Lebensdaten
1883 – 1950
Geburtsort
Striegau (Schlesien, heute Strzegom, Polen)
Sterbeort
Chicago (Illinois, USA)
Beruf/Funktion
Mathematiker
Konfession
jüdisch
Normdaten
GND: 118990284 | OGND | VIAF: 110567601
Namensvarianten
  • Hellinger, Ernst David
  • Hellinger, Ernst
  • Hellinger, Ernst David
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Zitierweise

Hellinger, Ernst, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118990284.html [07.10.2024].

CC0

  • Ernst Hellinger lieferte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wichtige Beiträge in der Frühphase der Funktionentheorie. Mit Otto Toeplitz (1881–1940) verfasste er 1927 die grundlegende Abhandlung über Integralgleichungen in der „Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften“.

    Lebensdaten

    Geboren am 30. September 1883 in Striegau (Schlesien, heute Strzegom, Polen)
    Gestorben am 28. März 1950 in Chicago (Illinois, USA)
    Konfession jüdisch
  • Lebenslauf

    30. September 1883 - Striegau (Schlesien, heute Strzegom, Polen)

    1890 - 1902 - Striegau (Schlesien, heute Strzegom, Polen); Breslau (Schlesien, heute Wrocław, Polen)

    Schulbesuch (Abschluss: Abitur)

    Vorschule des Realgymnasiums; König-Wilhelm-Gymnasium

    1902 - 1905 - Heidelberg; Breslau; Göttingen

    Studium der Mathematik und Physik

    Universität

    Ostern 1905 - Ostern 1907 - Göttingen

    Privatassistent von David Hilbert (1862–1943)

    Universität

    - 1907 - Göttingen

    Promotion (Dr. phil.)

    Universität

    1907 - 1909 - Göttingen

    wissenschaftlicher Assistent

    Universität

    - 1909 - Marburg an der Lahn

    Habilitation für Mathematik

    Universität

    1909 - 1914 - Marburg an der Lahn

    Privatdozent

    Universität

    1914 - 1936 - Frankfurt am Main

    planmäßiger außerordentlicher Professor für Reine und Angewandte Mathematik (1920 Ordinarius); Entlassung

    Universität

    1914 - 1918 - Frankreich , u. a. Somme, Vogesen, Flandern

    Kriegsdienst

    1938 - Dezember 1938 - Dachau

    Verhaftung; Deportation

    Konzentrationslager

    1939 - 1949 - Evanston (Illinois, USA)

    Emigration; Lecturer für Mathematik (1945 Professor für Mathematik)

    Northwestern University

    1944

    US-amerikanischer Staatsbürger

    1949 - 1949 - Chicago (Illinois, USA)

    Professor für Mathematik

    Illinois Institute of Technology

    28. März 1950 - Chicago (Illinois, USA)
  • Genealogie

    Vater Emil Hellinger 1850–30.1.1925 aus Lissa (Posen, heute Lezno, Polen); jüdisch; kaufmännischer Angestellter; Kaufmann, zuletzt in Breslau (Schlesien, heute Wrocław, Polen)
    Mutter Julie (eigentlich Judith) Hellinger, geb. Hellinger 27.4.1857–14.5.1942 jüdisch; zuletzt in Chicago (Illinois, USA)
    Großvater mütterlicherseits Louis Loebel Hellinger Goldbaum 1812–28.7.1942 aus Lissa; zuletzt in Ostrowo (Posen, heute Ostrów Wielkopolski, Polen)
    Schwester Johanna (Hanna) Meissner , geb. Hellinger 29.10.1895–8.2.1989 Dr.; emigrierte in die USA; Professorin für Soziologie; Fürsorgeschwester, zuletzt in Indiana (USA); verh. mit Karl Wilhelm Meißner (Meissner) (1891–1959), aus Reutlingen, 1925 Professor für Physik an der Universität Frankfurt am Main, emigrierte 1937 in die USA, 1938 am Worcester Polytechnic Institute (Massachusetts, USA), 1941 Professor an der Purdue University, Lafayette (Indiana, USA)
    Heirat keine
    Kinder keine
    Diese Grafik wurde automatisch erzeugt und bietet nur einen Ausschnitt der Angaben zur Genealogie.

    Hellinger, Ernst (1883 – 1950)

    • Vater

      Emil Hellinger

      1850–30.1.1925

      aus Lissa (Posen, heute Lezno, Polen); jüdisch; kaufmännischer Angestellter; Kaufmann, zuletzt in Breslau (Schlesien, heute Wrocław, Polen)

    • Mutter

      Julie Hellinger

      27.4.1857–14.5.1942

      jüdisch; zuletzt in Chicago (Illinois, USA)

      • Großvater mütterlicherseits

        Louis Loebel Hellinger Goldbaum

        1812–28.7.1942

        aus Lissa; zuletzt in Ostrowo (Posen, heute Ostrów Wielkopolski, Polen)

    • Schwester

      Johanna (Hanna) Meissner

      29.10.1895–8.2.1989

      Dr.; emigrierte in die USA; Professorin für Soziologie; Fürsorgeschwester, zuletzt in Indiana (USA); verh. mit Karl Wilhelm Meißner (Meissner) (1891–1959), aus Reutlingen, 1925 Professor für Physik an der Universität Frankfurt am Main, emigrierte 1937 in die USA, 1938 am Worcester Polytechnic Institute (Massachusetts, USA), 1941 Professor an der Purdue University, Lafayette (Indiana, USA)

    • Heirat

  • Biografie

    Nach dem Schulbesuch in Striegau (Schlesien, heute Strzegom, Polen) wechselte Hellinger auf das König-Wilhelm-Gymnasium in Breslau (Schlesien, heute Wrocław, Polen), wo er 1902 das Abitur ablegte. Anschließend studierte er an den Universitäten Heidelberg, Breslau und Göttingen Mathematik und Physik. Die seit seiner Gymnasialzeit bestehende Freundschaft mit dem späteren Physiker und Nobelpreisträger Max Born (1882–1970) beeinflusste auch seine Wahl Göttingens als Studienort. In Breslau waren die Mathematiker Richard Courant (1888–1972) und Otto Toeplitz (1881–1940) seine Kommilitonen, die ebenfalls nach Göttingen wechselten. Seit dem Sommersemester 1905 war Hellinger Privatassistent David Hilberts (1862–1943), bei dem er im Oktober 1907 mit der Arbeit „Die Orthogonalinvarianten quadratischer Formen von unendlich vielen Variablen“ zum Dr. phil. promoviert wurde und weitere drei Semester als Assistent blieb. 1909 habilitierte er sich an der Universität Marburg an der Lahn für Mathematik, wo er fortan als Privatdozent tätig war. 1914 erhielt er eine Berufung als planmäßiger außerordentlicher Professor für reine und angewandte Mathematik an die neu gegründete Universität Frankfurt am Main, jedoch unterbrach die Einberufung zum Kriegsdienst die akademische Kariere.

    Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte Hellinger nach Frankfurt am Main zurück und wurde im August 1920 zum Ordinarius für Reine und Angewandte Mathematik berufen. Durch die Berufungen von Paul Epstein (1871–1939), Max Dehn (1878–1952) und Carl Ludwig Siegel (1896–1981) entstand hier Anfang der 1920er Jahre eine leistungsstarke mathematische Abteilung, an der Hellinger bis zum Herbst 1933 lehrte und sich an der Gestaltung des Mathematischen Seminars beteiligte. Trotz seiner jüdischen Abstammung blieb er danach aufgrund der Ausnahmeregelung für Weltkriegsteilnehmer zwar angestellt, musste aber um die Befreiung von Lehrverpflichtungen bitten und wurde 1936 infolge der „Nürnberger Gesetze“ entlassen. Hellinger lehnte es trotz der Repressalien ab zu emigrieren. Am 13. November 1938 wurde er verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau deportiert. Durch Vermittlung seiner in die USA emigrierten Schwester und insbesondere durch die Fürsprache einflussreicher Freunde wie Siegel und Adolf Prag (1906–2004) wurde er unter der Bedingung, umgehend zu emigrieren, nach sechs Wochen entlassen.

    1939 trat Hellinger eine Stelle als Lecturer für Mathematik an der Northwestern University in Evanston (Illinois, USA) an. Nach mehreren Jahresverträgen und dem Erhalt der US-Staatsbürgerschaft (1944) lehrte er hier ab September 1945 bis zur Emeritierung 1949 als Professor. Eine Gastprofessur für Mathematik am Illinois Institute of Technology in Chicago (Illinois, USA) konnte er wegen einer Krebserkrankung nicht mehr antreten.

    Hellinger forschte v. a. zu Integralgleichungen und Spektraltheorie und trug in diesem Rahmen zur Entwicklung der Funktionalanalysis bei. In seiner Dissertation knüpfte er an Hilberts „4. Mitteilung“ über die Theorie der linearen Integralgleichungen von 1906 an, definierte das Hellingersche Integral für sog. Intervallfunktionen und erzielte wichtige Einsichten zur Spektraltheorie selbstadjungierter Operatoren sowie zum Stieltjesschen Momentenproblem. 1910 bewies er mit Toeplitz den nach ihnen beiden benannten Satz, der den Zusammenhang zwischen der Symmetrieeigenschaft von linearen Abbildungen auf linearen, vollständigen Räumen mit Skalarprodukt (Hilbert-Räume) und deren Stetigkeit herstellte und eine Anregung war, diese Beziehungen für allgemeinere Räume zu klären. Mit dem Beitrag „Integralgleichungen und Gleichungen mit unendlich vielen Unbekannten“ in der „Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften“ gaben die beiden Autoren 1927 eine umfangreiche und grundlegende Übersicht über die Entwicklung dieser Theorie. Die Abhandlung erfuhr mehrfache Auflagen, wurde später – etwa 1981 von Jean Dieudonné (1906–1992) – wegen der Konzentration auf Integralgleichungen vereinzelt kritisch gesehen. Zuvor hatte Hellinger 1922 Begriffe und Methoden der Lehre von Gleichungssystemen mit unendlich vielen Unbekannten auf die Stieltjessche Kettenbruchtheorie angewandt. Außerdem interessierte er sich für Mathematikgeschichte und für Mathematische Physik. Ersteres belegen eine Arbeit mit Dehn über James Gregory (1638–1675) und die Beteiligung an Dehns mathematikhistorischem Seminar, letzteres die Diskussionen mit Max Born (1882–1970) über mathematische Aspekte der Quantentheorie und ein 1926 dazu durchgeführtes Seminar. Zu Hellingers Schülern zählen Martinus Esser, Evelyn Frank, Henri Jorden, Richard Stark und Marion Wetzell.

  • Auszeichnungen

    1907–1938 Mitglied der Deutschen Mathematiker-Vereinigung
    Mitglied der Mathematical Association of America
    Mitglied der American Mathematical Society
  • Quellen

    Nachlass:

    nicht bekannt.

    Weitere Archivmaterialien:

    Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Bestand 518, Nr. 16 924.

    Archiv der Universität Frankfurt am Main, Bestand 144, Nr. 109, Bestand 14, Nr. 604 u. Bestand 4, Nr. 1297.

  • Werke

    Die Orthogonalinvarianten quadratischer Formen von unendlichvielen Variablen, 1907.

    Neue Begründung der Theorie quadratischer Formen von unendlichvielen Veränderlichen, in: Journal für die reine und angewandte Mathematik 136 (1909), S. 210–279.

    Ernst Hellinger/Otto Toeplitz, Grundlagen für eine Theorie der unendlichen Matrizen in: Mathematische Annalen 69 (1910), S. 289–330.

    Die allgemeinen Ansätze der Mechanik der Kontinua, in: Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen, hg. im Auftrage der Akademien der Wissenschaften zu Göttingen, Leipzig, München und Wien sowie unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen, Bd. 4: Mechanik, Teilbd. 4, 1907–1914, S. 601–694.

    Zur Stieltjesschen Kettenbruchtheorie, in: Mathematische Annalen 86 (1922), S. 18–29.

    Ernst Hellinger/Otto Toeplitz, Integralgleichungen und Gleichungen mit unendlich vielen Unbekannten, in: Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen, Bd. 2: Analysis, 3. T., 2. Hälfte, 1923–1927, S. 1335–1597.

    Felix Klein. Elementarmathematik vom höheren Standpunkt aus, 2 Bde., 1908/09, 21911–1914, 31924/25, Nachdr. 1968.

    Spectra of Quadratic Forms in Infinitely Many Variables, in: Mathematical Monographs. Northwestern University Studies in Mathematics and Physical Sciences 1 (1941), S. 133–172.

    Ernst Hellinger/Hubert S. Wall, Contributions to the Analytic Theory of Continued Fractions and Infinite Matrices, in: Annals of Mathematics 44 (1943), H. 1, S. 103–127.

  • Literatur

    J. C. Poggendorffs biographisch-literarisches Handwörterbuch der exakten Naturwissenschaften, Bd. 5, 1926, S. 515 u. Bd. 6, 1937, S. 1075.

    Wilhelm Magnus, Art. „Hellinger, Ernst“, in: Charles Coulston Gillispie (Hg.), Dictionary of Scientific Biography, Bd. 6, 1972, S. 235 f.

    Jean Dieudonné, History of Functional Analysis, 1981.

    Reinhard Siegmund-Schultze, Art. „Hellinger, Ernst“, in: Siegfried Gottwald/Hans-Joachim Ilgauds/Karl-Heinz Schlote (Hg.), Lexikon bedeutender Mathematiker, 1990, S. 197.

    Louis De Branges de Bourcia, Topics in Operator Theory. Ernst D. Hellinger Memorial Volume, 1990. (weiterführende Informationen)

    Renate Heuer/Siegbert Wolf, Art. „Hellinger, Ernst“, in: dies. (Hg.), Die Juden der Frankfurter Universität, 1997, S. 162–164. (Qu, L)

    John J. O’Connor/Edmund F. Robertson, Art. „Ernst David Hellinger“, in: MacTutor History of Mathematics Archive, 2000. (Onlineressource)

    Renate Tobies, Art. „Hellinger, Ernst“, in: dies., Biographisches Lexikon in Mathematik promovierter Personen an deutschen Universitäten und Technischen Hochschulen, 1908/09 bis 1944/45, 2006, S. 149 f. (P)

  • Onlineressourcen

  • Porträts

    Fotografie, Oberwolfach Photo Collection. (Onlineressource)

  • Autor/in

    Karl-Heinz Schlote (Altenburg)

  • Zitierweise

    Schlote, Karl-Heinz, „Hellinger, Ernst“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.01.2023, URL: https://www.deutsche-biographie.de/118990284.html#dbocontent

    CC-BY-NC-SA