Lebensdaten
1856 – 1915
Geburtsort
Jessen bei Wittenberg
Sterbeort
Leipzig
Beruf/Funktion
Historiker
Konfession
lutherisch
Normdaten
GND: 118569015 | OGND | VIAF: 5057383
Namensvarianten
  • Lamprecht, Karl
  • Lamprecht, Carl
  • Lamprecht, Carl Gotthard
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Zitierweise

Lamprecht, Karl, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118569015.html [28.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    Die Fam. kam aus Böhmen im 17. Jh. nach Sachsen u. wurde in Ortrand ansässig;
    V Carl Nathanael (1804–78), Oberpfarrer u. Schulinsp. in J., S d. Kauf- u. Handelsmanns Joh. Christian Gottlieb in Ortrand u. d. Seifensieders-T Gottliebe Christiane Schiemenz aus Drebkau (Niederlausitz);
    M Emilie Auguste (1819–82), T d. Posthalters Limberg in Calau (Niederlausitz);
    Ur-Gvv Joh. Siegmund, Gen.akzise-Insp. in Ortrand;
    - Straßburg 1887 Mathilde (1860–1920), T d. Gustav Mühl (1819–80), Univ.-Bibliothekar in Straßburg, Dichter (s. ADB 22), u. d. Wilhelmine Candidus; Schwägerin Bertha Mühl ( Paul Lehfeldt, 1848–1900, Prof., Konservator d. Kunstdenkmäler Thüringens, s. BJ V);
    2 T, u. a. Else ( Adolf Schütz, 1884–1940, Bes. d. Maschinenfabrik G. A. Schütz, S d. Erfinders Gustav Schütz, 1842–1930).

  • Biographie

    L. zählte lange zu den Außenseitern unter den deutschen Historikern. Zu Lebzeiten von den meisten Fachkollegen wegen seines missionarischen Auftretens als Künder eines „neuen Evangeliums historischer Wissenschaft“ (A. B. Show) abgelehnt und wegen|seiner angeblich dem „historischen Materialismus“ verhafteten Geschichtsauffassung sowie der Propagierung „westlicher“ demokratisch-liberaler Tendenzen als „Irrlehrer“ (Meinecke) und vom „westlichen“ Positivismus beherrschter „Fremdkörper“ bekämpft, erstrahlte sein Ruhm außerhalb der Historikerzunft und vor allem im Ausland um so heller. Erst heute werden die frühen bahnbrechenden Leistungen des Wirtschafts-, Sozial-, Kultur- und Landeshistorikers, bedeutenden Wissenschaftsorganisators und ideenreichen Kulturpolitikers vorurteilsloser gewürdigt, wird zwischen dem Bleibenden und dem Zeitbedingten unterschieden. Zeitbedingt aber waren im Zeitalter des Siegeszuges der Naturwissenschaften L.s wissenschaftsgläubiger Fortschrittsoptimismus, seine Forderung einer Erhebung der Geschichte zum Range einer (Natur-) Wissenschaft und sein Glaube an die Lösbarkeit aller historischen Probleme durch empirische Forschung und Ergründung historischer Gesetze.

    L. erhielt in Wittenberg (1867/68) und auf der Fürstenschule Schulpforta (1869–74) die gediegene Ausbildung des Gymnasiums, das unter dem Rektor und Thukydidesforscher Wilh. Herbst in ihm früh die Liebe zur Geschichte weckte. In Göttingen (1874–77) führte den Studenten die strenge Schule der mittelalterlichen Historiker, die im Dienste der Monumenta Germaniae Historica ihre quellenkritische Methode erworben hatte, vor allem J. Weizsäcker in die Quellenkunde und Quellenkritik, E. Bernheim in die Methoden der Geschichtswissenschaft ein. In Leipzig (1877/88) arbeitete L. am Aufbau des von C. v. Noorden begründeten Historischen Seminars mit und wandte sich unter dem Einfluß W. Roschers der jungen Wirtschaftsgeschichte zu; aus ihr wählte er das von Weizsäcker angeregte Thema seiner Dissertation „Beiträge zur Geschichte des franz. Wirtschaftslebens im 11. Jh.“ (ersch. 1878 in erweiterter Form; 1889 franz.). Nach der Promotion und einem weiteren Semester überwiegend kunstgeschichtlicher Studien in München, in welchem er in der Begegnung mit dem Werk J. Burckhardts die schon wesentliche Elemente seiner späteren Kulturgeschichtsschreibung enthaltende Studie „Über Individualität und Verständnis für dieselbe im deutschen Mittelalter“ schrieb (ersch. 1909 im 12. Bd. der „Deutschen Geschichte“) und nach der Ablegung des Staatsexamens für das höhere Lehramt im Frühjahr 1879 in Leipzig vermittelte ihm sein Mentor Herbst eine Hauslehrerstelle bei dem Kölner Bankier Deichmann. Hier gewann L., gleichzeitig Probekandidat am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, Fühlung mit Kreisen des Kölner Unternehmertums, vor allem mit dem Bankier und Präsidenten der Rhein. Eisenbahngesellschaft Gustav Mevissen, einem der Führer des rhein. Liberalismus seit der 48er Revolution. – Mevissen erkannte in L. den geeigneten Mann zur Verwirklichung schon 1868 mit H. v. Sybel erwogener Pläne, die auf die Erforschung der Geschichte der Rheinlande und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zielten. Gegen ein Honorar von 600 Talern jährlich verpflichtete er ihn zur Bearbeitung der rhein. Kultur- und Wirtschaftsgeschichte und sorgte auch für seine Habilitation im Sommer 1880 in Bonn. Zusammen mit L. gründete er 1881, als erste deutsche landesgeschichtliche historische Kommission, die „Gesellschaft für rhein. Geschichts-Kunde“. Mit F. Hettner schuf L. 1882 die „Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst“, das damals führende landesgeschichtliche Organ, und legte seit 1880 (seit 1883 unter Mitarbeit des Agrarhistorikers A. Meitzen) mit den wohl ersten historischen Ortsnamenkarten überhaupt die Grundlagen für den geschichtlichen Atlas der Rheinprovinz. Mit seiner immer weiter ausgreifenden wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit wurde L. zum Vorläufer und Anreger der modernen Landesgeschichte: 1894 rief er auf dem zweiten deutschen Historikertag in Leipzig die „Konferenzen von Vertretern landesgeschichtlicher Publikationsinstitute“ ins Leben, die von nun an regelmäßig mit den von ihm maßgeblich mitgestalteten Historikertagen abgehalten wurden, 1895 gründete er die „Kgl. Sächs. Kommission für Geschichte“, 1898 zusammen mit F. Ratzel das „Historisch-Geographische Seminar“ der Universität Leipzig, das erste seiner Art in Deutschland, 1890 die ihm angeschlossene deutsche „Centralstelle für Grundkarten“; aus ihm ging 1906 unter der Leitung seines Mitarbeiters und Freundes R. Kötzschke das „Seminar für Landesgeschichte und Siedelungskunde“ hervor; schließlich erweiterte L. die von ihm seit 1895 herausgegebene Heeren-Ukertsche Sammlung der Allgemeinen Staatengeschichte durch eine dritte Abteilung „Deutsche Landesgeschichten“ (bearb. von seinem Schüler A. Tille). Auf dem Gebiet der Landesgeschichte und Sozialgeschichte auf landesgeschichtlicher Grundlage liegen seine bleibenden wissenschaftlichen Leistungen. Vor allem in seinem auf Grund moselländischer Quellen geschriebenen und – für die Geschichtswissenschaft methodisch neuartig – durch statistisches Material untermauerten monumentalen Frühwerk „Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter“ (4 Bde., 1885 f., Nachdr. 1964), einem noch heute grundlegenden Werk zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte der Landbevölkerung, legte er den „ersten Markstein der neuen [d. i. landesgeschichtlichen] Richtung“ (H. Aubin, 1925). Indem er hier die Wirtschaftsgeschichte durch Einbeziehung sozial-, rechts- und verfassungsgeschichtlicher Gesichtspunkte zu einer Geschichte der „materiellen Kultur“ erweiterte, ohne in anderen Veröffentlichungen (etwa in der „Initialornamentik des 8.-13. Jh.“, 1882) seine kunst- und kulturgeschichtlichen Interessen zu vernachlässigen, wurde ihm diese zur Grundlage und zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Kulturgeschichte, welche die materielle und die geistige Kultur als Einheit sah, ihn aber durch seine Konstruktion einer gesetzmäßigen Kulturentwicklung in scharfen Gegensatz zur herrschenden Auffassung der deutschen Historiker brachte.

    Wenn L.s akademische Laufbahn zunächst geradlinig, ja steil verlief, so verdankte er das wiederum Mevissen sowie Meitzen und Weizsäcker, die 1884 den preuß. Hochschuldezernenten F. Althoff auf ihn aufmerksam machten. Dieser setzte 1885 die Ernennung zum (unbesoldeten, seit 1889 besoldeten) Extraordinarius in Bonn durch. 1890 wurde L. gegen das Fakultätsvotum auf ein Ordinariat für mittelalterliche und neuere Geschichte nach Marburg und, nach Ablehnung eines von Althoff vermittelten Rufes nach Gießen, ein Jahr später nach Leipzig berufen, wo er bis zu seinem Tode gewirkt hat. 1896 versuchte Althoff ihn, unterstützt von Meitzen, Schmoller, Wagner, Paulsen, vergeblich als Nachfolger Treitschkes nach Berlin zu berufen. Auch scheiterte am Widerstand F. Meineckes L.s Versuch, nach dem Tode Sybels das führende geschichtswissenschaftliche Organ, die „Historische Zeitschrift“, in seine Hand zu bringen und mit der ihm nahestehenden „Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ zu vereinigen. – Inzwischen hatte sich an den ersten Bänden des L.schen Hauptwerks, der vom Bürgertum begeistert aufgenommenen und anfangs selbst von dem marxistischen Historiker F. Mehring gelobten „Deutschen Geschichte“ (12 Bde. in 16, 1891-1909, 4-6 1921 f., dazu 3 Erg.bde.: Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, 1901–04, 4/5 1921 f.), ein erbitterter Methodenstreit entzündet, der „an Dauer und Leidenschaft seinesgleichen in der Geschichte der Geschichtsschreibung sucht“ (Engelberg). Er hob als positives Ergebnis grundlegende Problemstellungen der Geisteswissenschaften von neuem in das wissenschaftliche Bewußtsein, untergrub aber die sich durch die Bemühungen des „sozialwissenschaftlichen Flügels der Historie“ – L., Breysig, Hintze – um die „Öffnung der Geschichtswissenschaft nach der Seite der Sozialwissenschaften hin“ (Oestreich) gerade anbahnenden fruchtbaren Beziehungen zwischen der Historie und den Sozialwissenschaften in Deutschland und isolierte mit dem Sieg der primär politisch-machtstaatlich orientierten Geschichtsschreibung auf dem Gebiet der neueren Geschichte bis nach dem 2. Weltkrieg die deutsche Geschichtswissenschaft vom Ausland.

    L. hat als erster und bis heute einziger Historiker eine wissenschaftliche Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte gewagt, obwohl ihn Ranke kurz vor seinem Tod (1886) gewarnt hatte: Sein Anliegen sei keine wissenschaftliche Aufgabe, da in der politischen Geschichte der Deutschen ein durchgehender Faden nicht zu finden sei. Eben an diesem „durchgehenden Faden“, den L. in einer gesetzmäßigen Abfolge materieller Zustände in Wirtschaft, Recht und Verfassung, in den ihnen zugrundeliegenden ökonomischen Interessen und in der parallel verlaufenden Entwicklung geistig-kultureller Zustände erkannte, hinter denen die Darstellung der „Haupt- und Staatsaktionen“ und die Rolle der großen Persönlichkeiten zurücktraten, entzündete sich der Zorn der Fachkollegen. Mit seiner hastigen, flüchtigen, auch aus Darstellungen zweiter und dritter Hand schöpfenden, mitunter wörtlich abschreibenden Arbeitsweise bot er seinen Gegnern zudem Angriffsflächen zur Detailkritik. Durch die Kritik an seinen mehr intuitiv gehandhabten als explizit reflektierten geschichtstheoretischen Grundlagen sah sich L. ferner gezwungen, seine Methode wissenschaftstheoretisch zu begründen, ohne daß er infolge seiner impulsiven, als Historiker ohnehin zum philosophischen Eklektizismus neigenden Natur dafür die Voraussetzungen mitbrachte. Dem Vorwurf des historischen Materialismus (v. Below, Meinecke, Rachfahl u. a.) und der Einreihung unter die Schüler von Karl Marx (u. a. durch Leclère, 1899) versuchte er – ähnlich Sombart – durch scharfe Trennung von wissenschaftlicher Methode und Weltanschauung und vor allem in den Bänden nach 1900 durch eine Psychisierung der Geschichte im Anschluß an die Sozialpsychologie W. Wundts,|später auch von Th. Lipps, zu begegnen, indem er den Geschichtsverlauf in das Prokrustesbett einer Abfolge jetzt nicht mehr ökonomisch, sondern psychisch verursachter Kulturstufen zwang. Diese an der deutschen Geschichte entwickelte Lehre von den Kulturzeitaltern als einer durch eine ständig fortschreitende Intensivierung des seelischen Lebens bedingten Abfolge von jeweils ein Zeitalter beherrschenden seelischen Gesamtzuständen, eines symbolischen (bis 10. Jh.), typischen (10.-13. Jh. = frühes Mittelalter), konventionellen (13.-15. Jh. = Spätmittelalter), individualistischen (15.-18. Jh. = Renaissance und Aufklärung) und subjektivistischen (19. Jh. = Romantik und Industrielle Revolution) Zeitalters, an das sich die jüngste Vergangenheit (Wilhelminische Epoche) als Zeitalter der „Reizsamkeit“ schloß, wollte er schließlich auch in anderen Nationalentwicklungen wiedererkennen. Seine Konzeption einer vergleichenden Völkergeschichte hat jedoch ebensowenig Nachfolger gefunden wie die verwandte, solider fundierte Geschichte der Menschheit seines Mitstreiters Breysig, wenn sich auch Einflüsse auf die universalgeschichtlichen Entwürfe Spenglers und Toynbees nicht von der Hand weisen lassen.

    Zur Durchführung seiner Ideen – als Stätte der Begegnung mit dem Ausland –, aber auch hochschulpädagogischer Reformvorstellungen, die einen ersten Niederschlag bereits im sog. Leipziger Programm, den seit 1894 im Historischen Seminar benutzten und auf dem Frankfurter Historikertag 1895 diskutierten „Ratschlägen für das Studium der mittleren und neueren Geschichte“ gefunden hatten, schuf L. das 1909 eröffnete „Kgl. Sächs. Institut für Kultur- und Universalgeschichte bei der Univ. Leipzig“, das erste aus privater Initiative entstandene geisteswissenschaftliche Lehr- und Forschungsinstitut in Deutschland; es wurde infolge der Gegensätze auch zu den Leipziger Fachkollegen der Regierung direkt unterstellt. Dabei beschritt L., Anregungen aufgreifend, die er 1904 auf seiner Amerikareise zum Internationalen Gelehrtenkongreß auf der Weltausstellung von St. Louis und zum Jubiläum der Columbia-Universität/New York gewonnen und in Gesprächen mit Althoff über dessen (seit 1910 realisierte) Pläne zur Gründung der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften“ konkretisiert hatte, wie dieser, neue Wege der Organisation und Wissenschaftsfinanzierung durch Gewinnung privater Mittel und Zuschüsse seitens der Regierung. Für L. war es der erste Schritt zu einer umfassenden Universitätsreform, die er als gegen die Mehrheit der eigenen Fakultät gewählter Rektor in seinem Rektoratsjahr (1910/11) in Angriff nahm. Unter dem Hinweis auf die materielle und organisatorische Überlegenheit der nordamerikan. Universitäten und die drohende Überflügelung Leipzigs durch die beabsichtigten Berliner naturwissenschaftlich-technischen Forschungsinstitute gelang es ihm, elf weitere geisteswissenschaftliche Forschungsinstitute ins Leben zu rufen und am 31.1.1914 zur „König-Friedrich-August-Stiftung für wissenschaftliche Forschung in Leipzig“ zu vereinigen. Der Erlaß einer Studentenverfassung und die Konstituierung des ersten deutschen Allgemeinen Studentenausschusses (ASTA, 1911) fanden bald Nachahmung an anderen deutschen Universitäten. Das unter der Leitung seines Schülers A. Köhler 1911 eröffnete Akademische Auskunftsbüro wurde an das seit 1904 von Berlin aus aufgebaute Netz akademischer Auskunftsstellen angeschlossen, daß sich über Paris, Wien, Brüssel, Oxford bis New York erstreckte. Dagegen war der Errichtung von Austausch- und Gastprofessuren (mit den USA) nach dem seit 1905 von Preußen geschaffenen Vorbild infolge der eisigen Ablehnung aus dem Leipziger Lehrkörper nur kurze Dauer beschieden. Und auch das Kernstück von L.s Universitätsreformplänen, die durch Althoffs Pläne für Dahlem mitangeregte Errichtung einer Campus-Universität – durch Verlegung der Universität aus dem Stadtzentrum – mit einer neuen, die hierarchischen Abhängigkeiten aufhebenden und die Studentenschaft in die Selbstverwaltung einbeziehenden Personalstruktur, gelangte über den Ankauf von 70 ha Land nicht hinaus und scheiterte an den gleichen Widerständen und am Ausbruch des Weltkriegs.

    Politisch den Kathedersozialisten und den Nationalsozialen nahestehend, wenn auch mit seinen Idealen einer Wiederbelebung genossenschaftlich-korporativen Lebens und einer „Monarchisierung“ der Sozialdemokratie kein Befürworter der vom Linksliberalismus angestrebten parlamentarischen Demokratie, begann L. als ein vorwärtsstrebender Vertreter kritisch-bürgerlichen Geistes. Nach 1900 unterschied er sich mit seinem Eintreten für den Imperialismus und den nationalen Machtstaatsgedanken kaum mehr von den meisten Kollegen, trat aber unter dem Einfluß des Präsidenten der Columbia-Universität und späteren Friedensnobelpreisträgers N. M. Butler in den letzten Jahren vor dem Weltkrieg in zunehmende Distanz zu den Alldeutschen, zu deren prominenten Mitgliedern er gehörte, und warb ab 1910 öffentlich für die vom franz. und angloamerikan. Boden ausgehende Bewegung des Pazifismus, in dem er „eine Erscheinung höchster politischer Kulturblüte der europ. Welt“ sah. 1912 wurde sein „Institut für Kultur- und Universalgeschichte“ für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Im Rahmen der von ihm 1910/11 mitgegründeten deutschen Sektion des „Verbandes für internationale Verständigung“ und im öffentlichen Dialog mit seinem Pförtner Schulkameraden Th. v. Bethmann Hollweg setzte sich L. daher in Wiederaufnahme der von Althoff mit dem Ziel der Friedenssicherung und Völkerverständigung initiierten internationalen Wissenschafts- und Kulturpolitik für eine aktive deutsche „auswärtige Kulturpolitik“ ein, deren Begriff er geprägt und als einer der ersten inhaltlich definiert hat. Den Zusammenbruch der europ. Kulturgemeinschaft im August 1914 erlebte L. fassungslos; von der ersten Kriegspsychose, die auch ihn den „Aufruf der 93 an die Kulturwelt“ und die „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ vom 4./16.10.1914 unterzeichnen ließ, löste er sich bald, voller Sorge um den Ausgang des „furchtbaren Ringens“. Ein tiefer Zwiespalt zwischen kosmopolitischen Hoffnungen und dem Zwang der Nation zur Selbstbehauptung durch eine „mitteleurop. Konföderation“ durchzieht seine weitere Weltkriegspublizistik.

    Ein fesselnder und mitreißender Redner, hat L. viele Schüler angeregt, jedoch keine Schule begründet. Von seinen ersten Bonner Hörern wurden v. Below und Meinecke seine schärfsten Gegner. Zu den Doktoranden und Schülern, die sich zu ihm bekannten und zu Professuren gelangten, gehören O. Clemen, E. Daenell, A. Doren, J. Hashagen, K. Heussi, O. Hoetzsch, R. Kötzschke, H. Sieveking sowie K. R. Brotherus (Helsingfors), W. E. Dodd (Chicago, 1933-37 Botschafter in Berlin), N. Jorga (Bukarest), H. Koht (Kristiania/Oslo, 1935-41 norweg. Außenminister), O. Oppermann (Utrecht), A. B. Show (Stanford). Die positivste Resonanz fand L. im Ausland, vor allem bei H. Pirenne, dessen Geschichte Belgiens auf seine Anregung zurückgeht, bei P. J. Blok, dem Verfasser der ersten niederländischen Geschichte auf wissenschaftlicher Grundlage, und dessen Schüler J. Huizinga, bei den Franzosen P. Lacombe, G. Monod, G. Blondel und H. Berr um die „Histoire synthétique“, den Nordamerikanern J. H. Robinson, C. Becker um die „New History“, bei J. B. Bury (Cambridge, England), A. D. Xénopol (Rumänien), G. W. Plechanow (Rußland), N. Edén (Schweden), G. Volpe (Italien), A. Crevea (Spanien) und E. Queseda (Argentinien). L. ist nicht der Reformator der Geschichtswissenschaft geworden; dazu standen ihm nicht zuletzt seine Sprunghaftigkeit und Ungeduld, sein Geltungsbedürfnis und seine Neigung zu Arroganz und Selbstüberschätzung im Wege. Als einer der ersten wissenschaftl. Großorganisatoren mit dem „dämonischen Trieb des Unternehmers“ (A. Dove, 1891/1916) unter den Gelehrten seiner Zeit vielleicht nur noch Mommsen und Harnack, Felix Klein und Emil Fischer vergleichbar, hielten sich seine konkreten Erfolge als Universitätsreformer, Hochschulpädagoge und Kulturpolitiker trotz der Fülle seiner Anregungen und immer neuen, oft seiner Zeit vorauseilenden Zielsetzungen schon mangels Amtsgewalt zu ihrer Durchsetzung in Grenzen. Aber sein „Weltruhm, wie ihn wenige andere deutsche Forscher besaßen“ (W. Goetz, 1933), beruhte doch darauf, daß er in einer Zeit sich zersplitternder Einzelforschung mit einer imponierenden Spannweite von der Landesgeschichte bis zur Universalgeschichte, von der Alten Geschichte bis zur Zeitgeschichte den Mut zur Synthese besaß. In der Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten hat eine ganze Generation von Historikern und Sozialwissenschaftlern – haben auch seine Gegner von Ed. Meyer bis zu Max Weber – ihr wissenschaftstheoretisches und -methodologisches Instrumentarium erprobt und entwickelt. Seine „Kulturgeschichtsschreibung“, die mit der „Histoire synthétique“ in Frankreich und der „New History“ in den USA in einer umfassenden, durch den Wandel des sozialen Umfelds bedingten Oppositionsbewegung gegen die vorherrschende Tradition stand, wird heute im Zeichen der Strukturgeschichte als „Beginn eines Paradigmenwechsels in der internat. Geschichtswissenschaft um die Jahrhundertwende“ (Wiese-Schorn, Faber) gesehen.|

  • Werke

    Weitere W u. a. Alte u. neue Richtungen in d. Gesch.wiss., 1896;
    Was ist Kulturgesch.? Btrr. zu e. empir. Historik, in: Dt. Zs. f. Gesch.wiss. NF 1, 1896/97, S. 75-145;
    Moderne Gesch.wiss., 1905, ³1920 (engl. u. d. T.: What is History?, 1905);
    Americana. Reiseeindrücke, Betrachtungen, geschichtl. Gesamtansicht, 1906;
    Zwei Reden z.|Hochschulreform, 1910 (franz. 1911);
    Über auswärtige Kulturpol., 1913;
    Der Kaiser, 1913, ²1916 (ital. 1914);
    Rektoratserinnerungen, hrsg. v. A. Köhler, 1917 (P);
    Kindheitserinnerungen, 1918, Nachdr. 1938;
    Ausgew. Schrr. z. Wirtsch.- u. Kulturgesch. u. z. Theorie d. Geschichtswiss., Mit Vorwort u. literar. Bemerkungen v. H. Schönebaum, 1974. - W-Verz.:
    R. Kötzschke, in: Berr. üb. d. Verhh. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss. zu Leipzig, Philolog.-hist. Kl., 67, 1916, S. 105-19;
    H. Schönebaum, in: Wiss. Zs. Univ. Leipzig, Ges.- u. Sprachwiss. R. 5, 1955/56, S. 7-21.

  • Literatur

    F. Mehring (1893/94, 1904, 1910), in: ders., Ges. Schrr. VII, 1965, S. 496-520;
    F. Meinecke (1896, 1915, 1941), in: ders., Werke, Bde. 6-8, 1962-69;
    O. Hintze, Über individualist. u. kollektivist. Gesch.auffassung, in: HZ 78, 1897, wieder in: ders., Soziol. u. Gesch., Ges. Abhh. II, ²1964, S. 315-22;
    L. Ledère, La théorie historique de M. K. L., in: Revue de l'Université de Bruxelles 4, 1899, S. 575-95;
    A. Kuhnert, Der Streit um d. gesch.wiss. Theorien K. L.s [Diss. Erlangen], 1906;
    E. Bernheim, Lehrb. d. Hist. Methode u. d. Gesch.philos., 5/61908, S. 710-18 u. passim;
    E. Rothacker, Über d. Möglichkeiten u. d. Ertrag e. genet. Gesch.schreibung im Sinne K. L.s [Diss. Tübingen], 1912;
    A. B. Show, The New Culture-Hist. in Germany, in: The Hist. Teacher's Mgz. 4, 1913;
    dt. u. d. T.: Die Kulturgesch.schr. K. L.s, in: Vergangenheit u. Gegenwart IV, 1914, S. 65-87;
    R. Kötzschke u. A. Tille, in: Dt. Gesch.bll. 16, 1915, S. 158-93 (P);
    K. Bücher, in: Berr. üb. d. Verhh. d. Sächs. Ges. d. Wiss. zu Leipzig, Philolog.-hist. Kl. 67, 1916, S. 93-104;
    G. Schmoller, in: Schmollers Jb. 40, 1916, S. 1113-40;
    L. M. Hartmann, in: VSWG 13, 1916, S. 209-12;
    A. Dove, in: HZ 115, 1916, S. 585-88;
    G. Seeliger, in: HV 19, 1919/20, S. 133-44;
    E. J. Spieß, Die Gesch.philos. v. K. L. [Diss. Freiburg/Schweiz], 1921;
    R. Kötzschke, in: DBJ I;
    F. Seifert, Der Streit um K. L.s Gesch.philos., 1925;
    W. Hellpach, Gesch. als Soz.psychol., zugleich e. Epikrise üb. K. L., in: Kultur- u. Universalgesch., Festschr. W. Goetz, 1927, S. 501-17;
    S. Hübschmann, in: Mitteldt. Lb. IV, 1929, S. 405-15 (P);
    W. Goetz, Propyläen-Weltgesch. X, 1933, S. 25 f. (P);
    ders., Historiker in meiner Zeit, Ges. Aufsätze, 1957, S. 296-312 u. passim;
    K. Breysig, in: Enc. of the Social Sciences IX, 1937, S. 27 f.;
    A. M. Popper, in: Some Historians of Modern Europe, ed. B. E. Schmitt, 1942, S. 217-40, wieder in: Essays in Modern European Historiography, ed. S. W. Halperin, 1970, S. 119-42;
    H. Rr. v. Srbik, Naturalismus u. Positivismus, K. L. u. K. Breysig, in: ders., Geist u. Gesch. vom dt. Humanismus b. z. Gegenwart II, 1951, S. 213-43;
    H. Schönebaum, K. L., in: Archiv f. Kulturgesch. 37, 1955, S. 269-305;
    ders., K. L.s Mühen um innere u. äußere Kulturpol., in: Die Welt als Gesch. 15, 1955, S. 137-52;
    ders., K. L., Leben u. Werk e. Kämpfers um d. Gesch.wiss. 1856-1915, 2 Bde., 1956 (ungedr., Ms. in Univ.bibl. Leipzig u. Bonn);
    ders., Unausgeführte Vorhaben wiss. u. kulturpol. Art u. d. Forschungsinstitute K. L.s, in: FF 33, 1959, S. 117-23;
    K. Hoffmeister, K. L., Seine Gesch.theorie als Ideol. u. s. Stellung zum Imperialismus, Diss. Göttingen 1956 (ungedr.);
    G. Jahn, K. L. als Wirtsch.- u. Kulturhistoriker, in: Schmollers Jb. 1956, S. 129-42;
    U. Lewald, K. L. u. d. Rhein. Gesch.forschung, in: Rhein. Vjbll. 21, 1956, S. 279-304;
    L. Langerbeck, Die Univ.reformpläne K. L.s, in: Karl-Marx-Univ. 1409-1959, Bd. 2, 1959, S. 39-48;
    E. Engelberg, Zum Methodenstreit um K. L., ebd., S. 23-38; überarb.
    in: Stud. üb. d. dt. Gesch.wiss., hrsg. v. J. Streisand, II, 1965, S. 136-52;
    Th. Schieder, Die dt. Gesch.wiss. im Spiegel d. HZ, in: HZ 189, 1959, S. 14 ff., 47 ff.;
    P. E. Hübinger, Das Hist. Seminar d. … Univ. Bonn, 1963;
    K.-J. Weintraub, Visions of Culture. Voltaire, Guizot, Burckhardt, L., Huizinga, Ortega y Gasset, 1966;
    K. Czok, Der Methodenstreit um d. Gründung d. Seminars f. Landesgesch. u. Siedlungskde. 1906 an der Univ. Leipzig, in: Jb. f. Regionalgesch. 2, 1967, S. 11-26;
    F. Lütge, in: Internat. Enc. of the Social Sciences VIII, 1968, S. 349 f.;
    U. Lewald, in: 150 J. Rhein. Friedrich-Wilhelms-Univ. zu Bonn 1818-1968, Bonner Gelehrte: Gesch.wiss., 1968, S. 231-53;
    G. Oestreich, Die Fachhistorie u. d. Anfänge d. soz.geschichtl. Forschung in Dtld., in: HZ 208, 1969, S. 320-63;
    ders., Huizinga, L. u. d. dt. Gesch.philos. (1973), beide wieder in: ders., Strukturprobleme d. frühen Neuzeit, hrsg. v. B. Oestreich, 1980, S. 57-95 u. 96-126;
    H.-J. Steinberg, in: Dt. Historiker I, hrsg. v. H.-U. Wehler, 1971, S. 58-68;
    B. vom Brocke, Kurt Breysig, Gesch.wiss. zw. Historismus u. Soziol., 1971;
    ders., Hochschul- u. Wiss.pol. in Preußen u. im Dt. Kaiserreich …, das „System Althoff“, in: Bildungspol. in Preußen z. Zt. d. Kaiserreichs, 1980, S. 9-118;
    ders., Der dt.-amerikan. Professorenaustausch, Preuß. Wiss.pol., internat. Wiss.beziehungen u. d. Anfänge e. dt.auswärt. Kulturpol. vor d. 1. Weltkrieg, in: Zs. f. Kulturaustausch 31, 1981, S. 128-82;
    P. Schumann, Die dt. Historikertage v. 1893 bis 1937, Diss. Marburg 1974, S. 36 ff., 102 ff., 220 ff. u. passim;
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    L. Wiese-Schorn, K. L.s Kulturgesch.schreibung zw. Wiss. u. Pol., Diss. Münster 1981 (ungedr.).

  • Porträts

    Aquatintabl. v. M. Klinger, 1915 (Dresden, Staatl. Kupf.kab.), Abb. in: Sächs. Köpfe im zeitgenöss. Bild, hrsg. v. A. Graefe, o. J.;
    Bronzebüste v. M. Klinger, 1909 (Leipzig, Mus. d. bildenden Künste, u. Dresden, Skulpturenslg.).

  • Autor/in

    Bernhard vom Brocke
  • Zitierweise

    Brocke, Bernhard vom, "Lamprecht, Karl" in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 467-472 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118569015.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA