Lebensdaten
1916 – 1991
Geburtsort
Hamburg
Sterbeort
Poschiavo (Kt. Graubünden)
Beruf/Funktion
Schriftsteller ; Bildender Künstler ; Übersetzer ; Maler ; Übersetzer ; Dramatiker ; Drehbuchautor
Normdaten
GND: 118551019 | OGND | VIAF: 29535374
Namensvarianten
  • Hildesheimer, Wolfgang
  • Childeschajmer, Volfgang
  • Hildeshajmer, Volfgang
  • mehr

Objekt/Werk(nachweise)

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Zitierweise

Hildesheimer, Wolfgang, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118551019.html [29.03.2024].

CC0

  • Wolfgang Hildesheimer begann vor dem Zweiten Weltkrieg als Bildender Künstler und kam erst 1950 zum Schreiben. Es entstanden satirische Prosa, dann Hörspiele, Theaterstücke, reflexive Prosa (Tynset, 1965; Masante, 1973), schließlich Biografisches (Mozart, 1977; Marbot, 1981). 1984 beendete Hildesheimer das Schreiben und kehrte zur Bildenden Kunst zurück. Heute wird er zu den wichtigsten deutschen Schriftstellern nach 1945 gezählt.

    Lebensdaten

    Geboren am 16. Dezember 1916 in Hamburg
    Gestorben am 21. August 1991 in Poschiavo (Kt. Graubünden)
    Grabstätte Friedhof der reformierten Kirche in Poschiavo (Kt. Graubünden)
    Wolfgang Hildesheimer, Suhrkamp Verlag AG (InC)
    Wolfgang Hildesheimer, Suhrkamp Verlag AG (InC)
  • Lebenslauf

    16. Dezember 1916 - Hamburg

    1927 - 1930 - Mannheim

    Schulbesuch bis zur Untertertia

    Karl-Friedrich-Gymnasium

    1930 - 1933 - Ober-Hambach (heute Heppenheim)

    Schulbesuch

    Odenwaldschule (Landschulheim)

    Oktober 1933 - London

    Emigration der Familie

    Oktober 1933 - Dezember 1933 - Rowledge bei Farnham (Surrey, England)

    Schulbesuch

    Frensham Heights School (Public School)

    Dezember 1933 - Jerusalem

    Übersiedlung der Familie

    1934 - 1937 - Jerusalem

    Tischlerlehre; Unterricht in Zeichnen, Möbeldesign und Innenarchitektur

    1937 - 1939 - London

    Kunststudium

    Central School of Arts and Crafts

    12.7.1937 - 1.9.1937 - Salzburg

    Bühnenbildnerkurs

    Sommerakademie

    1937 - 1938 - London

    Teilnahme an vier Kunstausstellungen

    April 1938 - September 1938 - Haifa (Palästina)

    Reise; Teilnahme an der Gründung der Blue Band Factory seines Vaters

    Dezember 1938 - Februar 1939 - London

    erstes Bühnenbild

    Little Tavistock Theatre

    März 1939 - Mai 1939 - Mousehole (Cornwall, England)

    erste Zeit in Cornwall, mit Anthony Froshaug (1920–1984)

    Frühjahr 1939 - Penzance (Cornwall, England)

    Teilnahme an einer Ausstellung

    Sommer 1939 - London

    Werbeillustrator

    Sommer 1939 - St. Ives (Cornwall, England)

    zweite Zeit in Cornwall

    Ende August - Palästina

    Rückreise über Frankreich und die Schweiz, von dort aus mit Wolf Rosenberg (1915–1996)

    Januar 1940 - Jerusalem

    erste Einzelausstellung

    Cabinet of Arts der Galerie Schlosser-Glasberg

    1940 - 1941 - Jerusalem

    Psychoanalyse bei Margarete Brandt (1892–1977)

    1940 - 1941(?) - Jerusalem

    Englischlehrer

    British Institute

    1941 - 1942 - Jerusalem

    Mitgründer und Mitleiter

    Werbeagentur „wh“

    1941 - 1946 - Jerusalem

    Werbeillustrator

    Palestine Post

    1941 - 1945 - Naher Osten

    Information Officer

    britische Mandatsregierung

    1941 - 1946 - Jerusalem; Tel Aviv

    Beteiligung an sieben Gemeinschaftsausstellungen

    1943 - Jerusalem

    zweites Bühnenbild; Kostümentwürfe

    Jerusalem International YMCA; The Jerusalem Dramatic Society; The British Council

    um 1943 - Jerusalem

    Redakteur

    Forum, seit 1946 Radio Week

    1944 - 1946 - Jerusalem

    schriftstellerische Arbeiten

    The Palestine Post; Forum/Radio Week

    Juli 1946 - London

    Rückkehr

    1947 - 1949 - Nürnberg

    Simultandometscher

    Nürnberger Prozesse

    1947 - 1951 - Nürnberg; Cambridge (England); München

    Beteiligung an neun Gemeinschaftsausstellungen

    1949 - 1950 - Ambach am Starnberger See

    Bildender Künstler

    4.5.1951 - 7.5.1951 - Haus für Internationale Begegnung, Bad Dürkheim

    erstmals Teilnahme am Treffen

    Gruppe 47

    Dezember 1952 - März/April 1953 - Haifa

    Israel-Reise u. a. über Athen und Jugoslawien

    1953 - München

    Übersiedlung

    1957 - Poschiavo (Kanton Graubünden)

    Übersiedlung

    17.10.1965 - 1.12.1965 - Freiburg im Breisgau

    erste Einzelausstellung seit 1940

    Novalis-Galerie

    1968 - 1976 - Trazanni bei Urbino (Italien)

    Nebenwohnsitz

    1982 - Poschiavo

    schweizerischer Staatsbürger

    1984 - Poschiavo

    Ende des Schreibens; Rückkehr zur Bildenden Kunst

    21. August 1991 - Poschiavo (Kt. Graubünden)
  • Genealogie

    Vater Arnold Hildesheimer 1885–1955 Dr., Lebensmittelchemiker; technischer Direktor bei Unilever, gründete 1938 die Blue Band Factory in Haifa; Autor der Physik-Buchs „Die Welt der ungewohnten Dimensionen“ (1953)
    Großvater väterlicherseits Hirsch Zwi Hildesheimer 1855–1910 Dozent für jüdische Geschichte und Geographie für Palästina am Rabbinerseminar Berlin und der Universität Berlin
    Großmutter väterlicherseits Therese Hildesheimer, geb. Hirsch 1854–1931
    Urgroßvater väterlicherseits Esriel Hildesheimer 1820–1899 Dr. phil., Sekretär der jüdischen Gemeinde Halberstadt; 1851 Rabbiner in Eisenstadt, gründete in Eisenstadt die erste jüdische Schule des Westens und 1858 mit einem Schwager eine Gesellschaft, die jüdischen Einwohnern von Jerusalem Wohnungen zur Verfügung stellte; seit 1869 in Berlin an der Synagogen-Gemeinde Adass Jisroel, gründete 1870 die Wochenschrift "Jüdische Presse" und 1873 in Berlin das Rabbinerseminar
    Urgroßmutter väterlicherseits Henriette (Jettchen) Hildesheimer, geb. Hirsch 1824–1883 Schwester der Brüder Hirsch, der Chefs der Metallfirma Aron Hirsch & Sohn in Halberstadt und des Messingwerks in Finow bei Eberswalde
    Mutter Hanna Hildesheimer, geb. Goldschmidt 1888–1962
    Großvater mütterlicherseits Salomon Goldschmidt 1853–1928 Besitzer einer Buchhandlung in Hamburg
    Großmutter mütterlicherseits Jenny Goldschmidt, geb. Frankenstein gest. 1936 gest. in Jerusalem
    Schwester Eva (Hava) Hildesheimer 1914–2010
    1. Heirat 5.5.1942 in Jerusalem
    Ehefrau Bella (Lea Bela) Soskin 1918–2011
    Schwiegervater Selig Eugen Soskin 1873–1959 Zionist, 1934 Mitgründer von Naharija in Palästina
    2. Heirat 22.10.1952 in Ambach am Starnberger See
    Ehefrau Silvia Hildesheimer, geb. Dillmann 1917–2014 Malerin
    Schwiegervater Alexander Dillmann 1878–1951 Rechtsanwalt und Pianist in München
    Schwiegermutter Irma Dillmann, geb. Schäffer 1887–1979
    Stiefkinder zwei Stieftöchter
    Onkel väterlicherseits Salomon Hildesheimer 1882–1942 Augenarzt, Pianist und Entertainer, eröffnete seine Praxis 1935 in Jerusalem, wurde zu einer wichtigen Person des kulturellen, v. a. musikalischen Lebens Jerusalems, Mitgründer der Hebrew Opera
    Onkel väterlicherseits Esriel Erich Hildesheimer 1901–1999 1928–38 Dozent am Berliner Rabbinerseminar und Leiter der Bibliothek; 1939 Emigration nach Palästina, nachdem es ihm gelungen war, fast die gesamte Bibliothek des Seminars nach Tel Aviv umzulagern, heute Teil der Rambam-Bibliothek
    Großonkel mütterlicherseits Jehuda Goldschmidt, genannt Léon 1862–1930 Besitzer von M. Glogau jr., Buchhandlung mit Verlag und Antiquariat in Hamburg, 1891 Gründungsmitglied und 1900–1910 Vorsitzender der Literarischen Gesellschaft Hamburg, nach seinem Tod wurde das Geschäft Glogau von Hertha Goldschmidt und Hanna Hildesheimer als Erbengemeinschaft fortgesetzt, 1933 übernahm Hanna Hildesheimer das Geschäft allein
    Enkel des Urgroßvaters Esriel (Hans) Hildesheimer d. J. 1912–1998 Sohn von Scholaum Hildesheimer (1879–1950), und Grete Hildesheimer, geb. Meyer (1883–1912), verließ Deutschland im Frühjahr 1933; Mitbegründer des Kibbutz Hafets Hayyim und 1936–1948 selbstständiger Buchhändler in Jerusalem
    Urgroßvater der 2. Ehefrau Alfred Dillmann 1849–1924 Polizeipräsident von München, richtete 1899 die „Zigeuner-Zentrale“ ein, veröffentlichte 1905 die Akten als „Zigeuner-Buch“ gegen Sinti, Roma und Jenische
    Schwager Alfred Dillmann 1928–2005 Chemiker, Mitredakteur von Hoppe-Seyler’s Zeitschrift für Physiologische Chemie
    Cousine der 2. Ehefrau Erika Dillmann 1919–2010 Journalistin, Autorin literarischer und zahlreicher landeskundlicher Bücher
    Diese Grafik wurde automatisch erzeugt und bietet nur einen Ausschnitt der Angaben zur Genealogie.

    Hildesheimer, Wolfgang (1916 – 1991)

    • Vater

      Arnold Hildesheimer

      1885–1955

      Dr., Lebensmittelchemiker; technischer Direktor bei Unilever, gründete 1938 die Blue Band Factory in Haifa; Autor der Physik-Buchs „Die Welt der ungewohnten Dimensionen“ (1953)

      • Großvater väterlicherseits

        Hirsch Zwi Hildesheimer

        1855–1910

        Dozent für jüdische Geschichte und Geographie für Palästina am Rabbinerseminar Berlin und der Universität Berlin

      • Großmutter väterlicherseits

        Therese Hildesheimer

        1854–1931

    • Mutter

      Hanna Hildesheimer

      1888–1962

      • Großvater mütterlicherseits

        Salomon Goldschmidt

        1853–1928

        Besitzer einer Buchhandlung in Hamburg

      • Großmutter mütterlicherseits

        Jenny Goldschmidt

        gest. 1936

        gest. in Jerusalem

    • Schwester

      Eva (Hava) Hildesheimer

      1914–2010

    • 1.·Heirat

      in

      Jerusalem

      • Ehefrau

        Bella Soskin

        1918–2011

    • 2.·Heirat

      in

      Ambach am Starnberger See

      • Ehefrau

        Bella Soskin

        1918–2011

  • Biografie

    Hildesheimer besuchte das Gymnasium in Mannheim und wechselte 1930 an die Odenwaldschule. Im Oktober 1933 emigrierte die Familie über London, wo Hildesheimer kurzzeitig eine Public School besuchte, nach Palästina und ließ sich in Jerusalem nieder. Hildesheimer nahm hier Unterricht in Zeichnen, Möbeldesign sowie Innenarchitektur und absolvierte von 1934 bis 1937 eine Tischlerlehre.

    1937 ging Hildesheimer zum Studium an der Central School of Arts and Crafts nach London und beteiligte sich mit Gemälden an ersten Kunstausstellungen. Im Sommer dieses Jahres besuchte er den von Emil Pirchan (1884–1957) geleiteten Bühnenbildnerkurs (Bühnenbild, Kostüm, Maske) im Rahmen der Salzburger Sommerakademie. Sein erstes Bühnenbild – für Anton Tschechows (1860–1904) „Uncle Vanja“ am Little Tavistock Theatre – entstand Anfang 1939. Im Frühjahr reiste er nach Cornwall, wo er in den kommenden Jahren wiederholt längere Aufenthalte verbrachte. Ende August kehrte er nach Pälastina zurück, wurde Englischlehrer am British Council Jerusalem und war von 1941 bis 1945 als Information Officer der Britischen Mandatsregierung tätig. 1940 hatte er die erste Einzelausstellung seiner Bilder und beteiligte sich danach an Gemeinschaftsausstellungen. Zudem arbeitete er weiter als Bühnenbildner und Buchillustrator, gründete 1941 mit Reginald Weston (1909–1967) die Werbeagentur „wh“, die v. a. die „Palestine Post“ mit illustrierten Annoncen versorgte, und war vermutlich seit 1943 Redakteur der deutschen Ausgabe des wöchentlichen „Forums“ (später „Radio Week“), in dem ein Jahr zuvor ein Gedicht als seine erste schriftstellerische Veröffentlichung erschienen war.

    1946 zog Hildesheimer erneut nach London und versuchte, als Bühnenbildner, Bildender Künstler und Commercial Artist (Design von Stoffen und Einpackpapieren etc.) Fuß zu fassen. Zudem übersetzte er Franz Kafkas (1883–1924) Erzählung „Elf Söhne“ ins Englische und schrieb Beiträge über das Londoner Kulturleben für die „Palestine Post“, in der 1946 „Cornish Summer“ gedruckt wurde, Hildesheimers erster selbst illustrierter Text.

    Im Herbst 1946 bestand Hildesheimer die Dolmetscherprüfung in der US-amerikanischen Botschaft in London und wurde seit Januar 1947 als US-Offizier bei den Nürnberger Prozessen eingesetzt. Nach dem Ende seiner Dolmetschertätigkeit 1949 ließ sich Hildesheimer in Ambach am Starnberger See nieder und beteiligte sich wieder an Ausstellungen, u. a. 1950 an „Zen 49“, die – zuerst im Central Art Collecting Point München präsentiert – bis 1951 durch zahlreiche westdeutsche Städte wanderte.

    Seit 1950 betätigte sich Hildesheimer als Schriftsteller. Erste Geschichten und Satiren auf den Kulturbetrieb erschienen in der „Neuen Zeitung“, dann auch in literarischen Zeitschriften, und wurden beim Treffen der Gruppe 47, an dem Hildesheimer 1951 erstmals teilnahm, begeistert aufgenommen. Hildesheimers erste Buchveröffentlichung, die Kurzgeschichtensammlung „Lieblose Legenden“ (1952) zählt bis heute zu seinen viel gelesenen Bänden und gelangte in Teilen in den schulischen Kanon. 1953, im Jahr des Umzugs nach München, erschien mit „Paradies der falschen Vögel“ Hildesheimers erster Roman: Ein Kunstfälscher etabliert in einem fiktiven Balkanstaat einen erfundenen Nationalmaler. 1955 folgte sein erstes Theaterstück, „Der Drachenthron“, das unter Gustaf Gründgens (1899–1963) am Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt wurde.

    Mit seiner Übersiedlung nach Poschiavo (Kanton Graubünden) 1957 vollzog Hildesheimer einen Stilwechsel. Die nun entstandenen Stücke – v. a. die Sammlung „Spiele, in denen es dunkel wird“ (1958) – und Hörspiele werden der absurden Literatur zugerechnet. Vollends als Vertreter des absurden Theaters etablierte sich Hildesheimer 1960 mit seiner Erlanger „Rede über das absurde Theater“. Erfolge feierte er auch als Übersetzer: Seine Übertragung von Djuna Barnes‘ (1892–1982) „Nightwood“ (1959) ins Deutsche wurde allenthalben als sprachliche Höchstleistung gerühmt.

    In den 1960er Jahren folgte eine Periode der Ich-Reflexionen und der Verarbeitung von Eindrücken aus den Nürnberger Prozessen, eröffnet 1962 mit dem schmalen, selbst illustrierten Text „Vergebliche Aufzeichnungen“. 1965 schuf Hildesheimer mit „Tynset“ eines seiner Hauptwerke, das er nicht als Roman bezeichnet wissen wollte und das ihm mehrere bedeutende Literaturpreise einbrachte: der Monolog eines Schlaflosen während einer einzigen Nacht. Als letztes Werk dieser Periode erschien 1973 das Prosabuch „Masante“, komplementär zu „Tynset“, nun befindet sich der Ich-Erzähler in der Wüste, die Zeit: ein Tag und eine Nacht. Der Band hätte bereits 1970 unter dem Titel „Meona“ erscheinen sollen, aber Hildesheimer kam mit dem riesigen Textkonvolut nicht zurande, und als das Buch erschien, wirkte es wie verspätet. Denn bereits 1971 begann mit den selbst illustrierten „Zeiten in Cornwall“ – bestehend aus Teilen des riesigen Textkonvoluts – Hildesheimers Periode (auto-)biografischer Werke.

    Zu Hildesheimers meist verkauften Buch wurde 1977 „Mozart“, das er nicht als Biografie bezeichnete. Es beeinflusste sowohl Peter Shaffers (1926–2016) Theaterstück „Amadeus“ (1979) als auch Miłos Formans (1932–2018) Spielfilm „Amadeus“ (1984). Als Abschluss dieser Periode und Höhepunkt von Hildesheimers literarischem Schaffen erschien 1982 „Marbot. Eine Biographie“. Mit diesem Lebensbild eines erfundenen englischen Sirs zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der gern Maler geworden wäre und stattdessen erster psychologisch orientierter Kunstbetrachter wurde, kehrte Hildesheimer zu seinen literarischen Anfängen zurück. Bereits in den „Lieblosen Legenden“ hatte er die Biografie eines erfundenen Mannes präsentiert; im Englandbezug finden sich Anklänge an seine Zeit als Londoner Kunststudent; der Wunsch, Maler zu werden, ist ebenso autobiografisch inspiriert wie das Spiel mit Übersetzungen, das Hildesheimer in „Marbot“ trieb.

    Mit „Mitteilungen an Max“ (1983), einer letzten Satirensammlung, schloss Hildesheimer sein literarisches Schaffen ab, von dem er auch als „Pause vom Malen“ sprach. Wegen eines spektakulären Interviews, das Tilman Jens (1954–2020) 1984 mit Hildesheimer in Poschiavo geführt hatte, und das unter dem Titel „Der Mensch wird die Erde verlassen“ im „Stern“ erschien, nahm man diesen Beschluss weithin zur Kenntnis und diskutierte ihn kontrovers, v. a. Hildesheimers Begründung mit zu erwartenden Umweltkatastrophen und globalen Krankheiten.

    Hildesheimer engagierte sich nun für Greenpeace und fertigte Collagen an, für die er Kalender, Kunstbände von Kollegen, Modekataloge etc. zerschnitt und die zuweilen nur millimetergroßen Stücke zu kleinformatigen Kunstwerken arrangierte. Außerdem begann er wieder zu zeichnen, auch nach der Natur, experimentierte als Lithograf, illustrierte „Vergebliche Aufzeichnungen“ neu und verfasste Essays. Das zentrale Werk dieser Zeit, das „Gegen-Requiem“ „Herr, gib ihnen die ewige Ruhe nicht“, in dem er die Verursacher globaler Umweltzerstörung anprangerte, wurde am Totensonntag 1986 vom Schweizer Fernsehen und der ARD ausgestrahlt. Seiner Sorge, dass v. a. die jüngere Generation von Katastrophen betroffen sein werde, gab er in seiner „Rede an die Jugend“ bei der Verleihung des Weilheimer Literaturpreises im März 1991 Ausdruck.

  • Auszeichnungen

    1941 1. Preis für eine illustrierte Annonce beim Wettbewerb „More Cheerful Advertising“ der Jerusalemer Tageszeitung „Palestine Post“
    1951 Mitglied der Gruppe 47
    1955 Hörspielpreis der Kriegsblinden
    1957 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt
    1965 Büchner-Preis und Bremer Literaturpreis für „Tynset“ (1965)
    1973 Mitglied der Akademie der Künste Berlin
    1980 Premio Verinna Lorenzon für „Mozart“
    1982 Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste für „Marbot“
    1982 Ehrenbürger von Poschiavo (Kanton Graubünden)
    1983 Großes Verdienstkreuz des Bundesverdienstordens der Bundesrepublik Deutschland
    1991 Weilheimer Literaturpreis
  • Quellen

    Nachlass:

    Wolfgang Hildesheimer-Archiv in der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin.

  • Werke

    Lieblose Legenden. Mit Zeichnungen v. Paul Flora, 1952, erg. Neuauflagen bis 1983.

    Paradies der falschen Vögel. Roman. Buchschmuck v. Jochen Bartsch, 1953, Neuausg. illustriert u. mit einer Nachbemerkung v. Monika Aichele, 2017.

    Der Drachenthron. Komödie in drei Akten. Mit Zeichnungen v. Robert Pudlich, 1955.

    Begegnung im Balkanexpreß. Nachw. v. Gert Westphal, 1956.

    Spiele, in denen es dunkel wird, 1958.

    Herrn Walsers Raben. Nachw. v. Günter Eich, 1960.

    Die Eroberung der Prinzessin Turandot, 1960.

    Die Verspätung. Ein Stück in zwei Teilen, 1961.

    Vergebliche Aufzeichnungen. Nachtstück. Nachw. v. Karl Markus Michel, 1963.

    Das Opfer Helena. Monolog. Zwei Hörspiele, 1965.

    Tynset, 1965.

    Wer war Mozart? Becketts „Spiel“. Über das absurde Theater, 1966.

    Die Musik und das Musische, 1967.

    Begegnung im Balkanexpreß. An den Ufern der Plotinitza. Zwei Hörspiele. Mit einem autobiographischen Nachw., 1968.

    Interpretationen. James Joyce. Georg Büchner. Zwei Frankfurter Vorlesungen, 1969.

    Zeiten in Cornwall. Mit 6 Zeichnungen des Autors, 1971.

    Mary Stuart. Eine historische Szene, 1971.

    Masante, 1973.

    Hauskauf. Hörspiel, 1974.

    Hörspiele, 1975.

    Theaterstücke. Über das absurde Theater, 1975.

    Mozart, 1977.

    Biosphärenklänge. Ein Hörspiel, 1977.

    Tynset. Zeiten in Cornwall. Dramen. Hörspiele, hg. u. mit einem Nachw. versehen v. Joachim Schreck, 1978.

    Exerzitien mit Papst Johannes. Vergebliche Aufzeichnungen, 1979.

    Marbot. Eine Biographie, 1981.

    Orte. Eine Auswahl. 1981.

    Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes. Mit einem Glossarium und 6 Zeichnungen des Autors, 1983.

    The Jewishness of Mr. Bloom. Das Jüdische an Mr. Bloom. Englisch/Deutsch, 1984.

    Das Ende der Fiktionen. Reden aus fünfundzwanzig Jahren, 1984.

    Gedichte und Collagen, hg. v. Volker Jehle, 1984.

    Endlich allein. Collagen, 1984.

    Der Mensch wird die Erde verlassen. Interview mit Tilman Jens, in: Stern v. 12.4.1984, S. 58–60.

    Der ferne Bach. Eine Rede, 1985.

    Collagen, hg. v. Annie Bardon, 1985.

    In Erwartung der Nacht. Collagen, 1986.

    Nachlese, 1987.

    Die Hörspiele, hg. u. mit einem Nachw. versehen v. Volker Jehle, 1988.

    Vergebliche Aufzeichnungen. Mit acht Rastercollagen („Textscherben“) des Autors, 1989.

    Die Theaterstücke, hg. u. mit einem Nachw. versehen v. Volker Jehle, 1989.

    Klage und Anklage, 1989.

    Hans Theo Rommerskirchen (Hg.), Wolfgang Hildesheimer, 1989. (Collagen, Zeichnungen, kurzen Texte)

    Mit dem Bausch dem Bogen. Zehn Glossen mit einer Grafik, hg. v. Volker Jehle, 1990.

    Rede an die Jugend. Mit einem Postscriptum für die Eltern und zwei Collagen. Nachw. v. Christiaan L. Hart Nibbrig, 1991.

    Landschaft mit Phoenix. Collagen, 1991.

    Der Ruf in der Wüste. Erzählungen. Auswahl u. Nachw. v. Heinz Puknus, 1991.

    Gesammelte Werke in sieben Bänden, hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig/Volker Jehle, 1991.

    Ich werde nun schweigen. Gespräch mit Hans Helmut Hillrichs in der Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“, hg. v. Ingo Hermann, 1993.

    Janssen und wir, hg. v. Thomas C. Garbe, 1994.

    Schule des Sehens. Kunstbetrachtungen, hg. v. Salman Ansari, 1996.

    Schönheit als Therapie. Bilder gegen die Verzweiflung, hg. v. Silvia Hildesheimer. Mit einem Vorw. v. Peter Horst Neumann, 1996.

    Bericht einer Reise. Mit 17 Radierungen v. Paul Mersmann. Nachworte v. Michael Rumpf u. Wolfram Benda, 2002.

    Wo wir uns wohlfühlen. Mitteilungen aus Italien und Poschiavo, ausgew. u. mit Abbildungen hg. v. Dietmar Pleyer, 2006.

    Das Ende einer Welt. Mit Illustrationen v. Anne von Karstedt, 2009.

    „Das Unerwartete“ und andere Texte zu Graubünden, hg. v. Christa Geitner/Inge Thurner, 2016.

    Übersetzungen/Bearbeitungen:

    F. Spencer Chapman, Aktion „Dschungel“. Bericht aus Malaya, 1952.

    Anne Piper, Jack und Jenny. Roman, 1955.

    Djuna Barnes, Nachtgewächs. Roman, 1959.

    Richard Brinsley Sheridan, Die Lästerschule. Lustspiel in neun Bildern. Figurinen v. Robert Holzach. Frei bearbeitet, 1960.

    Ronald Searle, Quo vadis? Text-Redaktion, 1962.

    Edward Gorey, Ein sicherer Beweis, 1962.

    Edward Gorey, Die Draisine von Untermattenwaag, 1963.

    Edward Gorey, Eine Harfe ohne Saiten oder Wie man einen Roman schreibt, 1963.

    Edward Gorey, Das Geheimnis der Ottomane. Ein pornographisches Werk, 1964.

    George Bernard Shaw, Die heilige Johanna. Dramatische Chronik in sechs Szenen und einem Epilog, 1965.

    Edward Gorey, Das unglückselige Kind, 1967.

    Edward Gorey, La Chauve-Souris Dorée, 1969.

    George Bernard Shaw, Helden. Komödie in drei Akten, 1970.

    William Congreve, Der Lauf der Welt. Eine lieblose Komödie. Mit einer Nachbemerkung v. Wolfgang Hildesheimer u. einem Nachw. v. Holger M. Klein, 1986.

    Zusammenarbeit:

    Paul Flora, Flora’s Fauna. Eine abendländische Biologie in 77 neuzeitlichen Bildern, mit überflüssigen Kommentaren versehen v. Wolfgang Hildesheimer, 1953.

    Wolfgang Hildesheimer/Hans Werner Henze: das ende einer welt. funkoper. Einband und Illustrationen v. Gisela Andersch, 1953.

    Loriot, Auf den Hund gekommen. 44 lieblose Zeichnungen. Eingel. v. Wolfgang Hildesheimer, 1954.

    Das Opfer Helena. Kammermusical. Musik: Gerhard Wimberger. Lyrics: Hanns Dieter Hüsch. Szenische Einrichtung: Reinhard Mieke. Partitur, 1968.

    Wolfgang Hildesheimer (Text)/Rebecca Berlinger (Illustrationen),

    Was Waschbären alles machen, 1979.

    Herausgeberschaften:

    Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10. Green Series, Nuernberg Oct. 1946 – April 1949, Bd. 3 u. 4, 1949 oder 1950. (Onlineressource)

    Luigi Carluccio/Wolfgang Hildesheimer, Disegni e aquaforti di Horst Janssen, 1975.

    Mozart-Briefe. Ausgew., eingel. u. komm., 1975.

    Briefe:

    Briefe, hg. v. Silvia Hildesheimer/Dietmar Pleyer, 1999.

    Briefwechsel mit Günter Eich, in: Sven Scheer, „Seid lünglich von uns keinem geküßt“. Leben und Werk – Zur Freundschaft von Günter Eich und Wolfgang Hildesheimer, 2005, S. 224–244.

    Briefe von Kurt R. Eissler an Hildesheimer, in: Hartmut Buchholz, „Ich glaube, Sie haben einen neuen Typus Biographie geschaffen“. K. R. Eisslers Briefe an Wolfgang Hildesheimer, 2010, S. 148–168.

    „Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts“. Die Briefe an die Eltern 1937–1962, hg. v. Volker Jehle, 2 Bde., 2016.

    Stephan Braese, Wolfgang Hildesheimers Briefwechsel mit Hermann Kesten. Mit einer Vorbemerkung, in: treibhaus 12: Wolfgang Hildesheimer (2016), S. 17–36.

    „Alles andere steht in meinem Roman“. Zwölf Briefwechsel, hg. v. Stephan Braese mit Olga Blank u. Thomas Wild, 2017.

    Bibliografie:

    Volker Jehle, Wolfgang Hildesheimer. Eine Bibliographie, 1984.

    Volker Jehle, Werkregister, in: Wolfgang Hildesheimer, „Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts“. Die Briefe an die Eltern 1937–1962, hg. v. Volker Jehle, 2016, S. 1349–1484.

  • Literatur

    Dierk Rodewald (Hg.), Über Wolfgang Hildesheimer, 1971.

    Patricia Haas Stanley, Tynset. An Analysis of Wolfgang Hildesheimer’s Lyrical Modernism, 1975, dt. Wolfgang Hildesheimers „Tynset“, 1978.

    Burckhard Dücker, Wolfgang Hildesheimer und die Literatur des Absurden, 1976.

    Marco Guetg, Tynset. Eine Kompositionsanalyse, 1977.

    Heinz Puknus, Wolfgang Hildesheimer, 1978.

    Dorothea Frauenhuber, Die Prosa Wolfgang Hildesheimers, 1979.

    Hugo Lingg, Kunst und Wissenschaft im Werk von Wolfgang Hildesheimer, 1980.

    Hugo Mario Caviola, Das Verhältnis von Realität und Fiktion in der Prosa Wolfgang Hildesheimers, 1983.

    Matthias Burri, Das Ende des Erzählens bei Wolfgang Hildesheimer, 1983.

    Walter Bohnacker, Die Wahrheit der Fiktionen. Zur literarischen Biographie im Werk von Wolfgang Hildesheimer, 1985.

    Heinz Ludwig Arnold (Hg.), text + kritik H. 89/90: Wolfgang Hildesheimer, 1986.

    Patricia H. Stanley, The Realm of Possibilities. Wolfgang Hildesheimer‘s Non-Traditional Non-Fictional Prose, 1988.

    Peter Hanenberg, Geschichte im Werk Wolfgang Hildesheimers, 1989.

    Volker Jehle (Hg.), Wolfgang Hildesheimer. Materialien, 1989.

    Volker Jehle, Wolfgang Hildesheimer. Werkgeschichte, 1990, erw. 2003.

    Patricia H. Stanley, Wolfgang Hildesheimer and His Critics, 1993.

    Henry A. Lea, Wolfgang Hildesheimers Weg als Jude und Deutscher, 1997.

    Wolfgang Hildesheimer. 1916–1991. Bearb. v. Franka Köpp, Sabine Wolf, 2002.

    Volker Jehle, Scheiterndes. Kunst und Leben: Wolfgang Hildesheimer, 2003.

    Christine Chiadò Rana, Das Weite suchen. Unterwegs in Wolfgang Hildesheimers Prosa, 2003.

    Rüdiger Görner/Isabel Wagner (Hg.), Wolfgang Hildesheimer und England. Zur Typologie eines literarischen Transfers, 2012.

    Hilde Strobl, „Und mache mir ein Bild aus vergangener Möglichkeit“. Wolfgang Hildesheimer und die bildende Kunst, 2013.

    Eugenia Thummer, Surrealismus im Werk Wolfgang Hildesheimers, 2013. (Onlineressource)

    Stephan Braese, Jenseits der Pässe. Wolfgang Hildesheimer. Eine Biographie, 2016.

    Serena Grazzini (Hg.), Wolfgang Hildesheimer, 2018.

    Jochen Lankenau, Vom Scheitern in Würde. Versuch über Wolfgang Hildesheimer, 2019.

  • Onlineressourcen

  • Porträts

    Radierung v. Horst Janssen (1929–1995), 1985, Abbildung in: Janssen und wir, hg. v. Thomas C. Garbe, 1994 (vorderer Deckel), Neuausg. 1996 (Frontispiz).

  • Autor/in

    Volker Jehle (Geislingen)

  • Zitierweise

    Jehle, Volker, „Hildesheimer, Wolfgang“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.10.2022, URL: https://www.deutsche-biographie.de/118551019.html#dbocontent

    CC-BY-NC-SA