Lebensdaten
1695 – 1723
Geburtsort
Striegau (Schlesien)
Sterbeort
Jena
Beruf/Funktion
Dichter
Konfession
lutherisch
Normdaten
GND: 11854327X | OGND | VIAF: 56684122
Namensvarianten
  • Günther, Johann Christian
  • Günther, Christian
  • Günther, Johann Christian
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Zitierweise

Günther, Christian, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd11854327X.html [29.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Johann (1659–1728?), Arzt, S d. Christian aus Aschersleben u. d. Dorothea Reinert aus Löbenitz;
    M Anna (1658–1724), T d. Rechnungshalters Christoph Eichbänder u. d. Rosina Sartorius; ledig.

  • Biographie

    Nachdem er bis zu seinem 15. Lebensjahr vom Vater erzogen worden war, besuchte G. 1710-15 die Gnadenschule in Schweidnitz, gefördert von seinem Rektor Chr. Leubscher, dem Diakon B. Scharff und B. Schmolcke, einem späten Vertreter der Dichtung der sogenannten Zweiten Schlesischen Schule. Dieser Tradition sind die aus der Liebe zu einer Jugendgespielin hervorgegangenen ersten Gedichte verpflichtet, deren letztes „Auf den Tod seiner geliebten Flavie“ erhalten ist. Der|größte Teil seiner folgenden Liebeslyrik ist dem im Sommer 1714 beginnenden Verhältnis zu Magdalena Eleonore Jachmann gewidmet, mit der er sich im April 1715 verlobte. In der letzten Zeit des Schweidnitzer Aufenthaltes entstand die erste der Reihe seiner Crispin-Satiren, in denen er sich zunächst noch versteckt, später ganz offen gegen Th. Krause, den Herausgeber der „Vergnügung Müßiger Stunden“, wendet. Krause hatte in seiner Zeitschrift die moralische Integrität G.s und die Reinheit des Verhältnisses der Verlobten bezweifelt und sich seit G.s Fortgang aus Schweidnitz zum Sprachrohr der bürgerlichen Kreise Schlesiens gemacht, die in G. den verkommenen Studenten par excellence und in dessen Gedichten nur einen Ausdruck seiner Unmoral erblickten. Unter dem Eindruck des Schweidnitzer Echos kehrte sich auch der von dem jungen Dichter innig geliebte Vater von seinem Sohn ab, nachdem er dessen Tendenz zur Poesie bis dahin ohnedies schon mit Mißbehagen beobachtet hatte. Mit einem Schuldrama herkömmlicher Art („Die von Theodosio bereuete Eifersucht“) verabschiedete sich G. von seiner Schule. Er schrieb sich am 11.11.1715 als stud. med. in Frankfurt/Oder ein, ging jedoch schon am 25.11. nach Wittenberg. Hier wurde er 1716 zum Dichter gekrönt, geriet in Schulden und mußte zeitweilig ins Gefängnis. Spätestens seit Beginn der Wittenberger Zeit verdiente er sich seinen Lebensunterhalt allein durch Gelegenheitsgedichte; von den ersten Studententagen an brechen die Klagen über die ermüdende Suche nach einem Mäzen oder einer bezahlten Stelle als Hofpoet oder Erzieher nicht wieder ab. Im Spätsommer 1717 konnte er Wittenberg verlassen, ging nach Leipzig, wo er durch B. Mencke Bekanntschaft mit der „politisch-galanten“ Schreibart und Mode machte und sich vorübergehend an die „Deutschübende Gesellschaft“ anschloß. Hier vollzog sich die Trennung vom Schwulst der „Zweiten Schlesischen Schule“ und die Wendung zu Opitz und Fleming; unter dem Einfluß seiner Übersetzungen des Johannes Secundus schuf er die Studenten- und Liebeslieder („Brüder laßt uns lustig sein“), die ihn im moralischen Urteil der Zeitgenossen und der späteren Kritiker zum exemplarischen Vertreter des verkommenen Genies machten. Während er noch am „Entlarvten Crispin“ arbeitete, einem Anti-Krause, in welchem G.s Polemik gegen den Vertreter der konventionellen Heuchelei kulminiert, wurde im Juli 1718 der Passarowitzer Friede geschlossen, den G. wenig später in einem Hymnus auf den Prinzen Eugen und Karl VI. enthusiastisch feierte. Dieses pathetische Gedicht brachte seinem Schöpfer großen Ruhm, jedoch nicht die erwünschte Anstellung oder Belohnung. 1719 bewarb er sich auf Menckes Vorschlag am Dresdener Hof um das Amt des Pritschmeisters, wurde abgewiesen und kehrte verbittert nach Schweidnitz zurück. Zwei Jahre hindurch hielt er sich, verleumdet, krank und verelendet, in verschiedenen Städten Schlesiens auf; etliche Versöhnungsversuche beim Vater scheiterten, ebenso eine Niederlassung als Arzt in Oberschlesien und ein neues Verlöbnis. Vermutlich Ende 1722 ging er nach Jena, um sein Medizinstudium abzuschließen. Kurz vor der Promotion zum doctor medicinae starb er.

    Die moralische Verurteilung des Menschen überdeckte lange Zeit die gerechte Wertung des Lyrikers G. Eine solche Gefahr lag nahe, da sich Werk und Leben schwerer als sonst bei einem Dichter dieser Zeit trennen lassen. Die hartnäckige Abkehr des alten Günther von seinem Sohne – unter welcher dieser zeit seines Lebens sehr gelitten hat –, die von seinen Feinden verbreiteten Gerüchte, später das Urteil Gottscheds, und vor allem Goethes berühmte Kritik in „Dichtung und Wahrheit“ ließen G. lange Zeit als Prototyp des verkommenen Genies durch die Literaturgeschichte ziehen. Diese Beurteilung sah sich durch die Überbewertung der Leipziger Studenten- und (der im Gesamtwerk verschwindend geringen Zahl) der Carpe-diem-Lieder unterstützt. Bekenntnis und Erlebnis G.s äußern sich jedoch zuerst in seiner Liebesdichtung, angefangen vom Gedicht auf den Tod seiner ersten Geliebten bis zu den Liedern an die Phillis, in denen Todessehnsucht und Sehnsucht nach der Geliebten sich durchdringen. „Unruh“ (genialer Trieb zur rauschhaften Sinnlichkeit und zugleich Sehnsucht nach gesellschaftlicher Geborgenheit, dem Zuhause; Ausdruck auch des Antagonismus von „Glück und Zeit“) und „Verhängnüß“ sind die sich widerstreitenden Leitbegriffe seiner Liebes- und Klagelieder. „Unruh“ treibt ihn auf die Flucht vor „Zeit und Verhängnüß“. Daneben steht der ständige Rechtfertigungsdrang gegenüber dem Vater und der Umwelt: die stets betonte „Redligkeit“ und der kompromißlose Trieb zur Wahrheit sind die zentralen Anliegen seiner Satiren. Neben den Produkten ausgelassener Heiterkeit stehen in der Mehrzahl solche der resignierenden Trauer und der Flucht in die Irrealität des Traumes, wo allein er die ersehnte Ruhe findet: „Der Menschen Leben heißt ein Traum, O wenn doch meins ein solcher wäre!“ Seine Satiren geißeln „Tadelsucht“, Orthodoxie wie Pietismus, galante Mode, Pharisäer und „Federhelden“, Heuchler, Neider und Verleumder. Seine Gedichte zeichnen das engstirnig-orthodoxe Wittenberg und das galante Leipzig, sie verarbeiten Zeitereignisse oder besingen sie sogar. G. empfand sich als Verbannter wie sein Vorbild Naso; noch zu Lebzeiten feierten ihn seine Anhänger als einen zweiten Ovid.

    G.s Werk entstand am Schnittpunkt zweier Epochen: Das Geburtsjahr des Dichters war zugleich das Erscheinungsjahr des ersten Bandes der Neukirchschen Anthologie, in der sich noch einmal ein repräsentativer Querschnitt spätbarocker Lyrik darstellt; in seiner Schüler- und Studentenzeit erschienen Wolffs wichtigste deutsche Schriften, in seinen letzten Jahren die „Discourse der Mahlern“ von Bodmer und Breitinger. Kurz vor seinem Tode erreichte der Pietismus seinen Höhepunkt in der Gründung Herrnhuts. G.s Lyrik läßt alle diese sich anbahnenden oder abschließenden Entwicklungen anklingen: Die ersten Gedichte stehen in der Tradition des Manierismus der „Zweiten Schlesischen Schule“. Bereits im Vaterhaus war G. mit den Schriften Leibniz' und später Wolffs bekannt geworden. Von seiner Lektüre des Horaz und Johannes Secundus vorbereitet, öffnete er sich in Leipzig dem Einfluß der „galanten Dichtung“ (später verwahrte er sich sehr dagegen, „galant“ zu sein). Seine religiöse Lyrik und die geistlichen Oden im fragmentarischen Zyklus des „Geistlichen Jahres“ tragen pietistische Züge. Unter dem Widerspruch von Leibniz' prästabilierter Welt-Harmonie und dem christlich-asketischen „Jammerthal“ des Barockjahrhunderts hat G. zeit seines Lebens gelitten. Die parallel zur Berührung mit der frühen Aufklärung gehende Wendung zum Klassizismus eines Opitz stellte auch an G. die immer wiederkehrende Forderung nach der Schaffung eines deutschen Heldengedichtes, eine Forderung, deren Erfüllung durch den Hymnus an den Prinzen Eugen begonnen werden sollte. Sein sich formal an die Tradition der Opitzschen Verskunst haltendes, fast ausschließlich lyrisches Werk ist als Bekenntnis- und Erlebnisdichtung sowohl Ausdruck einer geistigen Entwicklung der Zeit als auch über die Zeit hinausweisendes Denkmal eines schöpferischen Individualismus, der von Goethe später in seiner höchsten Form repräsentiert wurde.

  • Werke

    Slg. v. C. G.s Gedichten, Franckfurt u. Leipzig 1724, Andere u. verbesserte Aufl., ebd. 1725;
    Forts., ebd. 1725;
    Zweyte Forts. od. Dritter T., ebd. 1727, weitere Aufl.: 1726-64;
    Gedichte, hrsg. v. J. Tittmann, 1874;
    Die Gegner d. zweiten Schles. Schule I, J. C. G., hrsg. v. L. Fulda (= Dt. Nat.-Lit. 38, hrsg. v. J. Kürschner);
    Sämtl. Werke, hrsg. v. W. Krämer, 1930-37;
    G.s Werke, hrsg. v. H. Dahlke, ³1962 (P).

  • Literatur

    ADB X;
    B. Mencke, in: Acta Eruditorum 101, Leipzig 1724, S. 344;
    B. Scharff, Rezensionen d. G.-Ausgg., in: Gel. Neuigkeiten Schlesiens I-IV, Schweidnitz 1734-40 (I, Abschn. IV, S. 375 ff.;
    II, Abschn. IV, S. 260 ff.;
    V, Abschn. IV, S. 262 ff.);
    C. E. Siebrand (= Ch. E. Steinbach), J. C. G.s … Leben u. Schrr., o. O. 1738;
    W. v. Scholz, in: Schles. Lb. III, 1928, S. 166-78;
    A. Hoffmann, J. C. G.-Bibliogr., 1929 (ältere L);
    W. Krämer, Probleme u. Ergebnisse d. G.-Forschung I u. II, in: German.-roman. Mschr. 18, 1930, S. 336 u. 403;
    ders., Das Leben d. schles. Dichters J. C. G., 1950;
    A. J. P. Crick, Die Persönlichkeit G.s, Diss. Heidelberg 1938;
    I. S. Stamm, G. and Leibniz-Wolff, in: Germanic Review 23, New York 1948, S. 30;
    H. W. Munzer, Das Liebes- und Todesproblem b. J. Ch. G., Diss. Univ. of Pennsylvania 1951;
    E. Majewski, Schicksalsgefühl u. Schuldgefühl b. J. C. G., 1950;
    E. F. E. Schrembs, Die Selbstaussage in d. Lyrik d. 17. Jh. b. Fleming, Gryphius, G., Diss. München 1953;
    F. Delbono, Umanità e poesia di C. G., Turin 1959;
    H. Dahlke, J. C. G., Seine dichter. Entwicklung, 1960 (Bibliogr.);
    Goedeke III, S. 350 f. (W, L);
    Kosch, Lit.-Lex. (W, L).

  • Porträts

    Stich v. J. D. Philippin n. Zeichnung v. S. G. Herzog, in: Könnecke, S. 206;
    Plastik v. R. Bednorz, Abb. in: A. Lubos, Gesch. d. Lit. Schlesiens I, 1960, S. 191.

  • Autor/in

    Eike Fuhrmann
  • Zitierweise

    Fuhrmann, Eike, "Günther, Christian" in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 269-71 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd11854327X.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Günther: Johann Christian G., geboren den 8. April 1695 zu Striegau in Schlesien. Sein Vater, ein praktischer Arzt, lebte in dürftigen Vermögensverhältnissen und vermochte seinem lernbegierigen Sohne die Mittel|zu einer höheren geistigen Ausbildung nicht zu gewähren, bis sich ein Dr. Thiem des Knaben annahm und seine Aufnahme in das Gymnasium zu Schweidnitz veranlaßte (Anfang 1709). Durch die Unterstützung freundlicher Gönner, wie durch reichliche Spenden für Gelegenheitsgedichte, durch welche sich G. in kurzer Zeit einen gewissen Ruf erworben hatte, war seine Existenz während seiner sechsjährigen Gymnasialzeit gesichert, poetisch verklärt durch eine innige Schülerliebe, deren Lenz in seinem Herzen in liederreicher Pracht aufgeblüht war. Mit frischem Jugendmuth, mit der überschwänglichen Hoffnung auf eine ruhmvolle und glückliche Zukunft bezog er, 20 Jahr alt, die Universität Wittenberg (September 1715). Anfangs bemüht, sich dem Studium der Medicin, das er nach dem Willen des strengen, pedantischen Vaters, aber ohne den Enthusiasmus innerer Neigung gewählt hatte, mit Ernst zu widmen, mangelte ihm jedoch bald die sittliche Kraft und die Ausdauer zu einer geregelten Thätigkeit. Die mühelose, durch leicht hingeworfene poetische Productionen gewonnene Existenz seines Schweidnitzer Aufenthalts, die durch überreich gespendetes Lob genährte Selbstüberschätzung, die wie so oft bei phantasievollen Naturen, so auch bei ihm vorherrschende Genußsucht, endlich die in dem Charakter seiner Zeit begründete, leichtsinnige Lebensauffassung, hatten in ihm den Entschluß reifen lassen, in genialer Unabhängigkeit und frei von jeder beengenden Fessel eines materiellen Brotstudiums seiner Kunst allein zu leben. Da trifft sein Herz der erste erschütternde Schlag. Seine Leonore ist ihm untreu geworden; sie ist bereits das Weib eines Andern! Mit der Leidenschaftlichkeit seiner von wildem Schmerz ergriffenen Natur stürzt er sich sinnlos in die wüsten Ausschweifungen des studentischen Lebens; noch ist die Poesie ihm ein milder, freundlicher Genius, der tröstend und beruhigend die Hand auf die heiße Stirn des Verzweifelnden legt, und dann weint er wie ein Kind Thränen der bittersten Reue. Noch hat er die sittliche Kraft, nachdem ihn seine Landsleute aus der Schuldhaft befreit, sich aufzuraffen, um in Leipzig, wohin er im Juni 1717 übergesiedelt war, und wo einflußreiche Gönner, vor allem der edle Professor Burkhard Menke sich des talentvollen Jünglings annahmen, in neuerwachender Hoffnung ein neues Leben zu beginnen. Durch eine umfangreiche Dichtung auf den zwischen Oesterreich und der Türkei eben geschlossenen Frieden zu Passarowitz (1718) hoffte er sich neue Gönner, vielleicht eine dauernde Lebensstellung zu gewinnen. Allein diese Hoffnung erfüllte sich nicht, und bald ergreift ihn von neuem der Strudel roher Genußsucht mit unwiderstehlicher Gewalt, immer tiefer versinkt der unglückliche Dichter in ihrem Schlamm, immer schwächer wird die Stütze seiner moralischen Kraft. Hatte der strenge Vater ihm schon das erste Mal nur nach den inständigsten Bitten die Hand der Versöhnung, freilich ohne ein Herz voll Liebe, gereicht, so verstieß er den wieder gefallenen Sohn jetzt, nachdem er selbst durch einen verheerenden Brand völlig verarmt war, für immer; sein Fluch traf den von Ausbrüchen schmerzlicher Reue Gefolterten wie ein Donnerschlag. Unterdessen hatte Professor Menke ihn dem Hofe zu Dresden empfohlen, wo viel unbedeutendere Talente zu Ehre und Ansehen gekommen waren. Doch auch hier verfolgte ihn ein unseliges Geschick. In der entscheidenden Audienz erschien G. (wie man sagt, auf Veranstaltung des neidischen Hofpoeten König) betrunken vor dem Fürsten und wurde in Ungnade entlassen. Am 2. September 1719 verließ er Dresden. Da taucht noch einmal ein freundlicher Stern an dem umnachteten Himmel seines Daseins auf; noch einmal ergreift ihn die süße Gewohnheit des Lebens mit aller Jugendlust: die Geliebte seiner Schülerjahre Leonore ist Wittwe geworden; die alte Liebe zu ihr kehrt in sein verödetes Herz zurück; zu ihr wendet er seine Schritte. Ueber Striegau, wo er vergebens die Versöhnung mit dem Vater zu erflehen suchte, geht er nach Borau und verlebt|glückliche Tage mit ihr. Darauf zieht er nach Breslau, wo theilnehmende und vornehme Gönner (v. Löwenstädt, v. Breßler u. A.) sich thätig seiner annehmen. Allein unfähig seine Neigung zum Trunk wie zu sarkastischen Ausfällen zu beherrschen, zerstörte er selbst die wohlwollendsten Absichten, und so bieten die letzten Jahre dieses tragischen Dichterlebens ein unsäglich trauriges Bild. Ruhelos und rastlos zieht er von Ort zu Ort, umringt von Hunger und Elend, zu dem sich in Lauban noch eine schwere Krankheit gesellt (März 1720). Wie durch ein Wunder dem Tode entronnen, rafft er sich nun zu dem Entschluß auf, sich in Creuzburg als Arzt niederzulassen; ja er will sogar nach der Verlobung mit einer Tochter des Pastors Domoratius einen eignen Herd gründen, zuvor aber um jeden Preis die Verzeihung des Vaters gewinnen. Doch auch diese letzte Hoffnung auf eine Wendung seines Jammergeschicks zerrinnt: der hartherzige Vater stößt den reuig heimkehrenden Sohn von der Schwelle seines Hauses mitleidlos hinaus in Noth und Verzweiflung. Damit war Günther's tragisches Schicksal besiegelt. Zu seiner Braut wagt er nicht mehr zurückzukehren und so irrt er, die Ausbrüche seines Schmerzes über ein verlorenes Leben in niedrigen Ausschweifungen betäubend, ohne Plan und Ziel durch Schlesien bis nach Sachsen, den Tod in der Brust. Er fühlt, daß es mit ihm zu Ende geht; aber er will ohne Groll von hinnen scheiden, und so ruft er Allen, die ihm einst nahe gestanden, oder die ihm Wohlthaten erwiesen, in seinen „letzten Gedanken“ ein ergreifendes Abschiedswort zu, auch ihr, die er einst so heiß geliebt:

    „Komm, Du Liebste meines Herzens, schau, es geht zur letzten Ruh; Komm und drücke, schöne Seele, mir nur noch die Augen zu.“

    Am 15. März 1723 erlag er zu Jena seinem Elend im Alter von 28 Jahren. — Wenn wir bei der Beurtheilung Günther's litterarischer Bedeutung erwägen, daß wir es nur mit Jugendwerken zu thun haben, da

    „Glück und Zeit nicht wollte, Daß seine Dichterkunst zur Reife kommen sollte,“

    so sind wir wol zu der Annahme berechtigt, daß sein verfehltes Leben wie sein frühzeitiger Tod ein poetisches Talent nicht zur vollen Geltung habe gelangen lassen, das, mit der Klarheit, Ruhe und Gedankentiefe des Mannes ausgestattet, die reifsten und gediegensten Früchte gezeitigt hätte. Ueberragt er doch an wahrhaft dichterischer Begabung derartig seine poetisirenden Zeitgenossen, daß trotz aller Geschmacks- und Formlosigkeit, in der er den Sohn seiner Zeit verräth, ein nicht geringer Theil seiner Dichtungen geradezu vortrefflich genannt werden muß. An Wahrheit des Gefühls, an Reichthum und Tiefe der Gedanken, die sich überall auf dem Gebiet des echt Menschlichen bewegen, an Kindlichkeit der Naturbetrachtung reicht er an Paul Flemming und Friedrich v. Logau, die besten Dichter des 17. Jahrhunderts, hinan; an Leichtigkeit, Gewandtheit und Zierlichkeit der Darstellung, an Witz, Phantasie und melodischem Fluß des Versbaues übertrifft er sie bei weitem. Schon die Hinweisung auf seine Auffassung von dem Wesen der Poesie, auf seine Ueberzeugung von ihrer Hoheit und Würde dürfte allein hinreichen, um Günther's Stellung und Bedeutung in der Litteratur zu kennzeichnen. Während sie selbst noch für Gottsched nichts mehr als eine erlernbare Fertigkeit ist, und der bessere Dichter sich lediglich durch die größere Geschicklichkeit in der Handhabung „sinnreicher Beiwörter“, erlernter Phrasen und Bilder offenbart, ist sie für G. eine unmittelbare, göttliche Gabe, die in geweihten Stunden als reine Opferflamme seiner Dankbarkeit wiederum gen Himmel steigt; sie ist die vertraute Freundin, der er mit der Seligkeit und Schüchternheit des Jünglings das Geheimniß seiner ersten Liebe verräth; sie ist sein Trost im Unglück und nach den Stürmen jugendlicher Verirrungen eine Quelle des Friedens und stiller Einkehr. Ja selbst als er später, umringt|von Noth und Entbehrung, sich auch an ihrer Würde versündigte und die hohe Himmelstochter zur niedern Magd herabwürdigte, die ihm in gewohnheitsmäßigen Gelegenheitsreimereien das tägliche Brot verdienen mußte: da empört sich noch manchmal sein besseres, poetisches Gefühl gegen diese Entweihung und mitten in bezahlten Hochzeitsgedichten macht sein Ingrimm sich in bittern sarkastischen Ausfällen Luft. So viel also hatte die Natur für G. gethan; und daß er die Erwartungen, die man nach seiner reichen Begabung von ihm zu hegen wol berechtigt war, nicht erfüllte, das war ein schwerer Verlust für die Entwickelung unserer Litteratur; aber dennoch verdient er mehr unser Mitleid als unser Verdammungsurtheil; denn die Ungunst äußerer Umstände haben mehr als eigene Schuld ihn in seiner Blüthe zerstört, so daß „sein Leben wie sein Dichten zerrann“.

    • Literatur

      Sammlung von Joh. Christian Günther's aus Schlesien bis anhero herausgegebne Gedichten etc., 5. Aufl., Breßlau und Leipzig 1751. Ueber sein Leben vergl. Joh. Christian Günther's, des berühmten schlesischen Dichters, Leben und Schriften, gedruckt in Schlesien 1738 (der Verfasser ist Dr. Steinbach, cf. meine Abhandlung: Joh. Chr. Günther's Biograph Dr. Steinbach von Breslau und die Gottschedianer, Programm des Gymn. zu Maria Magdal. in Breslau 1872). J. Chr. Günther's curieuse u. merkwürdige Lebens- und Reisebeschreibung, Welche er selbst mit poetischer Feder entworfen etc., Schweidnitz u. Leipzig 1732. Joh. Christian Günther, ein litterar-historischer Versuch von Dr. Heinrich Hoffmann (von Fallersleben), Breslau 1832. Leben und Dichten Joh. Chr. Günther's von Otto Roquette, Stuttgart 1860. Gedichte von Joh. Christ. Günther, herausgeg. v. Julius Tittmann, Leipzig 1874.

  • Autor/in

    G. Eitner.
  • Zitierweise

    Eitner, G., "Günther, Christian" in: Allgemeine Deutsche Biographie 10 (1879), S. 170-173 unter Günther, Johann Christian [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd11854327X.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA