Lebensdaten
1307 – 1382
Geburtsort
Straßburg
Sterbeort
Straßburg
Beruf/Funktion
religiöser Schriftsteller ; Schwärmer ; Kaufmann
Konfession
katholisch
Normdaten
GND: 118750356 | OGND | VIAF: 35252052
Namensvarianten
  • Delphinus (Pseudonym)
  • Hieronymus (Pseudonym)
  • Delphinus, Hieronymus (Pseudonym)
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Zitierweise

Merswin, Rulmann, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118750356.html [28.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    Aus vermögender Straßburger Patrizierfam;
    B Johannes, Bankier, Burggf. v. St. bis 1374;
    1) N. N. (früh †), 2) Certrud v. Bietenheim ( 1370), verw. Völlsche, T d. Rr. Reimbold Reimböldelin; kinderlos.

  • Biographie

    M. war zeitweilig als Geschworener der Münze tätig. Nachdem seine beiden Ehen kinderlos geblieben waren, beschloß er mit 40 Jahren im Einverständnis mit seiner zweiten Frau, künftig als homo religiosus ein enthaltsames Leben zu führen und seinen weltlichen Beruf aufzugeben. Zur selben Zeit (1347/48) wurde Johannes Tauler sein Beichtvater. Ein entscheidender Anteil an M.s Bekehrung kommt wohl auch Heinrich von Nördlingen zu, der 1345 in Straßburg war und der dort 1347 im Einvernehmen mit Tauler einen Kreis von Gottesfreunden aus Angehörigen der angesehensten Familien aufbaute. Am 8.1.1350 bewilligte Papst Clemens VI. für M. und seine Frau einen Sterbeablaß. Seine organisatorischen und kaufmännischen Fähigkeiten stellte M. in den Dienst des Wiederaufbaus der verfallenden Klosteranlage „Zum Grünen Wörth“ in Straßburg, die er 1367 von den Altdorfer Benediktinern erwarb und von Grund auf umbauen ließ. Durch Vertrag vom 12.1.1371 übergab er sie am 2. dem Johanniterorden unter der Leitung eines Johanniterkomturs. Entscheidender Einfluß bei allen Belangen des Hauses blieb allerdings vertraglich den drei Pflegern (Laien) vorbehalten, die sich durch eigene Wahl ergänzten (bei der Gründung M. selbst, sein Bruder Johannes und der Ritter Heintzemann Wetzel). M., der sogar die Mitsprache des Bischofs bei der Bestellung von Priestern im „Grünen Wörth“ ausgeschaltet hatte, lebte dort selbst bis 1380 als Pfründner und Pfleger (im Grunde als eigentlicher Leiter). Dann siedelte er in ein Privathaus über, das neben dem Kloster lag, behielt die gewohnte Einflußnahme aber bei.

    Die klug geordnete Stiftung war von Erfolg begleitet: Die geschäftserfahrenen Pfleger sanierten schließlich auch die Johanniterklöster in Rheinau und Schlettstadt und inkorporierten sie dem „Grünen Wörth“. Insbesondere wurde die Straßburger Bibliothek ausgebaut und mit Büchern ausgestattet, die dem mystisch orientierten Interesse des Gründers entsprachen. So wurde beispielsweise die älteste bekannte Handschrift von Heinrich Seuses „Exemplar“ für den „Grünen Wörth“ geschrieben. Die Anziehungskraft des Hauses scheint auch nach M.s Tod beträchtlich gewesen zu sein. Zahlreiche Angehörige der reichen städtischen Schichten und des Adels zogen sich dorthin zurück, so u. a. der zeitweilige Bürgermeister von Augsburg Sigmund Gossembrot und der Dekan des Freiburger Münsters Heinrich Laufenberg. Kaiser Maximilian besuchte das Haus bei jedem seiner sieben Aufenthalte in Straßburg.

    M.s Unternehmungen und seine schriftstellerische Tätigkeit gehören in den Rahmen der rhein. Gottesfreund-Bewegung, die sich, organisatorisch unfest, in unterschiedlichen Programmen manifestierte (vgl. Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich von Nördlingen und Margareta Ebner, Otto von Passau, Marquard von Lindau). M. erhob nicht den Anspruch literarischer Eigenständigkeit; seine Werke sind im Grunde nur Überarbeitungen und Umgestaltungen fremder – oft anonymer – mystischer Texte. Abgesehen von den wenigen Werken mit eigener breiterer Überlieferungstradition („Neunfelsenbuch“, „Meisterbuch“) waren M.s Texte „lediglich Hausliteratur des Straßburger Johanniterklosters, zu dem Zweck geschaffen, das Konzept einer speziellen Auffassung der Gottesfreundschaft zu legitimieren“ (Steer, 1987). Spezifikum der M.schen Stiftung und Literaturproduktion ist dabei nicht nur, wie früher angenommen, die Frömmigkeit der Laien, sondern die Frömmigkeit der Gottesfreunde, die ausdrücklich alle Stände, „pfaffen oder laien, ritter oder knechte“, umspannen sollte.

    Das Interesse der Forschung fanden M.s Schriften vor allem deshalb, weil man glaubte, hier einen Vorläufer der Reformation und ihrer Lehre vom allgemeinen Priestertum sehen zu können (Strauch). Hat die jüngere Forschung (Steer) mit Recht diese Position relativiert und vor allem die These einer Verherrlichung antihierarchischer Laienfrömmigkeit durch M. zurückgewiesen, so bleibt als ein Impetus der „mystischen Agitation“ M.s (Haas) doch die Aufwertung der Stellung der Laien gegenüber einer wenig vorbildlichen Priesterschaft. Das „Meisterbuch“ etwa berichtet von der Bekehrung eines pharisäischen „meisters“ und „pfaffen“ durch einen begnadeten „leien“. Erst die späte Überlieferung der Drucke identifizierte den „meister“ fälschlich mit Johannes Tauler, während das „Große Deutsche Memorial“ des „Grünen Wörth“ den „leien“ mit dem „lieben gottes frúnt in Oberlant“, „Rulman Merswins geselle“ gleichsetzte, der das „Meisterbuch“ (wie eine Reihe anderer Werke, die M. von vernichteten Originalen lediglich kopiert haben will) angeblich „in eime bapire mit sin selbes haut geschriben herabe sante … den brudern zu dem Grunenwerde“. Dieser geheimnisumwitterte „Gottesfreund“, der vorgebliche Bekehrer Taulers, beschäftigte die Fachwelt schon früh.

    Die Zeitgenossen M.s scheinen an dessen reale Existenz geglaubt zu haben: In der „Vita“ der Margareta von Kentzingen wird berichtet, sie habe den „Gottesfreund“ in seinem 99. Lebensjahr besucht. Geschichtlich verbürgt dagegen ist die Suche, die man nach M.s Tod, als keine Nachrichten vom „Gottesfreund“ mehr eintrafen, vom „Grünen Wörth“ aus unternahm. Nikolaus von Löwen, der engste Mitarbeiter M.s, leitete eine Expedition zum Benediktinerkloster Engelberg in der Schweiz. Die Nachforschungen nach dem „Gottesfreund“ blieben bis heute erfolglos. Schmidt hielt ohne Beweise den Häretiker Nikolaus von Basel, einen Laien, für den „Gottesfreund“. Denifle, dessen Auffassung Strauch teilte, entlarvte den angeblichen „Gottesfreund“ jedoch als Erdichtung M.s. Zum Zweck der „Gottesfreund“-Fiktion soll M. sowohl seine Schrift verstellt (Jundt), als auch eine „Dialektfälschung“ (Strauch) vorgenommen haben. Nach Rieder stammen die angeblichen Schriften des „Gottesfreundes“ dagegen von Nikolaus von Löwen. Wenn auch letzte Klarheit in der Frage der Autorschaft dieser Schriften fehlt, teilt die neueste Forschung doch weitgehend die Ansicht Denifles und Strauchs. Die Mystifikation des großen unbekannten „Gottesfreundes“, den M., dessen eigene Traktate erst nach seinem Tod gefunden wurden, 1351 kennengelernt haben will, diente letztlich wohl auch einem sehr konkreten Zweck: der Sicherstellung von M.s dominanter Position im „Grünen Wörth“. Seit 1381 blieben die Nachrichten des „Gottesfreundes“ aus.

  • Literatur

    ADB 21;
    K. Schmidt, Nicolaus v. Basel, Leben u. ausgew. Schrr., 1866;
    H. S. Denifle, Taulers Bekehrung, krit. untersucht, 1879;
    ders., Taulers Bekehrung, in: Hist.-pol. Bll. 84, 1879, S. 797-815, 877-97;
    A. Jundt, R. M. et l'ami de dieu de l'Oberland, 1890;
    K. Rieder, Der Gattesfreund v. Oberland e. Erfindung d. Straßburger Johanniterbruders Nikolaus v. Löwen, 1905;
    Ph. Dollinger, Patriciat noble et patriciat bourgeois à Strasbourg au 14e siècle, in: Revue d'Alsace 91, 1951, S. 52-82;
    B. Gorceix, Amis de Dieu en Allemagne au siècle de Maître Eckhart, 1984;
    G. Steer, Die Stellung d. „Laien“ im Schrifttum d. Straßburger Gottesfreundes R. M. u. d. dt. Dominikanermystiker d. 14. Jh., in: L. Grenzmann u. K. Stackmann (Hrsg.), Lit. u. Laienbildung im SpätMA u. in d. Ref.zeit. Symposion Wolfenbüttel 1981, 1984, S. 643-58;
    A. M. Haas, Dt. Mystik, in: H. de Boor u. R. Newald, III, Die dt. Lit. im späten MA 1250-1370, 2. T., hrsg. v. I. Glier, 1987, S. 299-303 (W mit angebl. Entstehungsjahren);
    Ph. Strauch, in: PRE 17 (W-Verz., L);
    Dictionnaire de Spiritualité ascétique et mystique X, 1980;
    G. Steer, in: Vf.-Lex. d. MA² (W-Very., L);
    BBKL.

  • Autor/in

    Freimut Löser
  • Zitierweise

    Löser, Freimut, "Merswin, Rulmann" in: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 177-178 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118750356.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Merswin: Rulman M. ist der Verfasser einer Reihe tendenziöser und mit Vorliebe in das Bild einer Vision eingekleideter Selbstbekenntnisse und Tractate und nach Denifle's jüngst in der Zeitschrift für deutsches Alterthum 24, 200 ff., 280 ff., 463 ff.; 25, 101 ff. geführtem, glänzenden Nachweise Schöpfer jenes mysteriösen „Gottesfreundes im Oberland“, der Bd. IX S. 456 ff. (vgl. Bd. XIV S. 453 voce Johann von Chur) in der Voraussetzung seiner wirklichen, historisch beglaubigten Existenz in einem besonderen Artikel behandelt wurde. — M. ist 1308 zu Straßburg geboren und stammte aus einem alten daselbst angesessenen und wiederholt städtische und bischöfliche Aemter verwaltenden Geschlechte, dessen Geschichte wir bis in den Anfang des 16. Jahrhunderts verfolgen können. In reichen Verhältnissen aufgewachsen, lebte M. in seiner Vaterstadt als Kaufmann und Geldwechsler. Es wird berichtet, er sei ein rechtes Weltkind gewesen, lustig und fröhlich von Natur, so daß jeder ihn liebte und gern mit ihm verkehrte. Allein die trübe Zeitlage seit den zwanziger Jahren des 14. Jahrhunderts, die Straßburg ganz besonders schwer empfinden sollte, ließ auch Merswin's ursprünglich heitere Sinnesart nicht unberührt. Im J. 1347 entsagte er der Welt mit Zustimmung seiner zweiten Frau Gertrud v. Bietenheim, einer „erberen einfaltigen cristinen frouwen“, nachdem seine erste wie zweite Ehe kinderlos geblieben war. Tauler, der in Straßburg als angesehener Prediger wirkte, wurde sein Beichtvater und auch sonst suchte er mit mystischen Gottesfreunden Verkehr, so mit dem Weltpriester Heinrich von Nördlingen (s. u.) und der Medinger Nonne Margareta Ebner (s. Bd. XX S. 332). Gegen Kirchen und Klöster zeigte sich M. freigebig, wiederholt erscheint sein Name urkundlich bei Schenkungen und Spenden an milde Stiftungen oder bei deren Verwaltung; von besonderer Wichtigkeit aber ist sein Verhältniß zum Straßburger Johanniterhause. Auf einer Illinsel, die man den Grünen Wörth nannte, stand ein altes Kloster, das bereits dem Verfalle drohte. M. kaufte dasselbe im J. 1367 an, ließ auf seine Kosten|die Kirche wiederherstellen und schenkte es 1371 an die Johanniter, nachdem sich zuvor Augustiner, Cistercienser und Dominikaner vergeblich darum beworben hatten. Jeder, auch der Laie, fand hier Aufnahme unter keiner anderen Bedingung als genügend Vermögen zu besitzen, um dem Hause nicht zur Last zu fallen. Auch M. wohnte fortan in seiner Stiftung und bekleidete zusammen mit dem Ritter Heintzmann Wetzel und dem bischöflichen Burggrafen Johannes Merswin das Amt eines ersten Pflegers. 1380 siedelte er größerer Askese wegen in ein beim Kloster gelegenes Privathaus über und soll hier, schon dem Tode nahe, einige kleine asketische Tractate geschrieben haben. Er starb am 18. Juli 1382, 74 Jahre alt, und wurde neben seiner zweiten Frau ( am 6. December 1370) im Chor der Johanniterkirche begraben. Wir verdanken diese Nachrichten dem Memorial des Straßburger Johanniterhauses, in dem der Ursprung des Klosters von Nicolaus v. Laufen (1339—1402), seit 1366 Merswin's Famulus und späterem Johanniter zum Grünen Wörth, ausführlich mit Wiedergabe der Urkunden erzählt ist.

    Von einer schriftstellerischen Thätigkeit Merswin's wußte bei seinen Lebzeiten Niemand etwas. Erst nach seinem Tode fanden die Johanniter in seiner Wohnung ein mit seinem Siegel verschlossenes Kästchen, das mehrere Schriften von seiner Hand enthielt, unter ihnen seine Hauptwerke, einen Bericht über seine Bekehrung, betitelt „Von den vier Jahren seines anfangenden Lebens“ und das „Buch von den neun Felsen“, beide Werke angeblich 1352 verfaßt. In dem letztgenannten, das seiner gewiß anderswoher entlehnten Anlage nach, aber auch nur in diesem Einen an Dante erinnert, ersteigen wir mit M. einen hohen Berg, von Fels zu Fels klimmen wir durch eine lange Reihe von Reinigungen empor. Auf jeder neuen Höhe legt der Mensch eine neue Sünde ab; je höher und schwieriger das Steigen, um so glänzender die Aussicht. Die Zahl der Bewohner wird geringer, je mehr wir uns dem Gipfel nähern. Auf dem obersten Felsen weilt die geringe Zahl der wahren Gottesfreunde, auf denen die Christenheit ruht, er bezeichnet „die Pforte, die da führt zum Ursprunge, dem innersten Wesen der Gottheit, aus welchem alle geschaffenen Dinge im Himmel und auf Erden gekommen sind“. Auch ihn selbst, berichtet M., habe Gott schließlich in diesen Ursprung blicken lassen, kaum einen Augenblick lang; er konnte aber nicht ausdrücken, was er da gesehen. Dieser Hauptvision hat M. eine Art Buch des Rügen, eine Schilderung aller Stände der damaligen Gesellschaft vom Papste und Kaiser bis zu den Begharden und Bauern vorausgeschickt, gleichfalls hierfür das Bild der Vision verwendend. Gott führt dem M. die Gebrechen der Christenheit vor und zeigt ihm, wie sehr allenthalben sowol bei Geistlichen als bei Laien jeder christlichen Ordnung Hohn gesprochen werde. In den, Vier Jahren' hat M. seine Bekehrungsgeschichte beschrieben, in der Entbehrungen und Kasteiungen eine Hauptrolle spielen. Schwere Leiden wechselten bei ihm mit stets neuen Anfechtungen und Zweifeln und nicht nur sein Körper, auch die Kraft seines Geistes wurde schließlich durch diese sortgesetzte Askese geschwächt. Nach vierjähriger Uebung glaubte er die Natur endlich in sich ertödtet zu haben. Durch immer häufigere Ekstasen und Visionen kam er dahin, von nichts Irdischem mehr angefochten, von keiner Versuchung mehr in seinem beschaulichen Leben gestört zu werden.

    Noch sonst hat M. Einiges unter eigenem Namen geschrieben, wie z. B. das „Bannerbüchlein", das die Menschen ermahnt unter Christi Banner zu fliehen und warnt vor dem in jüngster Zeit aufgepflanzten Banner Lucifer's, womit vielleicht die Secte des freien Geistes gemeint ist. Anderes wie die „Drei Durchbrüche“, die „Sieben Werke des Erbarmens“ (letzteres noch ungedruckt), sind Bearbeitungen geistlicher Tractate oder einzelner Gedanken anderer Mystiker, wobei M., wie z. B. bei dem Auszuge aus dem ersten und zweiten Buche von Ruusbroec's Geistlicher Hochzeit, nicht immer zwischen Fremdem und Eigenem genau zu scheiden wußte oder richtiger in der Art der Darstellung sich gelegentlich den Schein gab, als rühre alles von ihm her. Freilich sein breiter, weitschweifiger, geschwätziger, an Wiederholungen reicher Stil läßt hier bald die Unterschiede und Verschiedenheit der Verfasser erkennen. In jedem Worte seiner Schriften zeigt sich M. als ungelehrter, ungeübter Laie. Nirgends begegnen wir auch nur einem Schimmer von Gelehrsamkeit, nirgends Citaten, nirgends systematisch geordneten Gedanken; alles ist bei ihm Eingebung einer lebhaften, jedoch ungezügelten Phantasie. Aber ein Grundgedanke durchklingt alles, was er geschrieben: M. will das ungelehrte, aber begnadigte Laienthum über den geschulten Klerus erheben, er ist stolz darauf, daß er, der Laie, von Gott ausersehen sei, seinen Mitmenschen ihre Gebrechen vorzuwerfen. Wiederholt betont er, er greife nur ungern zur Feder und nur auf göttliches Geheiß. Als Gott, wie er behauptet, ihm die Abfassung der Neun Felsen befiehlt, meint er, die Christenheit habe der Bücher und Lehrer genug und bessere sich doch nicht; auch dürfe er als Laie dergleichen Dinge nicht schreiben, ja die Menschen würden vielleicht sein Buch verwerfen als der heiligen Schrift zuwider. Aber Gott antwortet ihm, er könne seine Gnade ausgießen durch wen er wolle und jeder Christ werde in seinem eigenen Herzen fühlen, daß dies Buch lautere Wahrheit enthalte. In dieser Weise ermuthigt und berufen geht er ans Werk, bald in weichlich-sentimentaler, bald in harter, rücksichtsloser Sprache redend, stets zum Extremen geneigt.

