Lebensdaten
1843 – 1919
Geburtsort
Darmstadt
Sterbeort
Ruhpolding (Oberbayern)
Beruf/Funktion
bayerischer Staatsminister ; Reichskanzler ; Philosoph ; Politiker
Konfession
katholisch
Normdaten
GND: 118550071 | OGND | VIAF: 37017169
Namensvarianten
  • Hertling, Georg Friedrich Graf von
  • Hertling, Georg Freiherr von (bis 1914)
  • Hertling, Georg Friedrich Freiherr von (bis 1914)
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Zitierweise

Hertling, Georg Graf von, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118550071.html [28.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Jakob Frhr. v. H. (1805-51), hess. Hofgerichtsrat, S d. Philipp (1756–1810), Direktorialgesandter zum Oberrhein. Kreis, dann hess. GR u. Hofgerichtsdirektor (S d. Friedrich, s. Einl.), u. d. Gisberta v. Deel;
    M Antonie (1816–83), T d. Gg. Frdr. v. Guaita (1772–1851), Handelsmann, Senator u. Bgm. in Frankfurt/M., u. d. Magd. Maria Carol. Franziska Brentano [Schw v. Clemens u. Bettina Brentano, s. NDB II);
    Ur-Gvv Phil. Carl v. Deel zu Deelsburg (1733–1811), kurmainz. Staatsrat, Letzter d. Geschl.;
    Om Leberecht v. Guaita (1814–75), niederländ. Gen.konsul, Franz Brentano ( 1917), Philosoph (s. NDB II);
    Tante-m Sophie ( Joh. Herm. Detmold, 1856, Satiriker, Politiker, s. NDB III);
    B Karl (1847–1915), löwenstein. Domänendirektor, Vf. d. Fam.gesch.;
    - Darmstadt 1869 Anna (1845–1919), T d. Engelbert v. Biegeleben (1798–1851), hess. Oberappellations- u. Kassationsgerichtsrat, u. d. Magdalena v. Solemacher;
    1 S, 5 T (1 früh †).

  • Biographie

    Die tiefreligiöse Mutter bemühte sich, H. mit politisch interessierten Katholiken bekannt zu machen. Er erwog zunächst, Priester zu werden, studierte aber Philosophie in Münster, München und Berlin. Unter dem Einfluß von F. Brentano entschied er sich für die akademische Laufbahn. Er promovierte 1864 bei A. Trendelenburg in Berlin und habilitierte sich 1867 in Bonn. Sein besonderes Interesse galt philosophiegeschichtlichen und staatsphilosophischen Problemstellungen. Er gelangte aber als Philosoph nie zu Eigenständigkeit, wirkte jedoch als Anreger und Förderer. Die Beschäftigung mit der mittelalterlichen Dogmengeschichte und Staatsphilosophie geht mit auf ihn zurück. Gegenüber der Infallibilität des Papstes und in den Frontbildungen des Kulturkampfes respektierte er vorbehaltlos die Auffassungen und Entscheidungen der katholischen Kirche und nahm es auf sich, deswegen in seiner wissenschaftlichen Laufbahn zunächst zurückgesetzt zu werden. Er fand dafür Ersatz in parlamentarischer und wissenschaftsorganisatorischer Tätigkeit.

    Zunächst im Wahlkreis Koblenz gewählt, gehörte H. 1875-90 und 1896-1912 dem Deutschen Reichstag an. Besondere Aufmerksamkeit widmete er auf Veranlassung Windthorsts der Sozialgesetzgebung, wobei er mit einer aus grundsätzlichen Erwägungen kommenden Kritik an der Sozialpolitik Bismarcks nicht zurückhielt. Er warnte vor übertriebenen Hoffnungen auf den „sozialistischen Zukunftsstaat“. Die von ihm 1882 im Reichstag eingebrachte Interpellation zu Gunsten eines weiteren Ausbaues der Fabrikgesetzgebung veranlaßte eine lang anhaltende Diskussion über die wirtschaftliche Abhängigkeit jeder Sozialpolitik. In seiner für nicht wenige Entwicklungen richtungweisenden Sozialpolitik schlug seine Staatsphilosophie durch, die „die Antithese von Macht und Recht, von Zwang und Freiheit in einer auf dem Grund der Sittlichkeit vollzogenen Synthese löst“ (C. Bäumker). Mit H.s „Eingreifen|in die sozialpolitische Diskussion begann innerhalb des Katholizismus eine neue Etappe im Wandel der katholischen sozialpolitischen Ideenwelt“ (C. Bauer). Durch das Vertrauen von Windthorst und Franckenstein ausgezeichnet, rückte H. frühzeitig zur Führungsspitze des Zentrums auf.

    Die Erfahrungen seiner akademischen Laufbahn bestimmten ihn, die Initiative zum Zusammenschluß katholischer Gelehrter zu ergreifen. Er kann als Gründer der „Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland“ bezeichnet werden. Von deren Konstituierung bis zu seinem Tod (1867–1919) stand er ihr als Präsident vor. Er veranlaßte den Ausbau der Sektionen und der Publikationen und organisierte die Herausgabe des inzwischen in 6. Auflage vorliegenden „Staatslexikon der Görres-Gesellschaft“. Auf deren jährlicher Generalversammlung nahm er zu kirchlichen, wissenschaftlichen und bildungspolitischen Fragen eingehend Stellung. Sein auf der Generalversammlung in Konstanz 1896 erhobener Alarmruf über das Zurückbleiben der deutschen Katholiken auf dem Gebiet der Wissenschaft löste die Debatte über die sogenannte Inferiorität der deutschen Katholiken aus. 1882 wurde H. nicht auf Vorschlag der Philosophischen Fakultät, sondern auf politisch motivierte Veranlassung des bayerischen Kultusministers von Lutz zum ordentlichen Professor für Philosophie an die Universität München berufen.

    Die Anforderungen der wachsenden Familie, seines Lehrstuhles in München, seiner Tätigkeit als Präsident der Görres-Gesellschaft und seines Reichstagsmandats bewogen ihn, 1890 auf eine Wiederwahl in den Reichstag zu verzichten. Das Angebot, den Wahlkreis Windthorsts nach dessen Tod 1891 zu übernehmen, bemerkenswert für die Beurteilung seiner Stellung innerhalb des Zentrums, lehnte er ab. H., zunehmend als Vermittler zwischen dem Prinzregenten Luitpold und dem Bayerischen Gesamtstaatsministerium einerseits und dem Zentrum, dessen Fraktion in der Bayerischen Kammer der Abgeordneten seit 1869 die absolute Mehrheit besaß, andererseits tätig, wurde 1895 als Ministerkandidat für das bayerische Kultusministerium genannt. Auch bei späteren Ministerwechseln stand er zur Diskussion. 1896 im Wahlkreis Memmingen wieder in den Reichstag gewählt, gehörte H. zu den bestimmenden Persönlichkeiten der Zentrumsfraktion. Er widmete sein Hauptinteresse jetzt außen- und finanzpolitischen Fragen. Auch setzte er sich für die Interessen Bayerns ein, worüber es zu einer politischen Zusammenarbeit und persönlichen Freundschaft mit dem langjährigen bayerischen Gesandten in Berlin, Hugo Graf Lerchenfeld-Köfering, kam. Als einziger bayerischer Zentrumsabgeordneter unterstützte H. die erste Flottenvorlage 1898. Er betrieb bewußt und planmäßig die Aussöhnung zwischen dem kleindeutschen Nationalstaat und dessen katholische Minderheit und wurde zur Schlüsselfigur der „Bekehrung des Zentrums zur nationalen Idee“ (K. Riezler). Er errang dadurch die erste Position im Zentrum und eine Vertrauensstellung gegenüber den Reichskanzlern. Hohenlohe-Schillingsfürst kam H.s Intentionen entgegen, als er ihn mit den Vorverhandlungen über die Errichtung einer katholisch-theologischen Fakultät an der Universität Straßburg beauftragte. H. wurde darüber zum Vertrauensmann der Reichsleitung und zu einer Art Sondergesandtem, zog sich aber dadurch die Mißbilligung des Fürstbischofs von Breslau, Georg Kardinal von Kopp, zu, der für sich in Anspruch nahm, Mittler zwischen Kaiser und Reichsleitung und dem Heilige(r) Stuhl zu sein. 1909-12 war H. Vorsitzender der Zentrumsfraktion des Reichstags. Sein Bestreben, dem Zentrum seine ihm durch Reichskanzler von Bülow streitig gemachte Schlüsselposition zurückzugewinnen, wurde von Bethmann Hollweg gefördert.

    Der Auftrag des Prinzregenten Luitpold von Bayern, ein neues Bayerischen Gesamtstaatsministerium zu bilden, kam für H. überraschend. H.s Berufung an die Spitze des Bayerischen Gesamtstaatsministeriums wurde als „Parlamentarisierung Bayerns“ verstanden: Zum erstenmal wurde ein Politiker der Partei, die in der Kammer der Abgeordneten die absolute Mehrheit besaß, mit der Leitung der Landespolitik beauftragt. H. war der erste aus dem politischen Katholizismus hervorgegangene bayerische Minister. Er interessierte sich als bayerischer „Ministerpräsident“ (9.2.1912-3.10.1917) in erster Linie für die Beziehungen zwischen München und Berlin und für kirchenpolitische Fragen; unter anderem griff er zu Gunsten der interkonfessionell christlichen Gewerkschaften in den „Gewerkschaftsstreit“ ein. An den Entscheidungen der Juli-Krise 1914 hatte er keinen Anteil. Als München Mittelpunkt der Agitation gegen Bethmann Hollweg wurde, trat H. nachhaltig für ihn ein.

    Nach dem Rücktritt Bethmann Hollwegs lehnte H. das ihm angebotene Amt des Reichskanzlers ab, hielt sich jedoch verpflichtet, es anzunehmen, als Michaelis gescheitert war. Körperlich bereits geschwächt, sah sich H. als Reichskanzler (1.11.1917-3.10.1918) unüberwindbaren und wachsenden Schwierigkeiten gegenüber. Die Oberste Heeresleitung beeinflußte maßgebend die politische Entwicklung, so daß die Reichsleitung nicht in der Lage war, eine größere selbständige politisch-diplomatische Aktivität zu entfalten. H. versuchte, die eingeschränkten Möglichkeiten auszuschöpfen, konnte sich jedoch bei der Gestaltung der Friedensverträge von Brest-Litowsk und von Bukarest nicht durchsetzen. Der Zwang zur Parlamentarisierung veranlaßte ihn, sein Amt zur Verfügung zu stellen. Nach der Revolution versicherte er einem Freund, er hätte den Kanzlerposten nicht annehmen sollen, denn für die Mehrheitsparteien sei seine Berufung bereits der Anfang der Parlamentarisierung gewesen. Er bedauerte, daß das Zentrum, in dem die Richtung Erzberger, den er ablehnte, immer stärkeren Einfluß gewann, ihn nicht entschiedener unterstützt hatte. Der eingetretenen politisch-gesellschaftlichen Veränderung stand er ratlos gegenüber. Die ablehnende Beurteilung der Kanzlerschaft H.s, der er sich selbst anschließt, übersieht, daß er trotz Ablehnung des parlamentarischen Systems zur Verständigung der politischen Kräfte beigetragen hat, die durch die Übernahme der politischen Verantwortung im Herbst 1918 ein Chaos und den Anschluß an die bolschewistische Revolutionsbewegung verhinderten. Von den eingetretenen Verhältnissen auf das tiefste erschüttert, starb H., bis zuletzt mit der Niederschrift seiner „Erinnerungen“ befaßt, drei Monate nach seinem Rücktritt auf seinem Landsitz in Oberbayern.|

  • Auszeichnungen

    Lebenslängl. Reichsrat d. Krone Bayerns (1891), ao., dann o. Mitgl. d. Bayer. Ak. d. Wiss. (1896/99), Dr. rer. pol. h. c.

  • Werke

    Materie u. Form u. d. Definition d. Seele b. Aristoteles, 1871;
    Über d. Grenzen mechan. Naturerklärung, 1875;
    Die Hypothese Darwins, 1876;
    Albertus Magnus, Btrr. zu s. Würdigung, 1880, ²1914;
    Aufsätze u. Reden soz.pol. Inhalts, 1884;
    John Locke u. d. Schule v. Cambridge, 1892;
    Naturrecht u. Soc.pol., 1893;
    Descartes' Beziehungen z. Scholastik, 2 T., 1897 f.;
    Kleine Schr. z. Zeitgesch. u. Pol., 1897;
    Das Prinzip d. Katholizismus u. d. Wiss., 1-41899;
    Augustin, Der Untergang d. antiken Kultur, 1902, ²1904;
    Akadem. Freiheit, in: Hochland 3, 1905/06, S. 67 ff.;
    Wilh. Emanuel Frhr. v. Ketteler, ebd. 9, 1911/12, S. 281 ff.;
    Recht, Staat u. Ges., 1906, ⁴1917;
    Hist. Btrr. z. Philos., hrsg. v. J. A. Endres, 1914;
    Erinnerungen aus m. Leben, 2 Bde., 1919/20 (P in I);
    Vorlesungen üb. Metaphysik, hrsg. v. Matth. Meier, 1922;
    Reden, Ansprachen u. Vorträge d. Gf. G. v. H. mit einigen Erinnerungen an ihn, ges. v. A. Dyroff, 1929.

  • Literatur

    H. v. Grauert, Zum Regentenwechsel in Bayern, in: Hochland 10, 1912/13, S. 1 ff., 201 ff., 322 ff.;
    ders., Gf. v. H., 1920;
    H. Eisele, in: Hochland 10, 1913, S. 750 ff.;
    St. Schindele, G. Frhr. v. H. als Philosoph, in: Hist.-pol. Bll. 152, 1913, S. 329 ff.;
    C. Haußmann, in: Dt. Pol. 3, 1918, S. 1091 ff.;
    Karl Gf. v. Hertling, Ein Jahr in d. Reichskanzlei, Erinnerungen an d. Kanzlerschaft m. Vaters, 1919 (P);
    M. Benl, H. als Sozialtheoretiker u. Sozialpraktiker, Diss. Freiburg/Br. 1922 (ungedr.);
    J. Schink, Gf. H. als Sozialpolitiker, Diss. Köln 1924;
    C. Bauer, Wandlungen d. soz.-pol. Ideenwelt im dt. Katholizismus d. 19. Jh., in: Die soz. Frage u. d. Katholizismus, Festschr. z. 40j. Jubiläum d. Enzyklika „Rerum novarum“, 1931;
    A. F. Eickhoff, G. v. H. als Sozialpolitiker, 1932;
    P. Jostock, Der dt. Katholizismus u. d. Überwindung d. Kapitalismus, 1932;
    W. Polle, H. als Sozialphilosoph, Diss. Würzburg 1933;
    J. Urbanowski, G. v. H.s Ges.lehre, 1936;
    E. Hoop, Die Innenpol. d. Reichskanzler Michaelis u. Gf. H., Diss. Kiel 1951 (ungedr.);
    E. Deuerlein, Eine unbek. Kontroverse zw. Staatsmin. Gf. H. u. d. Obersten Heeresleitung im Febr./März 1917, in: HJb. 70, 1951, S. 260 ff.;
    ders., Prinzregent Luitpold u. d. Ministerium H., in: Unser Bayern 1, 1952, Nr. 4;
    ders., Verlauf u. Ergebnis d. „Zentrumsstreites“ (1906/09), in: Stimmen d. Zeit 156, 1954/55, S. 103 ff.;
    Der Interfraktionelle Ausschuß, 2 Bde., 1917/18, hrsg. v. E. Matthias u. R. Morsey, 1959;
    W. Baumgart, Dt. Ostpol. 1918, 1966;
    G. Ritter, Staatskunst u. Kriegshandwerk IV: Die Herrschaft d. dt. Militarismus u. d. Katastrophe 1918, 1968;
    V. v. Amswaldt, Die Beendigung d. Regentschaft in Bayern 1912/13, in: Zs. f. bayer. Landesgesch. 30, 1967, S. 859 ff.;
    W. Albrecht, Landtag u. Regierung in Bayern am Vorabend d. Rev. v. 1918, 1968;
    E. Deuerlein, Dt. Kanzler v. Bismarck bis Hitler, 1968, S. 193 ff.;
    K. Bachem, in: DBJ II, S. 416-26. |

  • Nachlass

    Nachlaß: Der größere Teil befindet sich im Bundesarchiv Koblenz, d. andere Teil noch im Privatbes.

  • Porträts

    Phot. in: Geist u. Gestalt III, Biogr. Btrr. z. Gesch. d. Bayer. Ak. d. Wiss., 1959, Abb. 177.

  • Autor/in

    Ernst Deuerlein
  • Zitierweise

    Deuerlein, Ernst, "Hertling, Georg Graf von" in: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), S. 702-704 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118550071.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA