Widmann, Albert
- Lebensdaten
- 1912 – 1986
- Geburtsort
- Stuttgart
- Beruf/Funktion
- Chemiker
- Konfession
- evangelisch
- Normdaten
- GND: 127544038 | OGND | VIAF: 8411917
- Namensvarianten
-
- Widmann, Albert Gottlob
- Widmann, Albert
- Widmann, Albert Gottlob
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Widmann, Albert Gottlob
| Chemiker, * 8.6.1912 Stuttgart, † 24.12.1986 Stuttgart. (evangelisch)
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Genealogie
V →Georg (* 1885), Lokomotivführer in Altenried;
M Paulina Gläser (* 1882);
⚭ 1) Stuttgart 1938 Martha Müller (1912–1963), aus Esslingen, 2) 1963 (?) N. N.;
3 K. -
Biographie
W. besuchte seit 1919 die Pragschule und seit 1928 die Friedrich-Eugens-Oberrealschule in Stuttgart. Im Anschluß an die Reifeprüfung 1931 studierte er Chemie an der TH Stuttgart und der TH Danzig. Nach der Diplom-Hauptprüfung 1936 an der TH Stuttgart wurde er 1938 mit einer Arbeit „Über Dichloracetylen und seine Verbindungen mit Malonestern“ (gedr. 1939) bei →Erwin Ott (1886–1977) zum Dr.-Ing. promoviert und war als wissenschaftlicher Assistent an der TH Stuttgart tätig. Im Sept. 1938 zu einer Untersuchung eines Sprengstoffunfalls durch das Kriminaltechnische Institut in Stuttgart (KTI) herangezogen, war W. mit dem Umzug des KTI nach Berlin dort seit Okt. 1938 wissenschaftlicher Mitarbeiter. 1939 wurde das KTI in das Reichskriminalpolizeiamt als Amt V des dem Reichsführer SS →Heinrich Himmler (1900–1945) unterstehenden Reichssicherheitshauptamtes eingegliedert (Mitgl. d. SA 1933–39, d. NS Kraftfahrer Korps 1933/34, d. NSDAP seit 1937, d. SS seit 1939). Das im Amt V seit 1940 von W. geleitete Referat Chemie analysierte Brände, Sprengstoffe und Sabotagemittel chemisch, führte toxikologische Untersuchungen durch und war für die Aus- und Weiterbildung der Kriminaltechniker staatlicher Kriminalpolizeidienststellen zuständig (Reg.rat 1943).
W. war als technischer Experte und wissenschaftlicher Berater in die NS-Verbrechen involviert. Bereits in der Anfangsphase des „Euthanasie“ -Programms übernahm das KTI seit Okt. 1939 Beratungsfunktionen; so schlug W. der Kanzlei des Führers Kohlenmonoxidgas zur Tötung vor. Aus Gründen der Tarnung koordinierte W. über das KTI die Beschaffung der mit CO-Gas gefüllten Stahlflaschen bei der BASF, um sie den zu Mordzentren umfunktionierten Heil- und Pflegeanstalten des „Euthanasie“ -Programms zur Tötung von Patientinnen und Patienten bereitzustellen. Auf Anforderung der Kanzlei des Führers lieferte W. in größerem Umfang Medikamente, wie Morphium, Skopolamin sowie das Gift Blausäure, direkt an die Anstalten, die dort in tödlicher Dosis den Insassen verabreicht wurden. Im Labor des KTI ließ W. spezielle morphiumhaltige Zäpfchen anfertigen, die zur Tötung von Geisteskranken verwendet wurden.
W. war maßgeblich an der Erprobung, Entwicklung und Optimierung technischer Verfahren für den Massenmord mit Giftgas an Kranken, Behinderten, Kriegsgefangenen und jüd. Menschen in industriellem Maßstab beteiligt. Seit Okt. 1939 war das KTI mit „Probevergasungen“ in Posen und Brandenburg beschäftigt, um diese dem Leitungspersonal des „Euthanasie“ -Programms zu demonstrieren. 1940/41 wurden in Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Sonnenstein in Pirna, Bernburg und Hadamar stationäre Gaskammern für den Krankenmord eingerichtet. Mindestens eine Anstalt (Sonnenstein) besichtigte W. nach eigener Aussage selbst. Bei der Entwicklung von Prototypen mobil einsetzbarer Gaswagen arbeitete W. mit der Kanzlei des Führers sowie dem Höheren SS- und Polizeiführer im Warthegau zusammen. Die ersten Prototypen, die über einen luftdicht verschlossenen Anhänger verfügten, in den CO-Gas eingeleitet wurde, setzte das von dem SS-Obersturmführer und Kriminalrat →Herbert Lange (1909–1945) geführte „Sonderkommando Lange“ seit Dez. 1939 in der Nähe von Heilanstalten in Pommern, Ostpreußen und Polen ein; mit den Wagen wurden von Jan. 1940 bis Juli 1941 mehrere Tausend Patienten ermordet. Im Sept. 1941 wurden W. und der Munitionsexperte →Hans Schmidt nach Minsk beordert, um dort Krankenmorde mit Sprengstoff und Motorenabgasen an Psychiatriepatientinnen und -patienten in Mogilew durchzuführen. Mit dem Prototyp eines neuen Gaswagens fand im KZ Sachsenhausen, wo das KTI eine eigene Werkstatt unterhielt, Anfang Nov. 1941 eine „Probevergasung“ statt, bei der 40–50 sowjet. Kriegsgefangene ermordet wurden. Anschließend wurden weitere Gaswagen des neuen Typs (Marke Glaubschat), dessen Kastenaufbau 50 Personen aufnahm, gebaut. Seit Ende 1941 wurden diese im Ver|nichtungslager Kulmhof (Chełmno) und an anderen Orten in den besetzten Ostgebieten von Einsatzgruppen zur Tötung von hunderttausenden Menschen eingesetzt.
Im Herbst 1944 untersuchte W. Giftmunition.
Die tödliche Wirkung der mit Aconitin (Eisenhutgift) gefüllten KTI-Geschosse wurden am 11.9.1944 nach Anweisungen W.s in der Hinrichtungsstätte des KZ Sachsenhausen an fünf Häftlingen erprobt. W. war ferner an der Verwertung von Leichen aus Konzentrationslagern beteiligt. Im KTI wurde aus säckeweise angelieferten Kieferresten Zahngold eingeschmolzen. Nachdem so die Herkunft verschleiert worden war, wurde bei der Degussa das Raubgold gegen Feingold eingetauscht.
Im Juli 1945 von US-amerik. Streitkräften in Stuttgart verhaftet und kurze Zeit interniert, verschwieg W. bei seiner Entnazifizierung 1946 seine SS-Mitgliedschaft und leugnete seine Tätigkeit für das KTI. Die Spruchkammer Leonberg stufte ihn 1947 als „Mitläufer“ (Kat. IV) ein und verurteilte ihn zu 100 Reichsmark Sühnebetrag. Bis zu seiner Verhaftung Anfang Jan. 1959 war W. für die Th. Votteler Lackfabrik in Münchingen bei Stuttgart tätig. 1961 verurteilte ihn das Landgericht Düsseldorf wegen Beihilfe zum Mord zu einer fünfjährigen Zuchthausstrafe. Nach einem Revisionsverfahren hob der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs 1962 die Strafzumessung auf; das Landgericht Düsseldorf verurteilte W. nun zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. 1967 verurteilte das Landgericht Stuttgart W. wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 24 Fällen in Minsk und Mogilew zu einer Gesamtstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten Zuchthaus. Nach elf Monaten Untersuchungshaft erhielt W. 1963 gegen eine Sicherheitsleistung von 200 000 DM Haftverschonung; die Reststrafe wurde gegen Zahlung einer Geldbuße von 4000 DM an eine Einrichtung für behinderte Menschen ausgesetzt. Nach seiner Haftentlassung arbeitete W. als freier wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Lesonalwerk in Stuttgart-Feuerbach.
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Auszeichnungen
|Kriegsverdienstkreuz I. u. II. Kl. (1942);
Ehrenzeichen f. dt. Volkspflege (1942);
Mitgl. d. Ver. Dt. Chemiker, d. Dt. Ges. f. Lebensmittel-, Öff. u. Gerichtl. Chemie (1944). -
Werke
|Aus d. Kriminaltechn. Inst. d. Sicherheitspolizei (KTI), Farbstoffe z. Überführung v. Dieben, in: Kriminalistik 14, 1940, H. 7, S. 82–84 (mit W. Schade).
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Literatur
|C. R. Browning, The Development and Production of the Nazi Gas Van, in: ders. (Hg.), Fateful Months, Essays on the Emergence of the Final Solution, 1985, S. 56–67;
H.-W. Schmuhl, Rassenhygiene, NS, Euthanasie, v. d. Verhütung z. Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, 1890–1945, 1987;
A. Ebbinghaus u. G. Preißler, Die Ermordung psych. kranker Menschen in d. Sowjetunion, in: G. Aly (Hg.), Aussonderung u. Tod, Klin. Hinrichtung des Unbrauchbaren, 1987, S. 75–107 (P);
M. Beer, Die Entwicklung d. Gaswagen b. Mord an d. Juden, in: VfZ 35, 1987, H. 3, S. 403–17;
ders., Wiss. ohne Menschlichkeit, v. Chem. Unters.amt d. Stadt Stuttgart z. Kriminaltechn. Inst. d. Sicherheitspolizei, in: M. P. Hiller (Hg.), Stuttgart im Zweiten Weltkrieg, 1989, S. 135–40;
ders., Gaswagen, v. d. „Euthanasie“ z. Genozid, in: G. Morsch u. B. Perz (Hg.), Neue Stud. z. nat.sozialist. Massentötungen durch Giftgas, 2011, S. 153–64;
A. Ley, Massentötung durch Kohlenmonoxid, Die „Erfindung“ e. Mordmethode, d. „Probevergasung“ u. d. Krankenmord in Brandenburg/Havel, ebd., S. 88–99;
V. Rieß, Die Anfänge d. Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ in d. Reichsgauen Danzig-Westpreußen u. Wartheland 1939/40, 1995;
H. Friedlander, Der Weg z. NS-Genozid, v. d. Euthanasie z. Endlösung, 1997;
C. Gerlach, Kalkulierte Morde, Die dt. Wirtsch.- u. Vernichtungspol. in Weißrußland 1941 bis 1944, 1999;
A. Angrick, Besatzungspol. u. Massenmord, Die Einsatzgruppe D in d. südl. Sowjetunion 1941–1943, 2003;
H. G. Abmayr, A. W., Chemiker d. Vernichtung, in: ders. (Hg.), Stuttgarter NS-Täter, v. Mitläufer bis z. Massenmörder, 2009, S. 69–73 (P);
E. Klee, „Euthanasie“ im Dritten Reich, Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, 2010;
U. Winkler u. G. Hohendorf, „Nun ist Mogiljow frei von Verrückten“, Die Ermordung d. PsychiatriepatientInnen in Mogilew 1941/42, in: B. Quinkert, P. Rauh u. U. Winkler (Hg.), Krieg u. Psychiatrie 1914–1950, 2010, S. 75–103;
A. Friedman, Krankenmorde im Raum Minsk 1941 u. ihre Aufarbeitung in d. Sowjetunion u. d. Bundesrep. Dtld., in: ders. u. R. Hudemann (Hg.), Diskriminiert, vernichtet, vergessen, Behinderte in d. Sowjetunion, unter nat.sozialist. Besatzung u. im Ostblock 1917–1991, 2016, S. 395–414;
– Qu Ger.entscheidungen, Landger. Düsseldorf, 8 Ks 1/61 v. 10.10.1962 u. 8 Ks 1/61 v. 16.5.1961, BGH, 2 StR 640/61 v. 21.2.1962, in: C. F. Rüther u. D. W. de Mildt (Hg.), Justiz u. NS-Verbrechen, Bd. 18, 1978, S. 685–714;
Landger. Stuttgart, Ks 19/62 v. 15.9.1967, in: H. H. Fuchs u. C. F. Rüther (Hg.), Justiz u. NS-Verbrechen, Bd. 26, 2001, S. 553–83. -
Autor/in
Florian Schmaltz -
Zitierweise
Schmaltz, Florian, "Widmann, Albert Gottlob" in: Neue Deutsche Biographie 28 (2024), S. 34-35 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd127544038.html#ndbcontent