Lebensdaten
1885 – 1942
Geburtsort
Rostow/Don (Südrußland)
Sterbeort
Rostow/Don (Südrußland)
Beruf/Funktion
Psychoanalytikerin ; Ärztin
Konfession
jüdisch
Normdaten
GND: 118827049 | OGND | VIAF: 14776965
Namensvarianten
  • Spielrein, Sabina Nikolajewna (geborene)
  • Spielrein, Sabina Naphtuliewna (geborene)
  • Spielrein, Sabina Naftaliewna
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Zitierweise

Spielrein, Sabina (geborene), Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118827049.html [28.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Naftuli (Naphtul, Naftal) Moschkowitsch (Nikolaj Arkadjewitsch) (1860–1938), aus kleinbürgerl. Fam. in Warschau, studierte Biol., ließ sich 1883 als Großhändler f. Getreide u. Kunstdünger in R. nieder, Kaufm. d. I. Gilde ebd., Entomologe;
    M Eva (1863–1922), Zahnärztin, T d. Mark Ljublinksi, Rabbiner;
    3 B Yascha (Jan) (1887–1937 ermordet), Prof. f. Elektrotechnik in Moskau, Isaak (Oskar) (1891/92–1938 ermordet), Prof. f. Psychol. in Moskau, „Vater d. russ. Psychotechnik“ (s. L), Emil (1899–1938 ermordet), Biol., Doz., Dekan d. biol. Fakultät d. Univ. R., 1 Schw Emilja (1895–1901);
    Wien 1912 Pawel Naumowitsch (Feifel Notowitsch) Scheftel (1881–1937, jüd.), Arzt, 1912 in Berlin, dann in R.;
    2 T Renata (1913–42 ermordet), Eva (1926–42 ermordet).

  • Biographie

    S. verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Rostow. Nach Abschluß des dortigen Gymnasiums reiste sie in die Schweiz, um zu studieren und ihre nervösen Störungen behandeln zu lassen. Im Aug. 1904 kam S. auf eigenen Wunsch zur Behandlung in die psychiatrische Klinik „Burghölzli“, wo sie Carl Gustav Jungs (1885–1961) „psychoanalytischer Schulfall“ und Vorbild seiner „Anima“ (gemäß Jungs Theorie der weibliche Anteil in der Psyche des Mannes) wurde. Während des neunmonatigen Klinikaufenthaltes begann S. das Medizinstudium an der Univ. Zürich und wurde 1911 bei Eugen Bleuler (1857–1939) mit der Dissertation „Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie“ (in: Jb. f. psychoanalyt. u. psychopatholog.Forschungen3,1911,S.329–400) promoviert. Diese erste psychoanalytisch orientierte Dissertation einer Frau war eine Pionierleistung auf dem Gebiet der psychoanalytischen Erforschung der Psychosen.

    Von Zürich ging S. nach München, wo sie ihre bekannteste Arbeit, „Die Destruktion als Ursache des Werdens“ (in: Jb. f. psychoanalyt. u. psychopatholog. Forschungen 4, 1912, S. 465–503), schrieb. Wie bei vielen frühen Psychoanalytikern begann S.s theoretische Beschäftigung mit einem Thema häufig mit einer Selbstbeobachtung. Im Verlauf der Reflektion persönlicher Liebeserfahrung und der Enttäuschung über Jung, ihren ehemaligen Therapeuten und Geliebten, gelangte S. zu einer Theorie der (weiblichen) Hingabe und führte als Erste die Vorstellung eines destruktiven Triebes in das psychoanalytische Denken ein. Als sie im Herbst 1911 nach Wien übersiedelte und Mitglied der Wiener „Psychoanalytischen Vereinigung“ wurde, war Freud noch nicht bereit, Überlegungen zu akzeptieren, die seine Libidotheorie in Frage stellten. Erst 1920 in „Jenseits des Lustprinzips“ formulierte er seine dritte und letzte Triebtheorie mit Eros und Thanatos als Gegenspielern. Hier würdigte er S.s Pionierrolle bei der Thematisierung destruktiver seelischer Komponenten in einer Fußnote.

    1912 siedelte S. mit ihrem Mann nach Berlin über. Mit der Studie „Beiträge zur Kenntnis der kindlichen Seele“ (in: Zbl. f. Psychoanalyse 3, 1912, S. 57–72) betrat sie das Hauptfeld ihrer wiss. Arbeit, die Erforschung der kindlichen Entwicklung. Zu Beginn des 1. Weltkriegs floh S. mit ihrer Tochter nach Lausanne in der Schweiz, ihr Gatte kehrte nach Rußland zurück. Auf dem VI. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Den Haag 1920 referierte S. über „Die Entstehung der kindlichen Worte Papa und Mama, Einige Betrachtungen über verschiedene Stadien in der Sprachentwicklung“ (in: Imago 8, 1922, S. 345–67). Sie entwarf ein dreistufiges Phasenmodell der Sprachentwicklung von Säuglingen und Kleinkindern und beschrieb bzw. analysierte als erste Analytikerin die Bedeutung des Stillens als grundlegende Erfahrung des Kindes. Unter ihren Zuhörern befand sich Melanie Klein (1882–1960), die diese Gedanken 1936 ohne Verweis auf S. aufgriff und zur Grundlage ihrer Entwicklungstheorie machte.

    1920 zog S. nach Genf, um am „Institut Jean-Jacques Rousseau“ zu arbeiten. Sie wurde u. a. die Analytikerin des später berühmten Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget (1896–1980) und arbeitete mit diesem auch zusammen. Doch während Piaget seine Forschungen auf die kognitive Entwicklung beschränkte, interessierte S. sich stets für kognitive wie emotionale Aspekte und deren Zusammenhang. 1923 kehrte S. nach Rußland zurück, übernahm zunächst am Moskauer „Psychoanalytischen Institut“ eine Kaderfunktion, ging 1924 nach Rostow und lebte wieder mit ihrem Ehemann zusammen. S. bezog Stellung in den zunehmend erbitterten|Auseinandersetzungen in der Sowjetunion über das Verhältnis von „Freudismus“ und Marxismus, wobei sie die Meinung vertrat, diese könnten sehr wohl miteinander existieren. Obwohl S.s drei Brüder Jean, Isaak und Emil Opfer der „Großen Säuberungen“ unter Stalin wurden, blieb sie selber verschont. Während der 2. Okkupation Rostows durch die Wehrmacht wurde S. mit ihren Töchtern von dem SS-Sonderkommando 10a unter Sturmbannführer Heinz Seetzen erschossen.

  • Werke

    Quelques analogies entre la pensée de l'enfant, celle de l'aphasique et la pensée subconsciente, in: Archives de Psychologie 18, 1923, S. 305–22;
    Die Zeit im unterschwelligen Seelenleben, in: Imago 9, 1923, S. 300–17;
    Einige kleine Mitt. aus d. Kinderleben, in: Zs. f. Psychoanalyt. Pädagogik 2, 1927/28, S. 95–99;
    – Sämtl. Schrr., hg. v. L. Lütkehaus, 2002;
    T. Hensch (Hg.), S. S., Tageb. u. Briefe, Die Frau zw. Jung u. Freud, 2003.

  • Literatur

    C. Covington u. B. Wharton (Hg.), S. S., Forgotten Pioneer of Psychoanalysis, 2003;
    J. Kerr, A Most Dangerous Method, The Story of Jung, Freud and S. S., 1993;
    A. Etkind, Der Eros d. Unmöglichen, 1996;
    R. Höfer, Die Psychoanalytikerin S. S., 2000;
    A. Wieser, Zur frühen Psychoanalyse in Zürich 1900–1914, Diss. Univ. Zürich, 2001;
    E. B. Movshovich, Sud'ba S. S., pionera psikhoanaliza, in: ders.: Ocherki istorii evreev na Donu, 2006, S. 256–281;
    S. Richebächer, S. S., „Eine fast grausame Liebe z. Wiss.“, 2005, ²2008 (P);
    Biogr. Lex. Psychoanalyse;
    Jüd. Frauen im 19. u. 20. Jh., hg. v. J. Dick u. M. Sassenberg, 1993;
    Dokumentarfilm v. E. Márton, Jeg hed S. S./Ich hieß S. S., 2002;
    Roman:
    B. Reetz, Die russ. Patientin, 2006;
    zu Isaak:
    W. Birkenmaier, Das russ. Heidelberg, 1995, S. 185.

  • Autor/in

    Sabine Richebächer
  • Zitierweise

    Richebächer, Sabine, "Spielrein, Sabina" in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 691-692 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118827049.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA