Lebensdaten
1186 – vermutlich nach 1238
Geburtsort
Italien (Cividale?)
Sterbeort
(Aquileja?)
Beruf/Funktion
Dichter ; Kanoniker ; Sittenlehrer
Konfession
katholisch
Normdaten
GND: 118642774 | OGND | VIAF: 18469965
Namensvarianten
  • Thomasin von Zerclaere
  • Thomasin von Cerclaria
  • Thomasin von Circelere
  • mehr

Objekt/Werk(nachweise)

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Zitierweise

Thomasin von Zerklaere, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118642774.html [19.03.2024].

CC0

  • Biographie

    T. trat als Verfasser höfischer Erziehungsschriften und Sittenlehren in welscher (vermutl. okzitan.) und mhdt. Sprache hervor. Sein Geburtsjahr kann aufgrund eines Verweises auf die Eroberung Jerusalems auf 1186 datiert werden. Die wenigen biographischen Angaben über T. basieren auf seiner einzigen erhaltenen Dichtung, „Der welsche Gast“, und urkundlichen Lebenszeugnissen. Demnach stammte er aus einem in Cividale (Friaul) ansässigen, begüterten Geschlecht landesfürstlicher Ministerialen und Kaufleute. Er schlug in dem von einer dt. Führungsschicht dominierten Patriarchat Aquileja eine geistliche Schullaufbahn ein, eignete sich eine umfassende Bildung in den freien Künsten, den Rechten und der Theologie an und erwarb vermutlich im Gefolge des Patriarchen Wolfger von Erla (um 1140–1218) gute Kenntnisse der süddt. Mundart.

    T. verfaßte nach seiner Ausbildung ein – nicht erhaltenes – welsches Buch von der „hüfscheit“ (Vers 1173), womit wohl eine Ritterlehre und/oder eine Frauenzucht mit Schwerpunkt auf dem Minnethema gemeint war. Zur Zeit der Kaiserkrönung des Welfen Otto IV. war T. in Rom; 1215/16 verfaßte er nach eigenen Angaben in zehn Monaten und vor Vollendung der dritten Lebensdekade sein Hauptwerk „Der welsche Gast“. Nach dessen Niederschrift trat T. nicht mehr als Autor in Erscheinung. Eine Notiz im Necrologium Aquileiense bezeugt den Tag, nicht das Jahr seines Todes und seinen Status als Kanoniker.

    T.s „Der welsche Gast“ ist in 24 Handschriften (teils fragmentarisch) überliefert. Eine Besonderheit des Werks mit 14 752 mhdt. Reimpaarversen ist die vielleicht schon vom Autor konzipierte Verschränkung des Textes mit einem Bildprogramm, das bis zu 120 farbige Miniaturen umfaßt. Trotz aller Gliederungsbemühungen läßt „Der welsche Gast“ keinen systematischen Aufbau erkennen. Vermittelt|werden in zehn Büchern diverse religiöse, moralische und soziale Wissensbestände und Lehrmeinungen, die sich vorwiegend aus der zeitgenössischen Schullektüre (Seneca, Gregor d. Gr., Alanus ab Insulis) sowie der biblischen und weltlichen Geschichtsüberlieferung speisen. Kulturgeschichtlich wertvoll ist die Schrift als frühes und umfangreiches Zeugnis für die unter höfischen Klerikern entwickelten Vorstellungen einer aristokratischen Standeskultur. Auch sprachgeschichtlich ist der Sonderfall eines roman. sprechenden und mhdt. schreibenden Autors von Belang. In dem sich etablierenden sozialen Netz geistlicher und weltlicher Fürstenhöfe sollte „Der welsche Gast“ rezipiert werden und als Anleitung für eine auf religiösen und ständischen Normen gegründete Lebensführung dienen („wie man immer lebe wol“ Vers 9140). Verbindliche Orientierung versprach T. der Jugend und dem höfischen Adel durch Beherzigung der Vorschriften des göttlichen und weltlichen Rechts und durch die Vorbilder der volkssprachlichen Dichtungen. Er entwickelte einen detaillierten Code, der den rechten Umgang mit Besitz, dem anderen Geschlecht, dem eigenen Stand, die Ausübung von Herrschaft, das Verhalten bei Hofe usw. regulierte. Die institutionelle Nähe zum Patriarchen von Aquileja und v. a. T.s Schelte des (namentlich nicht genannten) Walther von der Vogelweide erklären seine Bedeutung für die Germanistik seit dem 19. Jh. Trotz sprachlicher und reimtechnischer Ungelenkheit gingen von T.s Werk viele Anregungen für die dt. Dichtung des 13. Jh. und nicht zuletzt für Walther aus.

  • Werke

    W Der Wälsche Gast d. T. v. Zirclaria, hg. v. H. Rückert, 1852, Neudr. 1965;
    Der Welsche Gast, Text (Auswahl), Übers., Stellenkomm. v. E. Willms, 2004.

  • Literatur

    L ADB 45;
    A. Schönbach. Die Anfänge d. Gesangs, 1898;
    H. Teske, T. v. Z., Der Mann u. sein Werk, 1933;
    M. G. Scholz, Die hûsvrouwe u. ihr Gast, in: FS K. H. Halbach, hg. v. R. B. Schäfer-Maulbetsch u. a., 1972, S. 247–69;
    V. Schupp, er hât tûsent man betoeret, in: Poetica 6, 1974, S. 38–59;
    D. Rocher, T. v. Z., Der Welsche Gast, 2 Bde., 1977;
    W. Röcke, Feudale Anarchie u. Landesherrschaft, 1978;
    Ch. Cormeau, Tradierte Verhaltensnorm u. Realitätserfahrung, in: ders. (Hg.), Dt. Lit. im MA., Kontakte u. Perspektiven, 1979, S. 276–95;
    E. Ruff, Der wälsche Gast d. T. v. Z., 1982;
    Ch. Huber, Höf. Roman als Integumentum?, in: ZDA 97, 1986, S. 79–100;
    ders., Die Aufnahme u. Verarbeitung d. Alanus ab Insulis in mhdt. Dichtung, 1988;
    ders., Zur ma. Roman-Hermeneutik, in: German Narrative Lit., hg. v. V. Honemann, 1994, S. 27–38;
    A. Borst, Die Naturwiss. in e. Bilderhs. d. 13. Jh., in: Braunschweig. Wiss. Ges., Jb. 1986, S. 205–23;
    F. P. Knapp, Integumentum u. âventiure, in: Lit.wiss. Jb. 28, 1987, S. 300–07;
    K.-H. Göttert, T. v. Z. u. d. Tradition d. Moralistik, in: U. Ernst u. B. Sowinski (Hg.), Architectura poetica, FS J. Rathofer, 1990, S. 179–88;
    K. Düwel, Lesestoff f. junge Adlige, in: Fabula 32, 1991, S. 67–93;
    W. Haug, Lit.theorie im dt. MA, 1992, S. 228–40;
    D. Rocher, T. v. Z., Ein Dichter oder e. Propagandist im Auftrag?, in: Wolfger v. Erla, hg. v. E. Boshof, 1994, S. 325–43;
    H. Wenzel u. Ch. Lechtermann (Hg.), Beweglichkeit d. Bilder, Text u. Imagination in d. ill. Hss. d. „Welschen Gastes“ v. T. v. Z., 2002;
    BBKL XI (W, L);
    Killy;
    Kosch, Lit.-Lex.³ (W, L);
    LexMA; Vf.-Lex. MA² (W, L).

  • Autor/in

    Helmut Brall-Tuchel
  • Zitierweise

    Brall-Tuchel, Helmut, "Thomasin von Zerklaere" in: Neue Deutsche Biographie 26 (2016), S. 186-187 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118642774.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Zerclaere: Thomasin von Z. (Zirclaria), didaktischer Dichter, ist urkundlich als Kanonikus von Aquileia bezeugt. Er entstammte der in Friaul ansässigen Familie der Cerchiari, einem Dienstmannengeschlechte der Patriarchen von Aquileia. Ein Bernardus de Circlaria, 1198 als miles de Foro Julii nachweisbar, ist vermuthlich der Vater des Dichters. Im übrigen sind wir für die Biographie Thomasin's auf Andeutungen aus seinem großen Lehrgedichte angewiesen, das er 1215—1216 verfaßte und als „Wälschen Gast“, d. h. Fremdling aus Welschland in die deutschen Lande wandern ließ. Aus diesem Gedichte entnehmen wir mit ziemlicher Sicherheit, daß Thomasin zur Zeit der Abfassung noch nicht dreißig Jahre alt war, also etwa um 1190 geboren sein muß; ferner, daß er noch vor 1215 mehrere Jahre in den Diensten des Patriarchen Wolfger von Aquileia stand und dort längere Zeit mit Walther von der Vogelweide zusammengelebt haben dürfte (vgl. Schönbach. Die Anfänge des deutschen Minnesangs. Graz 1898, S. 64), der damals gleichfalls im Hoflager der Patriarchen weilte (vgl. Burdach, A. D. B. XLI, 53 f., 61 f.); endlich, daß er bereits früher ein Lehrgedicht in italienischer Sprache über die Hofzucht verfaßt hatte, von dem sich nur Auszüge und vereinzelte Spuren in seine deutsche Dichtung hinüber retteten. Die nahezu 15 000 Verse umfassende Tugendlehre Thomasin's ist aus der Reaction gegen die sittliche Haltlosigkeit, die der Dichter an seiner Zeit wahrzunehmen vermeint, hervorgegangen. Ausgerüstet mit einer das damalige gewöhnliche Maaß überschreitenden Gelehrsamkeit und von dem erhöhten Standpunkte seines adeligen Standesbewußtseins zieht er gegen die unstaete, den Fluch der Menschheit, zu Felde und preist die staete, die Tugend aus Grundsatz, als Fundament und Inbegriff aller Tugenden. Aber auch die mâze und unmâze, die Gerechtigkeit und die Herrentugend der milte werden daneben eingehend besprochen. Zahlreich und weitverzweigt sind die Quellen, aus denen Thomasin's Weisheit geflossen ist. Daß die Bibel eine große Rolle in dem Gedichte spielt, darf bei dem für den geistlichen Stand sorgfältig Erzogenen nicht wundernehmen. Die antike Litteratur kannte Th. mit wenigen Ausnahmen nur durch die Vermittelung späterer Schriftsteller (Schönbach a. a. O. S. 39 f. gegen Rückert und Gervinus). Auch mit dem Rechtsleben seiner Zeit, dem geistlichen wie dem weltlichen, zeigt er eingehende Vertrautheit. Freidank's Spruchweisheit ist ihm nicht fremd. Die französischen und deutschen Moderomane kennt er genau und gibt Anleitungen für ihre Lectüre. Von Kirchenschriftstellern citirt er nur einmal Gregor den Großen, den er aber auch sonst benutzt (Schönbach a. a. O. S. 39). Doch haben noch andere ihm bei der Abfassung seines Werkes wesentliche Dienste geleistet. So Wilhelm von Conches, aus dessen Philosophia moralis er den Rahmen und zum Theil auch die Anordnung seines Werkes entnommen hat. Der Passus von den sieben freien Künsten lehnt sich an den Anticlaudianus des Alanus ab Insulis an, Einleitung und Schluß dieses Abschnittes, die Erörterung der Seelenkräfte und Sinne an das Büchlein De septem septenis des Johannes von Salisbury, dessen Hauptwerk, der Polycraticus, gleichfalls nicht ohne Einfluß auf den „Wälschen Gast“ geblieben ist. Mit seinen politischen Sympathien steht Thomasin ganz auf Seite des Papstes. Daraus erklärt sich auch seine|Gegnerschaft gegen die Papstsprüche Walther's, mit dem er sonst in vielem übereinstimmt (vgl. Schönbach a. a. O. S. 69 ff.). Er beglückwünscht Leopold von Oesterreich, der mit weltlichem Arm das geistliche Gericht unterstütze und sich so gut darauf verstehe, die Ketzer zu sieden und zu braten. Thomasin's Sprache verräth den Ausländer in mehr als einer Beziehung. Er ist sich dessen wohl bewußt und bittet seine Leser um Nachsicht. Doch ließ die Wahrhaftigkeit seiner Gesinnung und das richtige Erfassen der Fehler seiner Zeit über solche Mängel leicht hinweggleiten und machte den „Wälschen Gast“ zu einem der beliebtesten und gelesensten Werke des Mittelalters.

    • Literatur

      Ausgabe von H. Rückert (Quedlinburg 1852). Die Litteratur verzeichnet Goedeke, Grundriß ² 1, 163. — Grundlegend und fast durchweg von neuen Gesichtspunkten geleitet ist die Darstellung Thomasin's in Schönbach's von mir mehrfach citirtem Buche: Die Anfänge des deutschen Minnesangs (S. 34—78).

  • Autor/in

    Wu.
  • Zitierweise

    Wu., "Thomasin von Zerklaere" in: Allgemeine Deutsche Biographie 45 (1900), S. 94-95 unter Zerclaere, Thomasin von [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118642774.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA