Wyneken, Gustav

Lebensdaten
1875 – 1964
Geburtsort
Stade bei Hamburg
Sterbeort
Göttingen
Beruf/Funktion
Schulreformer ; Pädagoge ; Berater im Preuß. Unterrichtsministerium ; Schriftsteller pädagogischer und kulturpolitischer Schriften ; Pädagoge ; Schriftsteller ; Publizist
Konfession
evangelisch?
Normdaten
GND: 118635743 | OGND | VIAF: 93953202
Namensvarianten

  • Wyneken, Gustav Adolf
  • Wyneken, Gustav Adolph
  • Wyneken, Gustav
  • Wyneken, Gustav Adolf
  • Wyneken, Gustav Adolph
  • Wyneken, Gust.
  • Wyneken, Gustav A.

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Zitierweise

Wyneken, Gustav, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118635743.html [08.12.2025].

CC0

  • Wyneken, Gustav Adolph

    | Pädagoge, * 19.3.1875 Stade bei Hamburg, † 8.12.1964 Göttingen, ⚰ Göttingen. (bis 1903 lutherisch)

  • Genealogie

    Aus ev. Pastorenfam.;
    V Ernst Friedrich (1840–1905), aus Bützfleth b. St., Dr. theol. et phil., 1867–70 Lehrer, 1874 Dir. d. Höheren Töchterschule in St., 1870 Erzieher d. Prinzen Franz Joseph v. Nassau, 1883 Pastor in Edesheim b. G., Red. d. Hann. Missionsbl., phil. u. soz.pol. Publ. (s. Brümmer;
    BJ X, Tl.;
    Kosch, Lit.-Lex.³), S d. Gustav (1805–85), aus Bexhövede b. Cuxhaven, zuletzt in St., u. d. Adolphine Antoinette Kobbe (1810–1896);
    M Charlotte (1852–1943), T d. Eduard Nicolai (1818–1903), aus Ahrensburg, Sup. in Mulsum b. Stade, u. d. Betty (?) Sophie Wilhelmine Theodora Raspe (1823–1890), aus Lauenburg;
    Ur-Gvv Heinrich Christoph (1766–1815), aus Spieka, Pastor;
    Gr-Ov Friedrich (Fritz) (1810–76), Missionar, Pastor in Cleveland (Ohio, USA), 1850 in St. Louis (Missouri, USA) (s. ADB 44);
    7 jüngere Geschw u. a. Luise (1878–1946), 1908 Lehrerin, 1931 Leiterin d. Nienburger Haushaltungs- u. Gewerbeschule, Sozialistin, Pazifistin, Frauenrechtlerin;
    Hamburg 1900 1910 Luise Margaretha Elisabeth (Lisbeth) (1876–1945), aus Hagen, Lehrerin, T d. August Dammermann, Kanzleirat in Otterndorf, u. d. Bernhardine Sophie Agnes Caroline Blöcker;
    1 S (früh †), 1 T Ilse Irene (1903–2000, Johannes [Hans] Herrmann, Dipl.-Ing. b. Siemens in Berlin), Dr. rer. nat., 1 Adoptiv-T Annemarie (Anne) Elisabeth (1906–1942, Wilhelm Balser, 1912–45, Lehrer in Kaltenholzhausen), Volksschullehrerin, zuletzt eingewiesen in d. psychiatr. Landesheilanstalt Weilmünster u. dort verstorben.

  • Biographie

    W. besuchte die Dorfschulen in Stade und – nach dem Wechsel des Vaters auf die dortige Pfarrstelle 1883 – in Edesheim bei Göttingen.

    Hier unterrichteten ihn sein Vater und ein Hauslehrer zusätzlich. 1888 erhielt er eine Freistelle an der ev. Klosterschule in Ilfeld (Abitur 1893). Seine Kindheits- und Jugendjahre beschrieb er später als zutiefst unglückliche Zeit, die ihm als Negativfolie für seine schulreformerischen Vorstellungen diente.

    Auf Drängen des Vaters studierte W. 1894–98 ev. Theologie, Germanistik und Klassische Philologie in Berlin, Halle/Saale, Göttingen und Greifswald, wo er 1898 mit der Arbeit „Hegels Kritik Kants“ (gedr. 1898) zum Dr. phil. promoviert wurde. 1900 nahm W. seine Lehrertätigkeit am Landerziehungsheim Ilsenburg von Hermann Lietz (1868–1919) auf und fungierte 1901–03 als dessen Leiter. Nach Konflikten mit Lietz (W.|trat aus der Kirche aus) wechselte er an dessen Heim nach Haubinda. 1906 gründete W. mit Paul Geheeb (1870–1961) die „Freie Schulgemeinde Wickersdorf“, die eine bedeutende Stätte der Jugendkultur wurde, „ein Orden edler Knaben“, obwohl das Internat von Beginn an koedukativ ausgerichtet war.

    Nach zahlreichen Konflikten mit Schulbehörde, Eltern und Kollegen verließ der streitbare W. Wickersdorf 1910. Als Mentor der radikalen Jugendkulturbewegung, Propagandist jugendlicher Gemeinschaftserziehung und Hauptredner auf dem „Ersten Freideutschen Jugendtag“ 1913 auf dem Hohen Meißner erlangte er reichsweite Bekanntheit. Für seine Anhänger war er ein charismatischer Redner und Führer, für seine Gegner ein Dogmatiker, Ideologe und säkularer Religionsstifter. 1918/19 fungierte er kurzzeitig als schulpolitischer Berater der bayer. Räterepublik unter Kurt Eisner (1867–1919) und des preuß. Kultusministers Konrad Haenisch (1876–1925). Anfang 1919 kehrte W. als Schulleiter nach Wickersdorf zurück, verlor diesen Posten aber, weil er 1921 wegen sexuellen Mißbrauchs an zwei Schülern rechtskräftig verurteilt wurde; die Gefängnisstrafe trat er wegen einer Amnestie nie an. Seine die homoerotische Knabenliebe rechtfertigende Verteidigungsschrift „Eros“ (1921) war zeitgenössisch stark umstritten. Seit 1925 war W. als Wirtschaftsleiter wieder in Wickersdorf tätig; ein pädagogisches Amt durfte er dort wegen seiner Verurteilung nicht mehr ausüben. 1931 mußte er das Internat aber wegen der gleichen Vorwürfe endgültig verlassen. Während der NS-Zeit und nach 1945 lebte er zunehmend vereinsamt, von Depressionen geplagt, verfeindet mit vielen einstigen Weggefährten und zerstritten mit seiner Familie in bescheidenen Verhältnissen in Göttingen.

    W. ging es zeitlebens darum, die Geschichte der Jugend als „Leidensgeschichte in Familie und Schule“ anzuklagen. An ihre Stelle sollten jugendliche Erziehungsgemeinschaften, zentriert um einen charismatischen (männlichen) Führer, treten, die die Keimzellen einer neuen Jugendkultur werden sollten. W. zählte zu jenen pädagogischen Aktivisten des frühen 20. Jh., die den „Mythos Jugend“ begründeten, um damit eine Bewegung vorzubereiten, die unter anderen politischen Voraussetzungen erst in den 1920er und 1930er Jahren Bedeutung gewann. Seine bleibende Leistung besteht darin, Jugend als Symbol und eigenwertige Lebensphase, weniger als Mythos, in das Bewußtsein gerückt zu haben.

    Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf sah er als einzige Schule an, in der Jugend und Jugendkultur zu ihrem Recht kamen. Sie sollte Keimzelle gelebter Jugendkultur und Ausgangspunkt zur Erneuerung der gesamten Kultur werden. W.s Vision der Jugendkultur zielte als Utopie auf ein selbstbestimmtes Leben in der Jugendgemeinde; als Widerstandsformel wandte sie sich gegen die Einengung von Bildung auf Ausbildung. Vor diesem Hintergrund grenzte sich W. von den zeitgenössischen Landerziehungsheimen und zahlreichen staatlichen Reformschulen ab, verbat sich deshalb auch stets vehement, als Reformpädagoge oder Schulreformer vereinnahmt zu werden.

  • Auszeichnungen

    A Mitgl. d. Comenius-Ges. (1898), d. Bundes f. freie Schulgemeinden (Vors. seit 1910) u. d. SPD (1946–60);
    – G.-W.-Ges. (1960–64).

  • Werke

    W Schule u. Jugendkultur, 1913, ²1914;
    Die neue Jugend, Ihr Kampf um Wahrheit u. Freiheit in Schule u. Elternhaus in Rel. u. Erotik, 1914;
    Was ist „Jugendkultur“ ? 1914;
    Der Gedankenkreis d. Freien Schulgde., Dem Wandervogel gewidmet, 1914;
    Der Krieg u. d. Jugend, 1915;
    Rev. u. Schule, 1919;
    Der Kampf f. d. Jugend, 1919;
    Der europ. Geist, Ges. Aufss. über Rel. u. Kunst, 1922;
    Wickersdorf, 1922;
    Weltanschauung, 1940, ²1947;
    Abschied vom Christentum, 1963;
    Freie Schulgde. Wickersdorf, Kl. Schrr., hg. v. U. Herrmann, 2006;
    Nachlaß: Archiv d. dt. Jugendbewegung Burg Ludwigstein b. Witzenhausen.

  • Literatur

    L U. Panter, G. W., Leben u. Werk, 1960;
    H. Kupffer, G. W. 1875–1964, 1970 (P);
    W. Laqueur, Die dt. Jugendbewegung, 1978;
    M. Kohlenbach, Walter Benjamin, G. W. and the Jugendkulturbewegung, in: Counter-Cultures in Germany and Central Europe, hg. v. S. Giles, 2003, S. 137–54;
    P. Dudek, „Versuchsacker f. e. neue Jugend.“, Die Freie Schulgde. Wickersdorf 1906–1945, 2009 (P);
    ders., „Sie sind u. bleiben eben d. alte abstrakte Ideologe“, Der Reformpäd. G. W. (1875–1964), Eine Biogr., 2017 (P);
    ders., „Körpermissbrauch u. Seelenschändung“, Der Prozess gegen d. Reformpädagogen G. W. 1921, 2020 (P);
    T. Maasen, Päd. Eros, G. W. u. d. Freie Schulgde. Wickersdorf, 2016 (P);
    Kosch, Lit.-Lex.³ (W, L);
    Killy;
    RGG⁴;
    Mann für Mann (W);
    Personenlex. Sexualforschung;
    Who is who d. Soz. Arb.;
    Biogr. Lex. Weimarer Rep.;
    Thür. Biogr. Lex. I (P).

  • Porträts

    P zahlr. Porträts u. Photogrr. (Nachlaß G. W., Witzenhausen).

  • Autor/in

    Peter Dudek
  • Zitierweise

    Dudek, Peter, "Wyneken, Gustav Adolph" in: Neue Deutsche Biographie 28 (2024), S. 563-564 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118635743.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA