Lebensdaten
1724 – 1804
Geburtsort
Königsberg (Preußen)
Sterbeort
Königsberg (Preußen)
Beruf/Funktion
Philosoph
Konfession
lutherisch
Normdaten
GND: 118559796 | OGND | VIAF: 82088490
Namensvarianten
  • Kant, Immanuel
  • Cant
  • Canto, I.
  • mehr

Quellen(nachweise)

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Zitierweise

Kant, Immanuel, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118559796.html [28.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Joh. Georg (1682–1746), Riemermeister, seit 1715 Bürger in K., S d. Riemermeisters Hans in Memel u. d. N. N. Reinsch;
    M Anna Regina (1697–1737), T d. Riemermeisters Caspar Reuter (1670–1729), d. 1694 aus Nürnberg nach K. eingewandert war, u. d. Riemermeisters-T Regina Felgenhauer aus K.; 8 Geschw.; - ledig.

  • Biographie

    Elternhaus, Schule, Studium (1724–46)

    Wie zahlreiche andere Gelehrte und Publizisten der deutschen Aufklärung stammt K. aus einfachen Verhältnissen. Er wird am 22.4.1724 morgens um 5 Uhr als viertes von neun Kindern in der „vordern Vorstadt“ von Königsberg „in dem Hause neben der Sattlerstraße“ geboren – auch sein eigener Vater war wie schon die beiden Großväter Sattler- oder genauer Riemermeister – und am folgenden Tag auf den Namen Emanuel getauft. Väterlicherseits stammt die Familie neueren Forschungen zufolge nicht – wie K. selbst angenommen hat – aus Schottland, sondern aus dem Kurischen (sein Urgroßvater Richard Cant, der den sozial gehobenen Beruf eines „Krügers“, das heißt Schankwirts, in|Werden bei Heidekrug ausübte, kommt allem Vermuten nach aus der Gruppensiedlung Kantweinen 5 km nordöstl. von Prökuls); auf Seiten der Mutter führen die Linien nach Nürnberg und Tübingen, so daß K. ungefähr „drei Viertel deutsch und je ein Achtel kurisch und litauisch“ gewesen wäre; in beiden Familien sind die Berufe des Ledergewerbes: Färber, Gerber, Sattler, Kürschner, Schuhmacher stark vertreten. Die Atmosphäre seines Elternhauses hat K. selbst oft beschworen. Bei der Rückkehr von Schloß Capustigall, dem Gut der Grafen Truchseß-Waldburg (auf dem sich zu dieser Zeit die Familie Keyserling aufhält) erinnert sich der Privatdozent „mit inniger Rührung an die ungleich herrlichere Erziehung …, die er selbst in seiner Eltern Hause genossen“. Und noch der 73jährige erklärt in dem Entwurf eines Antwortschreibens an den schwedischen Bischof Lindblom, „daß meine beyde Eltern (aus dem Handwerksstande) in Rechtschaffenheit, sittlicher Anständigkeit und Ordnung musterhaft … mir eine Erziehung gegeben haben, die von der moralischen Seite betrachtet gar nicht besser seyn konnte und für welche ich … mich mit dem dankbarsten Gefühle gerührt finde“. Das gelassene Selbstbewußtsein, das der Bürger K. zeitlebens auch gegenüber den höchsten Rängen des Adels gezeigt hat, mag nicht zuletzt hier seine Wurzel haben.

    Eine wichtige Komponente dieser Atmosphäre des Elternhauses bildete der Pietismus, der K. bei aller Kritik und inneren Distanz tief beeindruckt und beeinflußt hat. Nicht seinen Kult- und Ausdrucksformen, wohl aber seiner Haltung und Gesinnung stand K. bis ins hohe Alter mit Respekt, ja Zustimmung gegenüber. „Die Leute, denen er ein Ernst war“, so lautet K.s Urteil gegenüber Rink, „besaßen das Höchste, was der Mensch besitzen kann, jene Ruhe, jene Heiterkeit, jenen innern Frieden, die durch keine Leidenschaft beunruhigt wurden“. Vor allem seine Mutter, die er schon als 13jähriger verliert und am Tag vor Heiligabend beerdigen muß, lebte aus solchem Glauben. Sie war eine sensible, für ihre Zeit und Verhältnisse ungewöhnlich gebildete Frau. K. hat sie seinen Königsberger Biographen (Borowski, Jachmann und Wasianski) noch in späten Lebensjahren immer wieder geschildert: „sie pflanzte und nährte den ersten Keim des Guten in mir, sie öfnete mein Herz den Eindrücken der Natur; sie weckte und erweiterte meine Begriffe, und ihre Lehren haben einen immerwährenden heilsamen Einfluß auf mein Leben gehabt.“

    Durch die Mutter gelangt K. auch in den Wirkungskreis von Franz Albert Schultz, einem der führenden Köpfe des Königsberger Pietismus, der aber zugleich zu den bedeutendsten Schülern des Aufklärungsphilosophen Ch. Wolff zählte. Schultz hat K.s Talent schon früh entdeckt und Zeit seines Lebens gefördert. Auf seine Veranlassung hin wechselt K., der zunächst die Vorstädt. Hospitalschule besucht hatte, 1732 als Achtjähriger aufs Gymnasium, und zwar auf das seit 1733 von Schultz geleitete „Fridericianum“ über. Diese Schule, nach dem Vorbild der Franckeschen Anstalten in Halle eingerichtet und von der Bevölkerung etwas abwertend „Pietisten-Schule“ oder „Pietisten-Herberge“ genannt, war von strengstem religiösen Reglement: Religionsunterricht und Gottesdienst nahmen einen erheblichen Teil des Unterrichts in Anspruch; wie das Hebräische wurde auch das Griechische ausschließlich am Leitfaden der Heiligen Schrift dargeboten. Noch den alten K. soll bei der Erinnerung an jene „Jugendsclaverey“ „Schrecken und Bangigkeit“ überfallen haben. Fachlich scheint nur der Lateinunterricht von einigem Rang gewesen zu sein (wie denn auch K.s ganzes Interesse während der Schulzeit der klassischen lateinischen Literatur gegolten haben soll). Nach dem Zeugnis der Schulakten zählte K. in der Regel zu den besten Schülern; der allgemeine Eindruck war – wie der klassische Philologe David Ruhnken (ein enger Freund und Mitschüler K.s) es später einmal formuliert hat – er könne einst sehr wohl „ad id, quod in literis summum est, pervenire“. Im Herbst 1740 verläßt K. als Zweitbester seiner Klasse das Fridericianum.

    Am 24.9.1740, also mit sechzehn Jahren, kurz nach dem Regierungsantritt Friedrichs des Großen, wird K. nach Ablegung des damals üblichen Immatrikulationsexamens an der Albertina, der Königsberger Universität, immatrikuliert. Das Schwergewicht seines Studiums, das er teils mit Hilfe von Verwandten, teils durch Unterricht und (wenn man dem späten Bericht seines Studienfreundes Heilsberg Glauben schenken darf) durch Billardspiel finanziert, liegt nicht auf den positiven Wissenschaften, die der akademischen Ausbildung dienten, sondern auf den damals sogenannten „Humaniora“, vor allem auf Mathematik, Philosophie und den lateinischen Klassikern. „Was K. für einen Studienplan befolgte, ist seinen Freunden unbekannt geblieben“, heißt es bei Jachmann; allem Anschein nach war er in keiner der drei „oberen Fakultäten“ eingeschrieben. Zu seinen akademischen Lehrern zählen sein ehemaliger Direktor Schultz, dessen Dogmatikvorlesung er „aus Wißbegierde“ hört, und der außerordentliche Professor der Logik und Metaphysik Martin Knutzen, „ein Mann, der sich als Lehrer und als Schriftsteller einen großen Ruf auf der Universität erworben hatte“. Er ist derjenige „Professor der Philosophie, welcher wahrscheinlich auf“ K.s „Geistesbildung den mehresten Einfluß gehabt hat“. Ähnlich wie Schultz bemühte sich auch Knutzen um die Verbindung von (pietistischer) Theologie und Philosophie, war aber zugleich stark an Mathematik und Naturwissenschaft interessiert. Zu den Gegenständen seiner Vorlesungen – an denen K. „unausgesetzt“ teilnimmt – gehörten neben den damals üblichen philosophischen Disziplinen auch Mathematik, Astronomie und Rhetorik. Er lieh K., so berichtet Borowski, „besonders Neutons Werke und, da K. Geschmack daran fand, alles, was er aus seiner herrlichen, reichlich versehenen Bibliothek irgend verlangte“.

    Die Etappe der Konziliation (1746–56)

    Noch während des Studiums beginnt K. mit der Ausarbeitung einer umfangreichen Abhandlung – keineswegs einer Examensarbeit – die sich, wie K. schreibt, mit einem damals „berüchtigten Streit“, ja mit einer der „größten Spaltungen … unter den Geometrern von Europa“ beschäftigt. Es sind dies die schon 1746 der Philosophischen Fakultät zur Zensur vorgelegten, aber erst 1749 erschienenen „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte“. Die naturwissenschaftliche Interessenlage dieser Schrift bleibt für die kommenden 10 Jahre bestimmend, ihre spezifisch philosophischen Grundprobleme aber wirken darüber hinaus bis tief in die kritische Philosophie hinein weiter. Von ihrer Thematik her – ihr unmittelbarer Gegenstand ist der Streit über das Kräftemaß, das die Kartesianer als m-v, die Leibnizianer als m-v² zu bestimmen suchten – zeigt die Abhandlung einen K., der ganz von mathematisch-naturwissenschaftlichen Fragen gefangengenommen ist und im Zusammenhang damit sogar eigene Versuche anstellt. Hinter dieser Thematik aber steht eine genuin philosophische Problemstellung, die ohne die Gedankenwelt der deutschen Aufklärung nicht zu verstehen ist: wie steht es um die von ihr proklamierte Idee einer allgemeinen Menschenvernunft, wenn sich die bedeutendsten Köpfe des Zeitalters sogar in einer so konkreten naturwissenschaftlichen Frage nicht zu einigen vermögen? Das überraschende Selbstbewußtsein des 22jährigen, das in der Schrift zum Ausdruck kommt, ist oft registriert worden: „Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern ihn fortzusetzen.“

    Kurz vor Abschluß des Studiums verliert K. auch den Vater. Seine Eintragung in das Familienbuch wirft ein aufschlußreiches Licht auf die Geisteshaltung, die K. auch nach dem Besuch der Universität bestimmt: „Anno 1746 d. 24. März Nachmittags um halb 4 Uhr ist mein liebster Vater, durch einen seeligen Tod abgefordert worden. Gott der ihm in diesem Leben nicht viel Freude geniessen lassen, lasse ihm davor die ewige Freude zu Theil werden.“ Die folgenden Jahre verbringt K. als „Hofmeister“, das heißt Hauslehrer, bei dem reformierten Prediger Daniel Andersch in Judtschen bei Gumbinnen, einer bis zu einem gewissen Grad selbständigen Schweizer Kolonie meist französisch sprechender Siedler (bis etwa 1751), und bei dem Gutsbesitzer Major Bernhard Friedrich von Hülsen auf Groß-Arnsdorf bei Mohrungen (bis etwa 1753). In diesen Jahren tritt zum erstenmal ein charakteristischer Zug der K.schen Biographie hervor: auf einen Zeitraum konzentrierter Produktion folgt eine Phase völligen Schweigens. Sie findet in diesem Fall erst im Sommer 1754 durch eine Reihe kleinerer naturwissenschaftlicher Beiträge für die „Königsberg. Frag- und Anzeigungs-Nachrichten“ ihr Ende. Zu dieser Zeit befindet sich K. bereits wieder in Königsberg.

    Die anschließende Produktionsphase ist eng mit K.s akademischem Werdegang verknüpft, geht aber bei weitem nicht darin auf. Im März 1755 erscheint, und zwar zunächst anonym, die umfangreiche „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“, die den Versuch macht, die Entstehung des Weltgebäudes mit Hilfe der Newtonschen Anziehungs- und Abstoßungskraft aus den einfachsten Elementen der Materie abzuleiten, und damit Grundgedanken der Laplaceschen Weltentstehungshypothese (1796) vorwegnimmt. Sie bleibt jedoch bei ihrem Erscheinen so gut wie unbekannt und wird erst 1842 von Arago in ihrer Bedeutung für die Naturwissenschaft entdeckt. Am 17.4.1755 reicht K. der Philosophischen Fakultät seine Promotionsschrift „de igne“ ein, am 13.5. findet das „examen rigorosum“, am 12.6. der öffentliche Promotionsakt statt, über den die „Königsberg. Frag- und Anzeigungs-Nachrichten“ eingehend berichten. Noch 37 Jahre später erinnert sich Borowski, einer der ersten Hörer K.s, an den „seltenen Zusammenfluß von hiesigen angesehenen und gelehrten Männern“ sowie an die ungewöhnliche „Stille und Aufmerksamkeit“, mit der die Zuhörer K.s lateinischer Rede – sie handelte „vom leichtern und vom gründlichem Vortrage der Philosophie“ – gefolgt seien. Schon dreieinhalb Monate später, am 27.9.1755, erfolgt K.s Habilitation mit der Schrift „Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio“. Wieder ein paar Monate später erscheinen in kurzem Abstand drei kleinere, allgemeiner gehaltene naturwissenschaftliche Abhandlungen, die durch das Erdbeben von Lissabon veranlaßt sind. Am 23.3.1756 schließlich reicht K. der Philosophischen Fakultät als dritte Dissertation – nach einer Verordnung Friedrichs des Großen (vom 24.12.1749) wurden für ein Extraordinariat drei öffentliche Disputationen vorausgesetzt – die „monadologia physica“ ein. Die Disputation findet am 10.4.1756 statt, einer der 3 Opponenten ist Ludwig Ernst Borowski. Etwas von der Gewalt dieses Produktionsschubes ist noch in dessen späterer Kantbiographie zu spüren, wenn er schreibt, daß der 30jährige K. damals mit seinen Schriften „zur Ueberraschung Vieler, die das von ihm, wenigstens nicht in dem Maaße erwartet hatten, auf einmal und schnell auf einander hervortrat“.

    Mit Ausnahme der Habilitationsschrift, bei deren Themenwahl äußere Gründe mitgespielt haben können, haben auch die Schriften dieser Produktionsphase Probleme der Naturwissenschaft zum Gegenstand. Wie in der Erstlingsschrift von 1746 aber stehen die Sachfragen auch jetzt auf dem Hintergrund einer umfassenden philosophischen Problematik. Wieder macht K. zentrale Streitfragen seines Zeitalters – über die leitenden Grundsätze der Naturerklärung, über die Freiheit des Willens und über die Interpretation der Materie – zum Gegenstand der Untersuchung. Und wieder ist K. darum bemüht, zwischen den verfeindeten „Parteien“ (Naturalismus – Christentum; Wolffianismus – Crusianismus; Leibnizianismus – Newtonianismus) zu vermitteln, die partielle, durch gemeinsame Irrtümer nur verdeckte Wahrheit der verschiedenen Positionen ans Licht zu bringen und so „gewissermaßen die Ehre der menschlichen Vernunft“ zu verteidigen. Eben diese „Konzilianz“ gibt den Schriften der Jahre 1755/56, so verschieden sie ihrer Thematik nach auch sein mögen, ihre innere Einheit und ein sachliches Gewicht, das sie über ihre historische Bedeutung hinaus vom Methodischen her auch für die Gegenwart noch interessant macht.

    Zugleich aber scheinen sich in den Schriften dieser Phase unter der Hand bereits Grundtendenzen der späteren, kritischen Philosophie anzudeuten. Das gilt vor allem für den Vorrang der praktischen vor der theoretischen Vernunft. So heißt es etwa in der „Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens“ von 1755: „der Mensch“ ist „im Dunkeln, wenn er die Absichten errathen will, die Gott in der Regierung der Welt vor Augen hat. Allein wir sind in keiner Ungewißheit, wenn es auf die Anwendung ankommt, wie wir diese Wege der Vorsehung dem Zwecke derselben gemäß gebrauchen sollen.“

    Die Etappe der Analysis (1756–69)

    Im WS 1755/56 beginnt K., von stärkstem öffentlichen Interesse begleitet, als „Magister legens“, das heißt als Privatdozent, seine Vorlesungstätigkeit; bei seiner ersten Vorlesung, so berichtet Borowski, sind selbst Vorhaus und Treppe „mit einer beinahe unglaublichen Menge von Studirenden angefüllt“. Die Fächer, über die K. – nach dem Vorlesungsstil der Zeit am Leitfaden von Kompendien – liest, sind zunächst, ähnlich wie bei seinem Lehrer Knutzen, Logik, Metaphysik, Ethik, Mathematik, theoretische Physik sowie außerdem physische Geographie, eine Disziplin, die K. in Königsberg als erster in den Kreis der akademischen Lehrfächer einbringt; später treten noch Naturrecht (ab WS 1766/67), philosophische Enzyklopädie (ab WS 1767/68), Anthropologie (ab WS 1772/73) und Pädagogik (ab WS 1776/77) hinzu. Vereinzelt liest K. auch über Mechanik und Mineralogie, auch Vorlesungen über natürliche Theologie beziehungsweise philosophische Religionslehre sind glaubwürdig bezeugt. Der Umfang seiner Lehrtätigkeit beläuft sich im Schnitt auf 16, zuweilen aber auch auf 26 bis 28, wenn nicht gar über 30 Wochenstunden.

    Die Zeit der Privatdozentur (1755–70) verändert jedoch nicht nur K.s berufliche Situation. Sie bringt vielmehr zugleich, viele Anzeichen sprechen dafür, tiefgreifende Veränderungen in seinem persönlichen Lebensstil mit sich. Sie ist die „weltfreudigste Periode seines Lebens“ (Schöndörffer). Zahlreiche menschliche Bindungen entstehen in diesen Jahren, enge Freundschaften wie die mit dem englischen Kaufmann und Privatgelehrten Joseph Green, der „mehr Gelehrter als Kaufmann“ ist und „weniger den Freuden als den Büchern“ lebt, aber auch lockerere Beziehungen zu Bankiers, Kaufleuten, Beamten, Militärs und hohen Adligen. Sein gelöstes Auftreten, seine Freude an geistreicher Unterhaltung, gemeinsamem Essen, Kartenspiel und Theater, sein sprühender Witz, nicht zuletzt aber auch sein Charme gegenüber dem weiblichen Geschlecht machen K. bald zu einem umworbenen Liebling der Königsberger Gesellschaft und tragen ihm den Titel des „eleganten Magisters“ ein, ja Hamann sieht ihn gelegentlich durch „einen Strudel gesellschaftl. Zerstreuungen fortgerißen“ und bangt um die Verwirklichung seiner wissenschaftlichen Pläne.

    Ein wichtiger Faktor, der zu diesen Veränderungen in K.s Lebensgefühl und -haltung beigetragen haben wird, war allem Vermuten nach die erste russische Okkupation Königsbergs von Januar 1758 bis August 1762. Sie war von ungewöhnlicher Liberalität und hat die gesellschaftlichen Verhältnisse des damaligen Königsberg, das mit seinen etwa 50 000 Einwohnern zu den größten Städten Preußens zählte, aufs nachhaltigste beeinflußt. „Mit der Okkupation zog die ganze Breite und Vorurteilslosigkeit des östlichen Lebensstils in die alte zopfige Stadt ein“ (Stavenhagen). Unter ihrem Einfluß zerbricht oder lockert sich zumindest die strenge ständische Ordnung, der Ernst des Pietismus wird von einer freieren, gelegentlich in Libertinage übergehenden Lebenshaltung abgelöst, die preußische Kargheit macht einer luxuriöseren Lebensführung Platz. Auch der Magister K. war offenbar bis zu einem gewissen Grade in den Wirbel solcher Veränderungen einbezogen. Stavenhagen schildert anschaulich, wie K. „an dem munteren Treiben der Offiziere in den Privathäusern und Offizierskasinos regen Anteil genommen hat“; nach einem anderen Bericht hat er „viele rußische Officiere in der Mathematik … während des siebenjährigen Krieges privatim unterrichtet“.

    Ganz ähnlich ist das Bild, das K. in diesen Jahren als akademischer Lehrer bietet. Auch hier ist er der Mann von Welt: Seine Wirkung auf die Studenten, unter denen sich zahlreiche Ausländer, vor allem Balten, Polen und Russen befinden, ist von seltener Stärke und Eindringlichkeit. Seine Vorlesungen – „freyer Discours, mit Witz und Laune gewürzt“ – sind von intensiven Diskussionen begleitet, immer wieder fordert er einzelne Hörer auf, das Gespräch beim Spaziergang fortzusetzen, ja der Prediger Wannowski erinnert sich noch 1804, daß ihm K. „in seiner Stube öfters und mit vieler Lebhaftigkeit“ Gedichte von Haller und Bürger, aber auch von Horaz und Juvenal vorgetragen habe. Vor allem die Vorlesungen über physische Geographie und Anthropologie werden nicht nur von Studenten, sondern auch von dem gebildeten Publikum besucht. K.s Erziehungsziel ist „Urbanität“, nicht „Höflichkeit“; ein Stück seiner Wirkung wird in den „Briefen zur Beförderung der Humanität“ von Johann Gottfried Herder sichtbar, der 1762-64 in Königsberg studiert hat. In diesen Briefen schreibt Herder 1795, also zu einem Zeitpunkt, als sachlich schon tiefe Gegensätze zwischen beiden aufgebrochen waren, über seinen früheren Lehrer: „keine Kabale, keine Sekte, kein Vortheil, kein Namen-Ehrgeiz hatte je für ihn den mindesten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahrheit. Er munterte auf, und zwang angenehm zum Selbstdenken; Despotismus war seinem Gemüth fremde“.

    Sieht man von 4 kurzen Programmschriften ab, die, den damaligen Universitätsverhältnissen entsprechend, zugleich der Ankündigung der Vorlesungen zu dienen hatten, so beginnt mit der Vorlesungstätigkeit in K.s schriftstellerischer Arbeit zugleich ein Zeitraum erneuten Schweigens. Er wird 1762 von einer Phase fast hektischer Produktivität abgelöst, Benno Erdmann spricht mit Recht von der „erstaunlichen Productionskraft des Philosophen in diesen Jahren“. In ihnen tritt auch von der Stoffwahl her ein veränderter K. vor die Öffentlichkeit. Standen bis 1756 naturwissenschaftliche Themen ganz im Vordergrund des Interesses, so behandeln die Schriften der folgenden Jahre fast ausschließlich Fragen der Logik und Metaphysik auf der einen, der Ethik und Anthropologie auf der anderen Seite. Dem entspricht es, wenn in K.s Lehrtätigkeit mit dem Jahre 1763 die Vorlesungen über Mathematik ganz aufhören und die über theoretische Physik seltener werden.

    Die erste Schrift, die in diese neue Produktionsphase gehört, ist K.s kurze Skizze über „Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren“, allem Vermuten nach eine Einladungsschrift für seine Vorlesungen des WS 1762/63. Auf sie folgt kurz darauf die Hauptschrift dieses Zeitabschnitts, „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“; sie ist nicht, wie das Titelblatt angibt, 1763, sondern schon im Dezember 1762 erschienen. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet K. jedoch bereits an seiner Antwort auf die Preisfrage der Berliner Akademie für das Jahr 1763, der „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral“. Diese Abhandlung, die von K. kurz vor dem 31.12.1762 eingereicht wird, erhält am 2.6.1763 den zweiten Preis – der erste fällt an Moses Mendelssohn – und erscheint im|Frühjahr 1764 im Drude. Vor allem diese beiden Schriften sind es, die K. lange vor der „Kritik der reinen Vernunft“ in ganz Deutschland als philosophischen Autor bekannt machen. Noch vor der Preisschrift aber erscheinen in dichter Folge 3 weitere Abhandlungen: 1763 der „Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen“ (er hat der Philosophischen Fakultät am 3.6.1763 zur Zensur vorgelegen); im Januar 1764 die „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“, die K. im Herbst 1763 während der Semesterferien im Forsthaus Moditten, eine Meile von Königsberg entfernt, zu Papier bringt; und schließlich im Februar 1764 der „Versuch über die Krankheiten des Kopfes“, den K. anonym in den von Hamann herausgegebenen „Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen“ veröffentlicht.

    Die gemeinsame Idee, die allen diesen Schriften zugrunde liegt, ist das Programm der Analysis. Wie Mendelssohn, Tetens und andere führende Köpfe seiner Generation, die sich gegen den herrschenden Wolffianismus ihrer Zeit wenden, ist K. in diesen Jahren der Überzeugung, daß man in der Philosophie, vor allem „in der Metaphysik durchaus analytisch verfahren müsse, denn ihr Geschäfte ist in der That, verworrene Erkenntnisse aufzulösen“. Ähnlich emphatisch wie bald darauf Tetens erklärt er: „Es ist noch lange die Zeit nicht, in der Metaphysik synthetisch zu verfahren; nur wenn die Analysis uns wird zu deutlich und ausführlich verstandenen Begriffen verholfen haben, wird die Synthesis den einfachsten Erkenntnissen die zusammengesetzte, wie in der Mathematik, unterordnen können“. Beobachten, konkrete Erfahrungen zum Ausgang nehmen, komplexe Vorstellungen in einfachere auflösen – analysieren, das, und nur das, ist die angemessene Methode der Philosophie. Von ihr erwartet K. in dieser Etappe seines Denkens auch – ähnlich wie Mendelssohn, mit dem er 1766 in brieflichen Kontakt tritt – die Lösung jener Streitfragen, die ihn in den Jahren 1755/56 so stark beschäftigt hatten.

    Freilich gelangt K. spätestens gegen Ende dieser Phase auch schon an die Grenzen, die einer solchen Konzeption von Philosophie gesetzt sind. In seiner Abhandlung über die negativen Größen versucht er zu zeigen, daß sich bestimmte Probleme wie das des „Realgrundes“, also der Verknüpfung von Ursache und Wirkung, oder der „Realentgegensetzung“ letztlich der Analysis entziehen. „Die logische Verknüpfung und Wiederstreit können analytisch erkannt werden und also rational, die reale nicht anders als empirisch“, konstatiert er zu dieser Zeit in seinen Notizen. Allem Vermuten nach liegt hier zumindest einer der Gründe, weshalb K. die zahlreichen Pläne und Projekte, die ihn in dieser eigentlichen Etappe der Analysis beschäftigen, unerledigt liegen läßt und in den folgenden Jahren auffällig wenig veröffentlicht. Die gegen Immanuel Swedenborg, aber mehr noch gegen die herrschende Metaphysik seines Zeitalters gerichteten „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“, die Anfang 1766 erscheinen, artikulieren noch einmal die genannte Schwierigkeit und lassen unüberhörbar skeptische Töne erklingen. In diesen Jahren entfernt sich K., ohne sich darüber schon selbst ganz im klaren zu sein, mehr und mehr von den Grundüberzeugungen und -stimmungen seiner eigenen Generation.

    K.s materielle Lage ändert sich in allen diesen Jahren nach der Habilitation trotz seines wissenschaftlichen und pädagogischen Erfolges nur wenig. Seine Bewerbung (8.4.1756) um das Extraordinariat für Logik und Metaphysik, das sein Lehrer Knutzen innegehabt hatte, bleibt ohne Erfolg, weil die preußische Regierung die Stelle im Blick auf den bevorstehenden 7jährigen Krieg unbesetzt läßt. Vergeblich ist auch die Bewerbung (vom 11./14.12.1758) um die ordentliche Professur für Logik und Metaphysik; trotz der massiven Unterstützung seines Mäzens Franz Albert Schultz, der zu dieser Zeit Rektor ist, fällt die Professur an einen älteren (und dienstälteren) Kollegen names Bück. So lebt K. 15 Jahre lang im großen und ganzen von Hörgeldgebühren und Einnahmen aus der privaten Betreuung von Studenten. Die Angaben über die wirtschaftlichen Verhältnisse des Privatdozenten schwanken: düsteren Schilderungen – nach der Darstellung Jachmanns zum Beispiel ist K. in dieser Zeit gezwungen, „seine damals ansehnliche und auserlesene Bibliothek nach und nach zu veräußern“ – stehen Berichte gegenüber, denenzufolge K. in diesen Jahren über ein gesichertes, ja gutes Auskommen verfügt. Jedenfalls lehnt er im Sommer 1764, da er sich hier „nicht in seinem rechten Fache“ zu befinden glaubt, die ordentliche Professur für Dichtkunst an der Universität Königsberg ab, die ihm aufgrund einer ausdrücklichen Intervention des Ministeriums in Berlin angetragen wird. Erst knapp 2 Jahre später, mit 41 Jahren, erhält er seine erste, wenn auch äußerst bescheidene, festbesoldete Stelle: das mit 62 Talern im Jahr dotierte Amt des Subbibliothekars an der Königl Schloßbibliothek, das er bis 1772 gewissenhaft ausübt.

    Der Übergang zur Kritik der reinen Vernunft (1769–81)

    Gegen Ende der 60er Jahre bahnen sich jedoch in K.s beruflicher Situation von verschiedenster Seite her tiefgreifende Veränderungen an. Im Herbst 1769, K. ist mittlerweile 45, erhält er seinen ersten Ruf, und zwar auf den im Zuge einer umfassenden Universitätsreform neugeschaffenen ordentlichen Lehrstuhl für theoretische Philosophie (Logik und Metaphysik) an der Universität Erlangen. Die Erwartungen, die mit dieser Berufung verknüpft sind, lassen sich aus den Universitätsakten noch mit ziemlicher Deutlichkeit erkennen: nicht „Sektierer“, sondern „Männer, in die man ein Vertrauen hätte“, sollten durch die Reform nach Erlangen gezogen werden. K. lehnt den Ruf jedoch postwendend ab; die Gründe, die er für seine Absage anführt, liegen auf verschiedener Ebene: greifbare Berufungschancen an seiner eigenen Universität, die „Anhänglichkeit“ an seine „Vaterstadt“, ein „ziemlich ausgebreiteter Kreis von Bekannten und Freunden“ sowie seine „schwächliche Leibesbeschaffenheit“. Kaum einen Monat darauf erreicht K. ein neues, nicht weniger ehrenvolles auswärtiges Angebot: eine Anfrage der Universität Jena, die er offenbar auch abschlägig beschieden hat. Ein Vierteljahr später aber erhält K. die Stelle, die er seit vielen Jahren angestrebt hat: die ordentliche Professur für Logik und Metaphysik an der Universität Königsberg; am 2.5.1770 wird er feierlich in sein Amt eingeführt.

    Aus diesem Anlaß schreibt K. für die „in denen statutis Academicis verordnete öffentliche und solenniter zu haltende Disputationes“ seine letzte und wichtigste lateinische Dissertation „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis“. Die Disputation findet, von der begeisterten Anteilnahme seiner Studenten, die ein eigenes Huldigungsgedicht drucken lassen, begleitet, am 21.8.1770 statt, Respondent ist der jüdisch Medizinstudent Markus Herz, schon bald darauf einer der führenden Köpfe der Berliner Aufklärung. Die genannte Schrift, die K. in späteren Jahren immer wieder als die entscheidende Vorarbeit für die „Kritik der reinen Vernunft“ betrachtet hat, fällt in eine Übergangsphase, in der sich im Denken K.s schwerwiegende Veränderungen vollziehen („Das Jahr 69 gab mir großes Licht“, heißt es in der berühmten autobiographischen Reflexion 5037), und ist daher wohl weniger die abschließende Fixierung eines Standpunktes als vielmehr ein momentaner Querschnitt durch einen noch mitten in Gang befindlichen Reflexionsprozeß. Die Abhandlung basiert auf einer rigorosen Zweiteilung. Das sinnliche Erkenntnisvermögen mit den ihm zugrunde liegenden Anschauungsformen von Zeit und Raum ist der Grund der Form der Sinnenwelt. Es ist auf den Bereich der „Erscheinungen“, der „Phaenomena“, eingeschränkt und vermag die res „sicuti sunt“, die „Dinge an sich“, nicht zu erkennen (diese genau umgrenzte Position hat K. in der „Kritik der reinen Vernunft“ als „transzendentalen Idealismus“ bezeichnet). Der Verstand dagegen ist imstande, mit Hilfe der ihm (a priori) eigenen Begriffe und Grundsätze die Welt der Dinge an sich, der „Noumena“, zu erfassen und zu der Erkenntnis zu gelangen, daß deren wechselseitige Verknüpfung untereinander – ihre „Form“ – im Geschaffensein der Dinge durch Gott ihren Grund hat. Eben diese Zweiteilung gibt K. auch eine neue Lösungsmöglichkeit für jene Streitfragen der Metaphysik an die Hand, die ihn in den vorangegangenen Etappen seines Denkens so intensiv beschäftigt hatten. Alle diese Kontroversen, so meint K. jetzt, wurzeln in einer Vermischung oder Vertauschung der Gesetze der Sinnlichkeit und des Verstandes, einer „permutatio intellectualium et sensitivorum“; die Einsicht in deren grundsätzliche Verschiedenheit ist daher zugleich der so lange gesuchte Schlüssel für die Auflösung der Streitfragen (für die K. bald darauf den Terminus „Antinomien“ verwenden wird).

    Der Versuch, die Dissertation von 1770 zu überarbeiten und um „ein paar Bogen“ zu erweitern, verstrickt K. schon bald in einen Reflexionsprozeß, der sich wider Erwarten über 10 Jahre hinzieht und schließlich zur „Kritik der reinen Vernunft“ führen wird. K. entwirft dabei, wie vor allem der Briefwechsel mit Herz anschaulich dokumentiert, eine ganze Reihe von Plänen und Projekten, unter anderem – in Anlehnung an Lambert – eine Phaenomenologia generalis (um ein Haar also hätte K. statt der „Kritik der reinen Vernunft“ eine Art „Phänomenologie des Geistes“ geschrieben) und ein Werk über „Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft“. Alle diese Entwürfe sind von der Hoffnung begleitet, die Probleme „in Kurtzem zur völligen Deutlichkeit zu bringen“, werden aber immer wieder von neuen Überlegungen überholt und durchkreuzt.

    Eine zentrale Rolle spielt dabei das Problem der Geltung der apriorischen Begriffe des menschlichen Verstandes (der Kategorien Es taucht erstmals, und zwar ausdrücklich als neue Fragestellung charakterisiert, in K.s Brief an Herz vom 21.2.1772 auf: „wie mein Verstand gäntzlich a priori sich selbst Begriffe von Dingen bilden soll, mit denen nothwendig die Sachen einstimmen sollen, … diese Frage hinterläßt immer eine Dunckelheit in Ansehung unsres Verstandesvermögens“. Die Antwort, zu der K. schließlich in der „Kritik der reinen Vernunft“ gelangt – sie bildet den Inhalt der „Transscendentalen Deduction der reinen Verstandesbegriffe“ –, führt zu einer schwerwiegenden Korrektur an den Grundpositionen der Dissertation. Auch der Verstand, so erklärt K. jetzt, ist nicht imstande, die Dinge an sich zu erkennnen. Seine apriorischen Begriffe gewinnen ihre Geltung allein aus ihrer Notwendigkeit für die Konstitution der Erfahrungswelt, des „mundus sensibilis“. Sie sind nötig, um die Vielfalt der sinnlichen Eindrücke zu einer geordneten Welt der Erfahrung zu verbinden (und so die empirische Einheit des Bewußtseins herzustellen), aber eben deshalb auch nur für diese gültig. Der „mundus intelligibilis“, die wahre, unverschleierte Wirklichkeit, ist dem Menschen – genauer: dem theoretischen Erkennen des Menschen – unabänderlich verschlossen.

    Diese Position bringt es zwangsläufig mit sich, daß sich im Denken K.s mehr und mehr das Problem der Verbindung, der „Synthesis“, in den Vordergrund schiebt. Es markiert gegenüber den 60er Jahren einen deutlichen Wendepunkt. Nicht mehr die Theorie der Analysis, sondern die Theorie der Synthesis steht jetzt im Zentrum der Überlegungen K.s. War jene Konzeption der Analysis mehr oder weniger Ausdruck einer allgemeinen Zeitstimmung, so ist diese das genuine Resultat seines eigenen Nachdenkens.

    Mit der Absage an eine theoretische Erkenntnis des „mundus intelligibilis“ gerät aber auch die Lösung, die K. 1770 für sein altes, nach wie vor akutes Problem, die Streitfragen der Metaphysik, gefunden hatte, abermals ins Wanken, ja diese treten erst jetzt in ihrer ganzen Schärfe als Antinomien zutage. Wenn auch die Gesetze des Verstandes ebenso wie die der Sinnlichkeit nur für die Welt der Erscheinungen gelten und also prinzipiell die gleiche Funktion haben, dann kann ihre Vertauschung nicht der wahre Grund, ihre Separierung nicht die wahre Auflösung der Streitfragen sein. So kommt es zwischen 1770 und 1781 zur Ausarbeitung einer eigenen Antinomienlehre, die den Widerspruch in die Vernunft selbst verlegt. Nicht mehr die Vermischung von Sinnlichkeit und Verstand, sondern die Verwechslung von „Erscheinung“ und „Ding an sich“, von „mundus sensibilis“ und „mundus intelligibilis“, erscheint jetzt als die Wurzel der Antinomien. Für jede der beiden Welten gelten andere Gesetze, die menschliche Vernunft selbst ist antinomisch strukturiert (und bedarf daher auch selber der Kritik). Die einzelnen Antinomien lassen sich demgemäß zwar durchschauen und in diesem Sinn „auflösen“, aber sie sind und bleiben unaufhebbar: Die „Dialektik“ ist ein wesentlicher Zug der menschlichen Vernunft, ein Signum ihrer Endlichkeit.

    Alle diese Überlegungen und Entwürfe sind das Resultat eines Arbeitsprozesses, dessen wachsende Anspannung in gelegentlichen Äußerungen gegenüber Herz für einen Augenblick durchbricht. So heißt es zum Beispiel am 24.11.1776: „Ich empfange von allen Seiten vorwürfe, wegen der Unthatigkeit, darinn ich seit langer Zeit zu seyn scheine und bin doch wirklich niemals systematischer und anhaltender beschäftigt gewesen“. „Es gehöret … Hartnäckigkeit dazu, einen Plan, wie dieser ist, unverrückt zu befolgen“. Rückblickend schreibt K. am 7.8.1783 an Garve, daß er die „Kritik der reinen Vernunft“ mit allen ihren Mängeln um keinen Preis „ungeschrieben wissen möchte, aber auch um keinen Preis die lange Reihe von Bemühungen, die dazu gehöret haben, noch einmal übernehmen möchte“. Die „Hartnäckigkeit“ dieser Jahre bleibt nicht ohne Auswirkungen auf K.s Lebensführung. So schränkt er seine Vorlesungstätigkeit in der Regel auf 14, im SS 1772 sogar auf 10 Wochenstunden ein. Für 10 Jahre verzichtet er so gut wie ganz auf jede Publikation. Eine anonym erschienene Rezension über Moscatis Abhandlung „Von dem Körperlichen wesentlichen Unterschiede zwischen der Structur der Thiere und Menschen“ (1771), eine Vorlesungsankündigung aus dem Bereich der physischen Geographie „Von den verschiedenen Racen der Menschen“ (1775) und zwei kurze, enthusiastische Zeitungsbeiträge für das Dessauer Philanthropin (1776 u. 1777) sind alles, was in diesen 10 Jahren von K. erscheint. Immer wieder berichtet er über „Unpäßlichkeiten“ und „indispositionen“. Zwei Rufe, die er in diesem Zeitraum erhält, der erste (1776) an die eben gegründete Academia Petrina in Mitau, der zweite (1778) an die Universität Halle auf den Lehrstuhl Wolffs, den angesehensten philosophischen Lehrstuhl Preußens, lehnt K. fast schon wie ärgerliche Störungen ab. Die Nachrichten über sein Auftreten in der Königsberger Gesellschaft werden seltener, an die Stelle spontaner Beziehungen treten allmählich feste Verbindungen und gesellschaftliche Verpflichtungen, ja, einzelne Äußerungen lassen möglicherweise auf eine tiefgehende Entfremdung schließen. In der täglichen Lebensführung beginnt ein „eigentümlicher Mechanisierungsprozeß“ des äußeren zugunsten des inneren Lebens (Heller). Vieles spricht dafür, daß sich in diesen Jahren – und nicht erst nach 1781 – der „Übergang vom eleganten Magister zum alten Kant“ (Lehmann) vollzieht.

    Die Durchführung des kritischen Systems (1781–96)

    In merkwürdigem Kontrast zu dieser langen Zeit der Ausarbeitung geschieht die Niederschrift der „Kritik der reinen Vernunft“ nach K.s eigenem wiederholtem Bericht „gleichsam im Fluge“ in „etwa 4 bis 5 Monathen“. Diese Zeitangaben nötigen zu der Annahme, daß K. dabei auf umfangreiche schriftliche Vorarbeiten zurückgegriffen hat; zahlreiche Schwierigkeiten des Werks mögen sich von hier aus erklären. Das Buch erscheint im Mai 1781. Es bleibt jedoch, wie K. betroffen registriert, für längere Zeit so gut wie ohne Echo. Moses Mendelssohn, auf dessen Urteil K. in besonderem Maße gerechnet hatte, legt es wie zahlreiche andere Leser irritiert „zur Seite“. Die erste Rezension, von Garve verfaßt und von Feder gekürzt, wenn nicht verstümmelt, die am 19.1.1782 anonym in den „Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen“ erscheint, ist mit Ironie getränkt. Der Königsberger Professor der Mathematik Johann Schultz, einer der engsten Kollegen K.s, gibt der herrschenden Stimmung Ausdruck, wenn er 1784 in seinen „Erläuterungen über des Herrn Professor K. Critik der reinen Vernunft“ bedauernd erklärt, „daß man fast allgemein über unüberwindliche Dunkelheit und Unverständlichkeit“ dieser Schrift klage, ja, „daß sie selbst für den größten Theil des gelehrten Publikums eben so viel ist, als ob sie aus lauter Hieroglyphen bestünde“.

    Das Gefühl der inneren Befreiung und der Erwartung weicht damit bei K. in wachsendem Maße einem Gefühl der Enttäuschung und der Isolierung. Das Wissen um das heranrückende Alter verbindet sich bei ihm mit dem Bewußtsein, mit den neuen Einsichten der „Kritik“ ganz auf sich gestellt zu sein. Aus solcher Konstellation heraus macht sich K. gewissermaßen im Alleingang an die Ausarbeitung des Gesamtsystems der kritischen Philosophie (für die er häufig auch den traditionsbeladenen Ausdruck „Transzendentalphilosophie“ verwendet). Es beginnt eine Zeit unerbittlicher schriftstellerischer Arbeit. Trotz der Last zahlreicher akademischer Ämter und Verpflichtungen, über die K. immer wieder klagt – unter anderem wird er in diesen Jahren zweimal, im SS 1786 und im SS 1788, Rektor – erscheinen in schneller Folge die großen epochemachenden Werke, die das kritische System Stück um Stück der Vollendung näher bringen. Die erste Schrift freilich, die K. nach der „Kritik der reinen Vernunft“ veröffentlicht, artikuliert noch einmal, wenn auch aus anderem Blickwinkel, die Grundgedanken seines Hauptwerks und versucht damit, der – wie K. selbst zugesteht – „gerechten“ „Beschwerde“ über eine „gewisse Dunkelheit“ der „Kritik“ abzuhelfen. Es sind dies die „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“, die – mit einer schneidenden Erwiderung auf die „Götting. Rezension“ als Anhang – im Frühjahr 1783 herauskommen. Zwei Jahre darauf, im April 1785, erscheint die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ mit den nachgerade klassisch gewordenen Formulierungen des kategorischen Imperativs („handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“), in der K. – im Gegensatz zur herrschenden „Glückseligkeitsethik“ seiner Zeit – die Grundzüge einer „Pflichtethik“ zu entwickeln sucht. Auch sie ist das Resultat langjähriger Überlegungen: erste Pläne oder Vorarbeiten zu einer Schrift, die „gleichsam die Metaphysic der Sitten“ zum Thema haben sollte, gehen bis in die Mitte der 60er Jahre zurück, der Plan zu einer eigenen „Grundlegung“ einer solchen „metaphysischen“ Disziplin innerhalb der praktischen Philosophie mindestens bis Anfang 1784. In mancherlei Hinsicht eine Art Gegenstück dazu bilden im Felde der theoretischen Philosophie die „Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft“, die K. im Sommer 1785 – und zwar wiederum im Rückgriff auf weit zurückliegende Überlegungen – als notwendige Vorarbeit zur eigentlichen „Metaphysik der Natur“ ausarbeitet; sie erscheinen im Frühjahr 1786.

    Zu eben diesem Zeitpunkt ist K. bereits von einer weiteren schriftstellerischen Aufgabe in Anspruch genommen: er arbeitet an „einer neuen sehr umgearbeiteten Auflage“ der „Kritik der reinen Vernunft“, deren erste mittlerweile vergriffen ist. (Das sachliche Verhältnis dieser beiden Auflagen gehört bis heute zu den zentralen, immer wieder aufgeworfenen Problemen der K.-Forschung.) Aufgrund seines ersten Rektorats, bei dem|K. unter anderem die Huldigungsfeierlichkeiten der Universität für den gerade gekrönten König Friedrich Wilhelm II. zu arrangieren hat, zieht sich diese Arbeit bis in den April 1787 hin, doch liegt die 2. Auflage schon 2 Monate später im Druck vor. Zugleich faßt K. in diesem Zeitraum entgegen früheren Plänen den Entschluß, seiner ersten Kritik – die er daher jetzt des öfteren, um wenigstens nachträglich die Parallelität herzustellen, als Kritik der „reinen speculativen“ beziehungsweise „reinen (theoretischen)“ Vernunft bezeichnet – eine zweite, die „Kritik der praktischen Vernunft“, folgen zu lassen, mit der er die Ansätze der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ weiterzuführen und gegen Einwände zu verteidigen sucht. Sie proklamiert ausdrücklich den „Primat“ der „praktischen“, das heißt auf das Handeln des Menschen bezogenen, vor der theoretischen Vernunft. Nur die erstere ist imstande, Recht und Wahrheit der Ideen von „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ positiv zu erweisen. Eine wichtige Neuerung gegenüber der „Grundlegung“, aber auch gegenüber der „Kritik der reinen Vernunft“ ist dabei der Gedanke einer eigenen „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ – die großen Streitfragen der Philosophie, der alte Stachel seines Denkens, gewinnen für K. offenbar von neuem, jetzt im Felde der praktischen Philosophie, zentrale Bedeutung. Neben die Antinomie der theoretischen tritt eine Antinomie der praktischen Vernunft. Das Manuskript dieser zweiten Kritik gelangt im Juli 1787 zum Abschluß, die ersten gedruckten Exemplare hat K., obwohl das Titelblatt 1788 schreibt, bereits im Dezember 1787 in Händen.

    Noch vor Abschluß dieser Arbeiten ist K. abermals mit neuen Überlegungen und Plänen beschäftigt, die das Gesamtsystem der kritischen Philosophie tiefgreifend verändern beziehungsweise erweitern und 3 Jahre später zu seiner dritten und letzten Kritik führen werden, der „Kritik der Urtheilskraft“, die von manchen als „das gewaltigste seiner Werke“ (Windelband) betrachtet wird. Erste Anzeichen für einen solchen Umbau des kritischen Systems lassen sich bereits in der 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ und in der „Kritik der praktischen Vernunft“ erkennen. Doch hat K. zunächst offenbar sehr viel weniger umfassende Projekte im Auge: im Katalog der Ostermesse 1787 kündigt sein Verleger Hartknoch (voreilig) „Kants Grundlegung zur Kritik des Geschmacks“ an – die Parallele zur „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ liegt zumindest nahe; auch in K.s Briefen ist zunächst nur von einer „Grundlage der Kritik des Geschmacks“ die Rede, dann, seit Dezember 1787, gleichsam als zweiter Schritt, von einer „Critik des Geschmaks“ selber. Die weitere Vertiefung in die damit verbundenen Probleme führt K. jedoch schließlich dazu, die ästhetische Thematik der Schönheit und der Kunst mit der teleologischen Thematik des Organischen in einem und demselben Werk zu verbinden: beide Bereiche finden jetzt in dem Vermögen der „reflectirenden Urtheilskraft“ ein gemeinsames apriorisches Prinzip. So berichtet K. am 12.5.1789 dem Jenaer Philosophieprofessor Karl Leonhard Reinhold – dessen „Briefe über die Kantische Philosophie“ (1786/87) bei der Durchsetzung der kritischen Philosophie eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben – von einer neuen, umfassenden Schrift: der „Critik der Urtheilskraft (von der die Critik des Geschmacks ein Theil ist)“. In der Tat enthält denn auch das gedruckte Werk, das Ostern 1790 erscheint, zwei fast gleich starke Teile: die „Kritik der ästhetischen“ und die „Kritik der teleologischen Urtheilskraft“.

    Mit der Arbeit an der „Kritik der Urtheilskraft“ läuft jedoch spätestens seit dem Frühjahr 1789 noch eine andere Arbeit parallel, die K. über Jahre hinweg stark beschäftigen wird. Sie dient nicht der Ausarbeitung des kritischen Systems, sondern seiner Verteidigung gegen die Angriffe von Seiten des sogenannten Dogmatismus (beziehungsweise der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie). Der Gegner, gegen den sich K. hier mit befremdlicher Heftigkeit zur Wehr setzt, ist der Verfasser der „Neuen Apologie des Socrates“, Johann August Eberhard, seit 1778 – also seit der Ablehnung des Rufes durch K. – Professor der Philosophie in Halle. Eberhard, ein gewiß nicht unbedeutender Vertreter der deutschen Aufklärungsphilosophie, hatte Ende 1788 in Halle das „Philosophische Magazin“ gegründet, und die eigentliche Stoßrichtung der neuen Zeitschrift galt unmißverständlich der von der Kritik vollzogenen philosophischen „Revolution“. K.s wichtigste Reaktion auf diese Angriffe ist eine Schrift, die gleichzeitig mit der „Kritik der Urtheilskraft“ Ostern 1790 erscheint und den sarkastischen Titel trägt: „Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll“. Darüber hinaus aber unterstützt K. Reinhold und seinen Königsberger Kollegen Schultz bei ihren Rezensionen des „Magazins“ in der Jenaer „Allgemeinen Literatur-Zeitung“, dem wichtigsten Kampforgan der sich formierenden Kantianer, wiederholt mit umfangreichen schriftlichen Vorlagen. Auch seine Ausarbeitungen „über die von der Königlich Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf's Zeiten in Deutschland gemacht hat?“ – sie sind wahrscheinlich in den Jahren 1793/94 entstanden und wurden 1804 von Friedrich Theodor Rink kurz nach dem Tode K.s veröffentlicht – gehören vermutlich in diesen Zusammenhang. Die Bedeutung dieser langen, erbittert geführten Kontroverse mit der „Schulphilosophie“ ist teilweise außerordentlich hoch veranschlagt worden, ja Vaihinger sieht in ihr die eigentliche „Peripetie des Kantianismus“ und die Vorbereitung der idealistischen Philosophie.

    Zur Überraschung vieler Zeitgenossen entfaltet K. neben dieser stupenden wissenschaftlichen Arbeit auch noch eine kaum weniger intensive publizistische Tätigkeit „Unser Pr. Kant … wird auf seine alten Tage der fleißigste Autor, wie aus sn Beyträgen zur Berl. Monathsschrift zur allgemeinen Litteraturzeitung, wo er Herder recensirt, zu ersehen“, witzelt Hamann am 9.3.1785 gegenüber Lindner. In der von Biester und Gedike 1783 gegründeten „Berlin. Monatsschrift“, die sich bald zum führenden Organ der deutschen Aufklärung entwickelt, veröffentlicht K. zwischen 1784 und 1796 nicht weniger als 15 Beiträge. Ihre Themen reichen von der Politik und Geschichtsphilosophie bis hin zur physischen Geographie. Die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784), die „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784) und die Abhandlung „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ (1793) sind hier erschienen. In der „Allgemeinen Literatur-Zeitung“ erregt K. vor allem durch seine skeptischen Rezensionen von Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1785) starkes Aufsehen. In Wielands „Teutschem Merkur“ erscheint der Aufsatz „Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ (1788).

    In engem Zusammenhang mit dieser publizistischen Tätigkeit für die „Berlin. Monatsschrift“ steht eines der vielschichtigsten und verwickeltsten Kapitel der Biographie K.s: die politischen Schwierigkeiten während der sogenannten Ära Wöllner, die seine Altersjahre in wachsendem Maße überschatten. Schon im September 1786, wenige Wochen nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms II, äußert K. die Befürchtung, er werde „von seinem Brod … kommen“. Doch ändert sich an seiner äußeren Lage zunächst wenig, ja er wird sogar Ende 1786 Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin und erhält Anfang 1789, also mit 64 Jahren, als Zeichen der „wahren Zufriedenheit“ des Monarchen eine nicht unbeträchtliche Gehaltszulage; das entsprechende Reskript ist von dem neuen Kultusminister Johann Christoph von Wöllner unterzeichnet. Im Sommer 1791 freilich kursieren in Berlin bereits Gerüchte, man habe K. „das fernere Schreiben untersagt“.

    Der eigentliche „Zensurkonflikt“ K.s entzündet sich an seiner späteren religionsphilosophischen Hauptschrift über „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. „Das ganze Werk sollte“ nämlich ursprünglich, wie K. dem Göttinger Theologieprofessor Stäudlin am 4.5.1793 berichtet, „in 4 Stücken in der Berliner Monats Schrift, doch mit der Censur der dortigen Commission herauskommen“. Was K. veranlaßt hat, die Arbeit ohne Not der berüchtigten Berliner Immediat-Examinations-Kommission vorzulegen und den Konflikt damit geradezu heraufzubeschwören, ist nicht mit Sicherheit auszumachen – da die „Monatsschrift“ damals bereits in Jena, also im Ausland, gedruckt wurde, fiel sie, wie K. sehr wohl wußte, juristisch gesehen gar nicht mehr unter deren Zuständigkeit. Jedenfalls passiert das 1. Stück unbeanstandet die Berliner Zensur und erscheint im April 1792 wie geplant unter dem Titel „Ueber das radikale Böse in der menschlichen Natur“; dem zweiten dagegen verweigern die Zensoren Gottlob Friedrich Hühner und Hermann Daniel Hermes am 14.6.1792 die Druckerlaubnis. Eine Eingabe Biesters (vom 15. Juni) und ein außerordentlich mutiges Immediatgesuch desselben an den König (vom 20. Juni) bleiben ohne Erfolg. Angesichts dieser Sachlage entschließt sich K., die vier Beiträge zusammen als Buch zu veröffentlichen. Zur Erlangung der Druckerlaubnis unternimmt er zwei Schritte. Zunächst ersucht er die Theologische Fakultät in Königsberg um die Klärung der Vorfrage, ob die Schrift überhaupt in den Kompetenzbereich der Theologie falle. Nach dem gewünschten und erwarteten negativen Bescheid erhält er dann von Justus Chrst. Hennings, dem Dekan der Philosophischen Fakultät in Jena, wo die Schrift gedruckt wurde, das eigentliche Imprimatur. Bereits Ostern 1793 liegt das Werk im Druck vor.

    Während sich in Berlin bereits das Gewitter über K. zusammenbraut – „mit Kantens schädlichen Schriften muß es auch nicht länger fortgehen“, schreibt Friedrich Wilhelm II. am 30.3.1794 eigenhändig an Wöllner – und in Deutschland die verschiedensten Gerüchte („Inquisizion gegen Kant“, Amtsenthebung, Verbannung, Emigration) umlaufen, veröffentlicht K. im Juni 1794 in Biesters „Monatsschrift“ („ehe noch das Ende Ihrer und meiner Schriftstellerey eintritt“) einen weiteren religionsphilosophischen Beitrag über „Das Ende aller Dinge“. In ihm charakterisiert er ein „mit gebieterischer Autorität bewaffnetes“ Christentum (wie Wöllner es praktizierte) als Herrschaft des „Antichrist“, der eben damit „sein (vermuthlich auf Furcht und Eigennutz gegründetes), obzwar kurzes Regiment anfangen“ würde. Über das mit diesem Beitrag verbundene Risiko ist K. sich offensichtlich im klaren; er ist auf alles gefaßt: „überzeugt, jederzeit gewissenhaft und gesetzmäßig gehandelt zu haben, sehe ich dem Ende dieser sonderbaren Veranstaltungen ruhig entgegen“.

    Etwa 3 Monate später erhält der 70jährige K., der auf der Höhe seines Ruhms steht, ein scharfes, von Wöllner selbst unterschriebenes Königliches Reskript (vom 1.10.1794). Es gipfelt in der unverhohlenen Drohung, K. habe sich „bei fortgesetzter Renitenz unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen“. In einem ausführlichen Antwortschreiben weist K. zunächst den Vorwurf Wöllners zurück, er habe seine Philosophie „zu Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christenthums mißbraucht“. Am Schluß seines Schreibens aber tut K. –zur Überraschung seiner Freunde wie seiner Gegner – wie so häufig das gänzlich Unerwartete: er verzichtet in aller Form auf jede weitere Äußerung im Felde der Religionsphilosophie. Seine diesbezügliche Erklärung lautet: „so halte ich, um auch dem mindesten Verdachte darüber vorzubeugen, für das Sicherste, hiemit, als Ew. Königliche Maj. getreuester Unterthan, feierlichst zu erklären: daß ich mich fernerhin aller öffentlichen Vorträge die Religion betreffend, es sei die natürliche oder geoffenbarte, sowohl in Vorlesungen als in Schriften gänzlich enthalten werde“. Die Sorge, bei einer längeren Diskussion im Hin und Her von Anklage und Verteidigung zu mehrdeutigen oder mißverständlichen Äußerungen über die Sache gedrängt zu werden, mag bei dieser – immer wieder diskutierten und umstrittenen – Entscheidung eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben.

    Nach dem Tode Friedrich Wilhelms II. hat K. die genannten beiden Schriftstücke 1798 in seiner Abhandlung „Der Streit der Facultäten“ selber der Öffentlichkeit vorgelegt. Zu der Formulierung „als Ew. Königliche Maj. getreuester Unterthan“ bemerkt er dabei: „Auch diesen Ausdruck wählte ich vorsichtig, damit ich nicht der Freiheit meines Urtheils in diesem Religionsproceß auf immer, sondern nur so lange Se. Maj. am Leben wäre, entsagte.“

    Zuvor aber verlagert K., weit entfernt von Resignation oder Mutlosigkeit, seine schriftstellerische Arbeit auf ein anderes, kaum weniger brisantes Tätigkeitsfeld: das Feld des Politischen. Etwa ein Jahr nach dem Reskript Wöllners, im Herbst 1795, erscheint seine Schrift „Zum ewigen Frieden“. Sie findet eine ungewöhnlich rasche Verbreitung: die 1. Auflage von 2 000 Exemplaren ist in kürzester Zeit vergriffen, noch im gleichen Jahr wird vom Verleger ein Nachdruck hergestellt, bereits ein Jahr später kommt die 2. „vermehrte“ Auflage heraus. Zwei französische Übersetzungen erscheinen 1795 in Bern und 1796 in Königsberg.

    Die letzten Schriften, die K. noch selbst zum Abschluß bringt, fallen fast ausnahmslos in den Bereich der praktischen Philosophie. Ihr leitendes Interesse gilt nun aber nicht mehr wie in den 80er Jahren der Grundlegung und Kritik, sondern der inhaltlichen, „doctrinalen“ Ausführung und Vervollständigung des kritischen Systems, oder anders formuliert: der Anwendung der kritischen Grundsätze auf die konkreten Probleme menschlichen Handelns. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der „Metaphysik der Sitten“ zu, die K.s System der Moralphilosophie enthält. Die Pläne zu einem solchen Werk, dessen Idee (darauf hat neuerdings Giorgio Tonelli hingewiesen) innerhalb der Geschichte der praktischen Philosophie ohne Vorläufer zu sein scheint, lassen sich zwar, wie schon ausgeführt, bis in die 60er Jahre zurückverfolgen und treten nach 1785 auch wieder mehr in den Vordergrund, ihre endgültige Realisierung aber scheint, nach den Zeugnissen des Briefwechsels zu urteilen, erst Anfang der 90er Jahre, also erst nach Abschluß der gesamten kritischen Arbeit, in Gang zu kommen. Jedenfalls spricht K. im Dezember 1792 von seiner „unter Händen habenden Metaphysik der Sitten“, im Mai 1793 von der „vorhabenden Metaphysik der Sitten“. Das Werk kommt in 2 Teilen heraus:|Ende 1796 oder Anfang 1797 erscheinen die „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre“, im Spätsommer 1797 die „Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre“. Fast gleichzeitig veröffentlicht K. in den von Biester herausgegebenen „Berlin. Blättern“, dem Nachfolgeorgan der „Berlin. Monatsschrift“, den Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“, der gemeinhin als ein besonders krasses Beispiel des sogenannten K.schen Rigorismus verstanden (oder mißverstanden) und kritisiert wird.

    Im darauffolgenden Jahr schließlich erscheint K.s „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, die gleichsam den empirischen Teil der praktischen Philosophie abdeckt. Ihr Thema sind nicht die „reinen“, a priori einsichtigen Imperative des moralischen Verhaltens (der „Sittlichkeit“), sondern die auf Beobachtung und Lebenserfahrung beruhenden Regeln des pragmatischen Umgangs mit Menschen (der „Klugheit“). Diese Schrift, ihre Ausarbeitung fällt allem Vermuten nach in die Jahre 1796/97, nimmt unter K.s Veröffentlichungen eine Sonderstellung ein: sie geht auf die Anthropologievorlesungen zurück, die K. seit dem WS 1772/73 regelmäßig gehalten hat, und ist die einzige Vorlesung, die noch von ihm selbst für den Druck ausgearbeitet worden ist. Zahlreiche Unausgeglichenheiten des Werks, nicht zuletzt die Schwankungen im Begriff der „pragmatischen Anthropologie“ selber, sind wohl auf diese Art der Entstehung zurückzuführen.

    Seine übrigen Vorlesungen sind nicht mehr von K. selbst (der allem Vermuten nach im SS 1796 sein letztes Kolleg gehalten hat) veröffentlicht worden. Vielmehr geht K. Anfang des Jahres 1799 daran, die „Koncepte“ und „Papiere“, nach denen er seine Vorlesungen gehalten hatte, zwei jüngeren Kollegen, die früher einmal zu seinen Hörern gezählt hatten, zu übergeben und ihnen die Bearbeitung und Drucklegung derselben zu übertragen. So erscheint 1800, herausgegeben von Gottlieb Benjamin Jäsche, „Immanuel Kants Logik, Ein Handbuch zu Vorlesungen“. 1802 gibt Rink „Immanuel Kant's physische Geographie“, 1803 K.s Vorlesungen „über Pädagogik“ heraus. Durch die umfassende Veröffentlichung des K.schen Nachlasses im Rahmen der Akademie-Ausgabe von „Kant's gesammelten Schriften“ (1911-55) sind diese Ausgaben, so interessant sie für die Wirkungsgeschichte der K.schen Philosophie auch nach wie vor sein mögen, weitgehend überholt und relativiert. Nach seinem Tode sind auch zahlreiche andere Vorlesungen K.s aufgrund von Nachschriften veröffentlicht worden. Von ihnen können hier nur die wichtigsten angeführt werden, so die „Vorlesungen über die philosophische Religionslehre“ (1817) und die „Vorlesungen über die Metaphysik“ (1821), beide herausgegeben von K. H. L. Pölitz, sowie die Vorlesungen über „Menschenkunde oder philosophische Anthropologie“ (1831), herausgegeben von Fr. Ch. Starke [= Johann Adam Bergk]. Die exakte wissenschaftliche Edition und Analyse aller dieser Vorlesungen, die eine wichtige Ergänzung zu den gedruckten Werken bilden, ist bis heute nicht abgeschlossen.

    Das Alterswerk (1796–1804)

    K.s letzte Lebensjahre sind in wachsendem Maße von Alterserscheinungen überschattet. Nach den Angaben des Predigers Ehregott Andreas Christoph Wasianski, der in den 70er Jahren K.s „Amanuensis“, also eine Art Hilfsassistent, gewesen ist und dem K. im November 1801 die gänzliche Führung seiner Geschäfte anvertraut, machen sich schon 1799 die ersten Anzeichen des Verfalls bemerkbar: „Kopfbedrückungen“, „Abnahme seines Gedächtnisses“, Verlust des Zeitmaßes und so weiter. Sein großer Verstand, so heißt es bei Wasianski, schlug zwar noch „oft in lichten, selbst blendenden Flammen wieder auf“, loderte aber „bisweilen nur noch unter der Asche“. Die wenigen Briefe, die von K. aus den Jahren 1799-1803 erhalten sind, und der Nachlaß bestätigen dieses Bild.

    So kommt es, daß das letzte von K. in Angriff genommene große Werk, das sogenannte „Opus postumum“, das in wichtigen Punkten frühere Auffassungen K.s bewußt zu korrigieren scheint, nicht mehr zum Abschluß gelangt und am Ende nicht der System-, sondern der Prozeßdenker das letzte Wort behält. Die Pläne zu diesem Werk, „das vom Uebergange von der Metaphysik der Natur zur Physik handeln sollte“ (Wasianski), scheinen bis zum Anfang der 90er Jahre zurückzugehen, der früheste zusammenhängende Entwurf (der sogenannte „Oktaventwurf“) stammt nach den Feststellungen von Erich Adickes aus der Zeit um 1796. K. scheint diesem Werk, an dem er noch in seinem letzten Lebensjahr arbeitet, außerordentliche Bedeutung beigemessen zu haben; nach den Angaben Borowskis und Jachmanns sah er in ihm den „Schlußstein seines ganzen Lehrgebäudes“, nach der Darstellung Hasses sein „Hauptwerk“, sein „Chef d'oeuvre“. In einem Brief an Garve vom 21.9.1798 spricht K. von dem „Tantalischen Schmertz“, „den völligen Abschlus meiner Rechnung, in Sachen welche das|Ganze der Philosophie … betreffen, vor sich liegen und es noch immer nicht vollendet zu sehen“. Bei Wasianski heißt es: „Die Anstrengung, die K. auf die Ausarbeitung dieses Werks verwandte, hat den Rest seiner Kräfte schneller verzehrt. Er gab es für sein wichtigstes Werk aus.“

    Das letzte Lebensjahr ist durch einen rapiden Verfall der körperlichen und geistigen Kräfte gekennzeichnet, den K. selber mit schrecklicher Deutlichkeit registriert. Am 8. Oktober 1803 erkrankt er zum ersten Mal in seinem Leben schwer, vier Monate später, am 12.2.1804, Sonntag vormittags um 11 Uhr, setzt der Tod seinem Leben ein Ende.

    Wirkungsgeschichte

    Die Wirkungsgeschichte der K.schen Philosophie ist nicht ohne Zwiespältigkeit, ja Tragik. Auf der einen Seite nämlich hat K. den weiteren Gang der Philosophie bis hin zur Gegenwart in Problemstellung und Terminologie tiefgreifend beeinflußt. Kaum eine philosophische Richtung der Folgezeit ist nicht in irgendeiner Form davon betroffen. Auf der anderen Seite aber sind die Grundintentionen und -haltungen seines Denkens wohl zu keinem Zeitpunkt in ihrer ganzen Vielfalt genuin aufgenommen und weitergeführt worden, ja es stellt sich die Frage, ob es nicht bestimmte Momente innerhalb der kritischen Philosophie selber gewesen sind, die schon bald eine philosophische Bewegung ausgelöst haben, welche den grundlegenden Überzeugungen K.s diametral widersprach.

    Im einzelnen lassen sich in der K.rezeption und -interpretation insbesondere fünf große Etappen unterscheiden, die in der Regel jeweils einen bestimmten Aspekt des K.schen Denkens in den Mittelpunkt gerückt haben: 1. die spontane, „buchstabengetreue“ Kantrezeption nach 1785, die die K.sche Philosophie in zahllosen Handbüchern, Kommentaren, Erläuterungsschriften und Lexika binnen weniger Jahre über ganz Deutschland verbreitet hat (Johann Schultz, Karl Christian Erhard Schmid, der frühe Karl Leonhard Reinhold, Ludwig Heinrich Jakob, Johann Gottfried Karl Christian Kiesewetter, Georg Samuel Albert Mellin und zahlreiche andere); 2. die spekulative K.rezeption des Deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel), die vor allem durch Jacob Sigismund Becks Schrift über den „Einzig-möglichen Standpunkt, aus welchem die critische Philosophie beurtheilt werden muß“ (1796) vorbereitet worden ist; 3. die erkenntnistheoretische K.rezeption des Marburger Neukantianismus (Hermann Cohen, Paul Natorp und andere), die um 1871 nach Jahrzehnten der Mißachtung eine bahnbrechende Renaissance der Kantischen Philosophie herbeigeführt hat; 4. die ontologisch-metaphysische K.rezeption nach 1924 (Heinz Heimsoeth, Max Wundt, Martin Heidegger, Gottfried Martin und andere); 5. die K.rezeption der Gegenwart, die in der europäischen wie in der amerikanischen Philosophie einen nicht unwichtigen Platz einnimmt, aber nur schwer auf einen Nenner zu bringen ist. Sie orientiert sich vornehmlich an den Problemen der Wissenschaftstheorie, der Grundlegung einer praktischen Philosophie und der Geschichtsphilosophie. Darüber hinaus sind auch zahlreiche andere philosophische Schulen unterschiedlichster Provenienz wie der Positivismus, der Pragmatismus, die Phänomenologie, die Existenzphilosophie oder der Kritische Rationalismus mehr oder weniger stark von K. beeinflußt worden.

    Die Wirkung, die von K. ausging, beschränkt sich jedoch nicht auf den Bereich der Philosophie. Kaum weniger stark ist seine Ausstrahlung auf andere Wissenschaften, ja auf weite Bereiche des öffentlichen Lebens gewesen. Das gilt vornehmlich für die protestantische Theologie, aber auch für nicht unbedeutende Strömungen innerhalb des Katholizismus, für die Rechtswissenschaft, die Geschichtswissenschaft, die Soziologie und für die Pädagogik. Im Felde des Politischen wären an erster Stelle die preußische Reformbewegungen zu nennen sowie respektable Strömungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie, die von dem „neukantischen Sozialismus“ insbesondere Cohens beeinflußt sind. In der Literatur sind es vor allen anderen Schiller und Kleist, die von dem epochemachenden Einfluß der K.schen Philosophie Zeugnis geben.

  • Werke

    Gesamtausgg.: Sämmtl. Werke, 12 Bde., hrsg. v. K. Rosenkranz u. F. W. Schubert, 1838-42;
    Gesammtausg., 10 Bde., hrsg. v. G. Hartenstein, 1838 f.;
    Sämmtl. Werke, 8 Bde., hrsg. v. dems., 1867 f.;
    dass., 9 Bde., hrsg. v. J. H. v. Kirchmann, 1868 ff.;
    Ges. Schrr., hrsg. v. d. Kgl. Preuß. Ak. d. Wiss. (u. Nachfolgern), bisher 28 Bde., 1900 ff. (vollständigste Ausg.);
    Sämtl. Werke, 10 Bde., hrsg. v. K. Vorländer u. a., 1901-27;
    Werke, 11 Bde., hrsg. v. E. Cassirer u. a., 1912-22;
    Werke in 6 Bdn., hrsg. v. W. Weischedel, 1956–64, 3/41975;
    vgl. A. Warda, Die Druckschrr. I. K.s (b. z. J. 1838), 1919;
    N. Hinske u. W. Weischedel, K.-Seitenkonkordanz, 1970.

  • Literatur

    Bibliogrr. u. ä.: H. Vaihinger, Commentar z. K.s Kritik d. reinen Vernunft, 2 Bde., 1881/92, ²1922 (hrsg. v. R. Schmidt), Nachdr. 1970, Bd. 1, S. 14-22, 23-25, 158 f., 165, 253, 293, Bd. 2, S. 533-48;
    E. Adickes, German Kantian Bibliogr., 1895 f.,|Nachdrr. 1967 u. 1970;
    A. Warda, I. K.s Bücher, 1922;
    Überweg;
    H. Rust, K. u. d. Erbe d. Protestantismus, 1928, S. 7-26 (Verz. derj. Bücher u. Druckschrr. a. d. Gebieten d. Rel., d. Rel.gesch. u. d. christl. Theol., welche K. nachweisl. vorgelegen haben);
    Ziegenfuß;
    W. Brugger, Scholast. (u. an d. christl. Philos. orientierte) Lit. zu K. seit 1920, in: K. u. d. Scholastik heute, hrsg. v. J. B. Lotz, 1955, S. 256-79;
    G. Tonelli, Bibliogr. degli appunti dei corsi univers. tenuti da K., sinora pubblicati, e della letteratura pertinente, in: Giornale Critico della Filosofia Italiana 38, 1959, S. 492-99, 39, 1960, S. 160;
    K. H. Lehmann u. H. Hermann, Dissertationen z. K.schen Philos., Auf Grund d. J.verz. d. dt. Hochschulschrr. (1885–1953), in: K.-Stud. 51, 1959/60, S. 228-57;
    U. Schultz, I. K. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten, 1965, S. 168-82. - Zss. u. Jbb.: Regelmäßige bibliogr. Mitt. finden sich
    in: Kant-Stud., 1897 ff.; vgl.
    A. Diemer u. N. Henrichs, Gesamtregister d. K.-Stud. 1-60 (1897-1969), 2 Bde., 1969 f.;
    Altpreuß. Mschr., 59 Bde., 1864-1922;
    Jb. d. Albertus-Univ. zu Königsberg i. Pr., 1951 ff.; s. a. weitere Veröff. d. Kant-Ges. - Lexika (Ausw.):
    C. Ch. E. Schmid, Critik d. reinen Vernunft im Grundrisse z. Vorlesungen nebst e. Wb. z. leichtern Gebrauch d. K.ischen Schrr., 1786, S. 165-294;
    ders., Wb. z. leichtern Gebrauch d. K.schen Schrr. nebst e. Abh., ⁴1798, Nachdrr. 1974 (Aetas Kantiana 236), neu hrsg., eingel. u. mit e. Personenregister versehen v. N. Hinske, 1975;
    G. S. A. Mellin, Encyclopäd. Wb. d. krit. Philos., od. Versuch e. faßl. u. vollst. Erklärung d. in K.s krit. u. dogmat. Schrr. enthaltenen Begriffe u. Sätze, 6 Bde., 1797–1804, Nachdrr. 1968 (Aetas Kantiana 175), 1970 f.;
    ders., Kunstsprache d. krit. Philos., od. Slg. aller Kunstwöiter ders., mit K.s eigenen Erklärungen, Beyspielen u. Erll.;
    aus allen seinen Schrr. ges. u. alphabet. geordnet, 1798, Nachdr. 1970 (Aetas Kantiana 177);
    ders., Anhang z. Kunstsprache d. krit. Philos., 1800;
    R. Reicke, Register z. Briefwechsel K.s, in: Ges. Schrr. (Ak.ausg.) 13, 1922, S. 601-99;
    G. Lehmann, Index z. Opus postumum, ebd. 22, 1938, S. 625-748;
    H. Ratke, Systemat. Handlex. z. K.s Kritik d. reinen Vernunft, 1929, Nachdr. 1965;
    R. Eisler, K.-Lex., 1930, Nachdrr. 1961 u. ö.;
    R. Verneaux, Le vocabulaire de K., 2 Bde., 1967 u. 73;
    Sachindex z. K.s Kritik d. reinen Vernunft, hrsg. v. G. Martin, bearb. v. D.-J. Löwisch, 1967;
    Allg. K.-Index z. K.s ges. Schrr., hrsg. v. G. Martin u. a., bisher Bd. 16 u. 17: Wortindex z. K.s ges. Schrr., bearb. v. D. Krallmann u. H. A. Martin (Wortindex zu Bd. 1-9), 1967, Bd. 20: Personenindex z. K.s ges. Schrr., bearb. v. K. Holger, E. Gerresheim, A. Lange u. J. Götze, 1969.

  • Schriften

    Schrr. z. d. Werken: a) Darst.: C. L. Reinhold, Briefe üb. d. K.sche Philos., 2 Bde., 1790/92 (teilweise bereits 1786 im Teutschen Merkur ersch.), neu hrsg. v. Raymund Schmidt, 1923; J. S. Beck, Erläuternder Auszug aus d. crit. Schrr. d. Herrn Prof. K., 3 Bde., 1793-96 (wichtig Bd. 3: Einzigmögl. Standpunct, aus welchem d. crit. Philos. beurtheilt werden muß); Kuno Fischer, I. K. u. s. Lehre, 2 Bde., 1860, ⁶1928; H. Cohen, K.s Theorie d. Erfahrung, 1871, ³1918; F. Paulsen, Versuch e. Entwicklungsgesch. d. K.schen Erkenntnisstheorie, 1875; ders., I. K., s. Leben u. s. Lehre, 1898, ⁷1924; A. Riehl, Der phil. Kritizismus, Gesch. u. System, 3 Bde., 1876 ff., ³1924 (wichtig Bd. 1: Gesch. d. phil. Kritizismus); E. Caird, The critical philos. of I. K., 2 Bde., 1889, Nachdr. 1969; A. Schweitzer, Die Rel.philos. K.s, 1899, Nachdr. 1974; V. Delbos, La philos. pratique de K., 1905, ³1969; P. Menzer, K.s Lehre v. d. Entwicklung in Natur u. Gesch., 1911; B. Bauch, I. K., 1917, ³1923; E. Cassirer, K.s Leben u. Lehre, 1918 (= Bd. 11 d. Werke); A. Baeumler, K.s Kritik d. Urteilskraft, Ihre Gesch. u. Systematik, I, 1923, ²u. d. T. Das Irrationalitätsproblem in d. Ästhetik u. Logik d. 18. Jh. b. z. Kritik d. Urteilskraft, 1967; M. Wundt, K. als Metaphysiker, 1924; H. Schmalenbach, K.s Rel., 1929; M. Heidegger, K. u. d. Problem d. Metaphysik, 1929, ⁴1973 (mit wichtigen Ergg.); ders., Die Frage nach d. Ding, 1962; Gerh. Krüger, Philos. u. Moral in d. K.schen Kritik, 1931, ²1967; H. J. de Vleeschauwer, La Déduction transcendentale dans l'Oeuvre de K., 3 Bde., 1934-37; J. Bohatec, Die Rel.philos. K.s in d. „Rel. innerhalb d. Grenzen d. bloßen Vernunft“, 1938, Nachdr. 1966; L. Goldmann, Mensch, Gemeinschaft n. Welt in d. Philos. I. K.s, 1945; G. Martin, I. K., Ontol. u. Wiss.theorie, 1951, ⁴1969; H. Heimsoeth, Stud. z. Philos. I. K.s, 2 Bde., 1956/70; G. Tonelli, Elementi metodologici e metafisici in K. dal 1745 al 1768, 1959; K. Weyand, K.s Geseh.-philos., 1963; J. Schwartländer, Der Mensch ist Person, K.s Lehre vom Menschen, 1968; Gerh. Lehmann, Btrr. z. Gesch. u. Interpretation d. Philos. K.s, 1969; N. Hinske, K.s Weg z. Transzendentalphilos., 1970; b) Kommentare: H. Vaihinger Commentar z. K.s Kritik d. reinen Vernunft, 2 Bde., 1881/92, ²1922, Nachdr. 1970; H. Cohen, Kommentar z. I. K.s Kritik d. reinen Vernunft, 1907, ⁴1925; M. Apel, Kommentar z. K.s „Prolegomena“, 1908, ²1923; N. Kemp Smith, A commentary to K.s „critique of pure reason“, 1918, ²1923, Nachdr. 1962; H. J. Paton, K.s metaphysic of experience, 2 Bde., 1936, ⁵1970; ders., The categorical imperative, a study in K.s moral philos., 1947, ⁵1965 (dt. v. K. Schenck, 1962); H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, Ein Kommentar z. K.s Kritik d. reinen Vernunft, 4 T., 1966-71; L. W. Beck, A commentary on K.s critique of practical reason, 1960, ⁴1966 (dt. v. K.-H. Ilting 1974).

  • Biographisches

    Zur Biogr. a) Gesamtdarst.: (anonym), K.s Leben, e. Skizze, in e. Briefe eines Freundes an s. Freund, aus d. Englischen, 1799; (J. Ch. Mortzfeld), Fragmente aus K.s Leben, e. biogr. Versuch, 1802; L. E. Borowski, Darst. d. Lebens u. Charakters I. K.s, v. K. selbst genau revidirt u. berichtigt, 1804; R. B. Jachmann, I. K. geschildert in Briefen an e. Freund, 1804; E. A. Ch. Wasianski, I. K. in s. letzten Lebensj. 1804 (die 3 zeitgenöss. Standardbiogr.; zahlr. Nachdrr.; vgl. dazu K. Vorländer, Die ältesten K.-Biogrr., e. krit. Studie, 1918); (J. D. Metzger), Aeußerungen üb. K., s. Charakter u. s. Meinungen, 1804; J. G. Hasse, Lezte Aeußerungen K.s v. einem s. Tischgenossen, 1804, nachgedr. bei A. Buchenau u. G. Lehmann (Hrsg.), Der alte K., Hasse's Schr.: Letzte|Äußerungen K.s u. persönl. Notizen aus d. opus postumum, 1925; (G. S. A. Mellin?), I. K.s Biogr., 2 Bde., 1804; F. Th. Rink, r Ansichten aus I. K.s Leben, 1805; Ch. F. Reusch, Hist. Erinnerungen, in: Neue Preuß. Provinzial-Bll. 6, 1848, S. 288-306; ders., K. u. s. Tischgenossen, o. J., Nachdr. 1973 (Aetas Kantiana 211); E. Arnoldt, K.s Jugend u. d. fünf ersten J. s. Privatdocentur, in: Altpreuß. Mschr. 18, 1881, S. 606-86, wieder in: ders., Ges. Schrr. III/2, 1908, S. 103-210; W. Kuhrke, K. u. s. Umgebung, mit e. Titelbild u. 40 Abb., 1924; J. Heller, K.s Persönlichkeit u. Leben, Versuch e. Charakteristik, 1924; K. Stavenhagen, K. u. Königsberg, 1949; U. Schultz, I. K. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten, 1965; K. Vorländer, I. K.s Leben, mit neuer Einl., Ausw.bibliogr. u. Qu.texten hrsg. v. R. Malter, 1974 (vollständigste Bibliogr. z. Biogr. K.s); F. Gause, K. u. Königsberg, 1974. b) Einzelunterss.: R. Reicke, (Hrsg.), Kantiana, Btrr. z. I. K.s Leben u. Schrr., 1860; J. Sembritzki, K.s Vorfahren, in: Altpreuß. Mschr. 36, 1899, S. 469-71 u. in: K.-Stud. 2, 1899, S. 381 f.; ders., Neue Nachrr. üb. K.s Großvater, in: Altpreuß. Mschr. 37, 1900, S. 139-41; ders., K.s Großvater, ebd. 38, 1901, S. 312 f.; E. Fromm, I. K. u. d. preuß. Censur, 1894; ders., Zur Vorgesch. d. Kgl. Kab.ordre an K. v. 1. Okt. 1794, in: K.-Stud. 3, 1899, S. 142-47; A. Warda, Zur Frage nach K.s Bewerbung um e. Lehrerstelle an d. Kneiphöf. Schule, in: Altpreuß. Mschr. 35, 1898, S. 578-614; ders., Die K.-Mss. im Prussia-Mus., ebd. 36, 1899, S. 337-67; ders., K.s Bewerbung um d. Stelle d. Sub-Bibliothekars an d. Schloßbibl., ebd. S. 473-524; ders., K.s „Erklärung wegen d. v. Hippelschen Autorschaft“, ebd. 41, 1904, S. 61-93; ders., Zur Frage: Wann hörte K. zu lesen auf?, ebd. S. 131-35; ders., Zwei Mitt. z. Biogr. K.s, ebd. 48, 1911, S. 378-81, 557-61; A. Frhr. v. Rahden, Invontarium üb. d. Nachlaß … K.s, in: SB d. Kurländ. Ges. f. Lit. u. Kunst u. Jber. d. Kurländ. Provinzialmus. a. d. J. 1900, 1901, S. 81-100 (zu S. 36 f.); B. Kipfmüller, K.s Mutter, in: Frauenbildung 4, 1905, S. 49-59; B. Haagen, Auf d. Spuren K.s in Judtschen, in: Altpreuß. Mschr. 48, 1911, S. 382-411 u. 528-56; O. Schöndörffer, Der elegante Magister, in: Reichls phil. Alm. auf d. J. 1924, I. K. z. Gedächtnis, hrsg. v. P. Feldkeller, 1924, S. 65-83; H. Mortensen, K.s väterl. Ahnen u. ihre Umwelt, in: Jb. d. Albertus-Univ. zu Königsberg/Pr. 3, 1953, S. 25-57; G. Tonelli, Conditions in Königsberg and the Making of K.s Philos., in: bewußt sein, G. Funke zu eigen, hrsg. v. A. J. Bucher, H. Drüe, Th. M. Seebohm, 1975, S. 126-44. c) zur Geneal.: A. Frhr. v. Rahden, Stammtafel d. Fam. K., in: Jb. f. Geneal., Heraldik u. Sphragistik, 1899, hrsg. v. d. Kurländ. Ges. f. Lit. u. Kunst, 1901, S. 180 (zu S. 176 f.); William Meyer, Zu K.s Ahnentafel, in: Fam.geschichtl. Bll. 21, 1923, Sp. 79-84; Dt.GB 61; M. Frhr. v. Stackeiberg, Ahnentafel d. Philosophen I. K., in: Ahnentafeln berühmter Deutscher I, Lfg. 2, 1929, Nr. 32, S. 131 f.; E. Grigoleit, Zur Abstammungsfrage I. K.s, in: Geneal. u. Heraldik 2, 1950, S. 213-15; W. Teßmer, in: Altpreuß. Geschlechterkde. NF 23, 1975, S. 106-26 (mit Stammtafel).

  • Porträts

    Gem. v. J. G. Becker, 1768 (Verl. Gräfe u. Unzer); Zeichnung v. V. H. Schnorr v. Carolsfeld, 1789 (Dresden, Kupf.kab.), Abb. in: Die Gr. Deutschen II, 1956, danach Kupf. v. J. F. Bause, 1791, Abb. ebd. II, 1935; Gem. v. G. Döbler, 1791, Abb. b. Rave;
    Miniatur v. C. Vernet, Abb. in: Die Gr. Deutschen im Bild, 1937;
    Steinbüste v. E. Bardou, 1798, Abb. ebd. u. b. Rave; vgl. vor allem
    K. H. Clasen, K.-Bildnisse, 1924;
    W. Kuhrke, K. u. s. Umgebung, 1924;
    Uwe Schultz, I. K. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten, 1965;
    F. Gause, K. u. Königsberg, 1974;
    I. K., Leben, Umwelt, Werk, Kat. d. Ausstellung, 1974.

  • Autor/in

    Norbert Hinske
  • Zitierweise

    Hinske, Norbert, "Kant, Immanuel" in: Neue Deutsche Biographie 11 (1977), S. 110-125 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118559796.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Kant: Immanuel K., geb. am 22. April 1724 in Königsberg i. Pr., ebendaselbst am 12. Februar 1804, führte seine Abkunft auf Vorahnen zurück, welche aus Schottland eingewandert waren; sein Vater Johann Georg, welcher seinen Familiennamen noch „Cant“ schrieb, übte in einem dem Mittelpunkte des Flußhandels nahe gelegenen Hause das Sattlergewerbe aus und hatte sich 1715 mit Anna Regina Reuter vermählt. Unter den elf aus dieser Ehe entsprossenen Kindern, von welchen zwei Knaben und vier Mädchen in sehr frühen Jahren starben, war Immanuel das vierte: sein jüngerer Bruder Johann Heinrich starb 1800 als Pfarrer in Rahden, seine jüngste Schwester, Frau Theuer überlebte ihn, zwei andere, welche an einfache Bürger in Königsberg verheirathet waren und eine unverheirathete gingen ihm im Tode voran. Im elterlichen Hause waltete der damals weit verbreitete Pietismus in milderer Form; insbesondere aber übte die Mutter, welcher Immanuel auch körperlich völlig ähnlich war, den bedeutendsten Einfluß auf ihn aus; er selbst bezeichnete sie als eine verständige, gut unterrichtete, edle und religiöse Frau und bewahrte ihr auch über ihren Tod hinaus, welcher im J. 1737 erfolgte, stets das achtungsvollste und dankbarste Andenken. Nachdem der Knabe den Elementarunterricht in der Hospitalschule empfangen hatte, berieth sich die Mutter über die weitere Heranbildung des Sohnes mit Franz Albert Schultz, welcher 1731 Pfarrer und im folgenden Jahre Professor der Theologie geworden war, und nach der Willensmeinung desselben trat nun der junge K. zu Michaelis 1732 in das Collegium Fridericianum ein, dessen Directorium der genannte Schultz im J. 1733 übernahm. Diese Studienanstalt (zugleich ein Pensionat) war durchgängig nach den Grundsätzen des Pietismus geleitet, so daß neben den Unterrichtsstunden von Schultz noch besondere Betstunden gehalten wurden. Die Einwirkung dieser Richtung auf den jugendlichen K. dürfte hauptsächlich in einer dem praktischen Christenthume zugewandten Gesinnung und überhaupt in sittlich-religiöser Kräftigung zu suchen sein; er sagte wenigstens selbst, daß er den äußerlichen Formen der Frömmelei keinen Geschmack|abgewinnen könne und vielleicht hängen hiermit seine noch viel später (1792) ausgesprochenen Ansichten über das Gebet und über den religiösen Gesang zusammen. Während der acht Jahre seines Aufenthaltes im Fridericianum, wo auch David Ruhnken zu seinen Mitschülern gehörte, wandte er sich mit Vorliebe den lateinischen Schriftstellern (besonders dem Lucretius) zu und erwarb sich auch die ihm bleibende Fertigkeit, ein richtiges und selbst schönes Latein zu schreiben. Im Herbste 1740 trat er an die Universität seiner Vaterstadt über, wo er sich als Studirender der Theologie immatriculirte, was jedoch nur als Erfüllung einer üblichen Form zu betrachten ist, indem die Studenten überhaupt eine der drei höheren Facultäten als Fachstudium zu bezeichnen pflegten. Thatsächlich hörte er zunächst nur in der philosophischen Facultät Vorlesungen aus dem Umkreise der Mathematik und der Philosophie, und es dürfte überflüssig sein, Untersuchungen über die Gründe anzustellen, aus welchen er sich von der Theologie abgewendet habe, sowie auch die Angabe, daß er bereits einige Male in Landkirchen gepredigt habe, geradezu unrichtig ist. Mochten etwa auch seine Eltern und vielleicht sodann Schultz ursprünglich an eine theologische Laufbahn des jungen Mannes gedacht haben, so war doch die geistige Richtung desselben bereits im ersten Universitätsjahre entschieden, und zwar durch den mächtigen Einfluß, welchen die auf alle Theile der Philosophie, sowie auf Mathematik, Physik und Astronomie sich erstreckenden Vorlesungen des Martin Knutzen auf ihn ausübten. Dieser für seine Zeit bedeutende Mann, welcher, wie so manche Andere, den Gegensatz zwischen Wolffianismus und Pietismus aufzuheben sich bemühte und in den mathematischen Disciplinen Hervorragendes leistete, bewirkte bei K. den Uebergang von philologischen Studien zu Philosophie und Naturwissenschaft, und sowie in letzterer Richtung die gründliche Hinweisung auf Newton für den wissenschaftlichen Thätigkeitskreis Kant's bestimmend wurde, so wirkten auf denselben die philosophischen Fragen, welche damals mehrfach über Leibniz's prästabilirte Harmonie in Umlauf waren, gerade dadurch, daß Knutzen zu den Anhängern des sogen. „influxus physicus“ (d. h. zwischen Leib und Seele) gehörte; desgleichen war auch bezüglich des Christenthums die pietistische Auffassung Knutzen's von Einfluß auf K. selbst bis in desselben spätere Periode. Kurz K. war gegen Ende seiner Universitätsstudien völlig ein Halb-Wolffianer im Sinne Knutzen's. In den späteren Semestern (1743) hatte er auch fleißigst die Vorlesungen des oben genannten Fr. Alb. Schultz über Dogmatik gehört, und wenn er dies auch nur zu dem Zwecke that, encyklopädisch seine Kenntnisse zu erweitern, so empfing er doch auch hierbei den Gedankenkreis eines pietistischen Wolffianismus. Um des Gelderwerbes willen repetirte er mit vermöglichen Mitschülern diese dogmatischen Vorlesungen, sowie zuweilen auch einige andere, aber seit 1744 ließ er die theologische Litteratur bei Seite liegen, so daß er selbst noch in seiner viel späteren Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft“ (1793) sich auf einen im J. 1732 erschienenen Katechismus stützte. Im März 1746 starb sein Vater und so war er nun in erhöhtem Grade darauf angewiesen, selbständig für seinen Unterhalt zu sorgen. Daß er erfolglos sich um eine Lehrstelle an der lateinischen Schule im Kneiphofe beworben habe und ihm ein völlig Unbedeutender vorgezogen worden sei, gehört zu den mancherlei nicht hinreichend bewiesenen Angaben. Er nahm mehrere Hauslehrerstellen an und verweilte neun Jahre hindurch in dieser Thätigkeit, zuerst beim Pfarrer Andersch in der Nähe von Gumbinnen, dann im Hause Hülsen's in Arensdorf bei Mohrungen und schließlich beim Grafen Kayserling zu Rautenburg, welcher während des größeren Theiles des Jahres in Königsberg lebte; durch die geistvolle Gattin desselben wurde er in die höhere Gesellschaft eingeführt, woselbst er nicht nur seinen feinen Umgangston erwarb, sondern auch seinerseits bald die geistig belebende Seele|jener Kreise wurde. In den Anfang dieser Periode seines Lebens fällt auch das erste Erzeugniß seiner nachmals so reichen schriftstellerischen Thätigkeit, nämlich die „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte“ (1747), wobei wir ihn noch völlig in dem Gebiete der mathematischen Physik beschäftigt finden. Es steht nämlich diese Schrift in nahem Zusammenhange mit der Abhandlung des Daniel Bernoulli (Allg. D. Biogr. Bd. II, S. 480): „De vera notione virium vivarum“ (— nur durch die örtliche Lage Königsbergs und die Schwerfälligkeit des damaligen Buchhandels ist es zu erklären, daß K. die bereits 1743 erschienene Hauptschrift d'Alembert's „Traité de dynamique“ noch nicht kannte —) und betrifft somit einen in jener Zeit lebhaft geführten Streit zwischen Cartesianern und Leibnizianern über das sogen. Kräftemaß, indem erstere die Kraft als Produkt aus Masse und Geschwindigkeit (M X C), letztere aber als Produkt aus Masse und dem Quadrate der Geschwindigkeit (M X C2) faßten. K. sucht zu vermitteln, insoferne der Standpunkt des Descartes berechtigt sei, wenn die Fortdauer der Bewegung auf äußerer Ursache beruht, d. h. wenn die Kraft todt ist, hingegen Leibniz's Ansicht zur Geltung komme, wenn es sich um ein inneres Streben des bewegten Körpers, wie z. B. beim Falle, d. h. um eine „lebendige Kraft" handle. Daß er dabei mit Leibniz den Raum noch völlig objectiv als Anordnung des Nebeneinander nahm, versteht sich von selbst; aber bereits damals wies er auf die Möglichkeit einer anderartigen Welt hin, in welcher mehr als drei Dimensionen bestehen. Im J. 1754 erschienen in den Königsberger Nachrichten zwei Aufsätze Kant's, nämlich Untersuchung der Frage, ob die Achsendrehung der Erde sich verändert habe“ und „Die Frage, ob die Erde veralte“, worin die von Späteren bestätigte Annahme entwickelt wird, daß die Rotationsgeschwindigkeit der Erde durch eine Einwirkung des beständigen Wechsels von Ebbe und Fluth allmählich verringert werden müsse.

    Im Alter von 31 Jahren stehend, durfte sich nun K. wol für genügend vorbereitet halten, die akademische Laufbahn zu betreten. Am 12. Juni 1755 promovirte er mit einer Dissertation „De igne“, worin er auf Grund der Eulerschen Vibrationstheorie die Wärme als schwingende Bewegung einer elastischen, die Theilchen der Körper verbindenden Materie darlegte und so die Entstehung der flammenden Hitze zu erklären versuchte, und am 27. September desselben Jahres erfolgte seine Habilitation mittelst der Abhandlung „Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio“, welche mit dem später entwickelten Systeme durchaus nichts zu schaffen hat, sondern nur zu den zahlreichen damals üblichen Controversen über die sogen. drei Grundgesetze des Erkennens gehört; K. steht dabei noch auf Wolffischem Boden und sucht unter Bekämpfung des Crusius, De summis rationis principiis (Allg. D. Biogr. Bd. IV, S. 630), den Satz des zureichenden Grundes aus dem Satze des Widerspruches abzuleiten und faßt die Naturgesetze als lediglich objective, wendet sich aber bereits gegen die formelle Gültigkeit des ontologischen Beweises für das Dasein Gottes. Mit dem Wintersemester 1755/56 begann er sofort seine Vorlesungen, welche zunächst nur die Gebiete der Mathematik, Physik und Geographie betrafen, seit 1758 aber sich auch auf die philosophischen Disciplinen erstreckten; dabei legte er Compendien Anderer zu Grunde, nämlich für Logik Meier und Baumeister, für Metaphysik Baumgarten, für Moral Baumeister, benutzte aber dieselben nur zur allgemeinen Uebersicht und Reihenfolge des zu behandelnden Stoffes, während er seine eigenen Ansichten auf einzelne Zettel geschrieben in die Vorlesung mitbrachte, um an dieselben, sich völlig gehen lassend, die Erörterung der besonderen Punkte anzuknüpfen. Bei solchem Verfahren ließ er die Feststellung der philosophischen Lehren erst allmählich vor den Augen der Zuhörer entstehen, indem er von einer absichtlich gewählten schiefen Formulirung zu immer genauerer Präcision|fortschritt, meistens dabei einen der Anwesenden fortwährend fixirend (bekannt ist die Anekdote, daß er einmal durch das Fehlen eines Knopfes am Rocke eines Zuhörers fast aus der Fassung gebracht wurde). Neben der Universitätsthätigkeit hielt er zuweilen auch Privatvorträge, z. B. einmal längere Zeit hindurch über Physik für eine Anzahl eben anwesender russischer Offiziere. Seine Vorlesungen hatten ebenso einen ungewöhnlich großen Erfolg, wie seine schriftstellerische Thätigkeit ihm die fortan steigende Anerkennung der Gelehrten verschaffte; zu den besuchtesten Vorträgen aber gehörten von Anfang an jene über Geographie, ein Gebiet, in welchem er, obwol er Zeit seines Lebens nur in Königsberg und dessen nächster Nähe verweilte, sich durch Karten und Städtepläne eine solche Einzelnkenntniß erworben hatte, daß er noch später mit Fremden, welche ihn besuchten, sich über deren Heimathsorte gerade so unterhalten konnte, wie wenn er persönlich dort gewesen wäre. Seit er den Lehrstuhl bestiegen, war er zugleich auch litterarisch äußerst thätig, und in ziemlich rascher Abfolge erschien eine Anzahl von Schriften, in welchen er jedoch vorerst seinen späteren grundsätzlichen Standpunkt noch immer nicht eingenommen hatte, daher man dieselben jetzt gemeiniglich als die vorkritischen Schriften bezeichnet. Noch im genannten Jahre 1755 verfaßte er unter anonymer Widmung an König Friedrich II. „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“, aber das Werk gelangte zunächst weder an seine königliche Adresse noch auch zur Buchhändlermesse, da während des Druckes desselben der Verleger fallirte und daher dessen ganzes Lager längere Zeit versiegelt blieb. In diesem stets denkwürdig bleibenden Buche erklärte K. die Entstehung der Weltkörper aus den Anziehungs- und Abstoßungskräften der Materie und stellte hiermit als der erste jene Theorie auf, welche nicht lange hernach (1761) durch Lambert's „Kosmologische Briefe“ und viel später (1796) von Laplace, „Exposition du système du monde“ näher ausgeführt, sowie nachmals durch Herschel's Entdeckungen vielfach bestätigt wurde. Unter Verzicht auf die Annahme eines unmittelbaren Schöpfungsactes sucht K. die theologische Auffassung zu retten und (in einer an Descartes erinnernden Weise) die Wirkung der Naturgesetze mit dem Dasein eines Gottes zu vereinbaren, indem das Universum als geordnetes Ganzes nach denjenigen Gesetzen zweckmäßig arbeitet, welche Gott einmal in die Materie gelegt hat, so daß eben darum ein physiko-theologischer Beweis ermöglicht ist. Die Teleologie dürfe nicht auf Vernichtung der mechanischen Erklärung ausgehen, sondern müsse dieselbe ganz in sich aufnehmen; und in diesem die Gegensätze einigenden Sinne spricht K., während er es der Zukunft anheimgibt, ob etwa die Entstehung eines Krautes oder einer Raupe aus mechanischen Ursachen werde abgeleitet werden können, bereits für seine Zeit das bekannte Wort aus: „Gebt mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen.“ Dabei kömmt er auch auf Gedanken über die Beschaffenheit der Bewohner anderer Planeten je nach Maßgabe ihrer Entfernung von der Sonne, und ebenso ausdrücklich läßt er schließlich die Möglichkeit des Daseins einer unräumlichen (d. h. Geister-) Welt offen. Wie sehr ihm aber dieses epochemachende Werk selbst am Herzen lag, ersehen wir daraus, daß er noch 1791 durch Dr. Gensichen einen Auszug aus demselben zur Sommer’schen Uebersetzung von Herschel's Abhandlung über den Bau des Himmels beifügen ließ, da der Leser gerne die theoretischen Gründe dessen sehen werde, was nach 36 Jahren aus Thatsachen geschlossen wurde. Gegen Ende des nämlichen Jahres 1755 (1. November) ereignete sich das Erdbeben, durch welches Lissabon zerstört wurde, und indem K. alle hierüber erschienenen Notizen sammelte, veröffentlichte er selbst „Geschichte und Naturbeschreibung des Erdbebens, welches 1755 einen großen Theil der Erde erschütterte“ (1756) und „Betrachtungen der seit einiger Zeit wahrgenommenen Erderschütterungen“ (1756); er vertrat hierbei die Ansicht, daß diese Ereignisse|auf vulkanischen Vorgängen im Erd-Inneren beruhen und knüpfte gelegentlich die Mahnung an, daß der Mensch sich nicht für den Endzweck des ganzen Universums halten solle. Eine kleine Schrift „Neue Anmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde“ (1756) enthält bereits eine erste Andeutung des von uns jetzt sogenannten Dove’schen Drehungsgesetzes. Als im April 1756 der oben genannte Knutzen starb, bewarb sich K. um eine außerordentliche Professur, und da nach den bestehenden Vorschriften zum Antritte einer solchen Stelle eine besondere Disputation gefordert war, schrieb er zu diesem Behufe: „Metaphysicae cum geometria iunctae usus in philosophia naturali, cuius specimen I. continet monadologiam physicam“ (1756), worin er auf Leibniz’schem Boden stehend die Raumerfüllung der Monaden durch eine dynamische Kraft, nämlich durch die Repulsion erklärt, in Folge deren dem Eindringen anderer Monaden in die Wirkungssphäre jeder einzelnen ein Widerstand geleistet wird; indem aber hierbei eben von der äußeren Natur der Monaden die Rede ist, wird ausdrücklich betont, daß diese Undurchdringlichkeit nur physischen Wesen (nicht etwa auch geistigen) zukomme. Der eigentliche Zweck aber dieser Schrift blieb unerfüllt, da nach Ansicht der Regierung die erledigte Professur unbesetzt bleiben sollte; und nicht besseren Erfolg hatte es, als K. bei dem erfolgten Tode Kypke's (December 1758) sich um den ordentlichen Lehrstuhl desselben bewarb; denn es wurde ihm damals Buck (s. Allg. D. Biogr. Bd. III, S. 494) vorgezogen, obwol er sich auch einer Empfehlung Seitens des Fr. Alb. Schultz zu erfreuen hatte, welcher ihn unter feierlicher Verpflichtung auf Stillschweigen zu einer Besprechung hatte rufen lassen. In der kleinen Schrift „Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe“ (1758) bekämpfte K. den damals üblichen Begriff der Trägheitskraft und wendete sich auch gegen Leibniz's Fassung des Gesetzes der Continuität; aber völlig in Leibniz’scher Anschauung bewegt sich der „Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus" (1759). Seit 1760 fügte er seinen bisherigen Vorlesungen auch jene über Anthropologie und über natürliche Theologie hinzu und abwechselnd las er zuweilen auch über die Beweise für das Dasein Gottes oder über das Schöne und Erhabene; von 1762—64 befand sich Herder unter seinen Zuhörern und zur selben Zeit knüpfte sich auch ein lebhafter Verkehr mit Hamann an; überhaupt war sein Ruf als Lehrer bereits so befestigt und verbreitet, daß häufig auch reifere Männer, selbst aus entfernteren Orten der Umgegend, bei ihm hörten. In seiner schriftstellerischen Thätigkeit trat er nunmehr näher an die eigentliche Philosophie heran. Zunächst erschien: „Falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren" (1762), worin er zeigte, daß es ein widersprechendes Unternehmen sei, nach der ersten und einzigen Schlußfigur noch drei weitere aufzubauen und dabei die Schlußkraft der letzteren doch nur durch Zurückführung auf die erste zu erweisen. In der hierauf folgenden Schrift „Einzig möglicher Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“ (1763) wendet er sich gegen den üblichen Rationalismus bereits mittelst des Hinweises darauf, daß durch einen Begriff nichts über die Existenz des betreffenden Gegenstandes ausgesagt werde, versucht aber doch einen neuen (später von ihm selbst preisgegebenen) Beweis, welcher darauf beruht, daß, da die Aufhebung aller Möglichkeit undenkbar sei, jedes Mögliche aber ein Nothwendiges zur Voraussetzung habe, schließlich ein schlechthin nothwendiges Wesen existiren müsse. Zu einer bedeutsamen Auseinandersetzung mit dem Dogmatismus der Wolffianer war er veranlaßt durch die von der Berliner Akademie für das Jahr 1763 gestellte Preisaufgabe: „Sind die metaphysischen Wissenschaften derselben Evidenz fähig wie die mathematischen?“ Die von K. eingereichte Bearbeitung, welche das Accessit erhielt, während Mendelssohn mit dem ersten Preise gekrönt wurde, führt den Titel „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral“ und bestreitet die bekanntlich von Wolff überall durchgeführte Anwendung der mathematischen Methode auf die Philosophie; denn die Mathematik verfahre mit Recht synthetisch, so daß die allgemeinsten Begriffe in ihr Voraussetzungen sind und im weiteren Verlaufe unerweisliche Sätze nicht zugelassen werden, die Metaphysik hingegen müsse analytisch mittelst Zergliederung der Erfahrung fortschreiten, um das Allgemeinste als Resultat zu erreichen, wobei aber vieles Unerweisliche mit unterlaufe, sowie besonders die Grundsätze der Moral schließlich nur auf ein Gefühlsurtheil gestützt seien. Nicht minder zeigt sich eine Entfremdung vom gewöhnlichen Rationalismus in dem gleichzeitigen „Versuch, den Begriff der negativen Größe in die Weltweisheit einzuführen“ (1763), worin K. einen äußerst tiefen Gedanken durchführte, welchen er jedoch später wieder bei Seite liegen ließ; es handelt sich nämlich dort um den Unterschied zwischen dem blos logischen Widerspruch und der realen Entgegensetzung, welche ebenso wenig wie in der Mathematik ein nicht seiendes, sondern stets in Beziehung auf ein anderes Reales ist, woraus sich zugleich ergibt, daß auch die logische Begründung verschieden ist von der realen Ursache. Als ihm 1764 die durch Bock's Tod (1762) erledigte Professur der Poesie angeboten wurde, lehnte er dieselbe im Hinblick auf die damit verbundenen Verpflichtungen ab; hingegen erhielt er 1766 (noch immer als Privatdocent) die Stelle eines Unterbibliothekars mit einem Gehalte von 62 Thalern, auch übernahm er gegen einen kleinen Entgelt die Aufsicht über die große Naturaliensammlung des Commerzienrathes Saturgus, welche Beschäftigung jedoch er bald wieder aufgab, während er die Bibliothekstelle bis 1772 behielt. In seinen philosophischen Anschauungen machte er in diesen Jahren abermals eine merkliche Wendung. Zunächst zeigen sich in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" (1764) die auf Ansichten der Engländer beruhenden Vorläufer desjenigen, was später in der Kritik der Urtheilskraft seine nähere Ausführung fand. Außerdem erschienen „Räsonnement über den Abentheurer Komannicki" (1764) und „Versuch über die Krankheiten des Kopfes“ (1764), welch beide gleichsam eine Vorarbeit waren zu der ausführlicheren wichtigen Schrift „Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik“ (1766). Der hierbei besprochene Geisterseher ist bekanntlich Swedenborg, dessen Auftreten der Alles prüfende K. nicht ohne Interesse verfolgt hatte (der auf 1758 datirte Brief Kant's an Fräulein v. Knobloch über Swedenborg's Zusammenkunft mit der Königin von Schweden, sowie betreffs des Brandes zu Stockholm ist nach Zimmermann's neuer Untersuchung höchst wahrscheinlich erst 1761 geschrieben). K. war zu der Ueberzeugung gekommen, daß die Metaphysik des Wolffischen Dogmatismus zu Träumen führe und somit, insoferne sie die Möglichkeit toller Hirngeburten construire, der wissenschaftlichen Berechtigung entbehre; während er selbst früher wiederholt auf die Möglichkeit einer Geisterwelt hingewiesen hatte (s. o.), sagt er jetzt, daß der Begriff eines den Gesetzen der Natur entrückten Geistes ein Traum sei, welcher zu folgender Erwägung führe: Wenn pneumatische Wesen die physische Undurchdringlichkeit nicht haben und somit auch in einem von Materie erfüllten Raume gegenwärtig sein können, so müssen wir Menschen entweder auf die Erfahrung eines solchen Wesens überhaupt verzichten, oder der Mensch muß zugleich physisch und pneumatisch sein; letzteres wäre nachgewiesen, wenn es wirklich „Seher“ gebe. Und indem nun Swedenborg als ein solcher gelten sollte, unterzog K. die Schriften desselben (besonders „Arcana coelestia") einer näheren Prüfung, wendete sich aber mit Unwillen davon ab, da er sich von der Fruchtlosigkeit der Erwartung überzeugt hatte, seinen Vernunfttraum durch Erfahrung bestätigt zu sehen, und so wies er mit elegantem Humor nach, daß Swedenborg's Eingebungen nur Produkte einer kranken Intelligenz seien. Von der Metaphysik aber sagt er sich los, während|er, wie er sich ausdrückt, doch noch „in dieselbe verliebt“ ist, und er verzichtet nun auf alle Fragen, für welche in der Erfahrung nichts gegeben ist, sowie er insbesondere auch die Moral von der Metaphysik lostrennt, indem erstere unabhängig von allen theoretischen Ueberzeugungen eine selbständige Befriedigung des Gemüthes gewährt. Hatten sich so allmählich im Geiste Kant's schon mancherlei wichtige Fäden geschürzt, so bleibt sehr beachtenswerth, daß er noch in der Schrift „Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum“ (1768) ebenso wie früher eine objective Realität des Raumes annimmt.

    „Seit etwa einem Jahre“ — schreibt K. am 2. September 1770 an Lambert — „bin ich zu demjenigen Begriffe gekommen, welchen ich nicht besorge jemals ändern, wol aber erweitern zu dürfen und wodurch alle Art metaphysischer Quästionen nach ganz sicheren und leichten Kriterien geprüft und entschieden werden kann.“ Gewiß mit Recht entnehmen wir uns hieraus einerseits, daß K. im J. 1769, also 45 Jahre alt, mit seiner prinzipiellen Anschauung in der Hauptsache ins Reine gekommen war und andererseits, daß auf dem Wege zu diesem Ergebnisse mancherlei in seinem Geiste vorgegangen sein mag, wovon uns ja auch seine bisher erwähnten Schriften Zeugniß geben. Er arbeitete überhaupt stets rastlos prüfend und fand so tiefere Schwierigkeiten auch da, wo die meisten unbedacht vorübergehen; nicht in raschem Ansturme kühner Genialität schrieb er, sondern langsam Schritt für Schritt Boden suchend und weiter bauend, so daß sich uns die Vergleichung mit jenen übergenialen Leuten aufdrängt, welche z. B. im Alter von 25 Jahren Systeme des transscendentalen Idealismus oder dgl. in die Welt schleuderten. Eine tiefgehende Bewegung der Philosophie war um jene Zeit in den Sand des halb-wolffianischen Eklekticismus verlaufen und zugleich war ein zweifacher Wellenschlag von Newton und Locke her über Holland und die Schweiz nach Preußen gedrungen, woselbst Mitglieder der Berliner Akademie den Kampf gegen die Leibniz-Wolff’schen Grundsätze aufnahmen. Durch Newton war eine objective Giltigkeit unserer Verstandesbegriffe festgestellt, und Locke hatte die Frage in Fluß gebracht, wie unsere sinnliche Erfahrung wissenschaftlich brauchbar gemacht werden könne, und in letzterer Beziehung hatte David Hume die Berechtigung der Causalitätsschlüsse bestritten. Und wenn nun K. später (1783, in den Prolegomena) selbst sagt: „David Hume war derjenige, welcher mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab; ich war weit entfernt, ihm in Ansehung seiner Folgerungen Gehör zu geben", womit ein anderweitiger Ausspruch Kant's zusammentrifft, „Hume habe wol einen Funken geschlagen, aber kein Licht angezündet“, so werden wir dabei gewiß mit Recht einerseits an die oben erwähnte Entfremdung von der „geliebten“ Metaphysik denken, zumal da es höchst wahrscheinlich ist, daß K. erst 1765 Kenntniß von Hume's Ansichten nahm (obwol die Sulzer’sche Uebersetzung bereits 1755 erschienen war; übrigens kannte K. von Hume nicht den Treatise, sondern nur die Essays, d. h. besonders den zweiten Theil Enquiry concerning the human understanding). Aber andererseits kann der Grund, aus welchem K. die Folgerungen Hume's ablehnte, sicher nur darin liegen, daß durch dessen Verneinung aller Möglichkeit einer über die äußere Erfahrung hinausgehenden Erkenntniß ein Standpunkt eingenommen war, welcher über das Ziel hinausschießt, insoferne es überhaupt keine apriorischen Urtheile, welche von Gegenständen gelten, geben solle und somit auch eine „reine Naturwissenschaft“ als unmöglich abgewiesen war Dies nämlich war der Punkt, bezüglich dessen der durch Newton geschulte und gründlichst prüfende K. sich bemühen mußte, zu einer beruhigenden Klarheit zu gelangen; und daß ihm dies nach 1766 allmählich endlich gelungen sei, ist wol in der erwähnten Stelle des Briefes an Lambert|ausgesprochen. Eine äußere Veranlassung bot nun die Gelegenheit, den gewonnenen Standpunkt darzulegen. Es war im Herbst 1769 an K. aus Erlangen auf Anregung des Markgrafen Alexander eine Anfrage betreffs Uebernahme einer ordentlichen Professur ergangen und gleichzeitig das Nämliche von Jena aus geschehen, beides aber lehnte er dankend ab, da sich ihm jetzt in Königsberg, welches er ungern verlassen hätte, durch den Tod des Mathematikers Langenhausen eine Aussicht eröffnet hatte; und wirklich wurde, indem an die Stelle desselben der oben genannte Logiker Buck kam, die hierdurch erledigte Professur am 31. März 1770 an K. mit einem Gehalte von 400 Thalern übertragen. Zum Antritte aber des Ordinariates war eine lateinische Dissertation gefordert und so veröffentlichte K. am 20. August 1770 die Schrift „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis“, welche als die erste Fassung des neuen Gedankens und somit gleichsam als ein präformirter Entwurf der späteren Kritik der reinen Vernunft zu bezeichnen ist. K. bestreitet jetzt allerdings die Leibniz-Wolff’sche Unterscheidung zwischen verworrenen und deutlichen Vorstellungen, aber indem er hierfür den Gegensatz zwischen Receptivität und Spontaneität einführt, wendet er sich mittelst der letzteren wieder einem Rationalismus zu, welcher auf gewissen im Menschengeiste ursprünglich liegenden Gesetzen weiter baut und zu reinen Vernunfterkenntnissen betreffs der sinnlichen und der intelligiblen Welt führt; in ersterer Beziehung nimmt er nun den (im Vergleiche mit den früheren Schriften) entscheidenden Standpunkt ein, daß Raum und Zeit als Anschauungsformen lediglich subjectiv sind und bezüglich der intellectuellen Erkenntniß führt er hier noch (im Unterschiede gegen spätere Schriften) das gesammte Ansichseiende auf eine letzte Einheit aller Substanzen zurück. Während der folgenden 11 Jahre veröffentlichte er nur eine kleine Schrift „Von den verschiedenen Racen der Menschen“ (1775, umgearbeitet wieder gedruckt in Engel's „Philosoph für die Welt“, Bd. II, 1777), worin wir dem Gedanken begegnen, daß dereinst durch die Naturforschung gar manche „Art" zu einer „Race" herabsinken könne. Aber um so Wichtigeres ging während dieser längeren äußeren Pause in der inneren Geisteswerkstätte Kants vor sich. Langsam, aber rastlos prüfend gelangte er jetzt zu demjenigen, was er in seinen bekannten Hauptwerken niederlegte; seine eigene That ist der „Kriticismus“, welcher nunmehr über allen früheren Eindrücken und Einwirkungen ihm erwuchs und, wie er selbst sagt, die richtige Mitte zwischen Wolff's Dogmatismus und Hume's Skepticismus enthalten sollte. Unablässig war er bemüht, den Kern der genannten lateinischen Dissertation weiter zu entwickeln, worüber wir in seinen Briefen einige, aber leider nur zu wenige Andeutungen finden. Bereits 1771 beabsichtigte er, die „Grenzen zwischen Sinnlichkeit und Vernunft“ festzustellen, und nachdem der Mediciner Marcus Herz (s. Allg. D. Biogr. Bd. XII, S. 261) als Erläuterung jener Dissertation „Betrachtungen aus der speculativen Weltweisheit“ (1771) veröffentlicht hatte, antwortete ihm K. brieflich (Februar 1772), er könne in vollständiger Ausführung seiner Gedanken eine „Kritik der reinen Vernunft" vorlegen. In einer Anzahl von Entwürfen muß er von dieser Zeit an allmählich die grundsätzliche Anschauung gewonnen haben, daß seitens der theoretischen Vernunft, welche auf das Gebiet der Erscheinung angewiesen ist, das „Ding an sich“ unerkennbar bleibt und daß die Verbindung mit dem Uebersinnlichen lediglich an das sittliche Wollen zu knüpfen ist, wonach die Giltigkeit der Ideen für die praktische Vernunft vorbehalten bleibt, deren Ziel ihm durch Hume nunmehr gleichfalls gefährdet erschien; d. h. der entscheidende Primat der praktischen Vernunft über die reine Vernunft stellte sich ihm damals immer fester und fester. Wiederholt kam er brieflich noch 1777 und 1778 auf den Plan seines Werkes als einen immer noch nicht vollendeten zurück, bis er schließlich „im Fluge“ das Ganze|in 4—5 Monaten zusammenstellte, was nur erklärlich ist, wenn er sich auf verschiedene schriftlich niedergelegte Anläufe ordnend stützen konnte. So erschien (im 57. Lebensjahre Kants) 1781 die „Kritik der reinen Vernunft“ mit einer vom 29. März datirten Dedication an Freiherrn v. Zedlitz, welcher ihm drei Jahre vorher vergeblich einen Ruf nach Halle angeboten hatte. Der Kern des Werkes charakterisirt sich füglich am besten durch zwei Aussprüche, welche K. in der Vorrede zur zweiten Auflage desselben niederlegte; der eine betrifft die dem Verdienste des Copernicus analoge Umkehrung des Standpunktes, nämlich bisher wol habe man angenommen, daß alle unsere Erkenntniß sich nach den Gegenständen richten müsse, nun aber solle man es einmal versuchen, anzunehmen, daß die Gegenstände sich nach unserer Erkenntniß richten müssen, d. h. daß von denselben nicht als von „Dingen an sich", sondern nur als von „Erscheinungen für uns“ die Rede ist, und somit deren Auffassung nur die Folge der Formen und Gesetze unserer subjectiven Erkenntnißthätigkeit ist; der andere lautet kurz wörtlich: „ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“. K. war der Ueberzeugung, daß der Mensch durch die Gesetze seiner Vorstellungsweise das Gebiet der Erscheinungswelt bestimmt und in den Gesetzen seines Handelns die Spur einer idealen Grundlage des Seins findet; in ersterer Beziehung aber war er sich bewußt, eine richtige Mittelstellung einzunehmen, indem er den Rationalisten zeigte, daß das Erkennen seinen Stoff nur aus der Erfahrung entnehmen könne, und hinwiederum den Empiristen und Skeptikern, daß die Erfahrung nur nach den Gesetzen unserer geistigen Thätigkeit zu Stande komme. Es kann hier nicht näher dargelegt werden, wie er in einem ersten Hauptabschnitte des Werkes auf Grundlage der lediglich subjectiven reinen Anschauungsformen Raum und Zeit die Möglichkeit einer reinen Mathematik bejaht und ebenso in einem zweiten auf Grundlage der im Urtheile waltenden reinen Verstandesformen, d. h. der Kategorien, durch welche Ordnung in die Erscheinung gebracht wird, die Möglichkeit einer reinen Naturwissenschaft bejaht, hingegen in einem dritten Abschnitte die Berechtigung der gesammten Wolff’schen Metaphysik nach ihren drei Theilen (Psychologie, Kosmologie, Theologie) mittelst des Nachweises verneint, daß in diesen drei Disciplinen jedes Beweisverfahren vergeblich und täuschend ist, wonach dieselben wol geforderte, aber unmögliche Wissenschaften sind, um sodann schließlich in einem vierten Abschnitte darzuthun, daß diese betreffenden Ideen der Vernunft, wenn nicht constitutive, doch regulative Prinzipien sind, durch welche wir über die Bedingtheit der Erscheinung hinaus zum Unbedingten streben, so daß es sich hierbei um Aufgaben, d. h. um etwas, was geschehen soll, handelt und somit der Fingerzeig zum Uebergange in die praktische Vernunft gegeben ist. So war die erste Hauptschrift der später häufigst sogen. „Transscendental-Philosophie“ (den Ausdruck „transscendental“ entlehnte der Mathematiker K. von den sogen. transscendentalen Gleichungen) dem Publikum vorgelegt, doch war die Wirkung derselben nicht sofort eine so wuchtige, wie man hätte erwarten sollen, und K. trug sich daher 1782 mit dem Gedanken, einen populären Auszug der Kritik der reinen Vernunft zu schreiben. Der einzige Garve hatte über dieselbe eine ausführliche Recension verfaßt, welche jedoch durch Feder in verstümmelter Gestalt in den Göttinger gelehrten Anzeigen 1782 zum Abdruck kam (s. Allg. D. Biogr. Bd. VIII, S. 386, wozu jedoch beizufügen ist, daß jene Recension später vollständig in Nicolais Allg. deutscher Bibliothek 1784 erschienen ist); auch Herder äußerte sich brieflich mißgünstig, indem er noch auf dem Boden der früher in Kant's Vorlesungen empfangenen Eindrücke stand und in die neue Grundanschauung sich nicht zu finden vermochte. So sah sich K. veranlaßt, seine „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“ (1783) zu veröffentlichen, worin er gegen|die Recensenten sich vertheidigend, die Gliederung und den Zusammenhang der einzelnen Untersuchungen deutlicher feststellte und auch manche Punkte, z. B. die Subjectivität des Raumes und der Zeit näher begründete (daß diese Schrift auf einer zweifachen Bearbeitung beruhe, dürfte kaum anzunehmen sein). Indem sodann auch Kant's Amtsgenosse Joh. Schulze unter Zustimmung desselben „Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Kritik der reinen Vernunft“ (1784) herausgegeben hatte und im deutschen Merkur K. L. Reinhold's „Briefe über die Kantische Philosophie“ (1785) erschienen waren, lenkte sich in erhöhtem Grade die allgemeine Aufmerksamkeit auf die epochemachende Neuerung, welche nun vielfach besprochen wurde, zumal da seit 1785 die von dem Philologen Schütz und dem Juristen Hufeland herausgegebene „Jenaische Allgemeine Litteraturzeitung“ förmlich als Organ des Kantianismus wirkte. K. selbst veröffentlichte in dieser Zeit mehrere kleinere Abhandlungen, nämlich „Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" und „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung" (beides in der Berliner Monatsschrift 1784), sowie ebendaselbst 1785: „Ueber die Vulkane im Monde" und „Bestimmung des Begriffes einer Menschenrace" und „Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdruckes", in welch letzterer Schrift er als der erste gegenüber dem romanistischen sachenrechtlichen Begriffe eines litterarischen Eigenthumes sich auf den Standpunkt eines Personenrechtes stellte und somit dasjenige zu Grunde legte, was heutzutage allgemein als Autorrecht bezeichnet wird. Daneben schrieb er in die genannte Litteraturzeitung (1785) eine Recension über Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte, worin er die mystische Ineinsbildung von Natur und Freiheit entschieden verwarf, und zur selben Zeit erschien „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (1785), ein erster Entwurf einer Entwickelung der praktischen Vernunft. Auch hegte er die Absicht, sich bezüglich der Begründung des Daseins Gottes mit Mendelssohns „Morgenstunden" ausführlicher auseinanderzusetzen, doch beschränkte er sich zuletzt auf zwei kleinere Aufsätze, deren einer „Was heißt sich im Denken orientiren?" (Berl. Monatsschr. 1786) geradezu polemisch ist, aber auch Ergänzungen findet durch den zweiten „Einige Bemerkungen zu Jakob's Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden" (1786). Ferner veröffentlichte er „Muthmaßlicher Anfang des Menschengeschlechtes“ (Berl. Monatsschr. 1786), d. h. eine moralisirende Umschreibung der mosaischen Ueberlieferung, und „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“ (1786), worin er entwickelte, wie nach seiner Ansicht mittelst einer mathematischen Bewegungslehre an dem Faden der zwölf Kategorien Ordnung in den Complex der äußeren Natur gebracht werde. In diesem Jahre 1786 war er Rector der Universität und hatte als solcher bei der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms II. den Huldigungsact zu leiten; auch wurde er im gleichen Jahre (nach Mendelssohn's Tod) zum Mitgliede der Berliner Akademie gewählt (dieselbe Ehre erwies ihm später, 1794, die Akademie zu St. Petersburg und 1798 jene zu Siena). Um diese Zeit veranlaßte ihn sein Verleger zur Bearbeitung einer nothwendig gewordenen neuen Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“, welche 1787 erschien (alle späteren Auflagen sind unveränderte Abdrücke dieser zweiten); es kann nicht geleugnet werden, daß mit dieser Umarbeitung, welche theils in Erläuterungen, theils in Abwehr verschiedener Angriffe zu Tage tritt, sich die grundsätzlichen Schwierigkeiten des Kantischen Systems häufen, denn wenn wir auch nicht mit Michelet oder insbesondere mit Schopenhauer geradezu einen Abfall vom ursprünglichen Idealismus der ersten Auflage erblicken wollen, so geben uns dennoch die Bemerkungen, mit welchen sich K. gegen eine Verwechslung seines Standpunktes mit jenem Berkeley's verwahrt, manches zu bedenken, und es muß zugestanden werden, daß er jetzt im Hinblicke auf das Sittengesetz mit größerer Bestimmtheit die Existenz der Dinge|an sich und die Existenz des Ich betonte. Bereits auch im folgenden Jahre erschien sein zweites Hauptwerk, nämlich die „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788). Schon seit längerer Zeit ja war bei K. allmählich die Ueberzeugung festgewurzelt, daß der praktischen Vernunft ein Primat vor der theoretischen zukomme, und so fand er in ersterer das Ansichsein als ein gegebenes, welches im Sittengesetz (Imperativ) unbedingt spricht und auf Autonomie der Vernunft beruhend objectiv allgemein gilt. Und da das höchste Gut des Menschen nur als Vereinigung von Tugend und Glückseligkeit gedacht werden könne, die Behauptung aber, daß letztere aus ersterer folge, nur dann falsch sei, wenn die jetzige diesseitige Existenzweise als die einzige gelte, so müsse sich der Mensch auch als Glied der intelligiblen Welt denken und es seien hiermit Gott, Freiheit und Unsterblichkeit die höchsten Postulate der praktischen Vernunft; d. h. was in der Kritik der reinen Vernunft nur als problematisch und möglich gegolten, wird hier assertorisch und wirklich, so daß an Stelle der dort abgewiesenen Beweise für das Dasein Gottes hier der moralische Beweis tritt und hiermit die Religion, in welcher die Sittengesetze als göttliche Gebote gelten, zur Moral in das Abhängigkeitsverhältniß eines abgeleiteten Momentes kömmt (Ethiko-Theologie). Nachdem K. in gleichem Jahre durch die Schrift „Ueber den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ (im Deutschen Merkur, 1788) vorgearbeitet hatte, gab er die volle Durchführung der Ergebnisse seiner betreffenden Untersuchungen in der „Kritik der Urtheilskraft“ (1790, 2. Aufl. 1793). Hier nämlich sollte die Kluft zwischen reiner Vernunft und praktischer Vernunft schließlich überbrückt werden, denn wenn erstere gesetzgebend für die Natur und letztere gesetzgebend für das Freiheitsgebiet wirke, stehe über beiden vermittelnd die Urtheilskraft, durch welche das Besondere als unter dem Allgemeinen enthalten gedacht wird, was eben in der Auffassung des Zweckes und der Zweckmäßigkeit geschehe. So werde die Gesetzmäßigkeit der Formen der Natur mit den auf Freiheitsgesetzen beruhenden Zwecken übereinstimmen, so daß theoretische und praktische Vernunft zusammengeführt seien. Die Durchführung nun des Zweckbegriffes gibt K. in sichtlichem Anschlusse an Baumgarten (s. Allg. d. Biogr. Bd. II, S. 158) nach zwei Seiten. Insoferne nämlich der Zweck unmittelbar in der sinnlichen Apprehension erfaßt werde, stelle sich das Gefühl einer Lust ein, und der betreffende Gegenstand heiße entweder schön oder erhaben (in der Erörterung dieser beiden ästhetischen Begriffe tritt die Einwirkung der Ansichten der Engländer deutlich zu Tage), in der künstlerischen Herstellung aber der beiden walte jedenfalls eine freie und zugleich regelmäßige Bewegung, so daß im schaffenden Genie der Dualismus in letzter Instanz überwunden sei. Insoferne aber die Vorstellung der Zweckmäßigkeit aus objectiven Gründen erfolge, werde die teleologische Urtheilskraft in ihrem Streben, Alles den Endursachen unterzuordnen, zu einem Oberhaupte im Reiche der Zwecke geleitet, und eine Ethiko-Theologie bilde den Schlußstein des Systems.

    Hatte auf solche Weise K. in seinem 66. Lebensjahre stehend durch die dritte seiner drei Kritiken den Ring des speculativen Systems geschlossen, so war um diese Zeit bereits auch das Ansehen seiner Philosophie über ganz Deutschland verbreitet, und aus vielen Orten reisten begeisterte Anhänger seiner Lehre nach Königsberg, um den verehrten Mann kennen zu lernen und zu hören; unter diesen trat ihm der aus Jena kommende J. Benj. Erhard (s. Allg. d. Biogr. Bd. VI, S. 200) auch persönlich näher, aus Würzburg war Reuß vom dortigen Fürstbischof eigens nach Königsberg geschickt worden, aus Erlangen traf Mehmel ein, aus Berlin Kiesewetter und aus Wien der Graf Purgstall; auch die Regierung bezeugte ihre Werthschätzung für K., indem sie demselben eine besondere Gehaltserhöhung von 220 Thalern zuwies. Schriftstellerisch blieb er noch immer|thätig, indem er theils gelegentlich verschiedene Probleme aufgriff, theils einzelne Materien seiner Philosophie ausführlicher darlegte. Durch einen Angriff Eberhard's in Halle (s. Allg. d. Biogr. Bd. V, S. 570), welcher im „Philosophischen Magazin“ den Beweis versuchte, daß K. im Vergleiche mit Wolff eigentlich nichts neues lehre, war die Veranlassung gegeben zu der Schrift „Ueber eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll“ (1790), worin sich K. im Eifer der Abwehr sogar zu einiger Heftigkeit hinreißen ließ. Zu Borowski's „Cagliostro" (1790) lieferte er einen Beitrag „Ueber Schwärmerei und Mittel dagegen"; auch bearbeitete er die von der Königsberger Akademie für das Jahr 1791 gestellte Preisaufgabe „Welches sind die wirklichen Fortschritte der Metaphysik seit Leibniz?", reichte aber sein Manuscript, in welchem er mit berechtigtem Selbstgefühle auf seine eigenen Leistungen blicken durfte, nicht ein (es wurde erst 1802 von Rink herausgegeben). Zur gleichen Zeit behandelte er die Frage über die Herkunft des Bösen in der kleinen Schrift „Ueber das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee" (Verl. Monatsschr. 1791), worauf als Darlegung seiner positiven Ansicht folgte „Vom radikalen Bösen“ (ebenda 1792); diese letztere Abhandlung aber nahm er als ersten Abschnitt wieder auf in „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793), worin er grundsätzlich eine moralisirende Umschreibung der christlichen Religionslehre gab. Bei diesen Schriften nun mußte auch K. es erfahren, welch bedeutsamer Umschwung in Preußen seit dem Tode Friedrichs d. Gr. (1786) allmählich eingetreten war. Bereits zur selben Zeit, als unter der Regierung Friedrich Wilhelms II, auf Anstiften des Ministers Wöllner das bekannte Religionsedict erlassen wurde (Juli 1788), hatte der einflußreiche Woltersdorf, Prediger an der Dreifaltigkeitskirche, beim Könige beantragt, daß dem K. das Schreiben verboten werde, und nachdem im März 1792 ein neues Censuredict ergangen war, verweigerten die Berliner Censoren das Imprimatur für die Fortsetzung der Schrift „Vom radikalen Bösen“. Da aber die „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ in Königsberg erscheinen sollte, wandte sich K. an die theologische Facultät, welche denn auch die Approbation ertheilte. Darauf empfing K. eine vom 1. October datirte und von Wöllner gegengezeichnete Cabinetsordre, welche folgende Worte enthielt: „Unsere höchste Person hat schon seit geraumer Zeit mit großem Mißfallen ersehen, wie Ihr Euere Philosophie zu Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christenthums mißbraucht. Wir haben uns zu Euch eines Besseren versehen, da Ihr selbst einsehen müsset, wie unverantwortlich Ihr dadurch gegen Euere Pflicht als Lehrer der Jugend und gegen Unsere Euch sehr wohl bekannte landesväterliche Absicht handelt. Wir verlangen des ehesten Euere gewissenhafteste Verantwortung und gewärtigen Uns von Euch, bei Vermeidung Unserer höchsten Ungnade, daß Ihr Euch künftighin nicht dergleichen werdet zu Schulden kommen lassen, sondern vielmehr Eurer Pflicht gemäß Euer Ansehen und Eure Talente dazu anwenden, daß unsere landesväterliche Intention je mehr und mehr erreicht werde, widrigenfalls Ihr Euch bei fortgesetzter Renitenz unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen habt.“ Zugleich mußten sämmtliche Lehrer der theologischen und der philosophischen Facultät einen Revers unterschreiben, nicht über Kantische Religionsphilosophie zu lesen. (Es wird auch erzählt, daß ungefähr um jene Zeit auf dem Reichstage zu Regensburg von Hessen-Kassel der erfolglose Antrag eingebracht worden sei, gegen die Kantische Philosophie von Reichs wegen einzuschreiten, s. Bernhard, Franz Ludwig v. Erthal, Fürstbischof von Bamberg, 1852, S. 140, woselbst wir jedoch jeden Quellennachweis vermissen.) K. seinerseits wies in der ihm auferlegten Verantwortung mit würdevollster Ruhe die gegen ihn gerichteten Vorwürfe zurück und schloß mit den Worten: „Ich halte, um auch dem mindesten Verdachte vorzubeugen, für das Sicherste, hiermit als Eurer königlichen Majestät getreuester Unterthan feierlichst zu erklären, daß ich mich fernerhin aller öffentlichen Vorträge, die Religion betreffend, es sei die natürliche oder geoffenbarte, sowol in Vorlesungen als in Schriften gänzlich enthalten werde“, bei welcher Erklärung er an die Möglichkeit des Todes des Königs dachte, nach dessen Eintritt er der Unterthan einer anderen Majestät sein werde; darum hat er auch alsbald nach dem Regierungsantritte Friedrich Wilhelms III. in der Vorrede zum „Streit der Facultäten“ jene Cabinetsordre nebst dem ganzen Texte seiner Verantwortung veröffentlicht. Tief gedrückt aber fühlte sich K. über die Maßregelung, welche ihn getroffen und mit ärgerlichem Bedauern, eine seiner liebsten Vorlesungen unterlassen zu müssen, beschränkte er sich seit dem Sommer 1795 auf Logik und Metaphysik. Hingegen seine litterarische Thätigkeit verblieb noch ungebrochen; in jene Jahre nämlich fallen „Ueber den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ (Berl. Monatsschr. 1793), wobei er besonders auf das Staatsrecht blickt, in welchem allerdings eine theoretische Forderung auf Freiheit, Gleichheit und Gemeinwohl ziele, aber doch jene Bethätigung dieser Grundsätze, welche zu Widersetzung führt, unter allen Umständen, d. h. auch bei widerrechtlichen Handlungen eines Regenten, das höchste Verbrechen sei; ferner lieferte er in J. Sig. Beck's „Erläuternden Auszug aus den kritischen Schriften Kant's“ (2. Thl. 1794, s. Allg. d. Biogr. Bd. II, S. 214) einen Aufsatz „Ueber Philosophie überhaupt", welcher die wechselseitige Stellung der drei Kritiken näher darlegt; sodann erschien „Das Ende aller Dinge" (Berl. Monatsschrift 1794), wobei die bezüglichen religiösen Ansichten ihre moralische Verwerthung fanden. Auch griff er noch einmal auf seine früheren physikalischen Arbeiten zurück in der interessanten Schrift „Etwas über den Einfluß des Mondes auf die Witterung" (ebenda 1794), worin nicht nur der später bestätigte Satz ausgesprochen ist, daß der Schwerpunkt des Mondes innerhalb der uns abgewandten Hälfte desselben liege, sondern auch gezeigt wird, daß der Mond keinenfalls als beleuchtet die Witterung beeinflussen könne, sondern möglicherweise nur als Körper (wie bei Ebbe und Fluth), daß aber auch dieser Einfluß bisher noch nicht nachgewiesen sei. Dann folgte „Zum ewigen Frieden" (1795), in welcher Schrift er einerseits eine Anzahl von Bestimmungen vorschlägt, durch welche in Zukunft jedem Kriege vorgebaut werden soll, und andererseits auf Grundlage einer überall einzuführenden republikanischen Staatsform eine allgemeine Staatenconföderation als Uebergang zum Weltstaate bespricht. Hierauf gab er zu Sömmering's Werk „Ueber das Organ der Seele" (1796) einen Beitrag, welcher die Function des in der Gehirnhöhle befindlichen Wassers erörtert; und gleichzeitig verfaßte er einen kleinen Aufsatz „Ausgleichung eines auf Mißverstand beruhenden mathematischen Streites" (Berl. Monatsschr. 1796), nämlich betreffs der rationalen algebraischen Verhältnisse des rechtwinkligen Dreiecks, sowie „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ (ebenda 1796), eine reizend geschriebene Ablehnung der Art und Weise Jacobi's, und „Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie“ (ebenda 1796) als launige Abwehr eines heftigen Angriffes, welchen der Frankfurter J. G. Schlosser gegen die Kantische Philosophie gerichtet hatte. Nachdem K. in eben diesem Jahre von Chr. W. Hufeland die berühmte Schrift „Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“ (s. Allg. d. Biogr. Bd. XIII, S. 289) zugeschickt erhalten hatte, verfaßte er sofort im Anschlusse an dieselbe die Abhandlung „Ueber die Macht des Gemüths, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu werden“, welche zunächst in Hufeland's „Journal für praktische Heilkunde“ (1797) mit Anmerkungen Hufeland's erschien (daraus besonders abgedruckt 1799), sodann aber von K. dem „Streit der Facultäten" als dritter Abschnitt einverleibt wurde. Gleichzeitig erschienen „Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre" (1797) und „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre" (1797), welche zusammen auch den gemeinschaftlichen Titel „Metaphysik der Sitten in zwei Theilen“ tragen; die Rechtslehre, welche vielleicht unter den Leistungen Kant's als die schwächste bezeichnet werden darf, bewegt sich grundsätzlich auf dem Boden der naturrechtlichen Litteratur des vorigen Jahrhunderts und unterscheidet sich von derselben wol nur durch ein Uebermaß des Kantischen Formalismus; die Tugendlehre gibt eine nähere Ausführung des sittlichen Imperativs und seines Verhältnisses zu dem Gebiete der sinnlichen Neigungen. Hiermit hängt zusammen die kleine Schrift „Ueber ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen“ (1797), worin allerdings bezüglich der Nothlüge sich eine nahezu übermenschliche Erhabenheit zu einer unmenschlichen Rücksichtslosigkeit verirrt. Von Ostern 1797 an stellte K. seine Vorlesungen gänzlich ein, und im Juni d. J. begab sich zu seiner Wohnung ein festlicher Zug der Studirenden, deren Sprecher ihm für seine bisherige segensreichste Lehrthätigkeit dankte und das freudige Bekenntniß hinzufügte, daß er, wenn auch nicht mehr unmittelbar wirkend, die höchste Zierde der Universität bleibe. Als nach dem Tode Friedrich Wilhelms II. (16. November 1797) durch den Thronfolger sofort das Religionsedict aufgehoben wurde, fühlte der 73jährige Mann das Bedürfniß, aus dem in letzter Zeit auf ihm lastenden Drucke auch litterarisch frei aufzuathmen und verfaßte sonach mit einer nahezu jugendlichen Schriftstellerkraft das Werkchen „Der Streit der Facultäten“ (1798, dem Göttinger Stäudlin gewidmet), worin sich als Grundton hindurchzieht, daß die philosophische Facultät, welche als die untere bezeichnet wird und in allen Vorleseverzeichnissen an letzter Stelle steht, dennoch ihrem Wesen nach eigentlich die erste ist und als geistige Pulsader aller Universitäten wirkt. Dabei setzt er sich mit der positiven Theologie überhaupt auseinander und bespricht auch die mystische Seite der Religion, wozu ihm durch eine Hallenser Doctordissertation ("De similitudine inter Mysticismum purum et Kantianam religionis doctrinam, auctore C. A. Willmans“, 1797) besondere Veranlassung gegeben war; die juristische Facultät führt ihn zur Erörterung der Frage, ob die Menschheit stets zum Besseren fortschreite und bezüglich der medicinischen Facultät findet er die Verbindung des Physischen und des Moralischen in obiger „Macht des Gemüthes, seiner krankhaften Gefühle Meister zu werden“. Außer einer kleinen Schrift „Ueber die Buchmacherei, zwei Briefe an Fr. Nicolai“ (1798) worin der Adressat sowol wegen Beurtheilung einer nachgelassenen Abhandlung Justus Möser's als auch wegen seiner Spottschrift „Sempronius Gundibert“ humorvollen Tadel erfährt, veröffentlichte K. noch „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798), ein Werk, welches eine staunenswerthe Fülle von Erfahrungsblicken in jene geheimen Fäden enthält, welche bei den menschlichen Handlungen mitspielen. Seit 1798 begann die Altersschwäche sich fühlbar zu machen, so daß er fortan sein Haus nie mehr verließ; das Letzte, was er in den Druck gab, war jene denkwürdige Erklärung gegen Fichte, welchen er seinerseits selbst früher (1792) in das Publikum eingeführt hatte, da er den Namen des Verfassers der „Kritik aller Offenbarung“ bekannt machte, während er jetzt (Allg. Litt.-Zeitung 1799, Nr. 109) denselben als einen seiner tölpischen Freunde bezeichnete, dessen Wissenschaftslehre ein gänzlich unhaltbares System sei (diese niederschlagende Beurtheilung fiel zeitlich mit den Maßregeln zusammen, welche die kursächsische Regierung gegen Fichte ergriffen hatte, s. Allg. d. Biogr. Bd. VI, S. 763 f.). Aber an der von den Kantianern sogen. metakritischen Invasion, d. h. an den Schriften Hamanns|und Herder's, welche in dem Titel „Metakritik“ zusammentrafen (erstere nur handschriftlich in Freundeskreisen umlaufend, letztere gedruckt 1799, s. Allg. d. Biogr., Bd. XII, S. 97) ging er theilnahmlos vorüber. Im J. 1800 beauftragte er befreundete Schüler mit Herausgabe seiner Collegienhefte, und so erschienen noch bei seinen Lebzeiten die Vorlesungen über Logik, über physische Geographie und über Pädagogik; er selbst arbeitete noch, soweit es sein Zustand erlaubte, an einem „System der reinen Philosophie in ihrem ganzen Inbegriffe“, worin wol sicher keine neuen Anschauungen, sondern nur eine wiederholende Zusammenfassung des Ganzen niedergelegt war (übrigens soll dieses handschriftliche Werk, welches als verschwunden galt, wieder gefunden worden sein). Indem er 1802 das Gedächtniß verlor, hatte er von nun an die Leiden des allmählichen Marasmus voll auszuschöpfen, wenn auch durch seine verwittwete Schwester ihm die liebevollste Pflege zu Theil wurde; im October 1803 trat eine Schwächung der Sehkraft ein und seit dem folgenden December war seine Sprache unverständlich, vom 3. Februar 1804 an nahm er keine Nahrung mehr zu sich, am 9. verlor er das Bewußtsein und am 12. Februar Vormittags entschlief er. Die feierliche Beisetzung der gänzlich vertrockneten Leiche fand am 28. Februar im Professorengewölbe der Domkirche statt. Ein Denkmal in der sogen. Stoa Kantiana wurde im J. 1810 eingeweiht, und in jüngster Zeit wurde eine Transferirung der Gebeine vorgenommen, worüber s. F. Bessel Hagen, Die Grabstätte Imm. Kant's mit besonderer Rücksicht auf die Ausgrabung und Wiederbestattung seiner Gebeine im J. 1880 (Altpreußische Monatsschrift, Neue Folge, Bd. XVII, Heft 8). Am 19. Juni 1881 wurde die von der Kant-Gesellschaft gestiftete Kapelle, in welcher die Reste desselben jetzt ruhen, eingeweiht.

    Der Körperbau Kant's war zart und klein, die Knochen schwach und das Muskelfleisch abgemagert; unter einer ungewöhnlich hohen Stirn glänzten lebhafte Augen und um den Mund schwebte ein leiser Anflug gemüthlichen Humores. Sein äußeres Leben wickelte sich in pünktlichster Gesetzmäßigkeit ab, welche selbst an rigorosen Pedantismus streifte. Täglich, Sommer wie Winter, stand er um 5 Uhr auf, zwischen 7 und 9 Uhr fielen die Vorlesungen, hierauf folgte Arbeit bis zur Essenszeit, welche er in der Regel länger, nämlich von 1—4 Uhr ausdehnte, indem er einige (mindestens drei bis fünf) Tischgenossen zu sich bat, mit welchen er gerne ausführlichere Gespräche pflegte, sei es über Tages- und Stadtneuigkeiten oder über litterarische Erscheinungen. Nach Tisch folgte auf eine Stunde ein Spaziergang, welcher täglich den nämlichen Weg beschrieb, bis ihm dies durch die ihn ebenso pünktlich erwartenden Bettler verleidet wurde. Heimgekehrt gab er sich seinen Meditationen hin, welche er auf einzelnen Denkzetteln kurz fixirte; um 9, längstens 10 Uhr ging er zu Bett. Schon seit 1774 hatte er einen Amanuensis an Wasianski, an dessen Stelle, nachdem K. 1783 sich ein Haus gekauft hatte, 1784 Jachmann trat; 1794 aber übernahm Wasianski die gesammte Fürsorge für das Hauswesen, dessen Tischgenossen außer diesen beiden meistens die Professoren Rink, J. G. Hasse (s. Allg. d. Biogr. Bd. X, S. 758) und Kraus (dieser aber zog sich später zurück), sowie der Rentier Green waren. Die Ferien brachte K. öfters in dem eine Meile entfernten Dorfe Moditten bei dem Förster Wobser zu, übrigens besuchte er außerhalb Königsbergs nur die Städte Insterburg und Pillau. — Sein Charakter, in Folge dessen er allgemein nicht nur verehrt, sondern auch geliebt wurde, zeigte die vollste anspruchlose Gediegenheit und schlichte Biederkeit, sowie feingebildetste Humanität; er war sanft wohlwollend, wahrhaft kindlich bescheiden, zuverlässigst aufrichtig und wahrheitsliebend, dabei unerschöpflich heiter und nicht ohne Begabung zu Humor und Witz (nicht aber zur Satire). Auch als Schriftsteller war er stets lauter und ehrlich, er wollte nie überraschen, sondern nur überzeugen, er verschmähte rhetorischen Glanz und hielt es für eine litterarische Sünde, durch Geistreichheit bestechen zu wollen; geradsinnig, wie er war, schrieb er stets in ebenmäßiger Ordnung, so daß wie in einem harmonisch gegliederten Baue der Leser bald orientirt ist; zuweilen ist sein Stil etwas breit oder leidet auch an Einschachtlung mehrerer Sätze, aber stets bleibt er ein wahrlich liebenswürdiger Autor, dessen erste Schriften ebensosehr bereits männliche Reife zeigen, wie die letzten noch immer jugendliche Munterkeit aufweisen. — Der Inhalt aber seiner Werke brachte eine ebenso tiefgreifende als weitverbreitete Umwälzung hervor; denn es war fortan nicht mehr möglich, die Fragen über die Berechtigung und über die Tragweite der Erkenntnißthätigkeit zu umgehen, und folglich mußte in theoretischer Beziehung der aufklärerische Dogmatismus seine Geltung verlieren; auch konnte andererseits bezüglich des sittlichen Wollens die Annahme eines moralischen Gefühls nicht mehr genügen, sondern es war durch die neue Wendung (gleichviel ob anfechtbar oder nicht) auf einen letzten Grund aller Idealität hingewiesen; nicht minder hatte das Kunstgebiet eine speculative Vertiefung gefunden, deren nächste Wirkungen bei Schiller ihren Ausdruck erhielten. Daß der Kantianismus einige Zeit hindurch an unseren meisten Universitäten seine Vertreter hatte und überhaupt über ganz Deutschland sich verbreitete, ist bekannt: desgleichen aber auch, daß er außerhalb Deutschlands in den Niederlanden, in England, Frankreich und Italien sich begeisterte Anhänger erwarb. K. zeichnete der Philosophie auf ein Jahrhundert ihre Wege vor, und mit innerer folgerichtiger Nothwendigkeit entwickelten sich aus seiner Grundlegung die nach ihm auftretenden Systeme, daher er einerseits für alle künftige Zeit in der Geschichte der Philosophie zu den allerhervorragendsten Heroen gehören wird, aber andererseits die jetzt oft betonte Frage, ob wir nicht heutzutage lediglich zu K. zurückkehren sollen, kaum bejaht werden dürfte, woferne wir nicht den ganzen seit ihm abgelaufenen Weg ein zweites Mal zurücklegen wollen.

    • Literatur

      Ausgaben der Werke K.'s veranstalteten Rosenkranz und Schubert (1838 bis 1840), gleichzeitig Hartenstein (1838 f.), wovon die 2. Auflage (1867 ff.) sich streng an die chronologische Reihe hält, sodann Kirchmann (1868 f.); jüngst kam durch Vaihinger neu hinzu „Ein bisher unbekannter Aufsatz K.'s über die Freiheit“ (1880) und „Briefe aus dem Kant-Kreise“ (1880) und durch Benno Erdmann „Nachträge zu K.'s Kritik d. r. Vern., aus K.'s Nachlaß“ (1881). — Ueber das Leben K.'s s. Fr. W. Schubert im 11. Theile (Abthlg. 2) der genannten Gesammtausgabe, woselbst auch über die älteren Biographien genauest berichtet ist; ergänzend kam hinzu Rud. Reicke, „Kantiana, Beiträge zu K.'s Leben u. Schriften“ (1860), sowie von demselben jetzt die Herausgabe der gesammten Kant-Correspondenz zu erwarten sein soll; manche Berichtigung betreffs der früheren Lebensperiode K.'s brachten Benno Erdmann, „Martin Knutzen u. s. Zeit“ (1876), S. 133 ff., sowie Arnoldt. „K.'s Jugend und die ersten fünf Jahre seiner Privatdocentur“ (1882). — Ueber K.'s Philosophie s. die bekannten Geschichtswerke v. J. E. Erdmann und Ed. Zeller; außerdem: H. Cohen, „K.'s Theorie d. Erfahrung“ (1871) und „Die syst. Begriffe in K.'s vorkritischen Schriften“ (1873) und „K.'s Ethik“ (1877); Witte. „Beiträge z. Verständnisse K.'s“ (1874); Paulsen. „Entwicklungsgesch. d. Kant’schen Erkenntnißtheorie“ (1875) und „Was uns K. sein kann“ (1880, Vierteljahrsschrift f. wiss. Phil.); A. Riehl, „Der philos. Kriticismus“ (1876); Windelband in d. Vierteljahrsschrift 1877, S. 224 ff.; Benno Erdmann, „K.'s Kriticismus" (1878); Volkelt, „K.'s Erkenntnißtheorie" (1879) und „Die geschichtl. Wirkungen der Kritik d. reinen Vernunft“ (in „Gegenwart“, 1881, Nr. 18); M. Runze. „K.'s Bedeutung“ (1881); Herm. Wolff, „Speculation u. Philosophie“, 1. Bd. (1878); Vaihinger, „Commentar zu K.'s Kritik der reinen Vernunft“ (1881 begonnen); Edm. Pfleiderer, „Kant'scher Kriticismus“ (1881); Zöllner, „Ueber d. Natur der Kometen“ (1874, Schlußabschnitt);|Fr. Schultze, „Kant u. Darwin" (1875); Konr. Dietrich, „K. u. Newton" (1876) und „K. u. Rousseau“ (1878); Meydenhauer, „K. oder Laplace“ (1880); Rob. Zimmermann, „K. u. d. Spiritismus“ (1879 Wiener Akademie); Aug. Oncken, „Ad. Smith u. K.“ (1877). Im Allgemeinen auch K. Biedermann, „Deutschland im 18. Jahrh.“, Bd. II, Abthl. 2, Thl. 3, S. 865 ff.

  • Autor/in

    Prantl.
  • Zitierweise

    Prantl, Carl von, "Kant, Immanuel" in: Allgemeine Deutsche Biographie 15 (1882), S. 81-97 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118559796.html#adbcontent

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