Lebensdaten
1883 – 1934
Geburtsort
Wurzen (Sachsen)
Sterbeort
Berlin
Beruf/Funktion
Schriftsteller ; Kabarettist ; Maler
Konfession
keine Angabe
Normdaten
GND: 118601121 | OGND | VIAF: 19459
Namensvarianten
  • Bötticher, Hans Gustav (eigentlich)
  • Dörry, Fritz (Pseudonym)
  • Hester, Gustav
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Zitierweise

Ringelnatz, Joachim, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118601121.html [19.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Georg Bötticher (1849–1918), Musterzeichner u. Schriftst., S d. Hans (1811–49), Pfarrer zu Görmar b. Mühlhausen, u. d. Clementine Hand (1815–92);
    M Rosa Marie (1857–1924), T d. Gustav Engelhardt (1829–75), Sägewerksbes., u. d. Ottilie Luise Leiding (1829-82);
    Urur-Gvm Johann Christian Hand (1743–1807), seit 1798 Sup. in Sorau (Niederlausitz) (s. Meusel, Gelehrter Teutschland);
    Ur-Gvm Ferdinand Gotthelf Hand (1786–1851), Dr. phil., sachsen-weimar. Prinzenerzieher, o. Prof. d. Phil. u. griech. Lit. zu Jena, GHR (s. ADB X);
    1 B Georg Wolfgang Bötticher (1879–1946), Bergwerksdir. in Halberstadt;
    1 Schw Ottilie Clementine (1882–1958, Hermann Mitter, Kaufm.);
    München 1920 Leonharda (Ps. Muschelkalk) (1898–1977. 2] Dr. Julius Gescher, 1898–1945, Facharzt f. Augenheilkunde u. Homöopath in B., s. NDB VI), T d. Wilhelm Pieper (1861–1922), Bgm. in Rastenburg, u. d. Johanna Clara Raske (1863–1900); kinderlos; S d. Ehefrau aus deren 2. Ehe Norbert Gescher (* 1938), Synchronsprecher in B., Verw. v. R.s Nachlaß.

  • Biographie

    R. besuchte die Volksschule, dann das Staatsgymnasium und nach einem Schulverweis die Tollersche Privatschule in Leipzig, die er mit dem Einjährigen verließ. Seit 1901 fuhr er mit Einwilligung des Vaters weltweit zur See, u. a. bis nach Brit.-Honduras (Was e. Schiffsjungen-Tageb. erzählt, 1911). Nachdem er den Seemannsberuf 1903 wegen mangelnder Sehschärfe aufgeben mußte, begann er eine kaufmännische Lehre in Hamburg, leistete 1904 seinen Marine-Militärdienst und wurde Handlungsgehilfe in Leipzig und Frankfurt/M. 1908 reiste er wegen eines „Abenteuerphantoms“ nach Hull und folgte schließlich einem befreundeten Handlungsgehilfen nach München.

    R.s Jugendzeit wurde begleitet von poetischen Versuchen, die 1901-07 in „Auerbach's Dt. Kinderkalender“ erschienen, den sein Vater herausgab. In München wurde R. in Kathi Kobus' Künstler-Kneipe „Simplicissimus“ zum „Hausdichter“, scheiterte jedoch mit seinem „Tabakhaus zum Hausdichter“, das er von März bis Dez. 1909 führte. Er verkehrte in Künstlerzirkeln wie der „Hermetischen Gesellschaft“ des Bibliophilen C. G. v. Maassen und versuchte sich in der Nachfolge Heines, Eichendorffs, Geibels und Dehmels (Gedichte, 1910). Auf zwei Kinderbücher (Kleine Wesen, 1910; Was Topf u. Pfann' erzählen kann, 1910) folgten kleine Novellen und Erzählungen (Ein jeder lebt's, 1913) voller genial-skurriler Details. Seine Gedichte der „Schnupftabaksdose“ (1912) setzten eine Tradition der Unsinnsdichtung des 19. Jh. fort, die heute nur durch R. und die „Galgenlieder“ Christian Morgensterns bekannt ist.

    1911 reiste R. zu Freunden nach Riga und betreute 1912 in Klein-Oels die Bibliothek des Grafen Yorck v. Wartenburg, die auch den Nachlaß Diltheys enthielt. Nachdem er wegen einer Prügelei entlassen worden war, arbeitete er im Jahr darauf als Bibliothekar Börnes v. Münchhausens, später als Bibliothekar und Fremdenführer auf Burg Lauenstein (Oberfranken). Im Herbst 1913 kehrte er nach München zurück, wo er wieder im „Simplicissimus“ auftrat.

    1914 zog R. begeistert in den Krieg. Meist auf Minensuchbooten in Wilhelmshaven und Cuxhaven eingesetzt, brachte er es 1917 bis zum Leutnant zur See und Bootskommandanten. Auch während des Kriegs schrieb er Gedichte und v. a. Erzählungen, die als eines von Albert Langens „Kriegsbüchern“ erscheinen sollten, von der Zensur jedoch verboten wurden (Die Woge, Marine-Kriegsgesch., 1922). Mit den kleinen erzählerischen Skizzen gelang R. eine Verbindung konventionellen Erzählens mit der leisen Parodie brüchig gewordener bürgerlicher Ideale, die Darstellung der Beziehungslosigkeit von politischem Geschehen und dem Schicksal des einzelnen, von pathetischem Bildungsnationalismus und politischer Ohnmacht. Seine beiden autobiographischen Bücher „Als Mariner im Krieg“ (1928) und „Mein Leben bis zum Kriege“ (1931) sind im wesentlichen zuverlässige, nicht-stilisierte Berichte der Zeit bis 1918, oft mit Tagebuchcharakter.

    Nach Kriegsende scheiterten R.s Versuche, in Berlin Fuß zu fassen, daran, daß er keine Arbeitserlaubnis erhielt; er arbeitete in München bei der Postüberwachungsstelle und trat im Sommer 1920 wieder im „Simplicissimus“ auf, jetzt unter dem Pseudonym J. R., das er seit Dez. 1919 führte. Mit den Gedichtsammlungen „Turn-Gedichte“ und „Kuttel Daddeldu oder das schlüpfrige Leid“ (1920; erw. u. v. Karl Arnold ill. 1923) legte er den Grundstein zu seiner Karriere als Kabarettist und reisender Vortragskünstler seiner eigenen Werke. Der Seemann Kuttel Daddeldu, eine Parodie eigener Seemannsträume, kam als kindliche und dennoch verdorbene Gestalt dem Zeitgeschmack ebenso entgegen wie die zahlreichen gesellschaftlich Deklassierten und einsamen Außenseiter in R.s Gedichten der frühen 20er Jahre. „Ich war aus dem Kriege entlassen“ – diese Anfangszeile aus „Von einem, dem alles danebenging“ (1923) - kennzeichnete das Lebensgefühl einer Generation ohne Orientierung.

    Nach Auftritten in der Berliner Kleinkunstbühne „Schall und Rauch“ im Sept./Okt. 1920 folgten Engagements in vielen dt. Städten, in der dt.sprachigen Schweiz, in Wien und Prag, die R.s Ruhm festigten. Seine „Reisebriefe eines Artisten“ (1927), die Gedichte in „Allerdings“ (1928), den „Flugzeuggedanken“ (1929) und der Sammlung „Gedichte dreier Jahre“ (1932) sowie die Auswahlausgaben „103 Gedichte“ (1933) und „Gedichte,|Gedichte von Einstmals und Heute“ (1934) haben die einfachen Dinge, die Reduzierung der großen Gefühle auf alltägliche Wirklichkeit, die „Umverwandlung von Schwermut in lyrischen Leichtsinn“ (Peter Rühmkorf) zum Thema. Das gilt ebenso für R.s „Geheimes Kinder-Spiel-Buch (1924) und das „Kinder-Verwirr-Buch“ (1931), beide auch ein Zeugnis bewahrter und bewußt inszenierter Kindlichkeit und Naivität.

    Weniger erfolgreich war R. als Dramatiker und Prosaist. Das Zeit- und Selbstbild. … liner Roma …“ (1921, gedr. 1924) nähert sich im Fragmentcharakter mit seinen Momentaufnahmen von der Großstadt Berlin der avangardistischen Collage-Literatur. Die Erzählungen in „Nervosipopel“ (1924) mit ihren unsinnsträchtigen Bildern und Symbolen der Phantasie und der Heimatlosigkeit des Außenseiters gehören in den Kontext expressionistischer grotesker Märchen. Von R.s dramatischen Versuchen hat sich wenig erhalten (Der Flieger 1918; Mannimmond, 1921; Zusammenstoß, 1931), seine Filmpläne sind verloren. Einzig die tragisch-rührende Seemannsballade „Die Flasche“ – im Jan. 1932 im Leipziger Schauspielhaus uraufgeführt – wurde zu Lebzeiten veröffentlicht und ein Erfolg, zumal R. mit ihr selbst in der Rolle des Matrosen Hans Pepper auf Tournee ging (Die Flasche u. mit ihr auf Reisen, 1932).

    Schwermut ist auch in seiner Malerei (seit 1905), Landschaften und Seestücken der Einsamkeit, Darstellungen grotesker Szenen, zu spüren. R. fand Anschluß an die Berliner Kunstszene: 1922 hatte er seine erste Ausstellung in der Galerie Flechtheim, 1925 wurden zwei Bilder auf der Ausstellung der Preuß. Akademie der Künste verkauft. 1930 zog R. von München nach Berlin; seit 1933 hatte er Auftrittsverbot, letzte Gastspiele fanden in Zürich und Basel (1933/34) statt. In der Lungenheilstätte Beetz-Sommerfeld führte er ein letztes Tagebuch und schrieb an einem Roman (Krankenhaus-Tageb., Der letzte Roman, 1934).

  • Werke

    Weitere W Das Gesamtwerk, hg. v. W. Pape, 7 Bde., 1982-85;
    ²1994;
    Briefe, hg. v. dems., 1988. – Bibliogr.: W. Kayser u. H.-P. des Coudres, J.-R.-Bibliogr., 1960, zuerst in: Philobiblon 3, 1959. – Teilnachlaß: Slg. Gescher-R., Berlin.

  • Literatur

    In memoriam J. R., bearb. v. M[uschelkalk, d. i. Leonharda Gescher], 1937 (P);
    W. Schumann (Hg.), Himmelsbrücke u. Ozean, J. R., e. malender Dichter, 1961;
    P. Rühmkorf, Das Schwere leicht zu sagen, in: Antworten, Jb. d. Freien Ak. d. Künste in Hamburg 1963, S. 107-15;
    H. Günther, J. R. in Selbstzeugnissen u. Bilddok., 1964 u. ö. (Bibliogr., P);
    C. A. Butler, J. R., A Critical Assessment of his Literary Achievement, Phil. Diss. 1968 (ungedr.);
    ders., R. u. seine Zeit, in: Die sog. Zwanziger J., hg. v. R. Grimm u. J. Hermand, 1970, S. 143-67;
    W. Pape, J. R., Parodie u. Selbstparodie in Leben u. Werk, Mit e. J.-R.-Bibliogr. u. e. Verz. seiner Briefe, 1974 (Bibliogr. S. 314-59);
    P. Michelsen, Alkohol in Versen, Gedenk-Gedanken an J. R., in: ders., Zeit u. Bindung, 1976, S. 157-61;
    H. Bemmann, Daddeldu, ahoi! Leben u. Werk d. Dichters, Malers u. Artisten J. R., 1982, vollst. bearb. u. d. T.: J. R., 1996;
    U. M. Schneede (Hg.), R., d. Maler, 1983 (Ausst.kat.);
    R.! Ein Dichter malt seine Welt, hg. v. F. Möbus u. a., 2000 (P);
    J. R., Text + Kritik 148, 2000;
    Metzler Kabarettlex. (P);
    Metzler Autorenlex. (P);
    Kosch, Lit.-Lex.³;
    Killy;
    Munzinger.

  • Porträts

    Scherenschnitt v. E. M. Engert, 1923;
    Gem. v. G. Tolle, 1926;
    Porträtfotos v. F. Eschen, 1933;
    Bronzebüste v. R. Sintenis, 1923 (alle in: Slg. Gescher-R., Berlin);
    Porträt-Zeichnung v. R. Großmann auf d. Einband v. „Allerdings“ (1928);
    Porträt-Karikaturen v. O. Gulbransson auf d. Einbänden v. „Reisebriefe e. Artisten“ (1927), „Flugzeuggedanken“ (1929), „Gedichte dreier Jahre“ (1932).

  • Autor/in

    Walter Pape
  • Zitierweise

    Pape, Walter, "Ringelnatz, Joachim" in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 631-633 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118601121.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA