Lebensdaten
gestorben 1959
Geburtsort
Groß-Pawlowitz (Mähren)
Sterbeort
Siders (Sierre/Wallis)
Beruf/Funktion
Kulturphilosoph ; Schriftsteller
Konfession
keine Angabe
Normdaten
GND: 118560492 | OGND | VIAF: 73865954
Namensvarianten
  • Kassner, Rudolf
  • Kaßner, Rudolf
  • Kassner, Rudolph
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Objekt/Werk(nachweise)

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Zitierweise

Kassner, Rudolf, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118560492.html [28.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    Fam. war aus Schlesien eingewandert;
    V Oskar, Gutsbes. u. Zuckerfabr.;
    M N. N.; 10 Geschw.; -ledig.

  • Biographie

    K. erkrankte mit 9 Monaten an Kinderlähmung und mußte sein ganzes Leben an Stöcken gehen. Nach Unterrichtung durch Hauslehrer studierte er in Wien und Berlin Nationalökonomie, Geschichte und Philosophie und wurde 1897 mit einer Arbeit über den Ewigen Juden in der Literatur zum Dr. phil. promoviert. H. St. Chamberlain und E. Graf Keyserling gehörten zu K.s Jugendfreunden. Trotz seiner starken Gehbehinderung unternahm er im Laufe seines Lebens ausgedehnte Reisen durch Rußland, Nordafrika und Indien. Er lebte in Berlin, Paris, London, München, lange Zeit in Wien und seit 1945 schließlich in Siders, nahe dem Schlößchen, das Rilke in seinen letzten Jahren bewohnt hatte. Mit ihm war er ebenso befreundet wie mit Hofmannsthal, Gide, der Duse und vielen anderen bedeutenden Künstlern und Schriftstellern der Zeit. In seinem „Buch der Erinnerungen“ (1938) hat er eine ausführliche Schilderung seiner geistigen Entwicklung gegeben, die durch enge Berührung mit großen Zeitgenossen beeinflußt wurde (vergleiche auch „Die zweite Fahrt“, 1946).

    K. hat ein bisher inkommensurables Werk von etwa 40 Schriften veröffentlicht und Werke von Platon, Sterne, Puschkin, Gogol, Tolstoi, Dostojewski und André Gide übersetzt. Durch die beiden Weltkriege unterbrochen, ergeben sich über 60 Jahre hin drei Phasen der Publikation, in denen mit erstaunlicher Regelmäßigkeit ein im Grunde identisches Thema variiert wird, das jedoch nicht ohne weiteres identifizierbar ist. So kam ein nach Umfang, Inhalt und Sprache einmaliges, sehr persönliches Oeuvre zustande, welches auf eine umfassende Rehabilitation der Einbildungskraft als der einzig menschlichen Erkenntnisfähigkeit hinausläuft. K. war ein „Eingebildeter“ auf der „zweiten Fahrt“, das heißt ein Denker, der fundamentalere Vermögen in Anspruch nehmen zu können glaubte als Verstand und Vernunft, der aber nicht zum „Phantasten der Ursprünglichkeit“ wurde. Es ist ihm gelungen, die traditionellen Gestalten des abendländischen Geistes, soweit dies für einen einzelnen noch einmal möglich war, in seinem Werk zu versammeln und in ein dramatisch gespanntes Verhältnis zu bringen. Durch eine Rekonstruktion des Weges, den die menschliche Weltdeutung vom „Raum“ zur „Zeit“, von der identischen Welt der Magie zur paradoxen Welt der Inkarnation nimmt, kann K. zeigen, daß diese Geschichte der Einbildungskraft ihre Notwendigkeit hat, zugleich aber einen Schatten als Verhängnis mit sich führt: die Abstraktion. Das Hauptthema K.s ist die Überlegenheit des Anschauens über das Begreifen, die – wo das Verhältnis umgekehrt wird – die Menschen|in Blindheit und Abhängigkeit geraten läßt. Von daher ergibt sich eine immer neue, stets anders ansetzende (deshalb nicht feststellbare) Kritik der Wissenschaft und einer entsprechenden, auf Zahlen fixierten Mentalität, die in ihrer Tiefgründigkeit und Reichweite nur unter Schwierigkeiten akzeptiert werden kann. Das kommt sowohl in der Ratlosigkeit der meisten Gegner als auch in der Hilflosigkeit vieler Anhänger K.s zum Ausdruck. Die Inkommensurabilität seines Werkes wird wohl erst durch das Scheitern der Abstraktion in den wirklichen Verhältnissen der Menschen aufgelöst werden können.

    K. hat deutlich gemacht, daß die einzige Chance, den Umständen und Folgen der Real-Abstraktion, das heißt einer blinden Zwangsläufigkeit des menschlichen Lebens zu entgehen, die Physiognomik ist, die Rückkehr von der Welt der Zahlen in das Reich der Bilder. Diese Umkehr verstand er nicht als Ziel sondern als Weg, als Bewegung der Einbildungskraft, die ihre erste Aufgabe in einer physiognomischen Deutung des Abstrakten hat. Für K. sind Wissenschaften, Weltanschauungen, Philosophien vor allem wegen ihres Ausdruckswertes interessant. Er holt sie gegen ihr Selbstverständnis zurück in eine Dramatik des Geistes, wie sie nach Hegel nicht mehr möglich schien. Dabei bleibt seine Physiognomik völlig unsystematisch. Die Grundworte K.s, vor allem: Spiegel, Maske, Götze, Zahl, Gesicht, Rhythmus, Steigerung, Umkehr, Gottmensch und so fort stehen nicht in einem festen Gefüge, sondern wie die handelnden Personen eines Theaterstücks in einem dramatischen Kontext. Es gibt von der ersten bis zur letzten Schrift keinen „Rahmen“, der erweitert oder verlagert würde, sondern nur Szenenwechsel auf einer offenen, imaginären Bühne. Dadurch entkommt K. sowohl dem Entweder-Oder einer formalen Widerspruchslogik als auch der Dialektik der aufgerissenen und versöhnten Widersprüche. In K.s Physiognomik wird kein Standpunkt bezogen und nichts definiert, es wird vielmehr „aus vollem Lauf“ die Bewegung der Deutung aufgenommen.

    Bei der Umkehr von der Welt der Zahlen ins Reich der Bilder trifft K. nach dem Versuch, die Gesichter der Begriffe zu verdeutlichen, auf Gestalten eines Zwischenreichs, der Welt des Maßes und der Maßlosigkeit: Chimäre, Zentaur, Sphinx, auch sie „dramatis personae“ der universalen Physiognomik. Sie dienen insbesondere zur Kennzeichnung des Übergangs von Mythos in Geschichte. Schließlich, zurückgekehrt zur Kindheit des „allgemeinen Menschen“, ist für K. Klarheit darüber entstanden, daß der „Sohn älter ist als der Vater“, daß das Wort deshalb „Fleisch wurde, weil es nicht Begriff werden konnte“. Der in der Bewegung der Einbildungskraft rekonstruierte Weg der Menschheit von der Magie über das Maß und den Mythos zum Paradox des Gottmenschen zeigt sich als die vergessene Einbildungskraft selbst, an der teilzuhaben das Leben des Geistes ist.

  • Werke

    Weitere W u. a. Die Mystik, d. Künstler u. d. Leben, 1900;
    Moral d. Musik, 1904;
    Melancholia, 1908;
    Zahl u. Gesicht, 1919;
    Die Physiognomik, 1932;
    Von d. Einbildungskraft, 1936;
    Das 19. Jh., 1950;
    Die Geburt Christi, 1951;
    Das inwendige Reich, Versuch e. Physiognomik d. Ideen, 1953;
    Der goldene Drachen, 1957;
    Der Gottmensch u. d. Weltseele, 1960;
    R. K.s sämtl. Werke, hrsg. v. E. Zinn i. A. d. R.-K.-Ges., 1969 ff.;
    - zahlr. Überss.|

  • Nachlass

    Nachlaß: Wien, Nat.bibl.

  • Literatur

    Th. Wieser, Einbildungskraft im Werk K.s, 1949;
    Gedenkbuch z. 80. Geb.tag, 1953 (W, L);
    Gerh. Mayer, Rilke u. K., 1960;
    H. Paeschke, R. K., 1963;
    E. C. Mason, Exzentr. Bahnen, 1963;
    G. Baumann, R. K. - Hugo v. Hofmannsthal, 1964;
    E. Aquistapace, Person u. Weltdeutung, 1971.

  • Autor/in

    Dietmar Kamper
  • Zitierweise

    Kamper, Dietmar, "Kassner, Rudolf" in: Neue Deutsche Biographie 11 (1977), S. 320-321 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118560492.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA