Hilberg, Raul

Lebensdaten
1926 – 2007
Geburtsort
Wien
Sterbeort
Williston (Vermont, USA)
Beruf/Funktion
Politikwissenschaftler ; Holocausthistoriker
Konfession
jüdisch,später konfessionslos
Normdaten
GND: 119179733 | OGND | VIAF: 36943660
Namensvarianten

  • Hilberg, Raul
  • Chilmpernk, Raul
  • הילברג, ראול

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Zitierweise

Hilberg, Raul, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd119179733.html [27.07.2025].

CC0

  • Hilberg, Raul

    1926 – 2007

    Politikwissenschaftler, Holocausthistoriker

    Raul Hilberg war der erste Wissenschaftler, der dem Gesamtgeschehen des nationalsozialistischen Judenmords eine systematische und zugleich analytische Darstellung widmete. Sein Werk „The Destruction of the European Jews“ (1961) gilt als Meilenstein der Holocaustforschung und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Hilberg wurde in den 1980er Jahren zu einem weltweit gefragten Experten für das Thema.

    Lebensdaten

    Geboren am 2. Juni 1926 in Wien
    Gestorben am 4. August 2007 in Williston (Vermont, USA)
    Grabstätte Scottsville Cemetery in Danby (Vermont, USA)
    Konfession jüdisch; später konfessionslos
    Raul Hilberg, Imago Images (InC)
    Raul Hilberg, Imago Images (InC)
  • 2. Juni 1926 - Wien

    1935 - 1939 - Wien

    Schulbesuch

    Chajes Gymnasium

    April 1939 - September 1939 - USA

    Flucht über Frankreich und Kuba

    1939 - 1942 - New York City

    Schulbesuch (High School Abschluss)

    Abraham Lincoln High School

    1942 - 1944 - New York City

    Studium der Chemie (ohne Abschluss)

    Brooklyn College

    1944 - 1946 - Spartanburg (South Carolina, USA); Europa

    Militärausbildung; Militärdienst

    U.S. Army

    1944

    US-amerikanischer Staatsbürger

    1946 - 1948 - New York City

    Studium der Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft (Abschluss: B. A.)

    Brooklyn College

    1948 - 1950 - New York City

    Studium des Öffentlichen Rechts und der Staatskunde (Abschluss: M. A.)

    Columbia University

    1950 - 1955 - New York City

    Studium der Politikwissenschaft

    Columbia University

    1951 - 1952 - Alexandria (Virginia, USA)

    Mitarbeiter im War Documentation Project

    Federal Records Center

    1954 - New York City

    Lehrkraft (Lecturer)

    Hunter College

    1954 - 1955 - Mayaguez (Puerto Rico)

    Lehrkraft

    University of Puerto Rico

    1955 - New York City

    Promotion (Ph. D.)

    Columbia University

    1956 - 1991 - Burlington (Vermont, USA)

    Professor für Politikwissenschaft

    University of Vermont

    4. August 2007 - Williston (Vermont, USA)

    Hilberg erlebte im Mai 1938 den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Wien. Während des Novemberpogroms wurde sein Vater verhaftet und die Familie gezwungen, ihre Wohnung zu verlassen. Im Frühjahr 1939 flüchtete Hilberg mit seinen Eltern nach Frankreich, um über Kuba zu Verwandten nach New York City überzusetzen. Am 1. September 1939 gelangte er zunächst allein in die USA, wo er die Abraham Lincoln High School in New York City besuchte.

    Nach dem Schulabschluss 1942 und der Aufnahme eines Studiums der Chemie am Brooklyn College in New York City trat Hilberg im Alter von 18 Jahren 1944 in die US-Armee ein und wurde so US-amerikanischer Staatsbürger. Am Ende des Zweiten Weltkriegs für wenige Monate als Soldat an der europäischen Kriegsfront eingesetzt, vernahm er v. a. deutsche Kriegsgefangene.

    Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Hilberg in die USA zurück und studierte Geschichts- und Politikwissenschaft am Brooklyn College und an der Columbia University, u. a. bei den deutschen Exilanten Hans Rosenberg (1904–1988) und Franz Neumann (1900–1954), dessen Studie „Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism“ (1942) ihn stark beeinflusste und eine Wurzel für Hilbergs lebenslange Beschäftigung mit dem bürokratischen Aspekt der Judenvernichtung bildete. Seine 1950 bei Neumann fertiggestellte Masterarbeit „The Role of the German Civil Service in the Destruction of the Jews“ beruhte im Wesentlichen auf der in der Bibliothek der Columbia University zugänglichen Aktenedition der Nürnberger Prozesse.

    Auf Vermittlung Neumanns erhielt Hilberg Anfang der 1950er Jahre eine Anstellung im War Documentation Project, das mit der Sichtung und Auswertung beschlagnahmter deutscher Akten beschäftigt war, sodass seine Forschungen sich auf die Quellen der Täter zu konzentrieren begannen. 1955 wurde er mit der Arbeit „Prologue to Annihilation. A Study of the Identification, Impoverishment, and Isolation of the Jewish Victims of Nazi Policy” bei William T. R. Fox (1912–1988) und Salo W. Baron (1895–1989) an der Columbia University zum Ph. D. promoviert. Die Dissertation erschien 1961 in erheblich erweiterter Fassung u. d. T. „The Destruction of the European Jews“ und wurde zu einem Meilenstein der Holocaustforschung. Hilberg betonte darin die Involvierung der gesamten deutschen Gesellschaft in das Verfolgungs- und Mordgeschehen und hob den Prozesscharakter des Holocaust hervor, in dem die Stufen Definition, Konzentration und Vernichtung aufeinander gefolgt seien. Jahrzehnte bevor die deutsche Öffentlichkeit erregt darüber diskutierte, wies Hilberg nach, wie Wehrmacht und Auswärtiges Amt aktiv an dem Vernichtungsprozess mitwirkten, dessen Opferzahl er auf 5,1 Millionen schätzte. Hannah Arendt (1906–1975) rezipierte sein Hauptwerk für ihren Bericht über den Prozess gegen Adolf Eichmann (1906–1962) und übernahm einige von Hilbergs in der Folge viel diskutierten Thesen, etwa zum nicht-wirksamen jüdischen Widerstand und zur ambivalenten Rolle der Judenräte im Vernichtungsprozess.

    Nach kurzen Lehrstationen am Hunter College in New York City und an der University of Puerto Rico übernahm Hilberg 1956 eine Professur für Politikwissenschaft an der University of Vermont in Burlington, wo er Lehrveranstaltungen zur US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik sowie seit Mitte der 1970er Jahre auch zum Holocaust abhielt.

    Für die Erforschung des Holocausts sichtete Hilberg laufend neue, bis dato unbekannte Quellen und arbeitete so Holocaust-Leugnern entgegen. Seit den 1980er Jahren war er ein in den USA, dann auch in der Bundesrepublik medial gefragter Experte, der etwa in Claude Lanzmanns (1925–2018) Dokumentarfilm „Shoah“ (1985) ausführlich zu Wort kam. Zudem trat er als Fachmann in Gerichtsprozessen in den USA und Kanada auf. In seinen späteren Veröffentlichungen beschäftigte er sich u. a. mit der Rolle der Deutschen Reichsbahn bei den europaweiten Deportationen in die Vernichtungslager. Mit seinem gleichnamigen Buch „Perpetrators – Victims – Bystanders“ (1992) etablierte er eine bis heute für die Forschung relevante, gleichwohl umstrittene Trias der Akteure des Holocaust.

    1961 reiste Hilberg erstmals nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder nach Europa, u. a. in die Bundesrepublik und nach Österreich. 1968 und 1976 kam er für Archivrecherchen erneut in die Bundesrepublik. 1984 nahm er auf Einladung von Eberhard Jäckel (1929–2017) an der ersten deutschen wissenschaftlichen Holocaust-Konferenz in Stuttgart teil. 1992 hielt Hilberg seinen ersten Vortrag in Österreich. Er gehörte den Gründungsbeiräten des späteren Fritz-Bauer-Instituts und des Wiener Wiesenthal Instituts an. Eine Berufung in die Historikerkommission der Republik Österreich lehnte er – trotz einer persönlichen Intervention des österreichischen Bundeskanzlers Viktor Klima (geb. 1947) – 1998 jedoch ab.

    Hilberg gehörte mit Léon Poliakov (1910–1997) und Gerald Reitlinger (1900–1978), die beide einige Jahre vor ihm Gesamtdarstellungen des Verfolgungs- und Mordgeschehens vorgelegt hatten, und mit Wissenschaftlern wie Joseph Wulf (1912–1974) und H. G. Adler (1910–1988) zur ersten Generation der Holocaustforscher. Christopher R. Browning (geb. 1944), der von Hilberg entscheidend bei seinen Arbeiten zur Rolle des Auswärtigen Amts und der Polizei im Holocaust angeregt wurde, bezeichnete ihn als einen der „Gründungsväter“ der wissenschaftlichen Disziplin der Holocaustforschung. Zu Hilbergs Kritikern gehörte neben Israel Gutmann (1923–2013) und Nathan Eck (1896–1982) Arno Lustiger (1924–2012), der ihm eine völlige Fehleinschätzung des jüdischen Widerstands vorwarf. Hilbergs Forschungen prägten Götz Aly (geb. 1947) und Peter Hayes (geb. 1946). Eigene Doktoranden hatte Hilberg nicht, da seine Fakultät kein Promotionsrecht besaß. Die University of Vermont richtete nach Hilbergs Eintritt in den Ruhestand 1991 ein Department für Holocauststudien und nach seinem Tod 2007 eine nach ihm benannte Professur ein. Eine 2008 vorgeschlagene Benennung einer Straße in Wien mit seinem Namen kam bis heute nicht zustande.

    1955 Clarke F. Ansley Dissertation Award der Columbia University, New York City
    1978/79 Mitglied der President’s Commission on the Holocaust
    1980–1988 Mitglied im United States Holocaust Memorial Council
    1997 Dr. h. c., Universität Wien
    2001 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (2006 mit Stern)
    2002 Geschwister Scholl Preis des Landesverbands Bayern e. V. im Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Stadt München
    2007 Raul-Hilberg-Professur, University of Vermont, Burlington (Vermont, USA)

    Nachlass:

    Special Collections der University of Vermont, Burlington (Vermont, USA). (weiterführende Informationen)

    The Destruction of the European Jews, 3 Bde., 1961, ³2003, dt. Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, 1982, franz. 1988, ital. 1995, span. 2005, niederl. 2008, hebr. 2012, poln. 2014, portugies. 2016.

    Documents of Destruction. Germany and Jewry 1933–1945, 1971. (Hg.)

    Sonderzüge nach Auschwitz, 1981, Neuausg. 1987.

    Perpetrators – Victims – Bystanders. The Jewish Catastrophe 1933–1945, 1992, dt. Täter – Opfer – Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945, 1992, franz. 1994, ital. 1994.

    Politics of Memory, 1996, dt. Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers, 1994, franz. 1996.

    Sources of Holocaust Research. An Analysis, 2001, franz. 2001, dt. Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren, 2002.

    Anatomie des Holocaust. Essays und Erinnerungen, hg. v. Walter H. Pehle/René Schlott, 2016, engl. 2020.

    Harald Welzer (Hg.), Auf den Trümmern der Geschichte. Gespräche mit Raul Hilberg, Hans Mommsen und Zygmunt Bauman, 1999.

    Olof Bortz, „I wanted to know how this deed was done”. Raul Hilberg, the Holocaust and History, 2017.

    René Schlott (Hg.), Raul Hilberg und die Holocaust-Historiographie, 2019.

    Evelyn Adunka, 1926 Wien. Raul Hilberg, in: dies., Meine jüdischen Autobiographien, 2021, S. 466–470.

    Festschriften:

    James S. Pacy/Alan P. Wertheimer (Hg.), Perspectives on the Holocaust. Essays in Honour of Raul Hilberg, 1995.

    Wolfgang Mieder (Hg.), Reflections on the Holocaust. Festschrift für Raul Hilberg on his Seventy-fifth Birthday, 2001.

    Nachrufe:

    Sven-Felix Kellerhoff, Ein Leben für die Holocaust-Forschung, in: Die Welt v. 6.8.2007. (P) (Onlineressource)

    Walther H. Pehle, Zuständig für das Wie, nicht das Warum. Zum Tod des unbeirrbaren Pioniers und Holocaustforschers Raul Hilberg, in: Tagesspiegel v. 6.8.2007. (P) (Onlineressource)

    Klaus Taschwer, Raul Hilberg 1926–2007, in: Der Standard v. 7.8.2007. (P) (Onlineressource)

    Gustav Seibt, Holocaust-Forscher Hilberg ist tot. „Töten ist nicht mehr so schwer wie früher“, in: Süddeutsche Zeitung v. 7.8.2007. (Onlineressource)

    Ulrich Herbert, Der Akten-Forscher, in: taz. die tageszeitung, 8.8.2007. (P) (Onlineressource)

    Volker Ullrich, Unerbetener Erinnerer. Zum Tode von Raul Hilberg, dem Pionier der Holocaust-Forschung, in: Die Zeit v. 9.8.2007. (Onlineressource)

    Rudolf Walther, Zum Tod des großen Holocaust-Forschers Raul Hilberg (1926–2007), in: Der Freitag v. 10.8.2007. (Onlineressource)

    Christopher Browning, Raul Hilberg, in: Yad Vashem Studies 35 (2007), H. 2, S. 7–20, Zitat auf S. 7.

  • Autor/in

    René Schlott (Eichwalde, Brandenburg)

  • Zitierweise

    Schlott, René, „Hilberg, Raul“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.07.2025, URL: https://www.deutsche-biographie.de/119179733.html#dbocontent

    CC-BY-NC-SA