    Wäre damit die Biographie und Charakteristik Merswin's abgeschlossen, es verlohnte nicht seiner Person von doch nur mittelmäßiger Begabung ein eingehenderes Interesse zu schenken. Und doch! M. darf unsere Aufmerksamkeit in vollem Maße beanspruchen als Schöpfer eines Wesens, das, weil ein Erzeugniß seiner Phantasie, nie gelebt, aber bis auf die jüngste Zeit, ein halbes Jahrtausend hindurch, als Mensch von Fleisch und Blut in der Kirchengeschichte des Mittelalters für eine der anziehendsten Erscheinungen gegolten hat.

    Von den inneren Erlebnissen der vier Jahre 1347—1351, in denen sich Merswin's Bekehrung vollzog, sagte er Niemandem etwas, bis er ca. 1351 „den großen Gottesfreund“ kennen lernte, der zu ihm aus dem Oberland herabkam. Dieser, bisher aller Welt unbekannt, ward bald Merswin's heimlicher Freund und ihm ließ sich M. „zu Grunde an Gottes Statt“, d. h. er gab sich völlig in seinen Gehorsam und erzählte ihm auch seine geistige Umwandlung. Der Gottessreund gab ihm sein „Büchlein von den zwei Mannen oder den fünf Jahren seines Anfanges“, das seine eigene Bekehrungsgeschichte enthielt, und verlangte von M. die Aufzeichnung der seinigen. Anderen gegenüber gelobten sich beide völliges Stillschweigen hierüber. Ueber den ungenannten Gottesfreund erfahren wir in Kürze Folgendes. Als reicher Kaufmannssohn geboren führte er nach der Eltern Tode ein ritterliches, weltliches Leben und Verlobte sich später mit einem adligen Fräulein Namens Margareta. Am Tage vor der Hochzeit ändert er jedoch durch göttliche Erleuchtung seinen Sinn und löst das Verhältniß. Das geschah gegen Ende der dreißiger Jahre des 14. Jahrhunderts. Er geht in die Einsamkeit eines Gartens, bis er innere Harmonie gefunden, und beginnt dann eine große Wirksamkeit nach außen, die ihn hernach zum Mittelpunkt eines Geheimbundes macht, in dem er eine kolossale, fast göttliche Verehrung genoß. Wie M. „ließen“ sich ihm noch viele, viele Andere, vor allem ein berühmter Prediger und Meister der heiligen Schrift, den man ganz mit Unrecht aber bereits seit dem Ende des 15. Jahrhunderts mit Tauler identificirt hat. Zu diesem Meister, so heißt es, kam 1346 ein Laie, „der liebe Gottesfreund im Oberland, Rulman Merswin's Geselle“, dreißig Meilen Weges, um seine Predigt|zu hören. Er hört fünf Predigten, beichtet bei ihm und bittet ihn zu predigen, wie der Mensch zu dem Allernächsten und -höchsten kommen könne. Der Meister hält die Predigt, der Laie schreibt sie nach. Es entspinnt sich darauf zwischen dem Gottesfreunde und dem Meister ein Gespräch, in Folge dessen sich der Meister dem Laien unterwirft und sich von da an wie ein Kind von ihm belehren und leiten läßt. Der Laie hält ihm vor, er lebe selbst nicht nach seiner Lehre, er sei noch unter der Herrschaft des Buchstabens und mithin ein Pharisäer. Der Meister solle Predigen, Studiren und Beichtabnehmen aufgeben, er solle nur für sich beten. Der Meister wird wegen seiner Askese, in der er sich zwei volle Jahre übt, verspottet und hat innerlich wie äußerlich viel zu leiden. Als er nach Ablauf der zwei Jahre seine erste Predigt wieder hält, kann er wegen Weinens und Schluchzens nicht reden und muß von der Kanzel steigen. Später hält er furchtbar überschwängliche, bei näherer Prüfung geradezu unkirchliche, jedesfalls untheologische Reden, durch die er nichts destoweniger seine Zuhörer entzückt, sogar verzückt. In diesem neuen Leben, das ihn weithin berühmt macht, ist er neun Jahre, dann wird er todesgefährlich krank. Er sendet zum Gottesfreunde und übergibt ihm die Geschichte seines Lebens mit der Erlaubniß der Veröffentlichung; er möge letzteres aber nicht hier in der Stadt thun, da man ihn dann bald als Verfasser erkennen würde. Er möge die Schriftstücke mit in seine Heimath nehmen. Nach 11 Tagen starb der Meister unter großen Aengsten und Nöthen. Der Laie aber floh aus der Stadt, um sich weiteren Fragen über den Meister zu entziehen. Später machte er ein Büchlein aus den ihm übergebenen Schriften des Meisters, das sogenannte „Meisterbuch“, dem obige Mittheilungen entnommen sind.

    Ganz ähnliche Bekehrungsgeschichten enthalten nun auch sämmtliche andere Schriften des mysteriösen Laien und Gottesfreundes, denn groß ist die litterarische Hinterlassenschaft dieses Mannes. In Abschriften von Merswin's Hand, wie dieser selbst es berichtet, sind viele geistliche Romane, Novellen und Tractate — 16 an der Zahl, von denen die Hälfte noch ungedruckt —, die Historisches mit litterarischen Reminiscenzen und Erfundenem mischen, unter dem Namen des großen Gottesfreundes auf uns gekommen. Derselbe tritt in ihnen auf als ein Mann von reicher natürlicher Begabung, weltweise wie man unter Tausenden nicht Einen wiederfinden würde, sinnreich und im Besitz der höchst möglichen Stufe der Vollkommenheit. Nach fünf Jahren der Bekehrung ist er ein bewährter Freund Gottes, der der Auserwählung sicher ist und nicht mehr des göttlichen Einsprechens bedarf. So groß seine Begabung, so groß und geheimnißvoll ist auch seine Thätigkeit. Sein Einfluß auf die Herzen muß seinen Schriften nach geradezu ein zauberhafter, allbezwingender gewesen sein und erstreckte sich auf alle Stände. Wie die höchsten geistigen Würdenträger sich bei ihm Raths erholten, so konnten selbst Juden und Heiden sich seinem Einflusse nicht entziehen. In den fernsten Ländern, in Ungarn, Böhmen und Italien hatte er Anhänger und Freunde. Zwischen 1365 und 1374 ging er mit einigen Genossen auf einen Berg, doch wußte keiner bis auf M. seinen Aufenthaltsort, der nun der Mittelpunkt wurde, wo „die Fäden seiner gleichsam unterirdisch wühlenden Thätigkeit“ zusammenliefen. Denn auch in der Verborgenheit noch wirkte er nach außen hin durch geheime Boten, die namentlich zwischen M. und ihm hin- und hergingen. Nur selten noch trat der alte Gottesfreund aus dem geheimnißvollen Dunkel hervor, so als er 1377 mit einem Genossen nach Rom ging und eine Audienz bei Gregor XI. erwirkte, den er wie Katharina von Siena zu Reformen zu vermögen suchte. Der Papst aber befolgte die Mahnung nicht und starb, wie ihm im Falle der Weigerung vorausgesagt war, ein Jahr darauf, am 27. März 1378. In diesem Jahre brach das Schisma aus. Der Gottesfreund erkannte die große Gefahr für die Christenheit und war|der Ansicht, nur das Erbarmen Gottes, angerufen durch die Gebete seiner auserwählten Freunde, vermöge einen Aufschub zur Buße zu gewähren. Er schrieb nach Straßburg, es würde vielleicht nöthig werden, daß die Gottesfreunde sich offenbarten, ihren geheimen Aufenthaltsort verließen und wie die Apostel nach fünf Enden der Christenheit auseinander gingen. In der Voraussicht kommender Plagen unternahm er noch eine Reise nach Metz; eine zweite Romfahrt war geplant, gelangte aber nicht zur Ausführung. Aus dem Jahre 1380 wird noch von einem wunderbaren Briefe berichtet, der am Charfreitag vor 13 Gottesfreunden vom Himmel gefallen sein soll und der, nachdem er von diesen in den verschiedensten Sprachen gelesen war, in Flammengestalt wieder zum Himmel emporfuhr. In dem Briefe soll Gott sich den Bitten der Gottesfreunde, dem Verderben noch einen dreijährigen Aufschub zu gewähren, willfährig gezeigt haben. Fortan lebte der Gottesfreund als Klausner im strengsten Sinne des Wortes, auf seinen Rath hatte sich auch M. in ein Privathaus zurückgezogen. Jeglicher briefliche Verkehr wurde zwischen ihnen abgebrochen. Nur 1381, als abermals eine verheerende Seuche ausbrach, sandte der Gottesfreund eine Ermahnung und ein Gebet nach Straßburg, das er bereits 1350 den geängsteten Seelen zum Trost geschrieben hatte. Hiermit brechen aber alle weiteren Spuren von seinem Leben ab.

    Es muß noch erwähnt werden, daß auch auf die Stiftung und Verwaltung des Klosters zum Grünen Wörth der Gottesfreund einflußreich wirkte. Auf seinen Rath schenkte M. das Kloster den Johannitern und auch sonst war für jede wichtige Angelegenheit (z. B. beim Kirchenbau) dort der Ausspruch des Gottesfreundes bestimmend und Ausschlag gebend. Zeugniß ferner für seine nahen Beziehungen zu den Johannitern die tiefe Verehrung, die zufolge dem Memorial noch lange nach des Gottesfreundes Tode im Kloster für ihn gehegt wurde, Zeugniß aber namentlich eine Anzahl Briefe des Gottesfreundes an die Straßburger Johanniter, insbesondere an ihren Comthur Heinrich von Wolfach. Es lag demnach gewiß nahe, wenn die Letzteren etwas Genaueres über diesen ihren Wohlthäter und Berather zu erfahren wünschten. Nur M. konnte hier Ausschluß geben, durch dessen Hand sowohl die Schriften als auch die Briefe des Gottesfreundes gingen. Als M. im J. 1382 im Sterben lag, baten ihn die Johanniter, er möchte sie doch über den geheimen Boten Ruprecht, der den Verkehr zwischen ihm und dem Gottesfreunde vermittelte, aufklären, damit dieser sie zum Gottesfreunde geleite. Allein sie erhielten zur Antwort, der Bote sei kurz vorher gestorben. Als nun auch M. starb, wußte keiner den Aufenthalt des Ungenannten und wiederholte unter Nicolaus' von Laufen Leitung angestellte Versuche ihn auszukundschaften, blieben erfolglos. Eine eigens zu diesem Zwecke unternommene Reise ergab keine Resultate.

    Und so sind auch alle neueren Forschungen nach dem Gottesfreunde vergeblich gewesen. Zuerst glaubte man ihn wiedergefunden zu haben in einem Häretiker, jenem Nikolaus von Basel, der viele durch seine Irrthümer verführte und um 1409 mit ein Paar Genossen sein Leben auf dem Scheiterhaufen endete. Den geheimen Aufenthaltsort haben einige in den Vogesen, andere in der Schweiz in der Umgegend von Luzern, zuletzt in der Herrschaft Toggenburg gesucht, wo ein frommer Einsiedler, Johann von Rütberg lebte, der mit dem Gottesfreunde identisch sein sollte. Keine dieser Vermuthungen kann jedoch genügen: bei näherer Prüfung ergiebt sich, daß die Schriften des Gottesfreundes ein wahres Labyrinth von Widersprüchen und Unglaublichkeiten aufweisen, durch das sich hindurchzuwinden absolut unmöglich ist. Schon der Umstand, daß der Gottesfreund seine eigene Bekehrungsgeschichte in fünf Schriften (im Buch von den zwei Mannen, Buch von den zwei 15jährigen Knaben, Geistliche Stiege, Meisterbuch, Fünfmannenbuch) viermal verschieden erzählt, in seinen Zeitbestimmungen, seinen Orts- und Distanzenangaben sowie sonstigen Aussagen sich beständig widerspricht oder ungenau ist, so daß es nicht gelingen will, auch nur die geringste Uebereinstimmung hineinzubringen — schon dieser Umstand nöthigt zu dem Ausspruch, es gäbe keinen unzuverlässigeren Gewährsmann als ihn. Der Gottesfreund besitzt eine Proteusnatur und ist, kritisch beleuchtet, ein Schwätzer. Sodann muß es auffallen, daß dieser Gottbegnadete, seine Mitmenschen mit magischer Gewalt an sich ziehende Laie, der bereits die höchst mögliche Stufe der Vollkommenheit erreicht hat, in seinen Schriften mit großer Gewichtigkeit allbekannte Dinge lehrte, oder seine an vielen Stellen zu Tage tretende Gedankenarmuth, wie wir es ihm nachweisen können, durch Benutzung einzelner Sätze und ganzer Tractate anderer Mystiker (Eckhart, Seuse, Tauler, Tractat über Schwester Katrei) zu verbergen sucht und auch diese noch oft mißverstand. Es muß auffallen, daß seine so stark betonte Wissenschaft über den Glauben sich kaum über jene eines gläubigen Menschen gewöhnlichsten Schlages erhebt. Nirgends begegnet eine im Zusammenhang vorgetragene Lehre; wo er eine solche entwickeln soll, bricht er regelmäßig mit der Phrase ab, es gebe kein so großes Buch, um alles das ausführen zu können. Aber nicht nur gedankenarm ist der Gottesfreund, er redet auch ungeschickt, unklug, ja verletzend. Was letzteres betrifft, so spielt die Unkeuschheit in seinen Geschichten eine überaus große Rolle, die durch nichts gerechtfertigt ist. Und endlich: wer himmlische Briefe und Ansprachen erdichtet — denn jener vom Himmel gefallene Brief zeigt den gleichen Stil und die gleichen Ideen wie die Schriften des Gottesfreundes —, der hat sich jedesfalls eine besondere Methode zur Gottesfreundschaft anzuleiten zu eigen gemacht.

    Alle Lebensbilder des Gottesfreundes verrathen schablonenmäßige Arbeit, sie sind nach einem bestimmten Schema abgefaßt, bald reicher, bald ärmer an Variationen und kühnen Phantasiegebilden. Unter letzteren ist die Romreise vom Frühjahr 1377 am interessantesten und lehrreichsten, denn daß diese in allen Einzelheiten eine Dichtung ist, hat Denifle überzeugend nachgewiesen. Sie ist verfaßt von Jemandem, der keine Ahnung von den Schwierigkeiten einer Romfahrt über die Alpenpässe hatte, der nie den Papst von Angesicht zu Angesicht sah: der wahre Gregor XI. war das grade Gegentheil von dem der Phantasie des Gottesfreundes entsprungenen. Die Vorwürfe, die der Gottesfreund dem Papste macht, stimmen auf ein Haar mit denen überein, die er früher dem Meister im Meisterbuch gemacht. Die Motive sind die gleichen. Die ganze Romfahrt ist ersonnen, um die Gottesfreunde als die wahren und einzigen Stützen der Christenheit hinzustellen. Selbst der Papst muß sich ihnen unterordnen; da er ihren Mahnungen nicht gehorcht, stirbt er. Die Romreise ist also zum Theil erst nach des Papstes Tode gedichtet.

    Die Schriften des Gottesfreundes sind ihrem Inhalte nach Dichtungen, aber auch der Gottesfreund selbst ist eine Fiction. Fast immer heißt der Gottesfreund der „Heimliche“. Von den Lebenden, meist Bewohnern des Straßburger Johanniterhauses, kennt ihn außer M. keiner; diesem allein offenbart er sich. Außerhalb Straßburgs aber kann ein jeder den Gottesfreund treffen, merkwürdigerweise sind jedoch alle diese nicht historisch verbürgt. Die historisch nicht beglaubigten Personen, die sämmtlich denselben Läuterungsproceß durchmachen, der eine etwas schneller als der andere, überhaupt sich zum Verwechseln ähnlich sind, — sie brauchen den Gottesfreund garnicht erst zu suchen, dagegen suchen ihn die historisch beglaubigten, finden ihn aber nicht. Keiner der wirklich lebenden außer M. kann direct an den Gottesfreund schreiben, keiner außer M. erhält directe Antwort: Alles geht durch Merswin's Hand, nicht nur alle Briefe, sondern auch alle Schriften. Ueberall ist M. der Vermittler. Mit seinem Tode hört jeglicher Verkehr mit dem Gottesfreunde auf und zugleich|jede Nachricht über denselben. Wir werden uns also an M. halten müssen, um den Ursprung dieses mysteriösen Geschöpfes zu ergründen. Auch Merswin's Aussagen ist nicht immer Glauben zu schenken. Er verheißt im Eingang seiner eigenen Bekehrungsgeschichte nur lautere Wahrheit zu berichten, bewegt sich aber thatsächlich in starken Widersprüchen, sodaß es mit seiner Glaubwürdigkeit schlecht bestellt ist. Er bedient sich derselben Schablone wie der Gottesfreund. Seine Bekehrung und Erleuchtung gehen auf dieselbe Art vor sich wie beim Gottesfreund, wie bei dem Meister und den andern Helden und Heldinnen dieser Romane. Daß M. bei seiner schriftstellerischen Thätigkeit es mit fremdem Eigenthum nicht gar zu genau nahm, wurde schon erwähnt. Und so hat er nun auch über die Existenz des Gottesfreundes falsch berichtet, d. h. er hat die ganze Gestalt erfunden. Die Erfindung des Gottesfreundes von Seiten Merswin's ist nicht nur wahrscheinlich, sie läßt sich beweisen.

    Die Schriften des Gottesfreundes und Merswin's decken sich völlig in Gedanken, Ausdruck und Stil, ein Unterscheidungsmerkmal für beide gibt es nicht. Hinsichtlich der Sprache weichen beide nur in einem unwesentlichen Punkt von einander ab, sonst herrscht auch hier Uebereinstimmung: M. aber, dessen Schriften von den Neun Felsen und Vier Jahren wir im Original besitzen, während für die Sprache des Gottesfreundes nur das Fünfmannenbuch in Betracht kommen kann, da es ausdrücklich als Autograph bezeichnet wird — schreibt elsässische, Straßburger Mundart. Und weiter. Selbst die Orthographie des Fünfmannenbuches ist identisch mit der in den Vier Jahren Merswin's, etwas weniger mit der der Neun Felsen, aus welcher Thatsache zweierlei erhellt: einmal, daß es unwahr ist, wenn M. beide Schriften im J. 1352 geschrieben haben will, denn so schnell änderte man im 14. Jahrhundert seine Orthographie nicht, sodann aber das weit glänzendere Ergebniß, daß der Gottesfreund des Fünfmannenbuches M. (in den Vier Jahren) viel ähnlicher ist, als dieser sich selber (in den Neun Felsen). Die a für e in den Endungen und Ableitungssilben im Fünfmannenbuch sind nichts anderes als Spielereien, nur angebracht, um andere zu täuschen.

    M. ist der Verfasser aller Schriften des Gottesfreundes. Er ist die einzige historisch beglaubigte Person, die über den Gottesfreund Bescheid weiß, er ist der stäte Briefvermittler, eben weil er der Verfasser ist, und wir erkennen nun auch den Grund, wenn nur Briefe an Straßburger uns überkommen sind. M. konnte die Täuschung nur durchführen, indem er sich zum Mittelpunkt, zur Seele des ganzen Verkehres machte und er hat sie wahrlich schlau genug zu verhüllen gewußt. M. läßt den Gottesfreund sagen, wenn M. länger lebe als er, dann solle er seinen Namen bekannt geben, er würde nach seinem Tode in seiner einstweilen noch verborgenen Autobiographie „Wort für Wort“ Ausschluß finden über sein ganzes Leben. Wie raffinirt! Denn M. starb immerhin früher als der Gottesfreund, der nur in Merswin's Geiste lebte. Die Verheißung konnte also nie praktisch werden und so erklärt sich denn auch, daß von sämmtlichen Schriften des Gottesfreundes allein seine Selbstbiographie uns nicht erhalten ist; sie ist eben nie geschrieben worden und von M. nur erfunden, um weiteren Nachfragen der Johanniter vorzubeugen. Sodann: jene Schriften, die M. selbst als die eigenen ausgab, fand man erst nach seinem Tode. Nur so entging er der Entdeckung. Man konnte nun nicht, wenigstens nicht so lange er lebte, die Werke Merswin's und des Gottesfreundes mit einander vergleichen. Man hätte ja sonst bei nur einiger Aufmerksamkeit die Aehnlichkeit beider erkennen müssen. Und ferner: wie klug war es berechnet, wenn M. sagt, er habe von den vom Gottesfreund an ihn gesandten Schriften Copien gemacht, in denen er die Namen der Orte und Personen fortgelassen, worauf er die Originale verbrannte. Man wäre ja sonst|hinter seine Schliche gekommen. So aber war jegliche Controlle ausgeschlossen. Das „Autograph“ des Fünfmannenbuches ist wohl von M. mit verstellter Hand geschrieben, falls nicht die Johanniter, die auf jeden Fall einfältige oder denkfaule Leute gewesen sein müssen, schon in den a für e der Endsilben den genügenden Beweis erbracht sahen. Und so erklärt sich noch vieles andere, sobald wir M. als Verfasser annehmen. Da M. die ganze Fiction des Gottesfreundes in großem Maßstab angelegt hatte, aber nicht das Talent besaß, seine Idee einheitlich durchzuführen, so mußte er sich nothwendig in Widersprüche verwickeln.

    Aber was hat M. denn nun eigentlich mit dieser Fiction gewollt? Sein Hauptzweck war, gegenüber dem entarteten Priesterthum, dessen Leben durchaus nicht im Einklang stand mit seiner Lehre, die Gottesfreunde als die einzigen Stützen der Christenheit hinzustellen. M. entnahm den Gedanken, dem die Mystiker bereits seit dem 13. Jahrhundert weitere Verbreitung zu geben suchten, wohl Tauler’scher Lehre, er hat ihn dann aber nach eigenem Gutdünken zugespitzt und über's Maß fortgeführt. Er selbst hält sich für eine Säule der Christenheit: ob solch ein Gottesfreund Priester oder Laie ist, ist gleichgültig. Auf jeden Fall führt nur die völlige Unterwerfung unter die Gottesfreunde zur Vollkommenheit. Alles andere, die Gnaden- und Heilsmittel der Kirche, äußere Uebungen u. s. w. stehen erst in zweiter Linie. Das Ideal eines solchen Gottesfreundes ist nun Merswin's Gottesfreund aus dem Oberland. Aber noch ein Nebenzweck kommt hinzu. M. wollte auch gewisse Schäden der Kirche bloßstellen, er wollte Reformen einführen und dazu freilich war eine fingirte Geschichte das geeignetste Mittel. Als einfacher Laie konnte er nicht so offen gegen die Schriftgelehrten zu Felde ziehen. Durch den Gottesfreund aber weiß er sich gedeckt. Dieser stand ja bereits auf der höchst möglichen Stufe der Vollkommenheit und von oben herab konnte er, der Erleuchtete, die Schäden der Zeitgenossen geißeln. Hinzu kam das mysteriöse Dunkel, das ihn umgab, wodurch jede Kritik unmöglich wurde. Die Berechnung Merswin's war also entschieden eine feine. Auch er selbst rückte sich in ein helleres Licht, da er die Sache so darstellte, als sei er vom Gottesfreunde zum Vermittler aller seiner Pläne ausersehen. Der Gottesfreund würdigte ihn seines Vertrauens und es gewann auch M. dadurch unter den Johannitern an Ansehen. M. setzte auf diese Weise im Kloster alles was er wollte, durch, der Gottesfreund sprach eben für ihn und in wichtigen Fällen ließ M. ihn Visionen erleben, die zu seinen Gunsten aussagten. Zu solchen Zwecken sind die meisten Briefe erfunden. Die der Zeit nach letzten Briefe sind besonders lehrreich. M. schrieb sie, um endlich mit dem Gottesfreunde abzubrechen. Um die Täuschung zu beenden, sich selbst aber zu decken, wurden im Jahre 1380 — M. war damals kränklich und mochte wohl seinen baldigen Tod voraussehen — nach beiderseitiger brieflicher Aussprache alle Beziehungen zwischen M. und dem Gottesfreunde aufgehoben. Beide wurden Inclusen und zogen sich von jeglichem Umgang mit andern zurück; der Gottesfreund völlig, M. dagegen behielt sich auch als Incluse vor, hie und da noch in die Angelegenheiten seines Hauses einzugreifen, natürlich auch dieser Vorbehalt nur auf Rath des Gottesfreundes. Er wollte eben bis zuletzt in seiner Stiftung herrschen und befehlen. Der Gottesfreund aber, nachdem er gegen die ursprüngliche Verabredung noch einmal im Jahre 1381 von M. zur Thätigkeit erweckt war, verschwand schließlich ebenso räthselhaft von der Erde, wie er auf sie gekommen: keiner wußte seinen Anfang, keiner sein Ende.

    M. hat also die Johanniter, seine nächste Umgebung, viele Jahre lang getäuscht aus zum Theil egoistischen Zwecken. Seine eigene Lebensgeschichte ist voll unwahrer Behauptungen: Er schreibt sich Gnaden- und Wunderwerke zu, die Gott an ihm verübt haben soll, läßt dieselben aber wohlweislich erst nach seinem Tode bekannt werden, denn weil sie fingirt waren, hatte bei|Merswin's Lebzeiten natürlich keiner aus seiner Umgebung etwas von diesen Begnadigungen an ihm merken können. Einem so schlauen Gesellen ist die Täuschung mit dem Gottesfreunde sehr wohl zuzutrauen. In Sachen des Johanniterhauses zeigte M. stets einen unruhigen Sinn, er war eigensinnig, rechthaberisch und herrschsüchtig. Mit seiner Zeit verfallen — daher die ewigen Klagen — traute er, überspannt wie er war, sich die Gabe zu, nach seinem Kopfe die Welt zu bessern. Mit Recht ist M. ein Betbruder genannt worden. Das Gefühl der Selbstgerechtigkeit beherrscht ihn ganz, sich hält er für den unfehlbaren, wahren Freund Gottes, alle andern sind Sünder. Von diesem Standpunkt hält er denn auch jedes Mittel für geeignet, die Menschen zu seiner Stufe hinaufzuziehen. Das Mittel, das er in Anwendung brachte, war die Täuschung. Er sah darin gewiß nichts verwerfliches. Abgesehen von seinen persönlichen Interessen am Johanniterhause wollte er mit seinen Dichtungen Gutes stiften, sein Streben war ernst und entsprang einem warmfühlenden Herzen. Er war aber für derartige Reformen nicht der Mann, selbst zu wenig an Zucht gewöhnt, um andern ein Mentor sein zu können, und die Art, wie er seine Reformen durchführen wollte, war verfehlt. Immerhin müssen wir sein Talent, seine wenn auch einseitige litterarische Fruchtbarkeit, bewundern. Der Gedanke der Fiction des Gottesfreundes an sich ist höchst originell und interessant, die Weise, wie M. die Täuschung — den Ausdruck Betrug wird man hier besser gemäß den Anschauungen des Mittelalters nicht in Anwendung bringen — zu Ende zu führen wußte, staunenswerth, der Fall einer Dialectfälschung wohl einzig in seiner Art. Daß M. in seinen Romanen Erlebtes oder Historisches in die Erfindung einmischte, gelegentlich von wirklichen Thatsachen ausging, wird man annehmen dürfen. Man kommt hier aber im Einzelnen nicht über Vermuthungen hinaus. Sicher ist einstweilen nur, daß der vom Himmel gefallene Brief, mit dem der Gottesfreund solchen Unfug treibt, eine Reminiscenz an die Straßburger Geißlerfahrt des Jahres 1349 ist, bei der gleichfalls ein himmlischer Brief eine bedeutsame Rolle spielte.

    Merswin's Schriften sind Tendenzschriften und finden ihre Begründung in dem auflösenden und zersetzenden Grundcharakter des 14. Jahrhunderts, der insbesondere auch in dem damaligen religiösen Leben zu Tage tritt. Die Aergernisse, zu denen die Kirche und ihr Priesterthum Anlaß gaben, riefen, und nicht nur in Deutschland, eine Bewegung hervor, die durch äußere Mißstände aller Art, Bann und Interdict, Mißwachs und Hungersnoth, Ueberschwemmungen, Epidemien und Erdbeben nur gesteigert werden konnte und in Judenverfolgungen und Geißlerfahrten, auf künstlerischem Gebiete in den Todtentänzen, auf religiösem in den Lehren der Mystiker ihren Ausdruck fand. Einen Merswin regte der religiöse Drang der Laien zu selbstschöpferischer Thätigkeit an: sein Gottesfreund, der Laie aus dem Oberland, sollte die entartete Kirche in ihren Dienern reformiren. Es gelang nicht und sollte auch für das nächste Jahrhundert noch nicht gelingen, wo doch gleiche Ideen Männer ganz anderen Schlages als M. beseelten. Erst das 16. Jahrhundert brachte die Wendung, nun aber das anfangs gesteckte Ziel weit hinter sich zurücklassend: die Reform der kirchlichen Lehre, die die Loslösung von Rom zur Folge hatte.

    • Literatur

      Außer den oben angeführten Untersuchungen Denifle's im 24. und 25. Bande der Zeitschrift für deutsches Alterthum und der in vorliegendem Werke Band IX S. 459 f. notirten Litteratur vgl. noch Röhrich, Zeitschrift für die hist. Theologie 10 (1840), Heft 1, S. 136 ff. Karl Schmidt, Johannes Tauler, 1841, 177 ff. Derselbe Die Gottesfreunde im 14. Jahrhundert, 1854. Derselbe in der Revue d'Alsace, année 7 (Aprilheft), Colmar 1856. Derselbe Das Buch von den neun Felsen, 1859, vgl.|van Borssum Waalkes, Dat Boeck van den oorspronck, Leeuwarden 1882. [Merswin's Buch von den neun Felsen zeigt Verwandtschaft mit dem handschriftlich mehrfach erhaltenen Tractate „Wie der mensch soll geistlich sterben"; den Beweis wird der Verfasser des vorliegenden Artikels demnächst führen.] Engelhardt, Richard von St. Victor und Johannes Ruysbroek S. 345 ff. Jundt, Histoire du panthéisme populaire au moyen âge, 1875 S. 211 ff. Böhmer, Damaris 1865 S. 148 ff. Herman Råbergh, Nikolaus af Basel, zwei akademische Abhandlungen, Helsingfors 1870 und 1872. Lütolf, Tübinger theologische Quartalschrift 4 (1876), 580—582. Denifle, Tauler's Belehrung, 1879. Jundt, Les amis de Dieu au 14. siècle, 1879, und in Herzog und Plitt's Real-Encyklopädie 7 (1880) 21—28, wogegen Denifle's Antikritik in den Historisch-politischen Blättern 84 (1879), 797 ff. 877 ff. Denifle, Deutsche Litteraturzeitung 1 (1880), 244 f. Tobler, Anzeiger für Schweizerische Geschichte, 1880 S. 243 ff. [Der inzwischen in Herzog's Real-Encyklopädie 13 (1884), 102—105 erschienene Artikel Preger's über Rulman Merswin verhält sich gegen Denifle's Forschungen ablehnend; das Nähere soll der dritte Band von Preger's Gesch. der deutschen Mystik bringen. L. Keller in seiner Schrift: Die Reformation und die älteren Reformparteien, 1885, behandelt gleichfalls eingehend die Gottesfreundsrage und stellt manchen neuen Gesichtspunkt auf, insbesondere mit Rücksicht auf die Tendenz der unter Merswin's und des Gottesfreundes Namen gehenden Schriften. Die Identität M.'s und des Gottesfreundes hält auch Keller nicht für erwiesen.]

  • Autor/in

    Philipp Strauch.
  • Zitierweise

    Strauch, Philipp, "Merswin, Rulmann" in: Allgemeine Deutsche Biographie 21 (1885), S. 459-468 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118750356.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA