Lebensdaten
1841 – 1894
Geburtsort
Wechold bei Hilmergissen (Niedersachsen)
Sterbeort
Berlin
Beruf/Funktion
Musikhistoriker
Konfession
evangelisch
Normdaten
GND: 118890883 | OGND | VIAF: 61594264
Namensvarianten
  • Spitta, Julius August Philipp
  • Spitta, Philipp
  • Spitta, Julius August Philipp
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Zitierweise

Spitta, Philipp, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118890883.html [29.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    Aus Hugenottenfam. Halleit, zu d. Tuchweber in Verviers gehörten u. d. im 16. Jh. aus konfessionellen Gründen in d. Pfalz auswanderte u. d. Namen zu S. änderte;
    V Carl Johann Philipp (1801–59), Pfarrer in W. 1837–47, Sup. in Wittingen 1847–53, dann in Peine 1853–59, als Theol. Vertreter d. norddt. Erweckungsbewegung, Vf. d. populären Slg. geistl. Gedichte „Psalter u. Harfe“, 2 Bde., 1833–43 (s. L), S d. Leb(e)recht Wilhelm Gottfried (1754–1805), aus Braunschweig, Buchhalter, Lehrer d. franz. Sprache in Hannover, u. d. Henriette Charlotte Fromme (früher Rebecca Lehsern) (1758–1847, jüd., 1780 ev., 2] Georg Jacob Knocke), aus jüd. Fam. in Goslar;
    M Marie (1818–83), T d. N. N. Hotzen, Oberförster;
    Urur-Gvv Michael David ( 1754), Bankier, Hof- u. Kammeragent in Hannover (s. NDB III*);
    Ur-Gvv David Ludwig (1719–59), Brauer in Braunschweig;
    Ov Heinrich (Ps. Heinrich Sequanus) (1799–1860), Dr. med., o. Prof. f. Arzneikunde in Rostock, Mitgl. d. meckl. Med.komm., Schriftst., Obermed.rat (s. ADB 35; BLÄ; Kosch, Lit.-Lex.³; Biogr. Lex. Mecklenburg III);
    B Friedrich (s. 2);
    Reval 1865 Mathilde Grupen;
    1 S Oscar (1870–1950), Dr. med., Mitgl. d. preuß. Landesanstalt f. Hygiene u. d. Reichsgesundheitsamtes, Vorsteher d. Hygien. Laboratoriums in B., Prof. f. Hygiene an d. Univ. ebd., Geh. u. Oberreg.rat (s. Fischer; Wi. 1935), 1 T.

  • Biographie

    Nach dem Abitur in Celle immatrikulierte sich S. 1860 an der Univ. Göttingen, wo er auf Wunsch des Vaters zunächst Theologie studierte und Vorlesungen von Ernst Curtius (Alte Geschichte) und Eduard Krüger (Musikgeschichte) hörte, bevor er zur Klassischen Philologie wechselte. 1864 wurde er mit einer Dissertation über den Satzbau bei Tacitus von Hermann Sauppe (1809–93) promoviert. Prägende künstlerische Eindrücke sammelte S. damals durch Kontakte zu Julius Otto Grimm, Bernhard Scholz und Joseph Joachim, Musikerpersönlichkeiten, die 1860 gemeinsam mit Johannes Brahms die Erklärung gegen die ,Neudeutschen` um Franz Liszt und Richard Wagner unterzeichnet hatten. Nachdem Brahms ihm geraten hatte, seine musikalischen Ambitionen, auf die etliche Kompositionen aus jener Zeit verweisen, aufzugeben und sich wissenschaftlich zu betätigen, arbeitete S. 1864–66 als Gymnasiallehrer in Reval. In Sondershausen, wo er eine Stelle als Oberlehrer antrat und Freundschaft mit Max Bruch schloß, entstand der erste Band der Bach-Biographie (1873). Um den zweiten Band abzuschließen, ging S. 1874 nach Leipzig, wo er zu den Gründern des Leipziger Bach-Vereins gehörte. Durch den internationalen Erfolg des ersten Bach-Bandes wurde S. 1875 als 2. ständiger Sekretär der Kgl. Akademie der Künste nach Berlin berufen. Zugleich übernahm er eine Dozentur an der Kgl. Hochschule für Musik und folgte dem Ruf der Univ. als ao. Professor für Musikwissenschaft.

    S. hat als akademischer Lehrer schulbildend gewirkt. Aus seiner Berliner Lehrtätigkeit erwuchs ein Schülerkreis, zu dem Musikforscher wie Emil Vogel, Carl Krebs, Oscar Fleischer, Max Seiffert, Max Friedländer, Johannes Wolf, Peter Wagner und Adolf Sandberger gehörten. In der „Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft“, die S. gemeinsam mit Friedrich Chrysander und Guido Adler 1885 gründete, erhielt die damalige Musikforschung eine ambitionierte Fachzeitschrift. Editorisch zukunftsweisend war die von S. etablierte Reihe „Denkmäler deutscher Tonkunst“. Die erste Edition enthält in zwei Querfolio-Bänden sämtliche Orgelwerke Buxtehudes (1876/77). Für die seit 1877 erscheinende Mozart-Gesamtausgabe verfaßte S. mehrere Revisionsberichte. Die größte editorische Herausforderung war die Gesamtausgabe der Werke von Heinrich Schütz (16 Bde., 1885–94). Gemeinsam mit Paul Gf. Waldersee edierte er 1889 eine Auswahl der Kompositionen Friedrichs II. Die wichtigsten seiner Aufsätze stellte S. Anfang der 1890er Jahre in zwei Sammelbänden zusammen (Zur Musik, 1892; Musikgeschichtl. Aufsätze, 1894).

    S. spielte eine zentrale Rolle bei der Etablierung der Musikwissenschaft als akademische Disziplin. Dabei bildeten die Übertragung und Anwendung jener Methoden, die die Klassische Philologie, Geschichts- und Kunstwissenschaft bereitstellten, den Ausgangspunkt. S. unterschied zwischen antiquarisch-philologischer und ambitionierter Musikgeschichtsschreibung, d. h. die exakte Quellenkritik stand im Dienste einer „höheren Kritik“, der es um die Erkenntnis, innere Kausalität und die Gesetzmäßigkeiten geschichtlicher Kunstwerke, kurz: den „Zusammenhang der Dinge“, ging. Getragen wurden seine Forschungen von einem musikhistorischen Impetus, der in der für S. so bezeichnenden Formulierung vom „Respekt vor dem Gewordenen“ deutlich wird.

    S.s Forschungen waren auf die gesamte Musikgeschichte gerichtet, wie Arbeiten zur Antike bzw. zu Johannes Brahms zeigen. Gleichwohl stand die Erforschung der prot. Kirchenmusik des 17. und 18. Jh. im Mittelpunkt seines Interesses. Am wirkmächtigsten war fraglos seine Bach-Biographie, die in der Tradition der klassischen Künstlerbiographie in der Verschränkung von „Leben und Werk“ methodisch neue Maßstäbe setzte und von der Forschung erst nach 1950 in Teilen korrigiert wurde. Eine angemessene Beurteilung seiner an Schumann orientierten Beschreibungen der Bach-Werke scheint nur vor dem Hintergrund des die Forschung bis heute prägenden Grundproblems der Verbalisierung musikalischer Sinngehalte möglich.

    Die Distanz zur eigenen musikalischen Gegenwart – besonders zur sogenannten neudt. Schule und zum Werk Richard Wagners – führte S. zu der Überzeugung, daß nur der Rückgriff auf die Kunstwerke der Vergangenheit künstlerische Orientierung und Identität verbürge. So verstand er die eigene musikalische Gegenwart gleichsam als Nachgeschichte zur alten Musik. Dennoch war er vielen zeitgenössischen Komponisten wie Max Bruch, Julius Otto Grimm, Heinrich von Herzogenberg, Joseph Joachim und v. a. Johannes Brahms freundschaftlich verbunden. Der Briefwechsel mit Brahms, der dem Freund die beiden Motetten op. 74 widmete, dokumentiert den konstruktiven Austausch zwischen Forschung und Praxis, wenngleich S. später die Grenzen zwischen ästhetischer und historischer Lebenswelt betonte (vgl. Kunstwissenschaft u. Kunst, in: Zur Musik).

  • Auszeichnungen

    Mitgl. d. Ak. d. Künste Berlin (1875);
    Roter Adler-Orden 4. Kl. (1882);
    preuß. Kronenorden 3. Kl. (1887);
    Geh. Reg.rat (1891).

  • Werke

    Weitere W u. a. De Taciti in componendis enuntiatis ratione, pars prior, Diss. Göttingen 1866;
    Johann Sebastian Bach, in: Revalsche Ztg. Nr. 29 u. 35, 1866, Nachdr. in: U. Schilling, 1994, S. 363–78;
    Quaestiones Vergilianae, 1867;
    Das Oratorium als Kunstgattung in: Allg. Musikal. Ztg. 3, 1868, S. 137–39, 145–47, 153–55 u. 161–64;
    Der Bach-Ver. zu Leipzig, ebd. 10, 1875, S. 305–12;
    Über d. Accompagnement in d. Compositionen Johann Sebastian Bachs, ebd., S. 721–29, 740–45 u. 773–81;
    Leichensermone auf Musiker d. XVI. u. XVII. Jh., in: Mschr. f. Musikgesch. 3, 1871, S. 24–44;
    Johann Sebastian Bach, 2 Bde., 1873–79, zahlr. weitere Aufll., Nachdr. 1979, engl. 1884/85, gekürzte Neuausg., bearb. v. W. Schmieder, 1935;
    Über Johann Sebastian Bach, 1879;
    Ein Lb. Robert Schumanns, 1882;
    Die Musica enchiriadis u. ihr Zeitalter, in: Vj.schr. f. Musikwiss. 5, 1889, S. 443–82, ebd. 6, 1890, S. 297–308;
    Ein Weihnachts-Gesang d. Heinrich Baryphonus, ebd. 9, 1893, S. 381–92;
    Eine neugefundene altgriech. Melodie, ebd. 10, 1894, S. 103–10;
    Zur Musik, 16 Aufss., 1892, Nachdr. 1976;
    DDT, in: Die Grenzboten 52, 1893, H. 2, S. 16–27;
    Die Passionsmusiken v. Sebastian Bach u. Heinrich Schütz, in: Slg. gemeinverständl. wiss. Vorträge NF, H. 176, 1893;
    Palestrina im 16. u. 19. Jh., in: Dt. Rdsch. 79, 1894, S. 74–95;
    Musikgeschichtl. Aufss. [14 Aufss.], 1894, Nachdr. 1976. – Verz. d. Schrr. u. Komp. in: Schilling, 1994 (s. L), S. 313–20;
    Nachlaß:
    privater Nachlaß in d. Staatsbibl. Berlin, die Bibl. seit d. 2. Weltkrieg zw. d. Univ. d. Künste Berlin u. d. Univ.bibl. Lodz in Polen geteilt.

  • Literatur

    ADB 54;
    H. Reimann, P. S. u. seine Bach-Biogr., in: ders., Musikal. Rückblicke, 1900, S. 49–65;
    Johannes Brahms im Briefwechsel mit P. S., hg. v. C. Krebs, 1920, Nachdr. 1974;
    W. Gurlitt, Der Musikhist. P. S., in: Musik u. Kirche 14, 1942, S. 27–36;
    U. Siegele, Johann Sebastian Bach, „Dtlds. größter Kirchenkomp.“, Zur Entstehung u. Kritik e. Identifikationsfigur, in: Gattungen d. Musik u. ihre Klassiker, hg. v. H. Danuser, 1988, S. 59–85;
    Ch. Wolff, From Berlin to Lodz, The S. Collection Resurfaces, in: Notes 56, 1989, S. 311–27;
    B. Wiechert, P. S.s Studienjahre in Göttingen 1860–1864, in: Göttinger Jb. 39, 1991, S. 169–181;
    U. Schilling, P. S., Leben u. Wirken im Spiegel seiner Briefwechsel, 1994 (W-Verz.);
    F. Krummacher, Gesch. als Erfahrung, Schütz u. Bach im Blick P. S.s, in: Schütz-Jb. 1995, S. 9–27;
    W. Sandberger, Das Bachbild P. S.s, 1997;
    ders., P. S. u. d. Geburt d. Musikwiss. aus d. Geist|d. Philol., in: Musikwiss., e. verspätete Disziplin?, hg. v. A. Gerhard, 2000, S. 55–68;
    ders., „Musikwiss. u. Musik“, Johannes Brahms im Dialog mit P. S., in: Musik u. Musikforsch., Johannes Brahms im Dialog mit d. Gesch., hg. v. dems. u. Ch. Wiesenfeldt, 2007, S. 9–36;
    M. Heinemann, Kretzschmar u. S., Kretzschmars Bach-Bild, in: Hermann Kretzschmar, Kongreß-Ber. Olbernhau 1998, 1998, S. 193–210;
    I. Fellinger, Brahms u. P. S., in: Kongreß-Ber. Brahms Gmunden 1997, Tutzing 2001, S. 437–57;
    P. Schroer, Die Fam. S., in: Carl Johann Philipp S., 1801–1859, Erinnerungen z. 200. Geb.tag, hg. v. M. Lechler, 2001, S. 66–71;
    Kat. d. Slg. S., bearb. v. P. Sühring u. K. Bielska, 2005;
    P. Sühring, Die Rekonstruktion d. Slg. S., in: Jb. d. Staatl. Inst. f. Musikforsch., Preuß. Kulturbes. (SIMPK) 2004, 2005, S. 307–22;
    Riemann;
    MGG;
    New Grove;
    New Grove²;
    MGG²;
    zu Carl Johann Philipp:
    BBKL X;
    Wer ist wer im Gesangbuch?, hg. v. W. Herbst, 2001;
    Killy;
    Braunschweig. Biogr. Lex. I;
    Enz. Neuzeit;
    RGG⁴;
    zur Fam.:
    E. I. Newhouse, Jente Hameln and her Distinguished Descendants, in: Stammbaum, The Journal of German-Jewish Genealogical Research, hg. v. Leo Baeck Inst., 11, 1997, S. 4 f.

  • Porträts

    Portraitphotogr., o. J. (Berlin, Staatsbibl. Preuß. Kulturbes., Nachlaß Sign. A 604);
    Lith., o. J. (Berlin, Humboldt-Univ., Archiv), Abb. in: Gelehrtenbildnisse HU Berlin, S. 261;
    Grabstein v. A. v. Hildebrandt mit Portraitrelief.

  • Autor/in

    Wolfgang Sandberger
  • Zitierweise

    Sandberger, Wolfgang, "Spitta, Philipp" in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 710-712 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118890883.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Spitta: Johann August Philipp S., der Bachbiograph, wurde am 27. December 1841 zu Wechold (bei Hoya, Hannover) als Sohn des Dichters von „Psalter und Harfe“ (s. A. D. B. XXXV, 204 ff.) geboren. Nach absolvirtem Gymnasium bezog er 1859 die Universität Göttingen, um classische Studien zu betreiben. Nach ihrer Vollendung erhielt er 1864 die erste Anstellung an der Ritter- und Domschule zu Reval, wurde jedoch 1866 von hier ans Gymnasium zu Sondershausen berufen. Die musikalischen Fähigkeiten des Knaben waren im Elternhause schon frühzeitig gepflegt worden; in der fröhlichen Studentenzeit begründete und leitete S. einen kleinen akademischen|Gesangverein. In diese Zeit, der die Romantiker und die Kämpfe R. Wagner's das musikgeschichtliche Gepräge gaben, fiel auch die Gründung der Bachgesellschaft, deren Arbeiten und Ziele den musikalischen Pfarrersohn aufs lebhafteste beschäftigten. In Reval trat er dem Getriebe des öffentlichen Musiklebens näher; Persönlichkeiten, wie die des damaligen Syndikus O. v. Riesemann, weiteten den Blick des jungen Gymnasiallehrers. Im Herzen Thüringens angelangt, sah S. alle Bedingungen aufs glücklichste vereint, welche die Erreichung des ihm nun klar vor Augen stehenden Lebensideals sichern mußten: er war in festem Amt, das ihm doch bei bester Pflichterfüllung Mußestunden genug gewährte, um in den nahegelegenen Stätten von Seb. Bach's Wirken mit bisher unbekannter Gründlichkeit die Archive nach biographischem Material zu durchforschen. Im J. 1873 legte er die Ergebnisse der langen, stillen Arbeit im ersten Bande seiner Bachbiographie der musikalischen Welt vor, dessen Erfolg für seine äußere Laufbahn entscheidend wurde. Man berief ihn 1874 als Professor ans Nicolaigymnasium der Bachstadt Leipzig, wo er alsbald im Verein mit Franz v. Holstein, Alfred Volkland und H. v. Herzogenberg den dortigen „Bachverein“ gründete. Im Jahre darauf, 1875, erfolgte seine Berufung nach Berlin. Nach mancherlei Kämpfen um das junge Institut der neugegründeten Hochschule für Musik kam es hier 1875 zu einer durchgreifenden Reorganisation der gesammten Akademie der Künste, derzufolge S. als Secretär der musikalischen Section ihr ständiger zweiter Secretär, dazu stellvertretender Director in den Verwaltungsangelegenheiten der Hochschule neben Joachim und Lehrer der Musikgeschichte wurde. Die Berliner Universität schuf für ihn neben H. Bellermann eine neue außerordentliche Professur für Musikgeschichte. Das provisorische Statut der Akademie von 1875 wurde am 19. Juni 1882 durch Cabinetsordre zu einem definitiven und damit S. Vorsteher der gesammten Verwaltung der Kgl. Hochschule. Trotz der außerordentlichen Inanspruchnahme durch seine Ämter, deren gewissenhafte Verwaltung ihm 1891 die Ernennung zum Geh. Regierungsrath brachte, fand S. immer noch Zeit zu umfassender musikwissenschaftlicher Arbeit: 1880 erschien der 2. Band der Bachbiographie; 1885 eröffnete er im Verein mit Fr. Chrysander und G. Adler die „Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft"; in zwei Bänden, „Zur Musik" (1892) und „Musikgeschichtliche Aufsätze" (1894) sammelte er die Hauptmasse seiner kleinen Schriften, die er außer in der „Vierteljahrsschrift" in der „Allg. musik. Zeitung“, in den „Monatsheften für Musikgeschichte“, den „Grenzboten", der „Deutschen Rundschau“, der „A. D. B.“ publicirt hatte. Hand in Hand damit ging eine Anzahl von Neuausgaben: 1876 erschienen Buxtehude's gesammelte Orgelwerke in zwei Bänden, 1885 begann die von Chrysander angebahnte und großenteils vorbereitete Ausgabe von H. Schütz' gesammten Werken in 16 Bänden, 1889 erschien eine Auswahl der musikalischen Werke Friedrich's des Großen, 1892 begannen die „Denkmäler deutscher Tonkunst“, deren Verwirklichung zum großen Theile Spitta's Verdienst ist, ihr Erscheinen. Den Sommer 1888 über mußte sich S. beurlauben lassen; dem Ansturm der Pflichten und Arbeiten waren seine anscheinend unverwüstlichen Körperkräfte doch erlegen. Wiederhergestellt kehrte er aus Montreux zurück; aber nach dieser Heimsuchung überkamen ihn zuweilen trübe Ahnungen; beinahe fatalistisch erwartete er, das Schicksal seines Vaters zu theilen. Schmerzlich für viele sollte sich seine Erwartung erfüllen; vor dem Schreibtisch sitzend, auf dem die Schlußcorrectur des letzten Schützbandes lag, starb er am 13. April 1884 Mittags am Herzschlag. —

    Spitta's unvergessene Verdienste liegen auf dem Gebiet der Musikwissenschaft. An Bedeutung allem voran steht hier die zweibändige Bachbiographie,|die ihren Verfasser mit einem Schlage in die erste Reihe deutscher Musikgelehrter neben C. v. Winterfeld, O. Jahn und Fr. Chrysander rückte. An Versuchen, Leben und Wirken des Thomascantors zu schildern, hat es vor S. nicht gefehlt, alle aber stellte er in den Schatten durch die Weite seines Arbeitsplanes, die Gründlichkeit seiner historischen Untersuchungen und die Tiefe seiner darauf basirten musikalisch-ästhetischen Analysen. Die Wurzeln von Bach's Künstlerthum sind weit durch's 17. Jahrhundert der deutschen Musik verzweigt; mit ungeheurem Aufwand selbständiger neuer Forschung hat S. dies große, damals so gut wie völlig unerschlossene Gebiet erhellt. Mit philologischer Zähigkeit und Umsicht durchstöberte er die Archivacten bis zu den Kirchenbüchern der kleinsten Ortschaften nach Zeugnissen über Bach und spürte dem Verbleib der Originalhandschriften nach, deren diplomatische Kritik ihm eine neue Handhabe zur Feststellung ihrer Entstehungszeit bot. Nach Bloslegung des feinen Geäders der historischen Vorbedingungen und Beziehungen konnte er dem Inhalt der Werke selbst in einer Weise gerecht werden, die sich weit über die bisher gewohnte formale Auffassung erhob; seine Analysen verrathen ein warmes, künstlerisches Nachempfinden und lassen den Strom des musikalischen Inhalts vorm inneren Auge des Lesers sichtbar fließen. — Mit diesem Standardwerk stehen alle späteren Arbeiten Spitta's, die sich mit Vorliebe nach der modernen Zeit der Romantiker hin bewegen, in mehr oder weniger deutlichem Zusammenhange. In allen, selbst in den kleinsten Aufsätzen, offenbaren sich die fesselnden Eigenschaften des wissenschaftlichen Schriftstellers: umfassendes, aus eigener Anschauung geschöpftes Wissen, ruhige, vornehme, klare Darstellung und gewählte Diction.

    Nächstdem hat die deutsche Musikwissenschaft S. ihre endliche Anerkennung als Universitätsdisciplin zu danken. Vorher war es um sie in Berlin und anderswo nur dürftig bestellt gewesen; Universitätsmusikdirectoren und Lectoren hielten vorwiegend practische Kurse. S. setzte sein ganzes Streben daran, der jungen Musikwissenschaft, die in verschiedene andere und selbständige Gebiete der Wissenschaft hinübergreift, aber weder diesen noch den Kunstausübenden zunächst genehm und bequem war, wenigstens einen bescheidenen Platz zu erobern. S. brachte hervorragende Eigenschaften zum Universitätslehrer mit. Die Lichtklarheit seiner sachlichen Darstellungen, die harmonische Verschmelzung aller Einzelangaben und Thatsachen zu großen, zusammenhängenden Ideen, die Kunst, bei noch so tiefem Eindringen in das innere Wesen einzelner Erscheinungen doch stets den großen Ueberblick über weite Strecken der Geschichte hinweg festzuhalten, diese Vorzüge gewannen ihm einen begeisterten, stetig wachsenden Hörerkreis. Mit pädagogischem Geschick wußte er die jungen, frischen Arbeitskräfte auf die ihnen am meisten zusagenden Gebiete zu lenken und bahnte so gleichzeitig eine möglichst umfassende Inangriffnahme der Musikgeschichte an. S. selbst hat den vollen Erfolg dieses seines Strebens nicht mehr erlebt; er hatte vielmehr unter manchem Angriff zu leiden, der eigentlich den Schwächen der noch jungen Disciplin hätte gelten müssen. Aber seinem mannhaften Eintreten ist es zu danken, wenn jetzt allerorten unter den Händen seiner Schüler und Freunde die Musikwissenschaft ruhig ihren Zielen nacharbeiten kann.

    • Literatur

      In der Kgl. Hochschule war S. die Seele der Verwaltung und ein wohlthuender Factor in ihrem musikalischen Betriebe. Alles lastete auf ihm und ging durch seinen Kopf; er vertrat die vielverzweigten Interessen der Anstalt nach oben und unten hin. Und er war ganz der Mann dazu: gewinnend in seinem Entgegenkommen, mit seinem klaren Ueberblick und seinem tiefen Einblick immer auch Herr jeder Situation, pflichttreu und arbeitsam.

      Als Forscher, als Lehrer, als Beamter hat S. nicht umsonst gelebt. Vor allem die Musikwissenschaft wird seines Namens nur in Dankbarkeit gedenken.

  • Autor/in

    Max Seiffert.
  • Zitierweise

    Seiffert, Max, "Spitta, Philipp" in: Allgemeine Deutsche Biographie 54 (1908), S. 415-418 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118890883.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA