Wilbrand, Johann Bernhard

Lebensdaten
1779 – 1846
Geburtsort
Clarholz bei Münster
Sterbeort
Gießen
Beruf/Funktion
Mediziner ; Naturwissenschaftler ; Botaniker ; Zoologe ; Anatom ; Physiologe ; Philosoph ; Naturhistoriker ; Arzt
Konfession
katholisch
Normdaten
GND: 119216833 | OGND | VIAF: 119145067128266631310
Namensvarianten

  • Wilbrand, Johann Bernhard
  • Wilbrand, Johan B.
  • Wilbrand, Johan Bernhard

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Zitierweise

Wilbrand, Johann Bernhard, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd119216833.html [12.12.2025].

CC0

  • Wilbrand, Johann Bernhard

    | Arzt, Naturphilosoph, Physiologe, * 8.3.1779 Clarholz bei Münster, † 9.5.1846 Gießen, ⚰Gießen, Alter Friedhof. (katholisch)

  • Genealogie

    V Johann Gerhard ( 1806), Leibeigener d. Klosters Clarholz, Kleinbauer;
    M Elisabeth Becker ( 1806),|aus Olsberg (Westfalen);
    1) Münster 1809 Sophie (1789–1813), T d. Balthasar Felix Herold (1755–1800), Apotheker in M., u. d. Katharina Margarethe Berthold, 2) 1814 Adolphine von der Decken (1788–1839), 3) 1839 Juliane Grasso (1806–1890), aus Beverungen;
    1 S aus 1) Julius (1811–94/97, Albertine Knapp, 1817–92, T d. Johann Friedrich Knapp, 1776–1848, Min., Geh. Staatsrat, Präs. d. hess. LT, Nat.ök., Archäol., Dr. iur. h. c., s. ADB 51; MdL Hessen; Stadtlex. Darmstadt; Hess. Biogr.; NDB VI* u. XII*), Dr. med., 1838 ao., 1843 o. Prof. f. Arzneikde. an d. Univ. Gießen (s. Hess. Biogr.), 1 S aus 3) Ferdinand (1840–1914), Dr. phil., Chem., Dir. d. Landwirtsch.schule Hildesheim (s. A. Hinrichsen, Das lit. Dtld., ²1891; Wi. 1909);
    E Julius (1839/40–1906), Dr. phil., Gymn.prof. in Bielefeld, Wilhelm (1842–1922, Luise Keim, 1847–1912), 1870 Oberförster in Viernheim, 1880 Oberforstrat, 1888 Geh. Oberforstrat, 1897 Min.rat, 1917 ghzgl. hess. Geh. Staatsrat, 1904 bad. Kommandeurkreuz II. Kl. d. Ordens v. Zähringer Löwen, 1911 Komturkreuz I. Kl. u. 1913 Krone d. Verdienstordens Philipps d. Großmütigen, 1922 Dr. phil. h. c. (Gießen) (s. Hess. Biogr.), Leopold (1843–89, Marie Ryhiner, 1844–1913), Dr. med., Sanitätsrat in Frankfurt/M., Hermann (1851–1935, kath., später luth., Minette Bansa), Dr. med. et chir., 1905 Leiter d. ophthalmol. Abt. d. Allg. Hospitals in Hamburg, 1919–23 o. Prof. f. Augenheilkde. ebd., 1886 Mitgl. d. Leopoldina (s. J. Peiffer, Hirnforsch. in Dtld. 1849 bis 1974, 2004; Hamburger Prof.kat.);
    Ur-E Elisabeth (1868–1909, Ferdinand Rohde, 1863–1927, Dr. iur., Geh. Oberfinanzrat in Darmstadt, s. Hess. Biogr.), Wilhelm (Willi) (1871–1957, Elsbeth Wentzel), Hausmakler, Hermann Leopold (1877–1912, Else Schnittspahn), Forstassessor, Eberhard (1886–1962), Dr. med.;
    Urur-E Ulf (1920–2013), Dr. med., Gynäkol. (s. Gynäkologen dt. Sprache).

  • Biographie

    Nach dem Besuch des Gymnasiums in Münster 1793–98 und des vorgeschriebenen zweijährigen philosophischen Propädeutikums studierte W. hier seit 1800 kath. Theologie und seit 1801 die theoretischen Fächer der Medizin, seit 1805 die praktischen an den Universitäten Würzburg und Bamberg. In Würzburg besuchte er u. a. die naturphilosophischen und medizinischen Vorlesungen Friedrich Wilhelm Joseph Schellings (1775–1854), Ignaz Döllingers (1770–1841) und Elias v. Siebolds (1775–1828), in Bamberg die von Adalbert Friedrich Marcus (1753–1816).

    Mit der Schrift „Ueber das Verhalten der Luft zur Organisation, Eine nähere Darstellung der eigentlichen Bedeutung des Respirationsprocesses“ (gedr. 1807), in der er von der Nichtexistenz des Sauerstoffs ausging, wurde W. 1806 in Würzburg zum Dr. med. promoviert. Bei einem Studienaufenthalt in Paris 1806 lernte er den Zoologen und Naturforscher Georges Cuvier und den Entwicklungsbiologen Jean-Baptiste de Lamarck kennen.

    W. wechselte 1807 als Dozent an die Univ. Münster und wurde aufgrund seiner wegweisenden Vorlesungen, die er als „Darstellung der gesammten Organisation“ (2 Bde., 1809/10) drucken ließ, 1809 zum Professor für Anatomie, Physiologie und Naturgeschichte an die Univ. Gießen berufen, wo er auch Vorlesungen über Mineralogie, Naturphilosophie und Botanik hielt. 1817 zum Professor für Botanik und zum Direktor des Botanischen Gartens ernannt, erweiterte er diesen. Rufe nach Erlangen (1819) und Freiburg (Br.) (1819) lehnte er ab.

    Der von Schelling maßgeblich beeinflußte W. war einer der bekanntesten, produktivsten und angesehensten Vertreter der romantischen Naturphilosophie und Medizin. Bei den Stoffwechselabläufen sei der Organismus beispielsweise dem Polaritätsprinzip unterworfen, d. h. gegensätzliche Kräfte bewirken ständig einen Wechsel von Verflüssigung und Verfestigung. Desweiteren sind in W.s wissenschaftlichen Konzepten häufig Analogien, Bilder, philosophische Spekulationen sowie die Begriffe „Steigerung“ und „Metamorphose“ anzutreffen. Insbesondere die letzten beiden erregten die Aufmerksamkeit Goethes. W.s spekulativ-romantische Methodik führte dazu, daß er häufig in Konflikt mit Ärzten und Naturforschern geriet, die der empirisch-rationalen Richtung verpflichtet waren.

    Auf der Versammlung der Gesellschaft Dt. Naturforscher und Ärzte 1825 in Frankfurt/M. trat W. mit der Absicht, die Physiologie auf der Basis der Schellingschen Naturphilosophie wissenschaftlich zu begründen, gegen die Existenz des 1628 von William Harvey entdeckten Blutkreislaufs ein. Diese Ansicht, die W. bereits 1816 vertreten hatte, wurde in Gießen insbesondere von Justus v. Liebig (1803–73) heftig bekämpft, was 1844 dazu führte, daß W. sein Ordinariat verlor. Desweiteren stellte W. in seinem Beitrag „Giebt es in der Pflanzenwelt eine wirkliche Geschlechtsverschiedenheit und eine hierauf gegründete wirkliche Befruchtung?“ (Flora oder Botan. Ztg. 13, 1830, S. 585–99 u. 601–09) die Theorie der Befruchtung in Abrede und manövrierte sich so im Bereich der Botanik letztlich in das wissenschaftliche Abseits.

    Von W.s zahlreichen Aufsätzen und Monographien sind die „Physiologie des Menschen“ (1815, ²1840) und das „Handbuch der vergleichenden Anatomie in ihrer nächsten Beziehung auf die Physiologie für wissenschaftliche Aerzte und für Studirende der Arzneikunde“ (1838) hervorzuheben. Georg Büchner (1813–1837), 1834 W.s Student in Gießen, gestaltete die Doktorfigur in seinem Dra|ma „Woyzeck“ nach seinem Lehrer und baute Anekdoten aus dessen Vorlesungen ein.

  • Auszeichnungen

    |Goldene Preismedaille d. Naturforschenden Ges. Haarlem (1811);
    Dr. phil. h. c. (Gießen 1816);
    Mitgl. d. Wetterau. Ges. f. d. gesammte Naturkde. (1814), d. Ges. f. Mineral. in Jena (1815), d. Physikal.-med. Ges. in Erlangen (1815), d. Leopoldina (1818), d. Phil.-Med. Ges. in Würzburg (1827), d. Ksl. Ges. d. Naturforscher in Moskau (1830) u. d. Ac. royale de médecine;
    ghzgl. hess. Rr.kreuz 1. Kl. (1827);
    Geh. Med.rat (1835).

  • Werke

    Weitere W Nähere Prüfung d. gewöhnl. Lehre v. d. Circulation, insbesondere in Hinsicht d. Frage, ob d. Blut als Blut aus d. arteriellen Gefäßsysteme ins venöse hinüberströme, in: Pierers Allg. med. Ann., 1816, H. 6, Sp. 721–54;
    Hdb. d. Botanik n. Linnés System, 1819;
    Hdb. d. Naturgesch. d. Thierreichs, 1829;
    Darst. d. thier. Magnetismus als e. in d. Gesetzen d. Natur vollkommen gegr. Erscheinung, 1824;
    Selbstbiogr., 1831;
    Die natürl. Pflanzenfamilien in ihren gegenseitigen Stellungen, Verzweigungen u. Gruppirungen z. e. natürl. Pflanzensysteme, 1834.

  • Literatur

    |ADB 44;
    A. H. Murken, J. B. W. (1779–1846), e. Naturwiss. d. Romantik u. seine Beziehungen zu J. W. v. Goethe, in: Med. Mschr. 24, 1970, H. 4, S. 165–70;
    Ch. Maaß, J. B. W. (1779–1846), herausragender Vertr. d. romant. Naturlehre in Gießen, 2 Bde., 1994;
    D. v. Engelhardt, Med. d. Romantik, in: Enz. Med.gesch., hg. v. W. E. Gerabek, B. D. Haage, G. Keil u. W. Wegner, Bd. 3, 2005, S. 903–07;
    R. Feldmann u. J. Meier (Hg.), Natur u. Geist, J. B. W. (1779–1846), Med., Anatom, Physiol., Botaniker u. Philos., 2012;
    Enz. Med.gesch.;
    Lex. Naturwiss.;
    Complete DSB;
    Hess. Biogr.;
    Qu: Fam.archiv, in: Hess. StA Darmstadt, hierzu: E. Haberkorn, Bestand O 13 Fam.archiv W., 2008.

  • Porträts

    |Zeichnung v. Liedeking, um 1806, u. Totenmaske (Hess. StA Darmstadt).

  • Autor/in

    Werner E. Gerabek
  • Zitierweise

    Gerabek, Werner E., "Wilbrand, Johann Bernhard" in: Neue Deutsche Biographie 28 (2024), S. 119-121 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119216833.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Wilbrand, Johann Bernhard

  • Biographie

    Wilbrand *)Zu Bd. XLII, S. 476.: Johann Bernhard W. wurde am 8. März 1779 zu Klarholz bei Münster in Westfalen geboren. Seine Eltern waren Leibeigene des Klosters zu Klarholz und bewirthschafteten ein kleines Besitzthum, welches Eigenthum des Klosters war. Seinen ersten Unterricht erhielt W. von seiner älteren Schwester; dann besuchte er die Dorfschule, in welcher er bald alle anderen Schüler überflügelte, so daß der Pastor in Lette, welcher die Schule häufig inspicirte, auf ihn aufmerksam wurde, und, als er seinen Wunsch zu studiren erfuhr, ihn ein Jahr lang in der lateinischen und griechischen Sprache unterrichtete und ihn 1792 nach Münster in eine Vorbereitungsschule sandte. Im folgenden Jahre trat W. in das Gymnasium daselbst ein. Bald verdiente er sich seinen Unterhalt selbst, indem er im Hause des Herrn v. Hülst Hauslehrer wurde. Nachdem er das Gymnasium absolvirt hatte, mußte er nach der damaligen Studieneinrichtung zunächst einen zweijährigen allgemeinen Cursus auf der Universität durchmachen, ehe er sich für ein Fachstudium entschied. Hier fühlte er sich von den Naturwissenschaften, namentlich Botanik und Chemie besonders angezogen. Dennoch entschloß er sich bei seinen beschränkten pecuniären Verhältnissen Theologie zu studiren, widmete jedoch seine freie Zeit dem Studium der Naturwissenschaften. Je mehr er sich in dieselben vertiefte, desto mehr fühlte er sich zu ihnen hingezogen. Die Liebe zu den Naturwissenschaften überwand schließlich seine Bedenken und im Herbst 1801 gab er das Studium der Theologie auf und widmete sich ganz den Naturwissenschaften, indem er die Medicin als Brotstudium hinzunahm. Im J. 1803 erhielt er durch das Wohlwollen der Klostergeistlichkeit den sogenannten Freibrief, welcher ihn von der Leibeigenschaft befreite, wogegen er auf jeden Anspruch auf das von seinen Eltern bewirthschaftete Eigenthum des Klosters verzichten mußte. Nachdem er sich durch Uebernahme einer Hofmeisterstelle etwas Geld erspart hatte, und von seinen Lehrern eine Unterstützung erhielt, bezog er zu seiner weiteren Ausbildung 1805 die Universität Würzburg, woselbst er 1806 die Doctorwürde erwarb. Dann begab er sich nach Paris und hörte die Vorlesungen von Cuvier, Dumeril und Lamarck. Nach Münster zurückgekehrt, hielt er Vorlesungen „über die graduelle Entwickelung der organischen Natur“, in welcher er die gesammte organische Natur nach allen Richtungen hin als Einheit behandelte. Diese Vorträge erschienen später im Druck unter dem Titel: „Darstellungen der gesammten Organisation“ (2 Bde., Gießen 1809 und 1810). Infolge dieser Vorlesungen, welche große Anerkennung fanden, erhielt W. einen Ruf an die Universität Gießen und übernahm dort 1809 die Vorlesungen über Anatomie, Botanik und Zoologie. Im J. 1811 erhielt er von der naturforschenden Gesellschaft zu Haarlem für die beste Preisarbeit über die Classification der Thiere die goldene Medaille. Die Arbeit erschien zuerst in: Natuurk. Verhandl. Mattsch. Haarlem D. 6, 2 (1812) und später in deutscher Sprache: „Ueber die Classification der Thiere“ (Gießen 1815). Sein System ist jedoch ein einseitiger Ausbau des Linné’schen. Es basirt auf der Beschaffenheit der Blutflüssigkeit. Darnach theilt er die Thiere ein in solche mit warmem rothem Blute (Säugethiere und Vögel), mit kaltem rothem Blute (Amphibien, Reptilien und Fische) und mit kalter Lymphe. Die letzteren zerfallen wieder in solche mit weißer Lymphe und einer Spur des Herzens (Insecten und Mollusken), in solche mit rother Lymphe und ohne Herz (Anneliden) und in solche mit weißer Lymphe und ohne Herz (Zoophyten und Eingeweidewürmer). Dieses System ist jedoch, wie erklärlich, bald der Vergessenheit anheimgefallen. Auch ein Pflanzensystem, welches er in seiner Schrift: „Die natürlichen Pflanzenfamilien in ihren gegenseitigen|Stellungen, Verzweigungen und Gruppirungen zu einem natürlichen Pflanzensystem“ (Gießen 1834) ausstellte, hat niemals Anwendung gefunden. Durch alle seine zahlreichen Schriften zieht sich die Idee, die Hypothese zu verbannen, was ihn zu sonderbaren Erklärungsversuchen veranlaßte. Auch ersetzte er häufig die exacte Forschung durch philosophische Speculationen. Mit mancher seit langer Zeit anerkannten Lehre befand sich W. in Widerspruch. So leugnet er z. B. in seiner Schrift: „Nähere Prüfung der gewöhnlichen Lehre von der Zirkulation, insbesondere in Hinsicht der Frage, ob das Blut aus dem arteriellen Gefäßsystem ins venöse hinüberströmt?" (Pierer's Annalen 1816, Heft 6, S. 724) den Blutkreislauf und stellt sogar in seiner Abhandlung: „Giebt es in der Pflanzenwelt eine wirkliche Geschlechtsverschiedenheit und eine hierauf gegründete wirkliche Befruchtung?“ (Flora 1830, Bd. II, S. 585—99, 601—9) die ganze Theorie der Befruchtung in Abrede. Trotz dieser argen Fehler fanden seine Schriften große Anerkennung, was schon daraus hervorgeht, daß er von zahlreichen gelehrten Gesellschaften zum Mitgliede ernannt wurde, wie er auch als Lehrer eine hervorragende Stellung einnahm. Von seinen übrigen Werken sind noch besonders zu erwähnen: „Handbuch der Botanik“ (2 Bde., Gießen 1819). In Gemeinschaft mit Ritgen: „Gemälde der organischen Natur in ihrer Verbreitung auf der Erde“ (Gießen 1821); „Handbuch der Naturgeschichte des Thierreichs“ (Gießen 1829). Außerdem veröffentlichte er noch zahlreiche kleinere Abhandlungen in den verschiedensten Zeitschriften. W. starb zu Gießen im J. 1846.

  • Literatur

    Selbstbiographie von Johann Bernhard Wilbrand. Gießen 1831.

  • Autor/in

    W. Heß.
  • Zitierweise

    Heß, Wilhelm, "Wilbrand, Johann Bernhard" in: Allgemeine Deutsche Biographie 44 (1898), S. 520-521 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119216833.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA