Lebensdaten
1826 – 1890
Geburtsort
Münnerstadt (Unterfranken)
Sterbeort
Niederpöcking am Starnberger See
Beruf/Funktion
bayerischer Staatsmann
Konfession
katholisch?
Normdaten
GND: 118940139 | OGND | VIAF: 3245027
Namensvarianten
  • Lutz, Johann (bis 1866)
  • Lutz, Johann Freiherr von
  • Lutz, Johann (bis 1866)
  • mehr

Objekt/Werk(nachweise)

Verknüpfungen

Von der Person ausgehende Verknüpfungen

Personen im NDB Artikel

Verknüpfungen auf die Person andernorts

Verknüpfungen zu anderen Personen wurden aus den Registerangaben von NDB und ADB übernommen und durch computerlinguistische Analyse und Identifikation gewonnen. Soweit möglich wird auf Artikel verwiesen, andernfalls auf das Digitalisat.

Orte

Symbole auf der Karte
Marker Geburtsort Geburtsort
Marker Wirkungsort Wirkungsort
Marker Sterbeort Sterbeort
Marker Begräbnisort Begräbnisort

Auf der Karte werden im Anfangszustand bereits alle zu der Person lokalisierten Orte eingetragen und bei Überlagerung je nach Zoomstufe zusammengefaßt. Der Schatten des Symbols ist etwas stärker und es kann durch Klick aufgefaltet werden. Jeder Ort bietet bei Klick oder Mouseover einen Infokasten. Über den Ortsnamen kann eine Suche im Datenbestand ausgelöst werden.

Zitierweise

Lutz, Johann Freiherr von, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118940139.html [28.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Joseph L. (1801-79), Volksschul- u. Musiklehrer in M., dann in Würzburg, S d. Michael, Kleinbauer u. Leinenweber in Unterhohenried b. Hofheim, u. d. Lehrers-T Dorothea Wettering;
    M Magdalena (1809–62), T d. Landarztes Karl Schedel in Hammelburg u. d. Bauern-T Barbara Peter;
    1) Sommershausen 1852 Caroline (1828–65, ev.), T d. Rentbeamten Lorenz Reuß u. d. Rosina Bechert, 2) München 1867 Anna (1838–84, ev.), T d. Dr. med. Adolph v. Schmidt-Osting u. d. Amalie v. Habermann, 3) München 1887 Margareta verw. Riedinger (1845–1924, ev.), T d. Chirurgen Georg Fretzscher u. d. Magdalena Langenmayr;
    1 S, 1 T aus 1), 2 S aus 2).

  • Biographie

    L. besuchte das Humanistische Gymnasium der Augustiner in Münnerstadt, studierte 1843-48 Jura in Würzburg und absolvierte sein Rechtspraktikum beim Landgericht Gerolzhofen. 1850 legte er die große juristische Staatsprüfung als bester dieses Jahrgangs ab und war dann in einer Würzburger Anwaltskanzlei tätig. Seit 1854 Assessor beim Kreis- und Stadtgericht Nürnberg, 1 wurde er 1857 Protokollführer der Kommission zur Abfassung eines gemeinsamen deutschen Handelsgesetzbuches, 1858 erster Sekretär dieser Kommission zur Beratung des Seerechts in Hamburg. Im Zusammenhang mit dieser Arbeit mußte sich L. intensiv mit der Problematik der deutschen Frage auseinandersetzen. Als bayer. Konferenzmitglied erhielt er den Auftrag, das Einführungsgesetz und die Ausführungsverordnungen zum neuen deutschen Handelsgesetzbuch zu entwerfen. 1861 wurde L. juristischer Hilfsarbeiter, 1862 Assessor im Bayer. Justizministerium.

    1863 wurde L. von Maximilian II. zur Aushilfe als Sekretär in das Kabinettssekretariat berufen. Aufgabe von L. war es, zusammen mit dem Kabinettchef Franz v. Pfistermeister die Anträge der Staatsminister für den mündlichen Vortrag beim König vorzubereiten, da diese nicht zum unmittelbaren Vortrag vorgelassen waren, und dann den kgl. Bescheid schriftlich abzufassen. Dadurch erhielt L. frühzeitig Einblick in die Politik und die Leitung des Landes. Nach kurzer Unterbrechung dieser Tätigkeit und Zurückberufung in das Justizministerium wurde L. 1866 zum Ersten Kabinettsekretär ernannt. Nunmehr an der Spitze des kgl. Privatkabinetts, übte er wie kein anderer bayer. Politiker Einfluß auf wichtige Ereignisse der bayer. und deutschen Geschichte aus. Durch den Kriegsausgang und das Verhalten der beiden bayer. Bündnisgenossen Österreich und Frankreich sah L. seine „deutsche Politik“ mit dem Verlangen nach dem Eintritt der Südstaaten in den Norddeutschen Bund bestätigt. Als unmittelbarer Ratgeber des Königs nahm er nach der Entlassung Ludw. v. d. Pfordtens auf die Neubildung des Regierungskabinetts maßgeblich Einfluß. L. machte die erst 1863 gegründete Fortschrittspartei zur Stütze der künftigen Regierung und versuchte, die Stellung des Königs zu bewahren, indem er sich nachhaltig dagegen wehrte, ihn „zur bloßen Unterschreibmaschine in den Händen der verantwortlichen Minister“ werden zu lassen. Wenn die Bezeichnung „liberal“ in der Folgezeit in Bayern einen negativen Klang hatte, ging dies u. a. auf die Ereignisse um L. zurück.

    Nach der Ernennung Hohenlohes zum Außenminister und Vorsitzenden im bayer. Ministerrat (1866) übernahm L. 1867 als Nachfolger Bomhards das Staatsministerium der Justiz. Als Justizminister (bis 1871) wurde er zum Urheber einer Gesetzgebung, die|das einheitliche Kgr. Bayern erst geschaffen und zusammengeschmiedet hat. Daß die Leistungen des Justizministers hinter jenen des späteren Kultusministers zurücktraten, liegt u. a. daran, daß viele seiner Gesetze bereits kurze Zeit nach ihrem Inkrafttreten durch Gesetze des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches abgelöst worden sind. – 1869 erhielt L., zunächst nur kommissarisch, auch das bayer. Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten übertragen, das er dann bis zu seiner Pensionierung 1890 behielt. Seine Wirksamkeit in den nächsten zwanzig Jahren läßt sich in drei große Abschnitte gliedern: Reichsgründung und Reichspolitik, Kirchenpolitik und Kulturkampf, Thronwechsel in Bayern. Anders als Fürst Hohenlohe-Schillingsfürst war L. nie ein liberaler Parteipolitiker. Von umfassender Sachkenntnis und unermüdlichem Arbeitseifer, ausgezeichnet vor allem durch ein sicheres Gefühl für die Probleme seiner Zeit, erwies er sich stets als nüchterner, pragmatischer Staatsmann, fern jeglicher Ideologisierung; immer blieb er in höherem Maß Jurist als Politiker. Neben Bismarck wurde L. zum bedeutendsten Verfechter von Staatskirchentum und Reichstreue sowie zum Gegner von Parlamentsherrschaft. Obwohl er grundsätzlich dem nationalen Gedanken in Bayern zum Sieg verhelfen wollte, versuchte er mit allen Mitteln, die bayer. Sonderwünsche hinsichtlich der neuen Bundesverfassung durchzusetzen. Daß sich die Reichsgründung so reibungslos vollzog, ist auch ein Verdienst von L., den Bismarck bei den Verhandlungen in Versailles als „tête forte“ der bayer. Regierung bezeichnete. Umgekehrt schätzte L. Bismarck und nannte ihn später einmal sein Vorbild.

    Als sich in Bayern die kirchenpolitische Lage im Zusammenhang mit den Altkatholiken immer mehr zuspitzte, legte L. 1871 ein umfangreiches Gutachten über die sich an die Infallibilität (Unfehlbarkeit) des Papstes anschließenden staatsrechtlichen Fragen vor. Dabei sprach er sich für eine umfassende Revision des bayer. Staatskirchenrechts im Sinne einer Trennung von Staat und Kirche aus. Zusammen mit dem liberalen bayer. Politiker Joseph Volk brachte er im Bundesrat die Anregung zu dem sog. „Kanzelparagraphen“ (§ 130 a StGB) vor. L.s Sorge galt der Souveränität des Staates auf kulturellem Gebiet. Im Gegensatz zu anderen Politikern des Kulturkampfes griff er jedoch nie zu Gewaltmaßnahmen gegen den Klerus, sondern achtete die bestehenden Gesetze. Im Verhältnis zum Konkordat hatte bei ihm die bayer. Verfassung eindeutig Vorrang. Im Vollzug einer vom Bundesrat getroffenen Feststellung, mit der die Redemptoristen als „jesuitenverwandt“ erklärt worden waren, ordnete L. 1873 die Auflösung ihrer sämtlichen Niederlassungen in Bayern an und verbot ihnen jede seelsorgerische Tätigkeit. In der Schulpolitik setzte er sich für die Förderung der Volks-, Fortbildungs- und Mittelschulen sowie für die materielle Besserstellung der Lehrer ein. In der sog. „Schulsprengelverordnung“ 1873 wurde nicht mehr wie bislang üblich das Pfarramt, sondern der Gemeindeverband zugrundegelegt. Nach dem Ausscheiden v. Pfretzschners erhielt L. 1880 auch den Vorsitz im bayer. Ministerrat. Nachdem in einem von vier Nervenärzten erstellten Gutachten Ludwig II 1886 für unheilbar geisteskrank und lebenslang regierungsunfähig erklärt worden war, beschloß der Ministerrat unter dem Vorsitz L.s die Übernahme der Regentschaft durch Ludwigs Onkel Luitpold. Das Sachverständigengutachten wurde nach dem Tod des Königs (13.6.1886) durch den Sektionsbefund bestätigt. An der Art des Vorgehens des Ministerrats ist allerdings – nicht zuletzt wegen der tragischen, bis heute nicht restlos geklärten Begleitumstände, die zum Tod Ludwigs II. führten – heftige Kritik geübt worden. L. konnte seine Tätigkeit unter Luitpold unverändert fortsetzen. 1886 wurde er zum lebenslänglichen Mitglied der Kammer der Reichsräte ernannt. 1889 verteidigte er zum letzten Mal in einer großen kirchenpolitischen Debatte vor der Kammer der Abgeordneten den von ihm seit Jahrzehnten konsequent vertretenen staatskirchlichen Standpunkt. 1890 mußte er aus gesundheitlichen Gründen um seine Dienstenthebung bitten.

    Die von L. verfolgte kirchenpolitische Linie wurde auch von seinen Nachfolgern grundsätzlich beibehalten und nur hinsichtlich der Art und Weise der Durchführung modifiziert. Bis die staatsmännischen Leistungen L.s und seine große Bedeutung für Krone und Dynastie, für Bayern und Reich objektiv gewürdigt wurden, vergingen Jahrzehnte. Neben Montgelas war es vor allem L., der das Gesicht des neuen Bayern entscheidend geprägt hat.

  • Werke

    Entwurf e. HGB f. d. preuß. Staaten, 1858;
    Protokolle d. Komm. z. Beratung e. allg. dt. Handelsgesetzbuches, 8 Bde., 1858-87;
    Slg. d. Einführungsgesetze sämtl. dt. Staaten z. allg. dt. Handelsgesetzbuch, 1863/70;
    Kommentar d. allg. dt. Handelsgesetzbuches z. Einführung dieses Gesetzes in Bayern, 1872;
    Gutachten d. Infallibilität des Papstes betr., 1878;
    Flugschriften (1871).

  • Literatur

    ADB 55;
    A. E. Brachvogel, Die Männer d. neuen dt. Zeit III, 1874, S. 331 ff. (P);
    A. Eisenhart, J.ber. d. hist. Ver. v. Oberbayern 52/53, 1889/90, S. 137-41;
    W. Rummel, Der König u. s. Kab.chef, ²1930 (P);
    H. W. Schmidt, Justizmin. Dr. J. Frhr. v. L., 1931;
    F. v. Rummel, Ministerium L. u. seine Gegner, 1935 (P);
    W. Grasser, Pol. Biogr. v. J. Frhr. v. L., 1967 (P).

  • Porträts

    Pastellbild, um 1854 (in Fam.bes.), Abb. b. Grasser, s. L;
    Phot., um 1880, Abb. ebd.

  • Autor/in

    Walter Grasser
  • Zitierweise

    Grasser, Werner, "Lutz, Johann Freiherr von" in: Neue Deutsche Biographie 15 (1987), S. 568-570 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118940139.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Lutz *)Zu Bd. LII, S. 137.: Johann Freiherr von L., bairischer Staatsminister, geboren am 4. December 1826 als Sohn eines Volksschullehrers zu Münnerstadt in Unterfranken, am 3. September 1890 zu Oberpöcking am Starnberger See. Nach einer theilweise harten Jugend und dem Besuch des von Geistlichen mitgeleiteten Gymnasiums in seiner Vaterstadt bezog er 1843 als Student der Rechte die Universität Würzburg, die er im Herbst 1848 wieder verließ, um an dem Landgerichte Gerolzhofen zu prakticiren. Nach Ablegung des Staatsconcurses, wobei er unter sämmtlichen Candidaten des Königreichs der erste wurde (1851), und mehrjähriger Verwendung in dem Bureau eines Advocaten erhielt er seine erste Anstellung am 5. November 1854 als Assessor bei dem kgl. Kreis- und Stadtgerichte Nürnberg, wo er auch als Bezirksgerichtsrath verblieb. Von seinem Gerichtsvorstand Dr. v. Seuffert wurde er im J. 1857 der in Nürnberg tagenden Commission zur Abfassung eines gemeinsamen deutschen Handelsgesetzbuches als Protokollführer vorgeschlagen; in dieser Eigenschaft veröffentlichte er 1858 die sehr umfangreichen Sitzungsprotokolle, und im gleichen Jahre siedelte er, als die von allen deutschen Staaten besuchte Conferenz zum Studium des Seerechts sich nach Hamburg begab, ebendahin über, bis zu ihrer Auflösung im Herbst 1860. Diese Thätigkeit lenkte zuerst den Blick des jungen Beamten auf die nationale Idee und auf internationale Fragen; zugleich gewann er durch seine umfassenden Kenntnisse und sein klares juristisches Urtheil in der deutschen Juristenwelt einen ehrenvollen Namen. In der Heimath bereitete er als Hülfsarbeiter im Justizministerium und Ministerialassessor in Gemeinschaft mit Dr. v. Seuffert das Einführungsgesetz des neuen Handelsgesetzbuches vor, zu dem er auch einen Commentar verfaßte; außerdem veröffentlichte er in den Jahren 1863—70 eine Sammlung der Einführungsgesetze sämmtlicher deutscher Staaten zum Allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuch. Am 1. Januar 1863 wurde er von König Max II. in das Cabinet berufen, bis er unter Ludwig II. im December 1866 zum Cabinetssecretär ernannt wurde. In dieser wichtigen Stellung lenkte er die Aufmerksamkeit des Fürsten Hohenlohe auf sich, der ihn nach dem Rücktritt Bomhardt's vom 1. October 1867 an an die Spitze des Justizministeriums brachte. Schon früher hatte ihn Minister Koch als Cultusminister in Aussicht genommen am 20. December 1867 nach dem Abgang des Herrn v. Gresser übertrug ihm Ludwig II. auch das Portefeuille des Inneren für Kirchen- und Schulangelegenheiten, das er bis zu seiner Pensionirung beibehielt. Das Justizministerium trat L. schon am 21. August 1871 an Fäustle ab; die Arbeiten, die er in diesem Ressort zu leisten hatte, bezweckten hauptsächlich die Reform des Civilprocesses in Baiern, wurden aber schon nach wenigen Jahren durch die deutsche Civilproceßordnung wieder beseitigt. Seit der Entlassung Hohenlohe's übte L. einen stets steigenden Einfluß auf die gesammte Staatsregierung — Bismarck bezeichnete ihn schon 1870 als die tête forte im Ministerium — bis er nach dem Abgange v. Pfretzschner's am 5. März 1880 zugleich den Vorsitz im Ministerrathe erhielt. 23 Jahre hindurch hat er unter den schwierigsten Verhältnissen zum Segen für das Land und die Krone als einer der bedeutendsten bairischen Staatsmänner des 19. Jahrhunderts die Stellung eines Ministers bekleidet.

    Dem Programm Hohenlohe's zugethan, war L. von der Unmöglichkeit der Fortsetzung einer großdeutschen Politik nach 1866 und von der Unhaltbarkeit der durch den Frieden geschaffenen Zustände überzeugt; aber als Baier wünschte er bei der Verwirklichung des kleinen Deutschlands die Schonung der berechtigten Eigenthümlichkeiten seines Vaterlandes. In diesem Sinne nahm er im Herbst 1870 an den Münchener Besprechungen mit Delbrück Theil, und am 20. October begab er sich mit den Ministern Graf Bray und v. Pranckh zu weiteren Verhandlungen mit Bismarck nach Versailles. Der Versailler Vertrag vom 23. November 1870, den er nachher auch in der Kammer der Abgeordneten in glänzender Rede am 14. December vertheidigt hat, ist in wesentlichen Theilen sein eigenstes Werk, in dem er die Grenze zu ziehen verstand zwischen dem, was Baiern vermöge seiner Machtstellung nicht aufgeben, und dem, was das Reich als solches nicht entbehren konnte. Auch in der Folge ließ L. an der Reichstreue der bairischen Regierung niemals Zweifel aufkommen, wenn er darunter auch keineswegs die bedingungslose Bejahung aller vorkommenden Fragen verstand. Da auch Bismarck auf die Verhältnisse des zweitgrößten Bundesstaates stetig Rücksicht nahm, gelang es L., durch die erreichten Vortheile die Gunst seines Königs in immer höherem Maße zu gewinnen und die Einflüsse einer ausgesprochen reichsfeindlichen Richtung auf Ludwig II. zu paralysiren.

    Als Cultusminister hatte L. nach der Annahme des Syllabus und des Dogmas von der päpstlichen Unfehlbarkeit durch das vaticanische Concil am 9. August 1870 den römischen Neuerungen das placetum regium versagt; aber eine offene Kriegserklärung an die ultramontane Partei war erst seine Beantwortung der Interpellation Herz am 14. October 1871. In der Besorgniß, „daß die Regierung sich doch vielleicht zuletzt der ultramontanen Partei gegenüber nicht werde halten können“, hatte er schon vorher Bismarck seinen Wunsch zu erkennen gegeben, „daß die kirchlichen Fragen auch im Reichstage zur Sprache kommen und daß in diesem Falle das bairische Gouvernement durch die Stellung der Reichsregierung in seinem jetzigen Kampfe gegen die ultramontane Partei gekräftigt und gestützt werden wird“. Als Bismarck als den geeigneten Ort zur Erörterung dieser Frage den Bundesrath erklärte, gab L. die Anregung zu dem sogenannten Kanzelparagraphen (§ 13 a des deutschen Strafproceßgesetzes), wonach mit Gefängniß oder Festungshaft bis zu zwei Jahren die Geistlichen bestraft wurden, die in Ausübung ihres Berufes an geweihter Stätte Angelegenheiten des Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstande einer Erörterung machten. Als Vertreter des Bundesraths hat L. selbst diese „lex Lutziana“|in einer seiner bedeutendsten Reden vor dem Reichstag mit Erfolg begründet. Trotz des Hinweises auf ähnliche Strafbestimmungen in den Gesetzen anderer Länder wird man heute die Zweckmäßigkeit dieses Paragraphen in Zweifel ziehen dürfen. Aber der Grundgedanke von L., der Kirche nicht durch Verwaltungsmaßregeln und polizeiliche Institutionen auf den Leib zu rücken, sondern den Priester als Staatsbürger einer Disciplin zu unterwerfen, die ihm die Ausdehnung seiner Gewalt über den Glauben hinaus auf das Gebiet der weltlichen Obrigkeit unmöglich machte, war durchaus richtig, und nur durch die Umsicht seines Cultusministers blieben Baiern die Formen erspart, die der Culturkampf in Preußen annahm. Persönlich kein Feind der Kirche und mit ihren hervorragendsten Dienern in vertrautem Verkehr, suchte L. allen billigen Forderungen der katholischen Kirche jederzeit gerecht zu werden. Mit bewundernswerther Elasticität und einer unermüdlichen, schlagfertigen Beredsamkeit ausgestattet, wußte er mit außerordentlicher Geistesschärfe und einer seltenen Kunst, auch die verwickeltsten Materien in allgemein faßlicher Form zu erörtern, den einmal eingenommenen Standpunkt auch vor dem Parlament wirksam zu vertreten. Nur selten verstieg sich der im Grunde seines Herzens durchaus wohlwollende, im persönlichen Verkehr äußerst liebenswürdige Mann unter dem wüthenden Ansturm seiner politischen Gegner, die ihn in immer neuen Anläufen (1872, 1874, 1875 u. s. w.) zu stürzen suchten, zu schärferen Redewendungen, die an Bismarck's Diction erinnern. Bei allen seinen Handlungen hielt er sich stets in der Defensive, und niemals trieb er ein Princip auf die Spitze. Die Bischöfe, die sich dem placet nicht unterwarfen, blieben straffrei, weil im bairischen Staatsrecht kein Mittel angegeben war, sie zur Verantwortung zu ziehen. L. hielt es für wirksamer, bei den zahlreichen Vacanzen friedliebende Priester in den Episcopat zu bringen. Die Verordnung vom 29. August 1873 über die Errichtung von Volksschulen und die Bildung der Schulsprengel wurde zehn Jahre später, am 26. August 1883, sehr wesentlich im Sinne der Confessionsschulen verändert. Auch den Altkatholiken gegenüber hat die Regierung ihren von Anfang an vertretenen Standpunkt, der übrigens von einer besonders eingesetzten Rechtscommission getheilt wurde, später modificirt. Vereinzelte Mißgriffe, die vorkamen, beruhten niemals auf dem Mangel an Objectivität. Die Charakterfestigkeit des Ministers zwang auch dem politischen Gegner Achtung ab, und Papst Leo XIII. stellte ihm in einem öffentlichen Schreiben das Zeugniß eines „vir produs et sapiens“ aus. Die Universitäten und die Volksschulen hatten L. vieles zu danken; auf einzelnen Gebieten, z. B. in der Kunst, hätte sich wohl mit größeren Hülfsmitteln und in ruhigeren Zeiten mehr erreichen lassen; aber die Regierung konnte bei ihrer Stellung zur Kammer nur das Erreichbare erstreben.

    Im ganzen verdankte L. seine Erfolge der eigenen staatsmännischen Begabung und dem unbedingten Vertrauen seines Königs, der alle wichtigeren Schritte seines ersten Rathgebers mit immer neuen Beweisen seiner Huld, durch Handschreiben, Ordensverleihungen u. s. w. begleitete. Aber auch das Härteste blieb L. nicht erspart, daß er selbst gegen den Fürsten vorgehen mußte, der ihm den erblichen Freiherrnstand des Königreichs und den Hubertusorden verliehen hatte. Allein auch in dieser schwersten Krise, die dem bairischen Staat in neuerer Zeit beschieden war, verließ den erprobten Staatsmann die Besonnenheit nicht. So vollzog sich die Einsetzung der Regentschaft in vollkommen gesetzlicher Weise, und der Tadel, der nach der Katastrophe von Berg vereinzelt laut geworden war, verstummte, als L. den Kammern das Material zur Kenntnißnahme der einzelnen Vorgänge vorlegte. Prinz|Luitpolb nahm die erbetene Entlassung des Gesammtministeriums nicht an, und L. setzte auch unter der Regentschaft den Forderungen seiner politischen Gegner ein unerschütterliches non possumus entgegen, bis zunehmende Krankheit ihn zwang, um seinen Abschied einzukommen. Derselbe wurde ihm am 31. Mai 1890 in der ehrenvollsten Form ertheilt; aber er sollte der Ruhe nicht lange sich freuen. Am 3. September 1890 erlöste ihn der Tod von qualvollen Leiden.

    Nach seiner äußeren Erscheinung war L. von mittelgroßer, gedrungener Gestalt; sein scharfgeschnittenes, geistvolles Gesicht überragte eine hohe, breite Stirne; hinter der Brille bargen sich lebhaft blickende Augen. Ein schwarzer Schnurrbart umrahmte den Mund; das dunkle Haupthaar war frühzeitig von der Stirne zum Scheitel zurückgewichen. Vermählt war er drei Mal; während seine dritte Ehe mit der Wittwe des Finanzraths Riedinger kinderlos blieb, erhielt er von seiner ersten Gemahlin, Caroline Reuß, eine Tochter und einen Sohn, aus zweiter Ehe mit A. v. Schmidt-Osting zwei Söhne.

    • Literatur

      Kammerverhandlungen und Zeitungen. — Rittler, Triumph eines modernen Staatsmannes. Jubiläumsgabe auf den Tisch S. E. des Herrn Staatsministers Dr. v. Lutz. München 1880. —
      Minister Freiherr v. Lutz vor dem Richterstuhle Gottes. Traum des Milchmannes Simon Placet. Erzählt von ihm selbst. München o. J. —
      Brachvogel, Die Männer der neuen deutschen Zeit III, S. 333—390. —
      v. Eisenhart im 52. und 53. Jahresbericht des histor. Vereins von Oberbayern, S. 137—141. — v. Poschinger, Fürst Bismarck und der Bundesrath I, S. 137—140.

  • Autor/in

    Th. Bitterauf.
  • Zitierweise

    Bitterauf, Theodor, "Lutz, Johann Freiherr von" in: Allgemeine Deutsche Biographie 55 (1910), S. 555-558 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118940139.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA