (Reicke, Altpreuß. Monatsschrift 1867, S. 650). J. F. Reichardt verkehrte mit L. (vgl. Maltzahn, Bl. f. litt. Unterhaltung 1848, S. 945 ff.). Heitere und drückende Erfahrungen dieser Zeit spiegeln sich im „Hofmeister“. Mit zwei kurländischen Junkern v. Kleist reiste er über Berlin, wo er Nicolai eine Alexandrinerübersetzung des Essay on criticism schüchtern anbot, und Leipzig nach Straßburg. Sie trafen Ende April 1771 daselbst ein. Die Kleist traten auf einige Zeit in die französische Armee. L., ein hübsches gewinnendes Persönchen, näherte sich dem Salzmann’schen Kreise, ward mit Goethe aber erst brieflich, — persönlich 1775 — intimer. Mit dem jüngeren Kleist auf Fort Louis, besuchte er Sesenheim fleißig und verliebte sich in Friederike, schrieb überspannte Briefe an „Socrates" Salzmann, ein verzweifeltes Stammbuchblatt und das fälschlich Goethen zugewiesene Gedicht „Ach du bist fort" für die Tochter des „Pfarrers von Wakefield“, feierte aber später ernüchtert ihre Treue für Goethe in schönen Versen ("Die Liebe auf dem Lande“, nicht vor 1775; erste Fassung Archiv f. Litteraturgesch. 8, 166 ff.). Von Fort Louis ging es nach Landau. Im Spätjahr 1772 kehrte er zu dem älteren Kleist nach Straßburg zurück, wurde jedoch 1773—74 seltsam in die Liebeswirren dieses und eines später zugereisten dritten Kleist verwickelt — „Die Soldaten" deuten darauf hin — und löste sein Verhältniß, ohne einen guten Hofmeisterposten zu finden. Den seltsamen Handel im Bürgerhaus am Kleberplatz hat er erst englisch, später für Goethe deutsch dargestellt (vgl. Dichtung und Wahrheit, Urlichs „Etwas von Lenz“, Deutsche Rundschau 1877, Mai). Am 3. September 1774 immatriculirt, lebte er kümmerlich von englischen Stunden, während sein Dichterruhm stieg und seine Verbindungen sich ausbreiteten: Goethe, Lavater, Zimmermann, Herder, Merck, La Roche (s. Anhang zu „Briefe Goethe's an Sophie von la Roche“ ed. Loeper) etc. Pfingsten 1775 besuchte ihn Goethe; sie tauschten herzliche Verse. L. liebte Henriette v. Waldner, die im Frühjahr 1776 den Baron Siegfried von Oberkirch heirathete. In ihren Mémoires (Paris 1853) steht nichts über den ihr wol ganz unbekannten L. Am 2. November 1775 wurde die Salzmann’sche Gesellschaft auf neuen Grundlagen eröffnet; L. war Secretär, Germanisator, das führende thätigste Mitglied (s. das Protocoll „Alsatia“ 1862 ff., S. 173 ff,). Aber er strebte fort, nach Weimar, vgl. an Knebel, 6. III. 76, und traf dort, nachdem er in Mannheim, Darmstadt und Frankfurt Station gemacht, am 1. April 1776 ein, freundlichst aufgenommen, vom Herzog bis zum 27. Juni im Gasthof freigehalten. Dann ging das „kranke Kind“ auf zwei Monate nach Berka und kehrte später von Weimar aus wiederholt in Kochberg ein, um mit Frau v. Stein Englisch zu treiben. Zwar hatte er Karl August, Anna Amalia, Wieland u. a. gewonnen, aber sein krankhaftes, halb verstiegenes, halb bescheidenes, zu Eseleien und Affenstreichen neigendes Wesen zog ihm außer Aerger und Mitleid auch empfindliche Demüthigungen zu, bis er zweifelsohne wegen unüberlegter beleidigender Worte (vom 25. oder 26. November) über Goethe und die Stein — vgl. meine Uebersicht „Anzeiger für deutsches Alterthum“, 1, 174 f. — ausgewiesen wurde. Am 1. December 1776 schied er. Schlosser's nahmen ihn in Emmendingen auf. Im Januar verbrachte er acht Tage in Colmar (Pfeffel an Sarasin, 24, I. 77) und schien weniger zerrüttet als in Weimar. Wir finden ihn in Basel bei Sarasin (vgl. Hagenbach, J. J. Sarasin und seine Freunde, 1850); im August „lenzelt“ er noch bei Lavater, tief verschuldet. Er bereiste im Juni mit dem Enthusiasten Kayser die Alpen. Die Collectivschnurre „Jupiter und Schinznach“, 1777, 28 S., zeigt ihn noch als alten Virtuosen in Quibbles. Die Nachricht vom Tode der verehrten Cornelie Schlosser traf ihn tief. Seine Geisteskrankheit ward immer deutlicher. Die italienische Reise mit dem Grafen Hohenthal mußte hinter Sitten abgebrochen werden. In Marschlins bei Salis, dann in Winterthur bei Kaufmann (November 1777) hatte er einen „Anfall“. Wahnsinnig trat er am 20. Januar 1778 in Waldbach, wohin der Kraftapostel ihn gewiesen, bei Oberlin ein, in dessen Hause er mehrere Selbstmordversuche machte. Er wurde im Februar über Straßburg nach Emmendingen gebracht, wo Schlosser sich für den bald wortlos verzagten, bald tobsüchtigen aufopferte (Hagenbach, S. 95 f.); dann beim Schuster Süß, nachher bei einem Chirurgen auf Karl Augusts Kosten in Pflege. Man sammelte für ihn. Seine Familie regte sich nicht. Der Vater ward 1779 nach Riga versetzt; der älteste Sohn rückte in seine Dorpater Stelle. Dieser holte endlich im Juni 1779 Jacob heim. In Riga schien er hergestellt. Er hoffte dort Rector zu werden. Das Gerücht, er sei Professor in Dorpat geworden, erregte Gelächter in Deutschland, die falsche Nachricht seines Todes 1780 kaum irgend welches Aufsehen. Diese russische Zeit liegt vor der Hand trotz kleinen Mittheilungen sehr im Argen. L. taucht in Petersburg bei Nicolay auf. Ein Adelicher bei Moskau gewahrte ihm Obdach. Er starb in der Nacht vom 23. auf den 24. Mai 1792. Seine äußere Erscheinung hat Goethe geschildert; es stimmt dazu eine Zeichnung in Falck's Besitz (vgl. Lenz und Klinger, S. 7).

    L. ist — longo sed proximus intervallo — der genialste Dramatiker des Sturms und Drangs nach Goethe, dem z. B. der „Hofmeister“ von vielen zugeschrieben wurde. Auch L. heißt der „deutsche Shakespeare“. Er schwingt sich in der kecken litterarischen Farce Pandaemonium germanicum (ed. zuerst Dumpf 1819, dann Tieck) neben Goethe, schreibt „Unsere Ehe“ (verloren) und „Briefe über die Moralität des jungen Werther's“ (verloren; vgl. H. L. Wagner, 2. A., S. 161 f.) und überbietet Gerstenberg's, Herder's, Goethe's Shakespearecultus durch die 1774 erschienenen, früher verfaßten „Anmerkungen übers Theater“, der wirrsten Historienform das Wort redend. Er hatte mehr Begabung zur Farce, Komödie, bürgerlichen Tragikomödie, als zur Tragödie. Seine frei modernisirten „Lustspiele nach dem Plautus“ sind sehr drastisch, Holbergisch. Amor vincit omnia bietet die graciösen Scenen des Urtextes gekürzt und vergröbert, vortrefflich aber die krausen Scherze, die Narrheit, den Schwulst. Sein „Coriolan“ (am 21. III. 76 von Rüderer in Straßburg vorgelesen, hsl. in Weimar, „Seiner Durchlaucht, dem Herzoge, unterthänigst gewiedmet von Lenzen") ist ein rascher Prosaauszug, bestimmt vor allem die Scenen der Hauptperson wiederzugeben, abgerissen, manches verstärkt, Volksscenen entfallen mehrfach, kurze verbindende Anmerkungen dazwischen, Resumés in indirecter Rede. Verdienstlos sind die Stücke aus Ossian in Jacobi's Iris. Er hatte viel Verständniß und Talent für die Satire. Er drängte Goethe zum Druck von „Götter, Helden und Wieland" (vgl. sein rührendes spätes Geständniß an Wieland. Morgenblatt 1855, S. 782), schrieb gegen Wieland die „Wolken" (beide Fassungen verloren) und ließ die „Vertheidigung" (v. Maltzahn) folgen, später die anschmiegende „Epistel eines Einsiedlers an Wieland“, nachdem er besonders den neuen Amadis in „Menalk und Mopsus“ und im „Eloge de feu Nr. Wielaud“ (vgl. meine Auszüge, Archiv f. Litt., 9, 179 ff.) scharf angegriffen. All das voll von Großmannsucht. Als Erzähler ist L. trocken im „Zerbin" und Mehr noch im „Landprediger“, zu zerflossen und unplastisch in dem, gleich dem lyrischen „Petrarch“ auf Henriette, aber auch auf Goethe zielenden, in Berka verfaßten Torso „Der Waldbruder“ (zuerst in den „Horen“, wiederholt bei Dorer, mit Einleitung ed. von Waldberg 1882). Seine Lyrik ist|"Ausfluß des Herzens“, vieltönig, bald schlicht, bald leidenschaftlich und dithyrambisch (Der verlorene Augenblick, An Seraphine, Auf eine Papillote), aber ohne Feile und zu nebelhaft. Klärung war dem kranken Dichter versagt. Philister der Kritik haben ihn deshalb und wegen der sich wichtig dünkenden Neugier und Intriguensucht seines Erdewallens oft geschulmeistert. Am gerechtesten ward ihm Wieland.

    Als Dramatiker suchte L., der zugleich den segenbringenden Weltreformator und Pädagogen spielen wollte, Diderot und Shakespeare zu vereinigen. „Der Hofmeister“ — von Schröder 1778 ohne Erfolg für die Bühne eingerichtet, vgl. dazu Litteratur- und Theaterzeitung, Berlin, 1, 394 f. und Rheinische Beiträge, Mannheim 1781, 1, 67 ff.; Recensionen z. B. Schubart, D. Chronik, 1. Beylage, August 1774 — schildert die Nachtheile der Privaterziehung mit einer zuchtlosen Technik und einem Gemisch von trockener Lehrhaftigkeit und versöhnlichster Unsittlichkeit, aber genial in der Komik des Schulmeisters, dem englischen Humor einer Väterrolle und der Naivetät eines Landmädchens. „Die Soldaten“ — eine Bearbeitung Bauernfeld's „Das Soldatenliebchen“, machte im Burgtheater Fiasco — auf Grund der Straßburger Erlebnisse verfaßt (vgl. die Briefe „Aus Herder's Nachlaß"; die erste Fassung des 5. Acts besitzt Maltzahn) und ängstlich Klingern zugeschoben (vgl. jetzt v. Beaulieu-Marconnay, Archiv f. L., 2, 245 ff. und Buchner, „Aus dem Verkehr einer deutschen Buchhandlung“, S. 59 ff., auch Rieger's „Klinger“, I.), brandmarken die verderbliche Ehelosigkeit der jungen Offiziere. Gute bürgerliche Scenen voll frischen Lebens, viel Fratze und absurdes Dociren, die Composition außer Rand und Band. Die übrigen Stücke sind schwer genießbar, außer in Einzelheiten. Nach Straßburg fallen noch „Der neue Menoza", angeregt durch Pontoppidan und Rousseau, carikirt und übers Knie gebrochen in der Handlung und einigen Hauptfiguren, bewundert von Schlosser: „Prinz Tandi an den Verfasser des neuen Menoza", 1775 (wieder abgedruckt Kl. Schr. 1779, 2, 261 ff.; vgl. Frankf, gel. Anz., 1775, S. 595 ff.), sonst abgelehnt. Ferner außer der dramatisirten Zeitungsanecdote „Die beiden Alten", welcher Schiller ein Motiv für die „Räuber“ entnahm, noch „Die Freunde machen den Philosophen“, ein wirres Stück mit Ausblicken auf Erlebtes und einer seltsamen Triple-Ehe zum Schluß. Nach Weimar weisen: „Tantalus“ (September 1776), Leiden bei Hofe, Huldigungen für Herzogin Luise, und die verrückte „Phantasey“ „Der Engländer“. Wir haben Fragmente eines Lustspiels in Alexandrinern von 1777 (Dorer-Egloff, S. 210 ff.), doch nur die Titel von: Die Algierer (= Captivi), Catharina von Siena (scheint handschriftlich erhalten) etc. Was er in Rußland späterhin noch geschaffen, außer Uebersetzungen, hat höchstens pathologisches Interesse.

    Aus der weitschichtigen Litteratur ist außer dem im Text verzeichneten hervorzuheben: Goethe, Dichtung und Wahrheit, Buch 11 u. „Lenz“, Hempel, 27, 297 f. Tieck hat das Verdienst, Lenzens Werke in einer freilich mangelhaften Ausgabe 3 Bde., vorgelegt zu haben, Berlin 1828. Ergänzungen lieferte Dorer-Egloff, auch viele Briefe beisteuernd, 1857; mehrere Datirungen besserte Düntzer, Morgenblatt, 1858, Nr. 37 f. Briefe an Salzmann: Stoeber, Der Dichter Lenz und Friederike v. Sesenheim, 1842. An Merck, an Herder, an Boie, an Rüderer (Stöber, J. G. Röderer, 1874), an Frau v. Stein (Deutsches Museum, 1861, S. 820). Aufsätze und Lyrisches (auch bei Gruppe): Zöppritz, Aus Jacobi's Nachlaß, 1869, Bd. II, Erich Schmidt, H. L. Wagner2, 1879, J. v. Sivers' Baltische Monatschrift, 1879. Für die Jugend Lenzens ist überhaupt zu vergleichen P. Th. Falck, Der Dichter Lenz in Livland, Winterthur 1878. Ganz unkritisch: Gruppe, Reinhold Lenz, 1861. Held der Novelle bei G. Büchner (und Bennecke). — Erich Schmidt,|Lenz und Klinger, Berlin 1878. — Hss. im Besitze von Maltzahn und Falck. Die Lenziana (Dramatisches u. s. w.) aus Sivers' Nachlaß wird Weinhold herausgeben.

  • Autor/in

    Erich , Schmidt.
  • Zitierweise

    Schmidt, Erich, "Lenz, Jakob" in: Allgemeine Deutsche Biographie 18 (1883), S. 272-276 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118571656.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA