Lebensdaten
1819 – 1904
Geburtsort
Magdeburg
Sterbeort
Hamburg
Beruf/Funktion
politischer Agitator ; antisemitischer Schriftsteller
Konfession
lutherisch
Normdaten
GND: 119024888 | OGND | VIAF: 10646791
Namensvarianten
  • Marr, Wilhelm
  • Mar, Ṿilhelm
  • Marr, Friedrich Wilhelm Adolph
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Zitierweise

Marr, Wilhelm, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd119024888.html [19.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Heinrich (s. 1);
    M Henriette Catharina (1794–1866), T d. Schulmeisters u. Kornhändlers Joh. Emanuel Becherer in Braunschweig u. d. Friederike Sophie Winter;
    1) Hamburg 1854 ( 1873) Georgine Johanna Bertha (* 1831), T d. Maklers Wilh. Callenbach, 2) Hamburg 1874 Helene Sophia Emma Maria (1836–74), T d. Dr. med. Israel Berend u. d. Clara Israel, 3) Leipzig 1875 ( 1877) Jenny Therese Kornick, gesch. Zschimmer (1846–93), Schriftstellerin, T d. Webwarenfabr. Ed. Kornick in Chemnitz u. d. Margarethe Therese Roch, 4) Hamburg 1879 Clara Maria Kelch (* 1845) aus Dresden;
    S aus 3) Heinz (1876–1940), Prof. f. Soziol. an d. Univ. Frankfurt a. M.

  • Biographie

    Als Elfjähriger kam M. in die Obhut des Landpastors Wendemuth bei Hannover und blieb bei ihm bis zu seiner Konfirmation. Nach einer kaufmännischen Lehre in Hamburg sowie im Bremer Handelshaus Heiner Beyer, für das er anschließend als Commis tätig war, übersiedelte M. – infolge eines Engagements seines Vaters am Wiener Burgtheater – 1839 in die österr. Hauptstadt. 1841 ging er nach Zürich, wo er in einer Seidenfabrik die Stelle eines Commis erhalten hatte. Er machte Bekanntschaft mit dem Kreis um Julius Fröbel und lernte durch August Adolf Follen Georg Herwegh kennen. Die politische Lyrik Herweghs hatte ihn schon in Wien beeindruckt, was in seinem Gedichtband „Freie Trabanten“ (1843) besonders deutlich wird; zur gleichen Zeit dürfte M.s politisches, gegen Mißstände in Staat, Kirche und Gesellschaft eiferndes Erstlingswerk „Gegenwart und Zukunft“ (1843) entstanden sein. Zunächst noch liberal-demokratisch gesinnt, bekannte sich M. unter dem Eindruck Wilh. Weitlings, der sich seit dem Frühjahr 1843 in Zürich aufhielt, zum Kommunismus. Anfang Juni 1843 verließ er nach Weitlings Verhaftung Zürich mit dem Auftrag, die deutschen Handwerkervereine in der Schweiz zu besuchen. Nach dieser sechswöchigen Reise durch die Westschweiz wurde M., als Kommunist entlarvt, aus Zürich ausgewiesen. Er ging nach Lausanne und trat in enge Beziehungen zu Hermann Döleke, Julius Standau und anderen jungdeutschen Führern. Nach seiner Aufnahme in den von Döleke und Standau im Frühjahr 1843 gegründeten jungdeutschen Léman-Bund gelang es ihm innerhalb kurzer Zeit, diesen Geheimbund zu seinem persönlichen Machtinstrument umzufunktionieren und in seine ideologischen und propagandistischen Bahnen zu lenken. M.s Gesinnung radikalisierte sich zu einer anarchistischen, atheistischen Haltung, die er als berufsmäßiger Agitator und in seinen politischen Schriften 1843/44 vertrat. 1844 rief er den „Schweizer. Arbeiterbund“ ins Leben. Als publizistisches Organ des Bundes fungierte die von Dezember 1844 bis Juli 1845 in Lausanne verlegte, von M. begründete, redigierte und herausgegebene junghegelianisch-atheistische Zeitschrift „Blätter der Gegenwart für sociales Leben“; bereits vorher hatte M. eine von ihm popularisierte Ausgabe von Ludwig Feuerbachs „Religion der Zukunft“ (1844, ²1846) herausgebracht. Im März 1845 trat er eine mehrmonatige Reise nach Deutschland an, um die Führer der deutschen Opposition für ein ehrgeiziges Verlagsprojekt zu gewinnen; u. a. traf er in Mannheim mit Friedrich Hecker, Johann Adam v. Itzstein und Karl Mathy, in Leipzig mit Robert Blum und Heinrich Laube, bei der Rückreise in Zürich mit Ferdinand Freiligrath, Karl Heinzen und Arnold Rüge zusammen. Nach seiner Rückkehr begründete M. in Lausanne den „Verlag der deutschen Buchhandlung“, dessen einziges Erzeugnis der „Katechismus eines Republikaners der Zukunft“ war. Während seiner Abwesenheit hatten sich die innenpolitischen Verhältnisse im Kanton Waadt gewandelt. Am 23.7.1845 erging ein Ausweisungsbefehl für M., der seine Erlebnisse in der, die eigenen Verdienste überzeichnenden, Propagandaschrift „Das junge Deutschland in der Schweiz“ (1846) niederlegte. Aus Leipzig wie aus weiteren deutschen Städten ebenfalls ausgewiesen, kam er noch 1845 nach Hamburg, wo er zwischen 1846 und 1848 die Rolle eines „politischen enfant terrible“ spielte. 1847 wurde sein satirisches Witzblatt „Mephistopheles“ (1847/48-1852) nach preuß. Intervention von der Hamburger Zensur verboten. 1848 gehörte M. zur extremen Linken der demokratisch-radikalen Partei in Hamburg; durch Losentscheid kam er in die Konstituante. Wie bereits 1846, als er in seiner ersten Hamburger Schrift („Auch eine Adresse an Schleswig-Holsteins Männer der That“) das Volk zur Revolution aufgefordert hatte, sah er auch jetzt in der Revolution den einzigen Weg zur Schaffung einer demokratischen Republik. Nachdem er seine politischen Hoffnungen vereitelt sah, verfocht M. seit Herbst 1849 einen deutschen Staat unter preuß. Vorherrschaft. 1852 verließ er Hamburg und lebte in Costa Rica. Auch als Kaufmann ohne Fortune, kehrte er 1859 nach Hamburg zurück, um wieder als Journalist zu arbeiten. 1861/62 gehörte er der Hamburgischen Bürgerschaft an und war Vorstand des „Demokratischen Vereins“. Aufgrund seines politischen Radikalismus 1863 nicht mehr in die Bürgerschaft gewählt, wandte er sich nun ausschließlich der politischen Publizistik und Journalistik zu. 1864 redigierte er „Die Nessel“, 1865/66 den „Beobachter an der Elbe“, 1866 das Sonntagsblatt „Der Kosmopolit“; zudem schrieb er für verschiedene deutschsprachige Zeitschriften wie die „Gartenlaube“ (bis 1876), den „Bazar“ und die in Prag erscheinende „Politik“. 1869-71 arbeitete M. als leitender Redakteur bei der Berliner „Post“, 1874/75 bei der „Weimarischen Zeitung“.

    Mit der 1878 in Berlin entstandenen Hetzschrift „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ (1879) begann M.s letzter politisch-agitatorischer Lebensabschnitt, in dem er – u. a. durch Artikel in der antisemitischen Presse („Politische Fragmente“, „Österr. Volksfreund“, „Westfäl. Reform“, „Antisemitische Korrespondenz“) – zu einem der Wortführer des Antisemitismus wurde. Mit der von ihm 1879 gegründeten, politisch wenig wirksamen, die „Vernichtung jüdischen Wesens mittels Aufrichtung deutschen Volksbewußtseins“ propagierenden „Antisemitenliga“, deren Organ „Die deutsche Wacht“ er von November 1879 bis März 1880 redigierte, führte M. den Begriff „Antisemitismus“ in das politische Vokabular ein. Seine antijüdische Einstellung und Argumentation hatte er jedoch schon spätestens seit 1862 in der persönlichen Auseinandersetzung mit dem jüdischen liberalen Politiker Gabriel Riesser und in der Diskussion über die Judenfrage in Hamburg ausgebildet und in der Schrift „Der Judenspiegel“ (1862) formuliert. Bereits in dieser Schmähschrift benutzt M. rassenideologische Argumente. In der atheistischen Schrift „Religiöse Streifzüge eines philosophischen Touristen“ (1876) griff er diese wieder auf, wobei er gegen die „Verjudung der Menschheit“ polemisierte. Obwohl M.s antisemitische Schriften von 1879 zahlreiche Auflagen erfuhren, konnte er auch auf diese Agitationskampagne keine politische Karriere aufbauen; um 1890 zog er sich endgültig ins Privatleben zurück.

    Bei seiner wechselvollen ideologischen Entwicklung ging es dem ehrgeizigen und geltungssüchtigen M. weniger um die Durchsetzung seiner fanatisch vertretenen politischen Ziele, als vielmehr um die Begründung einer Karriere, die ihm öffentliche Anerkennung verschaffen sollte. Dabei zeichnete sich sein Scheitern schon von Anfang an ab: Fehlende Glaubwürdigkeit offenbart nicht nur sein mehrfacher radikaler Gesinnungswechsel, sondern auch die Diskrepanz zwischen seinen publizierten Anschauungen und seinen eigentlichen Ansichten, die in Briefen und in seiner Autobiographie manifest werden.

  • Werke

    Weitere W Georg Herwegh u. d. kgl.-preuß. Hofpoeten, Herrn Fr. W. Beniken gewidmet, 1843 (unter Ps. Victor Herrmann);
    Das entdeckte u. d. unentdeckte Christenthum in Zürich u. ein Traum, 1843;
    Pillen, Eigens präparirt f. dt. u. andere Michel, 1844;
    Ruchlosigkeit d. Schr.: „Dies Buch gehört d. König“, Ein unterthänigster Fingerzeig, 1844 (unter Ps. Leberecht Fromm);
    Petit mot d'un étranger au peuple vaudois dédié aux aveugles dans le canton de Vaud, 1845;
    Die Jakobiner in Hamburg, 1848;
    Der Mensch u. d. Ehe vor d. Richterstuhle d. Sittlichkeit, Nebst e. Anhange: Zur Charakteristik d. dt. Liberalismus, I. Die Republik Karl Heinzens, II. In eigner Angelegenheit, 1848;
    An Hamburgs Wähler, Ein Wort zur rechten Zeit, o. J. (1849);
    Herr Dr. Heckscher als Agitator, Volksvertreter u. Staatsmann, 1851;
    Anarchie od. Autorität?, 1852;
    Lichtbilder aus d. Hamburger Bürgerschaft, 1860;
    Travailler pour le Roi de Prusse, Ein Btr. z. dt. Flotte, 1861;
    Reise nach Central-Amerika, 2 Bde., 1862;
    Messias Lassalle u. s. Hamburger Jünger, 1863;
    Der Ausschluß Oesterreichs aus Dtld. ist e. polit. Widersinnigkeit, 1866;
    Selbständigkeit u. Hoheitsrechte d. freien Stadt Hamburg sind e. Anachronismus geworden, Eine kurze Beleuchtung hamburg. Zustände, d. kgl. preuß. Ministerium d. Auswärtigen hochachtungsvoll gewidmet, 1866;
    Es muß Alles Soldat werden od. d. Zukunft d. Norddt. Bundes, Ein Phantasiegemälde, 1867;
    Nach Jerusalem mit d. Papst! Eine Bergpredigt, 1867;
    Des Weltuntergangs Posaunenstoß, 1867;
    Die neue Dreieinigkeit, 1868;
    „Die Flagge deckt d. Ladung!“, Die Leibnitzaffaire u. d. Pflichten d. Norddt. Bundes, ²1868;
    Streifzüge durch d. Koncilium v. Trient, Voltaire frei nacherzählt, 1868;
    Sieben Briefe üb. d. Stein d. Weisen, Ein socialist. Essai, 1872;
    Ludmilla od. Geschiedene Frauen, Charakterbilder aus d. Ges. in fünf Akten, 1875;
    Vom jüd. Kriegsschauplatz, Eine Streitschr., 1879;
    Antisemit. Hh., Nr. 1-3 (Der Judenkrieg, seine Fehler u. wie er zu organisieren ist;
    Goldene Ratten u. rothe Mäuse;
    Oeffnet d. Augen, Ihr dt. Ztg.leser, 1880;
    Wählet keinen Juden! Ein Mahnwort an d. dt. Wähler, 1879;
    Zur Klärung d. Colonialfrage, 1885;
    Lessing contra Sem, 1885;
    Riekchen Blaustrumpf, Dramat. Plaudereien in einem Akt, o. J. |

  • Nachlass

    Nachlaß: Werkverzeichnis: Staatsarchiv Hamburg (Kat. d. gedr. u. ungedr. Schrr.).

  • Literatur

    Gen.ber. an d. Staatsrath v. Neuchâtel üb. d. geh. dt. Propaganda, üb. d. Klubbs d. jungen Dtld. u. üb. d. Lémanbund, 1846;
    W. Heyden, Die Mitgll. d. Hamburger Bürgerschaft 1859–62, 1909;
    E. Rammelmeyer, Bewegungen d. radikal gesinnten Deutschen in d. Schweiz während d. J. 1838 bis 1845, Diss. Frankfurt 1922 (ungedr.);
    K. Wawrzimek, Die Entstehung d. dt. Antisemitenparteien (1873–1890), 1927;
    H. G. Keller, Die pol. Verlagsanstalten u. Druckereien in d. Schweiz 1840–48, Ihre Bedeutung f. d. Vorgesch. d. Dt. Rev. v. 1848, 1935;
    F. Zschaeck, War W. M. ein Jude? in: Weltkampf 1944, H. 2, S. 94-98;
    P. W. Massing, Vorgesch. d. pol. Antisemitismus, 1959;
    P. G. J. Pulzer, Die Entstehung d. pol. Antisemitismus in Dtld. u. Österreich 1867 bis 1914, 1966;
    W. Kowalski (Bearb.), Vom kleinbürgerl. Demokratismus z. Kommunismus, Zss. aus d. Frühzeit d. dt. Arbeiterbewegung (1834–47), 1967;
    E. Gruner, Die Arbeiter in d. Schweiz im 19. Jh., Soz. Lage, Organisation, Verhältnis zu Arbeitgeber u. Staat, 1968;
    Th. Nipperdey u. R. Rürup, Antisemitismus, Entstehung, Funktion u. Gesch. e. Begriffs, in: Geschichtl. Grundbegriffe, Hist. Lex. z. pol.-soz. Sprache, hrsg. v. O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck, I, 1972, S. 129-53;
    A. Gerlach, Dt. Lit. im Schweizer Exil, Die pol. Propaganda d. Vereine dt. Flüchtlinge u. Handwerksgesellen in d. Schweiz v. 1833 bis 1845, 1975;
    M. Zimmermann, Gabriel Riesser u. W. M. im Meinungsstreit, Die Judenfrage als Gegenstand d. Auseinandersetzung zw. Liberalen u. Radikalen in Hamburg (1848–62), in: Zs. d. Ver. f. Hamburg. Gesch. 61, 1975, S. 59-84;
    ders., Hamburg. Patriotismus u. dt. Nationalismus, Die Emanzipation d. Juden in Hamburg 1830–65, 1979;
    ders., W. M., The Patriarch of Antisemitism, 1986;
    K. Urner, Die Deutschen in d. Schweiz, 1976;
    H.-J. Ruckhäberle (Hrsg.), Bildung u. Organisation in d. dt. Handwerksgesellen- u. Arbeitervereinen in d. Schweiz, Texte u. Dokumente z. Kultur d. dt. Handwerker u. Arbeiter 1834–45, 1983;
    H. Schröder, Lex. hamburg. Schriftsteller d. Gegenwart V, 1867, S. 33-36;
    RGG;
    Enc. Jud. XI;
    Kosch, Lit.-Lex.

  • Porträts

    in: W. M., Lessing contra Sem, 1885.

  • Autor/in

    Uwe Puschner
  • Zitierweise

    Puschner, Uwe, "Marr, Wilhelm" in: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), S. 247-249 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119024888.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA