Lebensdaten
1755 – 1830
Geburtsort
Thorn/Weichsel
Sterbeort
Frankfurt/Main
Beruf/Funktion
Anatom ; Arzt ; Naturforscher ; Physiker
Konfession
-
Normdaten
GND: 118805193 | OGND | VIAF: 7429975
Namensvarianten
  • Soemmerring, Samuel Thomas
  • Sömmering, Samuel Thomas von
  • Sömmring, Samuel Thomas von
  • mehr

Verknüpfungen

Verknüpfungen zu anderen Personen wurden aus den Registerangaben von NDB und ADB übernommen und durch computerlinguistische Analyse und Identifikation gewonnen. Soweit möglich wird auf Artikel verwiesen, andernfalls auf das Digitalisat.

Orte

Symbole auf der Karte
Marker Geburtsort Geburtsort
Marker Wirkungsort Wirkungsort
Marker Sterbeort Sterbeort
Marker Begräbnisort Begräbnisort

Auf der Karte werden im Anfangszustand bereits alle zu der Person lokalisierten Orte eingetragen und bei Überlagerung je nach Zoomstufe zusammengefaßt. Der Schatten des Symbols ist etwas stärker und es kann durch Klick aufgefaltet werden. Jeder Ort bietet bei Klick oder Mouseover einen Infokasten. Über den Ortsnamen kann eine Suche im Datenbestand ausgelöst werden.

Zitierweise

Sömmerring, Samuel Thomas von, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118805193.html [28.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    Aus Fam., d. seit Bartholomäus S. (um 1565-vor 1625), aus Marburg/Lahn, Weinwirt in F., nachweisbar ist;
    V Johann Thomas S. (1701–81), Arzt, Stadtphysicus in Th., S d. Michael (1685–1729), Ratsherr, Kämmerer in Lauenburg (Pommern);
    M Regina (1721–82), T d. Christoph Heinrich Geret (1666–1757), Stadtpfarrer in Th.;
    Om Samuel Luther Geret (1730–97), Prof. am Gymnasium in Th., Bgm. ebd.;
    10 Geschw u. a. Johann Gottlieb S. (1751–1812), Jurist, Stadtrat in Th.;
    Frankfurt/M. oder Mainz 1792 Margarethe Elisabeth (1768–1802), Malerin, Kupferstecherin (s. ThB; Frankfurter Biogr.), T d. Peter Grunelius (1739–1810), Kaufm. in Frankfurt/M., u. d. Anna Katharina Sauer (1748–1806);
    1 S Detmar Wilhelm (1793–1871, Maria Magdalena Wenzel, 1800–62), Dr. med., Augenarzt in Frankfurt/M., Administrator d. Senckenberg. Stiftung, 1857 HR (s. ADB 34; Pogg. I–III; BLÄ; Frankfurter Biogr.), 1 T Susanna Katharina (1796–1867, Theodor Wilhelm Rittershausen, 1787–1844, Handelsmann in Frankfurt/M.);
    E Thomas Carl (1821–94, Maria Sophie Krätzer, Ps. Arthur Halding, Alexander Sternau, 1838–1920, Schriftst., s. Kosch, Lit.-Lex.³; Frankfurter Biogr.), Architekt.

  • Biographie

    Der Beruf des Vaters prägte S. ebenso wie das Milieu der ev.-dt. Oberschicht seiner Heimatstadt. Nach dem Besuch des Thorner Gymnasiums begann S. 1774 das Medizinstudium in Göttingen. Zu seinen Lehrern zählten dort Georg Christoph Lichtenberg (1742–99), Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) und Christian Gottlob Heyne (1729–1812), alle drei später mit ihm befreundet. 1778 wurde S. mit einer Dissertation über die Gehirnbasis zum Dr. med. promoviert. Anschließend reiste er in die Niederlande und nach Großbritannien und begegnete Koryphäen der Medizin wie Petrus Camper (1722–89), John (1728–93) und William Hunter (1718–83). Nach Deutschland zurückgekehrt, erhielt S. 1779 durch seinen Freund Georg Forster (1754–94), den er in London kennengelernt hatte, eine Professur am Kasseler „Carolinum“. Fünf Jahre lehrte und erforschte er dort die Anatomie, stets vergleichend zwischen Mensch und Tier, aber auch zwischen den menschlichen Rassen. In Kassel schrieb S. die ersten seiner insgesamt über 1300 Rezensionen (vorwiegend für die „Götting. Gelehrten Anzeigen“); er unternahm Ballonversuche und sammelte Fossilien. Zugleich aber trieb er (mit Forster) im Geheimbund der „Gold- und Rosenkreuzer“ Alchemie. Als beide dies als Irrweg erkannten, verließen sie 1784 Kassel fast fluchtartig. Forster ging ins poln. Wilna, S. übernahm die Anatomie-Professur in Mainz. Die dortige, bislang streng kath. Universität wurde gerade im Sinne der Aufklärung reformiert, was auch die Berufung von Protestanten einschloß. S.s Haus wurde Ende der 1780er Jahre zu einem Treffpunkt der dt. Geisteselite. Diese kulturelle Hochblüte endete abrupt im Herbst 1792, als Mainz von franz. Truppen besetzt wurde und ein regulärer Hochschulbetrieb unmöglich wurde. S. hielt sich mehr und mehr in Frankfurt auf, wo er 1795 eine Arztpraxis eröffnete. Ende 1797 legte er seine Mainzer Professur nieder. 1801 führte er in Frankfurt die Pockenschutzimpfung ein und publizierte Arbeiten zur Anatomie, Ophthalmologie (Entdeckung d. Macula lutea 1791/99), Embryologie und den Sinnesorganen. Nach dem Tod seiner Frau 1802 strebte S. in den akademischen Bereich zurück, nahm aber erst Anfang 1805 den Ruf nach München an die Bayer. Akademie der Wissenschaften an. Von dem bayer. Minister Maximilian v. Montgelas angeregt, erfand S. 1809 einen elektro-chemischen Telegraphen, der zwar eine originelle Konstruktion aufwies, jedoch für den praktischen Betrieb wenig geeignet war. Im Münchener „Akademiestreit“ (1810/11) gehörte er zu den heftig attackierten landfremden und meist prot. „Nordlichtern“. Nach Montgelas' Sturz (1817) verließ S. 1819/20 München und kehrte nach Frankfurt zurück, wo er – noch immer vielfältig forschend und publizierend – bei seinen Kindern lebte.

    S. wurde besonders als (Neuro-)Anatom berühmt. Schon seine Dissertation (De basi encephali et originibus nervorum cranio egredientium, 1778) weist ihn als akribischen Beobachter aus, dessen Denken auf Rationalität und Empirie beruht. Zudem war S. auch zeichnerisch sehr talentiert. Sein Anatomie-Handbuch „Vom Baue des menschlichen Körpers“ (5 Bde., 1791–96) und die ergänzenden Abbildungen der menschlichen Sinnesorgane (4 Bde., 1801–09) galten jahrzehntelang als Standardwerke. Lehnte S. meist die Annahme bloßer Zufälle oder gar Wunder bei der Entwicklung des Menschen als irrational ab (Abbildungen einiger Misgeburten, 1791; Icones Embryonum 1799), so|begab er sich mit dem Versuch, den Sitz der Seele in der Gehirnflüssigkeit (Liquor cerebrospinalis) zu lokalisieren (Über d. Organ d. Seele, 1796), auf das Gebiet der Spekulation, was schon viele Zeitgenossen kritisierten. Auch seine Mainzer Antrittsrede „Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer“ (1784/85) fand neben viel Anerkennung auch Widerspruch, weil S. die Schwarzafrikaner „etwas näher ans Affengeschlecht“ rückte als die Weißen. Eine „Schule“ hat S. nicht gebildet; sein Leben und Werk stehen zeitlich zwischen aufgeklärter und romantischer Medizin, waren aber noch wesentlich vom „Vernunftzeitalter“ geprägt. Ein „Universalgelehrter“ war S. nicht (mehr), wohl aber ein Wissenschaftler mit weitgespannten Interessen, der auch Beziehungen zu Herder, Heinse, Jacobi, Kant, Goethe, Hölderlin, W. u. A. v. Humboldt und Jean Paul pflegte. In der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der Goethezeit nimmt S. einen zentralen Platz ein.

  • Auszeichnungen

    Mitgl. d. Ak. d. Wiss. Göttingen (1780), München (1805), Wien (1809), Paris (1811), d. Leopoldina (1816), St. Petersburg (1819) u. Cambridge (1820);
    Mitgl. zahlr. wiss. bzw. med. Gesellschaften, u. a. d. Soc. des Antiquités, Kassel (1770), d. Soc. Galvanique, Paris (1802), d. École de médicine (1805), d. Soc. médicale, Montpellier (1803), d. Soc. des Naturalistes, Moskau (1806), d. Soc. delle Scienze, Neapel (1819), d. Wernerian Natural Soc., London (1817), d. Senckenberg. naturforsch. Ges., Frankfurt/M. (1818), d. Soc. mineralogica (St. Petersburg, 1818);
    Zivilverdienstorden d. bayer. Krone (1808);
    russ. St. Annenorden (1818);
    hann. Guelphenorden (1822);
    Dr. h. c. (Göttingen 1828);
    HR;
    Erinnerungsmedaille d. Senckenberg. naturforsch. Ges.

  • Werke

    Über d. Vereinigung/Durchkreuzung d. Sehenerven, in: Hess. Btrr. z. Gelehrsamkeit u. Kunst 1, 1785, S. 185–207 u. 614–627;
    Vom Hirn u. Rückenmark, 1788;
    Über d. Tod durch d. Guillotine, in: Klio, Mschr. f. d. franz. Zeitgesch. 1795, H. 9, S. 61–72;
    Tabula sceleti feminini, 1797;
    De Foramine centrali limbo luteo cincto retinae humanae, in: Commentationes Soc. Regiae Scientiarum Gottingensis 13, 1799, S. 3–13;
    Über e. elektr. Telegraphen, in: Denkschrr. d. Kgl. Ak. d. Wiss. zu München f. d. J. 1809 u. 1810, 1811, S. 401–14;
    Über e. neue Art Wein zu veredlen, ebd. 1814 u 1815, 1817, S. 137–50;
    Über d. Crocodilus priscus oder e. in Baiern versteint gefundenes schmalkieferiges Krokodil, ebd., S. 9–82;
    Meine Ansicht einiger Gallschen Lehrsätze, in: Götting. gel. Anzeigen 1829, St. 6 u. 7, S. 49–64;
    – G. Mann, J. Benedum u. W. F. Kümmel (Hg.), Werkausgabe, 1990 ff.;
    Qu
    Frankfurt/M., Univ.bibl.;
    ebd., Freies Dt. Hochstift;
    Privatbes.;
    öff. Bibl. u. Archive, in Thorn, Göttingen, Marburg, Mainz, Darmstadt, Frankfurt/M. u. München (jeweils Nachlaßteile, Autogrr. etc.).

  • Literatur

    ADB 34;
    G. Wenzel-Naß, in: G. Mann u. F. Dumont (Hg.), S. T. S. u. d. Gelehrten d. Goethezeit, Bd. 1, S. 331–417 (W-Verz.);
    G. Mann, J. Benedum u. W. F. Kümmel (Hg.), S.-Forschungen, Btrr. z. Naturwiss. u. Med. d. Neuzeit, 1985 ff.;
    F. Dumont, Das „Seelenbündnis“, Die Freundschaft zw. Georg Forster u. S. T. S., in: D. Rasmussen (Hg.), Der Weltumsegler u. seine Freunde, Georg Forster als gesellschaftl. Schriftst. d. Goethezeit, 1988, S. 70–100;
    ders., Nicht nur Hölderlin, Das ärztl. Besuchsbuch S.s als Qu. f. sein soz. Umfeld in Frankfurt/M., in: Med.hist. Journal 28, 1993, S. 123–54;
    ders., „Seeing is believing“, Rel. u. Konfession b. Georg Forster u. S. T. S., in: Georg-Forster-Studien III, 1999, S. 167–96;
    ders., in: W. Gerabek u. a. (Hg.), Enz. Med.gesch., 2005;
    I. Sahmland, S. als Freimaurer u. Rosenkreuzer in Kassel, in: M. Wenzel (Hg.), S. T. S. in Kassel, Btrr. z. Wiss.gesch. d. Goethezeit, 1994, S. 353–422;
    R. Siemon, S. T. S., Mediziner u. Naturwiss. aus Thorn, 2001;
    Pogg. II u. VII a Suppl.;
    Matschoss, Technik;
    Goedeke;
    BLÄ;
    ThB;
    Altpreuß. Biogr. II;
    Reinalter I;
    DSB;
    Ärztelex.;
    Lex. Naturwiss.;
    Killy;
    Kosch, Lit.-Lex.³;
    Frankfurter Biogr. (P);
    Kreuter, Neurologen;
    Enz. Neuzeit.

  • Porträts

    u. a. Kupf., um 1800 v. J. V. Bender u. F. W. Bollinger, in: Neue Dt. Bibl. 64, 1801, Frontispiz;
    Biscuitmedaillon v. J. P. Melchior, 1812 (Frankfurt/M., Hist. Mus.);
    Ölgem. v. W. Moosbrugger, 1813 (Hamburg, Privatbes.);
    2 Ölgem. v. C. Thelott, 1828 (München, Bayer. Ak. d. Wiss.;
    Mainz, Ak. d. Wiss. u. d. Lit.);
    Gipsbüste v. E. v. d. Launitz, 1849 (Frankfurt/M., Physikal. Ver.);
    Bronzedenkmal v. dems., 1897 (Frankfurt/M., 1943 eingeschmolzen);
    Sandsteinskulptur an d. Südseite d. (neuen) Frankfurter Römers, 1904;
    Ölgem., anonym, nach e. Kupf. v. 1825/28, um 1950 (Mainz, Anatom. Inst. d. Univ.).

  • Autor/in

    Franz Dumont
  • Zitierweise

    Dumont, Franz, "Sömmerring, Samuel Thomas von" in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 532-533 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118805193.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Sömmerring: Samuel Thomas (v.) S., hervorragender Anatom und vielseitiger Gelehrter. S. wurde am 28. Januar 1755 in Thorn — damals zu Polen gehörig — geboren; sein Vater. Johann Thomas S., war Stadtphysicus daselbst und hatte zur Frau eine Tochter des Seniors der Thorner evangelischen Geistlichkeit, Regina Geret. Im Elternhaus wie im Gymnasium seiner Vaterstadt erhielt S. eine sorgfältige Erziehung und Anregungen, die direct bestimmend|für seine spätere Thätigkeit wurden: so nahm der Vater den Knaben zu Leichensectionen mit, und der Rector des Gymnasiums, Kries, ein Verwandter, erweckte gleichfalls die Neigung zur Anatomie; der als Dichter bekannte Willamov ertheilte den Zeichenunterricht, und ihm verdankt wohl S. die wesentlichste Förderung seines Formensinns und seiner Darstellungsgabe, welche beiden Eigenschaften in seinen späteren anatomischen Werken so glänzend zur Geltung kamen. — Im Herbst 1774 bezog S. die Universität Göttingen, an der Wrisberg, Baldinger, Gmelin, Murray, Richter, Lichtenberg u. a. lehrten. Der Student ließ sich, dem Einflusse und Wunsche seines Vaters folgend, als Mediciner einschreiben, hörte aber neben seinen Fachcollegien Vorlesungen über allgemeinere Gegenstände, trieb Sprachen und erlernte das Kupferstechen. Während des Vaters Absicht dahin ging, den Sohn bald in der Praxis zu sehen, war es diesem vielmehr darum zu thun, die ergriffene Wissenschaft „so aus dem Grunde zu lernen, um auf Akademien befördert zu werden“. Mit Widerstreben sieht der Vater den Sohn auf die akademische Laufbahn hinarbeiten. Schon 1776 sängt S. an, selbständige Studien auf dem Gebiet der Anatomie, speciell der des Gehirns, zu machen — ein Gegenstand, der ihn sein ganzes Leben beschäftigte — und als erste Frucht seiner rastlosen Thätigkeit erscheint seine Dissertation: „De basi encephali originibusque nervorum“, mit der er am 7. April 1778 in glänzender Weise promovirte. Wesentliche Förderung der anatomischen Studien verdankte S. seinem Lehrer Wrisberg, Förderung allgemeinerer Anschauungen Blumenbach, der anfangs Mitschüler, dann sein Lehrer, zeitlebens aber ein naher Freund war.

    Die Dissertation Sömmerring's fand günstige Aufnahme, auch bei dem Vater, dem sie gelegentlich des 50jährigen Dienstjubiläums als Gratulationsschrift überreicht wurde: Umstände, die für des jungen Doctors weitere Ausbildung von großem Einfluß waren, insofern, als der Vater die Mittel zu einer Reise nach England bewilligte. Auf dem Wege dahin suchte S. den berühmten holländischen Physiologen und Anatomen Peter Camper auf, brachte den Sommer 1778 in London zu, wo er Vorlesungen bei John und William Hunter hörte und Georg Forster kennen lernte, und arbeitete im folgenden Winter in Edinburgh bei Monroe. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland von Mitteln gänzlich entblößt, bot sich S. durch Vermittlung Forster's, der am Collegium Carolinum in Kassel thätig war, eine Versorgung: S. wurde an der Anstalt als Lehrer der Anatomie angestellt und trat sein Amt im Juni 1779 mit dem Programm an: „De cognitionis subtilioris systematis lymphatici.“ In demselben Jahre übernahm S. die Recension der anatomischen Fächer für die „Göttinger Gelehrten Nachrichten“, deren Mitarbeiter er bis zu seinem Tode, also über 50 Jahre blieb. Von wissenschaftlichen Arbeiten aus der Kasseler Zeit sind weiter zu nennen: „Bemerkungen über den Bau des Orang-Utang“ (1780), Beobachtungen an erkrankten Augen, die zur Entdeckung der Durchkreuzung der Sehnerven führten (1784), endlich eine Untersuchung verschiedener Neger, die in Wilhelmshöhe angesiedelt waren, mit Rücksicht auf ihren vom Europäer verschiedenen Körperbau (Mainz 1784 und erweitert Frankfurt 1785). In Kassel hatte S. auch Gelegenheit, Goethe und den Herzog Karl August kennen zu lernen.

    1784 siedelte S. von Kassel als Professor der Anatomie und Physiologie an die Universität Mainz über und trat damit in einen bedeutend erweiterten und anregenderen Wirkungskreis: Einerseits fand sich S. einer Anzahl vorgebildeter, strebsamer Schüler gegenüber, andererseits im Verkehr mit bedeutenden Männern, Forster, Heinse, Joh. v. Müller, Weidmann u. a., die der freisinnige Kurfürst Karl Friedrich in seine Residenz gezogen hatte. Vorübergehend schlossen sich fremde Gelehrte an, so u. a. die beiden Humboldt, von denen Alexander|eine Zeit lang mit S. in Briefwechsel verblieb. Unter diesen Umständen gestaltete sich der Aufenthalt in Mainz zu einer fruchtbaren Wirkens- und Schaffensperiode; dazu kam noch, daß S. in Christian Koeck einen genialen Künstler zur Ausarbeitung seiner anatomischen Tafeln fand. Neben zahlreichen kleineren Sachen veröffentlichte S. 1788 in der Schrift: „Vom Hirn- und Rückenmark“ die Ergebnisse 12jähriger eingehendster Untersuchungen; einem von Salzmann in Schnepfenthal ausgeschriebenen Preise verdankt die gekrönte Abhandlung: „Ueber die Schädlichkeit der Schnürbrüste“ (Leipzig 1788) ihre Entstehung, bei der sich S. zum ersten Mal der Hülfe Koeck's bedient hat. „Abbildungen und Beschreibungen einiger Mißgeburten“ (Mainz 1791) folgen, worin S. eine natürliche Auffassung dieser Gebilde — gegenüber der bisher gebräuchlichen übernatürlichen — vertritt. Endlich erschien von 1791 ab in fünf Theilen Sömmerring's Lehrbuch: „Vom Baue des menschlichen Körpers“ (Frankfurt a. M.), das, auf eine zahllose Reihe sorgfältigster Untersuchungen begründet und mit reichen Litteraturhinweisen und Ausblicken auf benachbarte Gebiete versehen, als Hauptwerk Sömmerring's gelten muß. Klarheit und Lebenswahrheit der Darstellung in Wort und Bild verliehen ihm bleibenden Werth.

    Im März 1792 verheirathete sich S. mit Elisabeth Grunelius aus Frankfurt a. M. Während er mit seiner jungen Frau auf Reisen war, erhielt er durch Forster Nachricht von der drohenden Lage in Mainz und beschloß bei seiner Rückkehr, zunächst in Frankfurt zu bleiben. Nach der Uebergabe der Festung (Juli 1793) ging S. nach Mainz zurück, fand aber die Verhältnisse keineswegs dem ruhigen Studium günstig, so daß er wünschte, ganz von Mainz loszukommen. Eine Reihe von Berufungen ausschlagend, ging S. 1795 wiederum — zunächst auf Urlaub — nach Frankfurt und ließ sich hier unter die praktischen Aerzte aufnehmen. Er kehrte im J. 1797 zur Wiederaufnahme seiner Lehrthätigkeit nach Mainz zurück, nahm aber schon im Herbst in der Einsicht, daß weder er, noch die Universität „auf einen grünen Zweig kommen könne“, seine Entlassung, um sich ganz der Praxis in Frankfurt zu widmen. Von den Arbeiten Sömmerring's aus dieser unruhvollen Zeit seien erwähnt: eine verschiedentlich abgedruckte Schrift „Ueber den Tod durch die Guillotine“ (1795), eine Kant zugeeignete Abhandlung „Ueber das Organ der Seele“ (Königsberg 1796) und die Preisschrift: „Ueber Ursache und Verhütung der Nabel- und Leistenbrüche“ (1796).

    Sömmerring's praktische Thätigkeit in Frankfurt a. M. ist von Bedeutung, insofern als er dieselbe zur eifrigen Beförderung der Jenner’schen Kuhpockenimpfung benützte: in Gemeinschaft mit Lehr stellte er Impfversuche an, und beide veröffentlichten die Resultate 1801 in einer eigenen Schrift. Neben seiner Praxis findet S. Zeit, eine Reihe größerer Tafelwerke fertig zu stellen, 1797 die „Tabula sceleti feminini“, 1797 die „Icones embryonum humanorum“ und die „Tabulae baseos encephali“. 1801 erschien alsdann auch der erste Band der Abbildungen der menschlichen Sinnesorgane, das Auge behandelnd, dem sich weiterhin Gehör (1805), Geschmack und Stimme (1806) und Geruch (1809) anschlossen. Künstlerische Richtigkeit und Schönheit, klare und originelle Darstellung werden an diesen Arbeiten gerühmt, die vieles Neue brachten und mit dem Werk: „Vom Baue des menschlichen Körpers“ in erste Linie zu stellen sind.

    1802 starb Sömmerring's Gattin, ihm einen Sohn und eine Tochter hinterlassend; im nächsten Jahre erhielt er eine ganze Reihe glänzender Berufungen. Er wählte München und erhielt im März 1805 sein Decret als bairischer Geheimrath und Mitglied der Akademie der Wissenschaften; am 4. April siedelte er über noch der bairischen Hauptstadt. „Dort im Besitze ansehnlicher Sammlungen, umgeben von ausgezeichneten Männern, mit denen er anregenden, sreundlichen Umgang pflog, lebte er mit segensreichem Erfolge einzig dem Studium, dem Fördern der Naturwissenschaften; aber er mußte sich andere Zweige als die bisherigen erwählen. In allem kam man ihm bereitwillig entgegen, nur nicht, wenn er, der zur Pflege der anatomisch-physiologischen Wissenschaften berufen war, den Bau einer Anatomie forderte“ (Mappes). Anatomisch-Physiologische Arbeiten stammen daher ausschließlich aus der ersten Zeit des Münchener Aufenthaltes; neben der bereits erwähnten Fortsetzung der Abbildung der Sinnesorgane veröffentlichte S. folgende Schriften: „Ueber die Struktur, die Verrichtung und den Gebrauch der Lungen“ (Berlin 1808); „Ueber die schnell und langsam tödtlichen Krankheiten der Harnblase und Harnröhre bei Männern in hohem Alter“ (Frankfurt 1809); „Ueber Ursache, Erkenntniß und Behandlung der Nabelbrüche“ (Frankfurt 1811); „Ueber den Saft, welcher aus den Nerven wieder eingesaugt wird“ (Landshut 1811); „Ueber die Ursache, Erkenntniß und Behandlung der Brüche am Bauche und Becken“ (Frankfurt 1811). Mit jeder Schrift erhielt S. einen Preis, den ersten in Berlin, den zweiten in Wien, drei in Amsterdam; mit Ausnahme zweier Nachzügler (in den Münchener Akademieschriften von 1821) kommen die anatomisch-physiologischen Forschungen Sömmerring's damit zum Abschluß. Er wendet sich physikalischen und weiterhin paläontologischen Untersuchungen zu.

    Die Neigung, welche S. stets zur Physik hatte, fand in München Nahrung durch die ausgezeichneten, dort befindlichen mechanischen Werkstätten von Reichenbach, Liebherr, Utzschneider und Fraunhofer, mit welch' letzterem S. besonders Verkehr hatte. Sömmerring's physikalische Untersuchungen behandeln die Verdunstung durch thierische Häute, mit besonderem Bezug auf Alkohol, das Verhalten des Weingeists bei der Destillation, über welche Gegenstände sich in den Schriften der Münchener Akademie in den Jahren 1811—1821 mehrere Mittheilungen finden. Er schrieb auch „Ueber die Zeichnungen, welche sich bei der Auflösung des Meteoreisens bilden“ (Schweigger's Journal 20). Ganz besondere Erwähnung verdient aber seine Construction eines galvanischen Telegraphen, zu der eine Unterhaltung mit dem Minister Montgelas die Veranlassung gab. Die Construction beruhte auf der durch den Strom bewirkten Wasserzersetzung bezw. Gasausscheidung. 1809 zeigte S. seinen Telegraphen in einer Sitzung der Akademie vor und legte die Beschreibung in den Schriften nieder; er war weiterhin bedacht, Verbesserungen daran anzubringen. Der Apparat wurde an verschiedenen Orten bekannt gemacht, u. a. auch Napoleon I. vorgelegt, der ihn mit der Bemerkung: „C'est une idée germanique“ abthat. Sömmerring's Erfindung, wenn auch praktisch nicht wohl durchführbar, gab doch Anstoß zu weiteren Versuchen und zur schließlichen Herstellung eines der Praxis dienlichen Apparats; um so merkwürdiger, daß dieser erste galvanische Telegraph Sömmerring's nach und nach ganz in Vergessenheit gerieth und erst durch die Bemühungen seines Sohnes und die Veröffentlichung Hamel's der Welt wieder bekannt wurde.

    Die paläontologischen Arbeiten, deren S. sieben in der Zeit von 1811—21 in den Münchener Denkschriften veröffentlichte, haben einen Vorläufer in der 1790 erschienenen Mittheilung „Ueber die in Leibnitzii Protogaea abgebildeten fossilen Thierknochen“ und behandeln die Fossilien Crocodilus priscus, Lacerta gigantea, Ornithocephalus brevirostris, Fledermausreste, Zähne von vorweltlichen Elephanten u. a.

    Mit zunehmendem Alter fühlte sich S. unbehaglicher in München; die Freunde verloren sich, das rauhe Klima machte sich fühlbarer und so zog er sich 1820 ganz nach seiner zweiten Heimath Frankfurt a. M. zurück. Ein|glückliches Alter lohnte sein Leben. Im Verkehr mit Freunden und Verehrern, im täglichen Umgang mit geliebten und liebenden Kindern und Verwandten brachte er die letzten Jahre zu. In still geschäftiger Zurückgezogenheit in einem reizend gelegenen Gartenhaus wohnend, folgte er mit Interesse den Fortschritten der Wissenschaft; selber trieb er mit Vorliebe astronomische Studien, speciell Beobachtung der Sonnenstecken. Selbst in der größten Kälte des strengen Winters 1829/30 verweilte er halbe Stunden am offenen Fenster, nicht zum Vortheil seiner Gesundheit und gab daher am 29. December seine Beobachtungen auf mit der Bemerkung, er werde die Sonne nicht lange mehr sehen. Von Januar 1830 stellte sich allmählich zunehmende Entkräftung ein; der Wunsch des Greises — ihm fehle nichts als ein sanfter Tod, um vollkommen glücklich auf dieser Erde gewesen zu sein — ging in Erfüllung. S. beschloß am 2. März 1830 seine Lebenstage: die Sonne beschien mild die freundliche Miene, die ihn im Tode nicht verließ, wie sie im Leben der stete Abglanz seiner Herzensgüte war. Wenige Tage vor seinem Tode hatte S. das Tagebuch, das er vom 1. Januar 1804 ab geführt hatte, mit seiner Namensunterschrift geschlossen, gleichsam als wolle er im feierlichen Augenblicke des nahen Scheidens die Wahrheit seines ganzen Lebens bekräftigen.

    Was S. war und was er galt, kam kurz vor seinem Tode am 7. April 1828 bei Gelegenheit der Feier seines 50jährigen Doctorjubiläums zu einem für ihn wie für die Veranstalter gleich ehrenden Ausdrucke. Glückwunschschreiben und Gratulationsschriften von Akademien, Vereinen und Gelehrten gingen ein; hunderte von Männern des In- und Auslandes hatten sich vereinigt, eine Medaille prägen zu lassen und einen Preis zu stiften, der alle vier Jahre zur Erinnerung dieses Tages an denjenigen Deutschen vergeben werden sollte, der im gegebenen Zeitraum die Physiologie im weitesten Sinne am meisten gefördert habe. Der Preis wird von der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft in Frankfurt a. M. ertheilt.

    S. war als Mensch wie als Forscher gleich ausgezeichnet. Alle, die ihn kannten, wissen nicht genug die Lauterkeit und Wahrhaftigkeit seines Charakters zu rühmen, seine anspruchslose Bescheidenheit, seine freundliche Gefälligkeit und sein herzliches Wesen hervorzuheben. Wo er fördernd sein konnte, ermangelte er nicht seiner Hülfe; andererseits bekannte er sich als Schüler eines Jeden, von dem er lernen konnte. — Als Forscher zeichnete sich S. durch scharfe Auffassung und klaren Verstand aus; dazu kamen unermüdlicher Fleiß, Ausdauer und peinliche Genauigkeit, Fertigkeit im Zeichnen wie manuelle Geschicklichkeit — alles vereinigte er in sich, was zu einem vollendeten Anatomen gehörte, und wenn seine Stellung in der Gelehrtenwelt mit einem Worte bezeichnet werden soll, so ist S. der größte deutsche Anatom in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. „Seine ganz von Albinus' Geist beseelten Arbeiten haben der Anatomie die Bahn vorgezeichnet, welche sie in der neueren Zeit eingeschlagen hat“ (Haeser, Geschichte der Medicin). Und hierin liegt die größeste Bedeutung des Mannes. Wenn er auch die verschiedensten Gebiete der Forschung betreten und auf ihnen Nennenswerthes, selbst Hervorragendes geleistet, so läßt das gerade erschließen, was er in seinem eigentlichen Fache war.

    J. Döllinger, Gedächtnißrede auf S. Th. v. Sömmerring. München 1830. — Nekrolog von Otto in Nova Acta XV. — Mappes, Festreden gehalten im naturgeschichtlichen Museum zu Frankfurt a. M. 1842. — Rud. Wagner, S. Th. v. Sömmerring's Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen. Leipzig 1844. — W. Sömmerring, Historische Notizen über Sam. Thom. von Sömmerring's Erfindung des ersten galvanisch elektrischen Telegraphen. Jahresbericht des Physik. Vereins zu Frankfurt 1857/58. — J. Hamel, Die Entstehung der galvanischen und elektromagnetischen Telegraphie. Bulletin de l'Acad. de St. Pétersbourg. N. F. II. — W. Stricker. S. Th. v. Sömmerring. Neujahrsblatt des Vereins für Geschichte zu Frankfurt a. M. 1862. — A. Hirsch, Biogr. Lexikon der Aerzte V, 453. — L. Laquer, S. Th. v. Sömmerring und sein Denkmal. Frankfurt a. M. 1891.

  • Autor/in

    Jännicke.
  • Zitierweise

    Jännicke, Friedrich, "Sömmerring, Samuel Thomas von" in: Allgemeine Deutsche Biographie 34 (1892), S. 610-615 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118805193.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA