Lebensdaten
1802 – 1880
Geburtsort
Bergen (Rügen)
Sterbeort
Brighton (England)
Beruf/Funktion
Philosoph ; Politiker ; Publizist
Konfession
evangelisch
Normdaten
GND: 118604023 | OGND | VIAF: 44378839
Namensvarianten
  • Dr., Adolph
  • Karlstein, M.
  • Stein, Agnes W.
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Orte

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Zitierweise

Ruge, Arnold, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118604023.html [28.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    Aus bäuerl. Fam., V Christoph Arnold (1772–1834), pachtete 1803 d. Kirchengut Bisdamitz (Rügen), Gutsverw.;
    M Catharina Sophia Wilken;
    B Ludwig (1812–97), Med.rat in Berlin;
    1) 1832 Louise Düffer ( 1833), 2) 1834 Agnes Wilhelmine (1814–99), T d. Gustav Nietzsche;
    S aus 1) Richard (1835–1905), 1 S aus 2) Arnold (1843–1912), 2 T aus 2) Hedwig (1837–1910), Francisca Fargus (1849–1939) in Brighton, übernahm R.s Nachlaß;
    E Agnes Panaroni (1848–1980), in d. USA, erhielt e. Teil v. R.s Nachlaß;
    Ur-E Arnold (1908–96), Fam.chronist, übernahm Teile v. R.s Nachlaß, d. heute im Internat. Inst. f. Soz.gesch., Amsterdam, verwahrt werden, Wolfgang (* 1917), Historiker in d. DDR, emigrierte in d. UdSSR, Vf. v. Erinnerungen „Berlin – Moskau – Sosswa. Stationen einer Emigration“ (s. M. Keller, Exilerfahrung in Wiss. u. Pol., Remigrierte Historiker in d. frühen DDR, 2001; Die Zeit v. 25.9.2003; FAZ v. 7.10.2003);
    Urur-E Nina (* 1956), Fernsehmoderatorin (s. Wi. 1997).

  • Biographie

    Nach dem Abitur in Stralsund studierte R. 1821 in Halle, 1822/23 in Jena und Heidelberg Philosophie und Philologie. Als Burschenschaftler und Anhänger des „Jünglingsbundes“ wurde er nach der Teilnahme an einer geheimen Delegiertenversammlung des Bundes 1822, die eine einheitliche dt. Republik befürwortete, und wegen Teilnahme am Burschentag in Würzburg 1824, Anfang 1824 in Heidelberg verhaftet und von einer Sonderkommission des Berliner Kriminalgerichts wegen Zugehörigkeit zu einer verbotenen geheimen Verbindung verurteilt. Nach einjähriger Untersuchungshaft in Köpenick setzte das Oberlandesgericht in Breslau 1826 eine 15jährige Festungsstrafe fest, die er bis zur kgl. Begnadigung Anfang 1830 auf der Festung Kolberg verbüßte.

    Nach seiner Entlassung habilitierte sich R. 1831 an der Univ. Halle mit der Arbeit „Die Platonische Ästhetik“ (gedr. 1832) und war 1832-36 als Lehrer und Privatdozent tätig. Daneben trat er mit anonymen Artikeln in den „Blättern für literarische Unterhaltung“ für Pressefreiheit, Volkssouveränität und eine Konstitution ein und wurde nach intensivem Studium der Schriften Hegels zum organisierenden Mittelpunkt der Junghegelianer. Seine publizistischen Arbeiten umfaßten verschiedene Themen, wie z. B. Protestantismus und Romantik (Der Protestantismus u. d. Romantik, 1842, mit Th. Echtermeyer), Betrachtungen zur Rolle der Gewalt, über Volksmassen in der Geschichte, zum Problem des sich entwickelnden modernen Parteienbegriffs, zum Verhältnis von Theorie und Praxis sowie Philosophie und Politik.

    Zusammen mit Theodor Echtermeyer (1805–44) gab R. seit Jan. 1838 die „Hallischen Jahrbücher für dt. Wissenschaft und Kunst“ als eines der bedeutendsten Organe des dt. Vormärz heraus, an dem u. a. David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach und die Brüder Grimm mitwirkten. Als er die in Leipzig gedruckte Zeitschrift im Frühjahr 1841 unter preuß. Zensur stellen sollte, verlegte er die Redaktion nach Dresden und änderte den Titel in „Dt. Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst“. Seit Frühjahr 1842 auch dort zunehmend durch Zensur beeinträchtigt, ließ er sie in der Schweiz drucken (Anecdota z. neuesten dt. Philos. u. Publizistik, 2 Bde., 1843). Nach dem Verbot des Blatts durch die sächs. Zensur 1843 ging R. nach Paris, wo er sich intensiv mit dem franz. Sozialismus auseinandersetzte, am „Vorwärts“ mitarbeitete und mit Karl Marx (1818–83) die „Dt.-Franz. Jahrbücher“ (1844) herausgab. Ende 1844 kam es zum Bruch mit Marx, da sich R. nicht zu einer kommunistischen Position bekennen konnte, sondern für eine bürgerlich-demokratische Republik eintrat (Zwei Jahre in Paris, 2 Bde., 1846).

    Unter Einfluß von Ludwig Feuerbach (1804–72) vollzog R. einen Wandel seines Denkens in Richtung eines neuen Idealismus und Humanismus als Religion. Seit Spätsommer 1846 in Zürich, arbeitete er eng mit Julius Fröbel (1805–93) zusammen und begann mit der Edition seiner Werke (Sämtl. Werke, 10 Bde., 1847/48). 1847 übersiedelte er nach Leipzig, wo er sich als Buchhändler betätigte. Begeistert begrüßte er 1848 die franz. Februarrevolution und engagierte sich für die Einleitung einer revolutionären Entwicklung in Deutschland. 1848 gründete R. mit der Zeitschrift „Die Reform“ das maßgebliche Organ der dt. Demokratie. In Frankfurt schloß er sich der „äußersten Linken“ an und wurde mit Unterstützung der Breslauer Demokraten in die Paulskirche gewählt, wo seine Fraktion allerdings nur eine Nebenrolle spielte. Am 29.7.1848 stellte er die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung für die Polen und die Italiener auf. In Frankfurt enttäuscht, setzte R. seine politischen Hoffnungen nun ganz auf die Entwicklung in Berlin. Als Mitglied des demokratischen Vereins entwickelte er dort radikal demokratische Vorstellungen und war an der Abfassung des Wahlmanifests der radikal-demokratischen Reformpartei für Deutschland maßgeblich beteiligt. Das Erstarken der konservativen Kräfte brachte jedoch nicht nur das Verbot seiner Zeitschrift „Die Reform“, sondern auch seine Ausweisung aus Preußen. Zurück in Leipzig, war er bemüht, erneut Fuß zu fassen und den Dresdener Aufstand vom Mai 1849 zu unterstützen. Nach dessen Niederschlagung entzog er sich durch Flucht über Brüssel und Ostende nach Brighton der drohenden Verhaftung.

    In den ersten Jahren nach der Revolution wurde R. noch einmal im „Europ. Demokratischen Komitee“ in London – neben Mazzini, Rollin, Kossuth u. a. – politisch aktiv; er bemühte sich um eine Zusammenarbeit der bürgerlich-demokratischen Opposition. Politisch zog er sich schließlich zurück, fand aber seit 1866 zu seiner Auffassung über die historische Rolle Preußens zurück, forderte die „kleindt. Lösung“ der „Dt. Frage“ und sah besonders in der Politik Bismarcks die Zukunft Deutschlands. Mit dem Sieg von Königgrätz sah R. die Zeit für den erhofften Freistaat gekommen. Als Lohn für seine publizistischen Verdienste um die preuß. Politik erhielt er seit 1877 auf Anweisung Bismarcks einen jährlichen „Ehrensold“ von 3000 Reichsmark.

  • Werke

    Weitere W Neue Vorschule d. Ästhetik, 1837;
    Preußen u. d. Reaction, Zur Gesch. unserer Zeit, 1838;
    Aktenstücke z. Censur, Philos. u. Publizistik aus d. J. 1842, o. J.;
    Pol. Bilder aus d. Zeit, 2 Bde., 1847 f.;
    Die Gründung d. Demokratie in Dtld. oder d. Volksstaat u. d. soz.dem. Freistaat, 1849;
    Aus früherer Zeit, 4 Bde., 1862-67 (Autobiogr.);
    Briefwechsel u. Tageb.bll. aus d. J. 1825-1880, hg. v. P. Nerrlich, 2 Bde., 1886 (P);
    |

  • Nachlass

    Nachlaß: Internat. Inst. f. Soz.gesch., Amsterdam.

  • Literatur

    ADB 29;
    Ostdt. Biogrr., 1955;
    K. Löwith (Hg.), Die Hegelsche Linke, 1962;
    W. Eßbach, Die Junghegelianer, 1978;
    Gedenktage d. mitteldt. Raumes, 1978, S. 136 f.;
    H. u. I. Pepperle (Hg.), Die Hegelsche Linke, 1985;
    H. Reinalter, Junghegelianer, in: Lex. zu Demokratie u. Liberalismus, 1993;
    ders., A. R. als bürgerl. Demokrat, in: Modernisierung u. Freiheit, 1995, S. 412 ff.;
    ders., A. R. (1802-1880), Ein Repräsentant d. radikalen kleinbürgerl. Demokratie, in: Akteure eines Umbruchs, Männer u. Frauen d. Rev. v. 1848/49, hg. v. H. Bleiber, W. Schmidt u. S. Schötz, 2003, S. 563-85;
    Stadtlex. Dresden;
    St. Walter, Dem. Denken zw. Hegel u. Marx, 1995;
    Biogr. Hdb. Frankfurter NV;
    P. Wende, A. R., Kavalleriegen. d. Hegelei, in: Die Achtundvierziger, 1998, S. 23 ff.;
    M. Hundt (Hg.), Am Vorabend einer Entscheidung vom Herbst 1841, Drei Briefe Hermann Ewerbecks an A. R., in: Btrr. z. Gesch. d. Arbeiterbewegung, 43/2, 2001, S. 84 ff.;
    A. R. (1802-1880), Btrr. z. 200. Geb.tag, hg. v. L. Lambrecht u. K.-E. Tietz, 2002 (P);
    Ziegenfuß;
    Metzler Philosophen Lex. (P);
    Kosch, Lit.-Lex.³;
    Killy;
    BBKL;
    Biogr. Lex. Burschenschaft I/5, 2002 (P); – zur Fam.:
    Wolfgang Ruge, Fam.gesch. Ruge (Ms., Privatbes.).

  • Autor/in

    Helmut Reinalter
  • Zitierweise

    Reinalter, Helmut, "Ruge, Arnold" in: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 236-238 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118604023.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Ruge: Arnold R., freisinniger Philosoph und Politiker der junghegel’schen Schule, wurde am 13. Septbr. 1802 zu Bergen auf Rügen geboren. Sein Vater, bisher Verwalter der Güter des Grafen Brahe auf der Halbinsel Jasmund, pachtete 1804 das Gut Bisdamitz bei Stubbenkammer. Der Sohn wollte ein Schiffer werden trotz der Unfälle zur See, deren er so oft Zeuge war. „Es begab sich aber anders“, so erzählt er selbst in einem Briefe an Rosenkranz vom 2. Oct. 1839. „Ich wurde weit ins Land nach Pommern in eine Erziehungsanstalt gethan, die der Prediger Gildemeister zu Langenhanshagen bei Barth hielt, und lernte dort nach altem Stil ... Latein und nichts als Latein und, versteht sich, die Biblia sacra von Ende bis zu Anfang ... Als ich nun aufs Gymnasium kam, war ich der erste Lateiner in Prima, der nie einen Fehler machte, hatte aber im Griechischen meine Noth, weshalb ich von nun an dies zu meinem eifrigsten Gegenstande machte und auch um des Griechischen willen Philologie studirte ...“ Von 1821 bis 1824 hielt er sich zu diesem Zweck in Halle, Jena und Heidelberg auf. „Die Universität richtete nebenbei mein Augenmerk auf den gährenden Geist der Gegenwart. Hatte ich früher einmal mir selbst in fanatischem Gebet gelobt, Napoleon, den Unterdrücker des Vaterlandes, zu erstechen, wenn er (1815) die Grenzen Deutschlands wieder beträte, so erwärmte mich jetzt von neuem der Patriotismus der Burschenschaft; ich sah ein, das Vaterland müsse stark, eins und frei sein, und trat der Verschwörung des „Jünglingsbundes“ für diesen gewaltigen Zweck bei. Diese Aufgabe ... wurde freilich damals als schon halb realisirt geschildert, indem Gneisenau und der König von Württemberg zu diesem Zweck einverstanden wären u. s. w. Die Verbindung war, zu 150 Mitgliedern etwa angewachsen (man kanns nicht genau wissen) und bereits in sich selbst ausgelöst (wozu ich selbst auf einem Tage zu Würzburg am Main den Antrag stellte, ohne jedoch in aller Form durchzudringen), als sie durch ein unglückliches Subject, welches wir in Halle großgezogen hatten, den Behörden angezeigt und in Proceß genommen wurde. Ich wurde, wohl wegen der Tagssitzung zu Würzburg, mit am härtesten angesehen und zu 14jähriger Freiheitsstrafe auf Festung verurtheilt und saß demnächst, nach einem Jahr Untersuchung in Köpenick 5 volle Jahre auf dem Lauenburger Thor in Kolberg angesichts der alten freien Ostsee, nach deren Wellen ich nun lange vergeblich schmachten sollte. Hier las ich nun mit eiserner Consequenz immerfort zu gesetzten Stunden die griechischen Poeten und Philosophen ..., besonders Sophokles (von dem ich den Oedipus in Kolonos mit freien Formen in gereimten Chören übersetzt und die Uebersetzung herausgegeben habe [Jena 1830]) und Homer und die übrigen Tragiker. Im Manuscript hab' ich im alten Versmaß Aeschylos und Theokrit übersetzt. Dann gerieth ich in die Philosophie und las den Plato sehr genau, um der Philosophie willen. Jean Paul, besonders seine Vorschule, und die englischen Humoristen schlossen sich an den Platonischen Humor an; ich sehnte mich nach Fries, als ich Platon noch nicht kannte, und nach Hegel, seit ich die Platonische Dialektik und die fachliche Bewegung, die er vor sich gehen läßt, gekostet. Aber die neuen Bücher waren hier nicht zu erreichen und noch weniger zu bezahlen. Die alte Romantik und das abstracte Leben darin brachte ich in die Tragödie „Schill und die Seinen“ (Stralsund 1830), die nicht viel über Pommern hinausgekommen zu sein scheint und viel Unreifes, aber auch einige gelungene Stellen enthält.“ Nach seiner Befreiung. 1830, ward er 1831 Hülfslehrer am Pädagogium zu Halle, 1832 Docent für historische Philologie und alte Philosophie an der dortigen Universität, wozu er sich durch die „Platonische Aesthetik“ (Halle 1832) habilitirt hatte, vermählte sich mit Luise Düffer und reiste noch in demselben Jahre 1832 mit ihr um ihrer Gesundheit willen nach Italien. „Als ich nach Halle kam, fand ich Hegel's Werke unter dem Gerümpel von Makulatur in meiner Kammer und ließ sie sauber binden, um — 2 Jahre lang ruhig auszuwandern in das neu entdeckte Land des neusten Geistes“. Dazu hatte er sich nach Giebichenstein zurückgezogen. „Ich las dann Aesthetik, noch Weißisch und Jean Paulisch und Sulzer'sch inficirt, und erst mit der Logik, die ich zweimal las, emancipirte ich mich zur philosophischen Freiheit." „Von 1833 bis 1837“ sagt er an einer andern Stelle, „beschäftigte mich theils das Studium der Hegel’schen Philosophie, theils ihr Widerspruch mit ihrem eigenen Princip und mit der religiös-politischen Entwickelung der Zeit, denn, wie Echtermeyer ganz richtig zu sagen pflegte, 'die Julirevolution war auch für uns gemacht und sollte uns nicht verloren sein'“. Bei den Studenten machte er, wie er selbst gesteht, mit seinen Vorlesungen wenig Glück: und als sein Amtsgenosse, der Philosoph Eduard Erdmann, der sich 1834 in Berlin habilitirt hatte, 1836 als außerordentlicher Professor der Philosophie nach Halle kam, gab R. grollend seine Vorlesungen auf, um an deren Stelle sich ganz der schriftstellerischen Thätigkeit, besonders an den von ihm und Echtermeyer begründeten „Hallischen Jahrbüchern“ zu widmen. Daneben gab er die „Vorschule der Aesthetik“ (1837) heraus. Nachdem seine Gattin 1833 gestorben war, hatte er sich 1834 mit Agnes Nietzsche vermählt, die ihm mehrere Kinder gebar und ihn überlebt hat. Besonders innig hatte er sich mit dem Philosophen Karl Rosenkranz, der seit 1831 außerordentlicher Professor zu Halle war, und mit dem Philologen Friedrich Ritschl, seit 1832 ebenda außerordentlichem Professor, befreundet; beide aber verließen Halle schon 1833, Rosenkranz als ordentlicher Professor zu Königsberg, Ritschl zu Breslau. Um so mehr schloß er sich an seinen früheren Amtsgenossen vom Pädagogium, Echtermeyer an, und dieser war es auch, der 1837 den Plan zu den „Hallischen Jahrbüchern" in ihm anregte und die Hegel’sche Philosophie auf Neuerungen im Staatsleben angewandt wissen wollte. Die „Jahrbücher“ sollten in der Methode das Hegel’sche Princip der Entwickelung vertreten und waren in ihrer Form gegen die Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik gerichtet, dieses „Organ der Knechtschaft“, wie es R. einmal nennt, auf welche R. noch besonders deshalb ergrimmt war, weil sie eine gegen Erdmann gerichtete Recension nicht aufgenommen hatten. Bald fiel die Hauptarbeit an dem neuen Unternehmen R. zu, der, um Mitarbeiter und Gönner zu werben, viele, besonders süddeutsche, Universitäten bereiste. „Das erste Jahr begann mit Echtermeyer's Krankheit; sie raubte ihm zuerst den linken Arm, dann 6 Jahre darauf das Leben“. An Wigand in Leipzig hatte Echtermeyer einen fähigen Verleger geworben. Erste Mitarbeiter waren: David Strauß, Ludwig Feuerbach und Bayerhofer. Bis zu Ende 1838 hatten sich außer Echtermeyer auch Ruge's alter Freund und Beschützer Karl v. Raumer und sein Amtsgenosse Karl Witte zurückgezogen. Dagegen gewann er an dem|später berühmten gothaischen Generalsuperintendenten Karl Schwarz, damals in Halle, einen hervorragenden Mitarbeiter, der u. a. darin „über den Pietismus“ schrieb. Gleich bei ihrer Eröffnung geriethen die „Jahrbücher“ in eine Fehde mit dem Halle’schen Professor der Geschichte, Heinrich Leo, „dem Vorkämpfer der gröbsten politischen und religiösen Reaction“, wie ihn R. nennt, über eine darin erschienene Charakteristik der Universität Halle. Schon damals wurde an den Minister v. Altenstein das Ansinnen gerichtet, die „Jahrbücher“ zu unterdrücken; in der Leipziger Zeitung erschien eine von 24 Professoren unterzeichnete Erklärung, R. sei ein Friedensstörer. Bis jetzt aber hinderte ihn dies nicht, in den „Jahrbüchern“ die Fahne des radicalsten Liberalismus zu entfalten, und aus dem Hegel’schen System die äußersten liberalen Folgerungen gegen Hegel's eigene Rechtsphilosophie zu ziehen; auf religiösem Gebiet waren sie von David Strauß in seinem „Leben Jesu“ gezogen worden.

    „Die volle Abstreifung der religiösen Verdunkelung des Philosophirens — diesen welthistorischen Schritt — verdankten wir aber unserem Freunde Ludwig Feuerbach durch sein Buch »Das Wesen des Christenthums«, welcher seinerseits wieder durch die Bewegung der Zeit in den Jahrbüchern angeregt und gefördert worden war, und welches ich persönlich mit mehr Glück, als ich gehofft hatte, durch die Leipziger Censur lootste. Feuerbach hatte mir, wegen seiner Entfernung von Leipzig — er lebte in Bruckberg bei Anspach — dies Geschäft übertragen.“ 1840 gab R. mit Echtermeyer auch einen „Deutschen Musenalmanach“ heraus, der 2 Jahrgänge erlebte. Daß die Jahrbücher sich in Preußen, da die Regierung immer orthodoxer, die Jahrbücher immer extremer wurden, auf die Dauer nicht würden halten können, war vorauszusehen, und so faßten die beiden Herausgeber, die für ihre Verhältnisse bedeutende Kosten (400 Thaler jeder) an das Unternehmen gewagt hatten, 1840 den Plan, damit nach Dresden überzusiedeln. R. schreibt den 14. Mai 1840 an Rosenkranz: „Um dem zunehmenden Obskurantismus unseres Vaterlandes eine wirksamere Opposition entgegenzusetzen, faßten Echtermeyer und ich den Plan, in Dresden eine Akademie der freien Wissenschaft, reine Philosophie ohne die abgeschmackten praktischen Zöpfe, zu stiften, und der Regierung, die dies Jahr gerade sehr günstige Finanzverhältnisse hat darlegen können, denselben mitzutheilen. Ich stand von früher mit Lindenau (s. A. D. B. XVIII, 681) in dem Verhältniß der Correspondenz und erwirkte die Erlaudniß, eine Eingabe dem Cultusministerium vorzulegen.“ Er reiste damit nach Dresden ab, ward zwar vom Staatsrath abschlägig beschieden, „wie ich allerdings, trotz der unerwarteteten Erfolge erwartete, aber die Idee ist nun einmal angeregt, sie ist nothwendig, und sie wird realisirt werden von dem Staate, der zuerst seinem Inhalt und seiner obersten Leitung nach die jetzige Entwickelung begreift und sie zu ergreifen alsdann nicht mehr zögern kann.“ Ein Jahr darauf siedelte er nach Dresden über, wo Echtermeyer sich schon aufhielt. Wirklich waren die „Hallischen Jahrbücher“ von der preußischen Regierung verboten worden oder vielmehr nur mit Halle als Druckort und unter preußischer Censur gestattet worden, was unter damaligen Verhältnissen einem Verbote gleichkam; sie erschienen seit dem Juli 1841 unter Ruge's alleiniger Redaction als „Deutsche Jahrbücher“, bis sie 1843 auch von der sächsischen Regierung unterdrückt wurden.

    R. reiste nun, 1843, nach Paris, um dasjenige Volk in seiner Hauptstadt kennen zu lernen, welches er für das politisch reifste in Europa hielt. Hier verband er sich mit Karl Marx zur Herausgabe der „Deutsch-französischen Jahrbücher“ (Paris 1844), von welchen jedoch nur zwei Hefte erschienen, die u. a. auch Heine's frivole „Lobgesänge auf König Ludwig“ brachten. Zu diesem Zweck hatte sich R. mit dem Verleger Julius Fröbel in Zürich verbunden, den er 1845 dort besuchte. 1846 siedelte R. nach Leipzig über, wo er eine Verlagsbuchhandlung gründete. Hier wurde er 1848 für Breslau (Stadt) in das Frankfurter Parlament gewählt und gründete die demokratische Zeitschrift „Reform“, mit der er nach Berlin überzusiedeln gedachte, wo sie jedoch bei beginnender Reaction unterdrückt wurde. Außerdem erschienen von ihm in diesem ereignisreichen Jahre „Novellen aus Frankreich und der Schweiz“ (1848); schon 1839 hatte R. in dieser Form zu Leipzig veröffentlicht: „Der Novellist. Eine Geschichte in acht Dutzend Denkzetteln aus dem Tagebuche des Helden“, außerdem hatte er seine Pariser Erlebnisse verwerthet in „Zwei Jahre in Paris“ (2 Bde., 1845). Im Interesse der badischen Volksbewegung ging R. 1849 zum zweiten Male nach Paris und von da nach London; 1850 siedelte er nach Brighton über, von wo aus er öfters zur Abhaltung von Vorlesungen nach London kam, so 1853. Im übrigen machte er in Brighton den „visiting tutor“ an verschiedenen Schulen. Das Haus in Brighton, welches er seither miethweise bewohnt hatte, erwarb er 1867 als Eigenthum. Bis dahin erschienen von ihm: „Unser System" (185), „Revolutionsnovellen" (2 Theile, 1850), „Die Lage des Humanismus" (1851), „Neue Welt. Trauerspiel in fünf Aufzügen mit einem Vorspiel: Goethe's Ankunft in Walhalla“ (1856), gegen das Genieunwesen, besonders in Rücksicht auf das Verhältniß der beiden Geschlechter gerichtet, „Jagden und Thiergeschichten für Kinder“ (1856) unter dem Pseudonym A. W. Stein, „Die drei Völker und die Legitimität" (1860), „Was wir brauchen" (1861), „An die deutsche Nation" (1866) und von Uebersetzungen außer den berühmten „Junius-Briefen“, die er schon 1847 herausgegeben hatte, Buckle's „Geschichte der Civilisation“ (5. Aufl., 5 Bde., 1875) und Garrido's „Das heutige Spanien“ (1868).

    Dem Aufschwung Preußens im Kriege 1866 und der Erhebung Deutschlands im französischen Kriege 1870 hatte er freudig zugejauchzt, doch konnte er sich wegen hohen Alters nicht entschließen, seine neue englische Heimath mit der alten deutschen zu vertauschen. Nachdem er schon 1862 zu Brighton „My claim against Prussia“ veröffentlicht hatte, wandte er sich 1866 und 1870 durch Mittelspersonen an den Grafen Bismarck mit dem Antrag auf eine Entschädigungssumme von 120 000 Mark für die Unterdrückung seiner Zeitung „Reform“ im Jahre 1848. Damit war er zwar abgewiesen worden oder vielmehr bis zu Bismarck gar nicht durchgedrungen; aber zu Anfang des Jahres 1876 erhielt er durch eine Sammlung seiner Anhänger in Deutschland 20 000 Mark und seit 1877 durch den Fürsten Bismarck eine jährliche Pension von 1000 Mark, deren Bezeichnung als „Ehrensold“ ihm besondere Freude machte. Im J. 1846 hatte er die Herausgabe seiner „Gesammelten Schriften“ begonnen (10 Bde., Mannheim 1846—48). In dieselbe Zeit fielen die „Poetischen Bilder" (2 Bde., 1847 f.), „Politische Bilder" (2 Bde., 1847 f.) und „Die Akademie" (1848). In die Zeit seiner Verbannung fallen noch: „Zwei Doppelromane in dramatischer Form“ (1865), nämlich das Trauerspiel „Maria Blutfield“ aus der schottischen Reformationszeit und das Lustspiel „Der Probekuß"; ferner „Bianca della Rocca. Historische Erzählung aus dem heutigen Rom“ (1869), „Acht Reden über Religion, ihr Entstehen und ihr Vergehen“ (1869), wovon vorher eine amerikanische Auflage zu St. Louis 1868 erschienen war. Außerdem gab er heraus: „G. H. Lewes' (Verfassers von Goethe's Leben) Geschichte der Philosophie von Thales bis Comte, ins Deutsche übertragen“ (anonym, 2 Bde., 1871), „Lord Palmerston's Leben, frei nach Sir Henry Bulwer Lytton“ (1872) und „Wanderbuch, 1825—73, gedichtet von Arnold Ruge“ (Ausgabe für Nordamerika, 1874). Er starb in Brighton am 31. December 1880.

    Ruge's unbestreitbares Verdienst ist es, mit den unklaren, mittelalterlichen Anschauungen und Neigungen der Romantik gebrochen und die Wissenschaft, besonders die Weltweisheit, an das Leben, das gesellige, das bürgerliche, besonders aber an das staatliche Leben geknüpft zu haben, wie er denn auch zweimal sich dem städtischen Leben in den Stadtverordnetenversammlungen, in Halle und Dresden, widmete. Wenn er nun auch, als Philosoph, zu wenig mit den geschichtlich bedingten Verhältnissen rechnete und in zu radicaler Weise das Kind sammt dem Bade ausschüttete, auch in, damals für einen Deutschen vielleicht verzeihlicher Weise, mit dem Weltbürgerthum liebäugelte, mit entschiedenen Communisten wie Karl Marx, Ledru Rollin und Bakunin sich einließ, so ist doch anzuerkennen, daß er sich selbst nie zum Communismus hinreißen ließ. Beim Ausbruch des badischen Aufstandes rieth er Brentano, sich auf die republikanische Partei in Paris zu stützen, doch erkannte er selbst deren Rathlosigkeit, als den 13. Juni 1849 deren Demonstration für Rom scheiterte und Ledru Rollin flüchten mußte. Mit diesem, Mazzini, Duracz und Braliano bildete er nun freilich das „Europäische demokratische Comité für die Solidarität der Partei ohne Unterschied der Völker“, aus dem er sich aber später zurückzog. Die großen Jahre der Erhebung des preußischen und des deutschen Volkes fanden ihn als einen echten Deutschen.

    • Literatur

      Arnold Ruge, Aus früherer Zeit (4 Bde., Berlin 1862—1867), dessen 4. Band auch eine gedrängte Darstellung seiner Auffassung des Hegel’schen Systems gibt. — Arnold Ruge's Briefwechsel und Tagebuchblätter aus den Jahren 1825—1880. Herausgegeben von Paul Nerrlich. Zwei Bände. Berlin 1886. Erster Band: 1825—1847. Mit einem Porträt. Zweiter Band: 1848—1880.

  • Autor/in

    Robert Boxberger.
  • Zitierweise

    Boxberger, Robert, "Ruge, Arnold" in: Allgemeine Deutsche Biographie 29 (1889), S. 594-598 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118604023.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA