Lebensdaten
1864 – 1928
Geburtsort
Wurzen (Sachsen)
Sterbeort
Ratzeburg
Beruf/Funktion
christlich-sozialer, später sozialistischer Politiker
Konfession
keine Angabe
Normdaten
GND: 118540114 | OGND | VIAF: 110774481
Namensvarianten
  • Göhre, Paul
  • Göhre, Paul
  • Göhre, Poul

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Zitierweise

Göhre, Paul, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118540114.html [28.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Ernst Jul. (* 1833), Expedient, S d. Schuhmachers Ernst Wilh. in W. u. d. Christiane Frieder. Gruhl aus Kobershain;
    M Anna Auguste, T d. Böttchermeisters Carl Wilh. Claus in Bautzen;
    München 1895 Luise, T d. Hauptm. Bischoff;
    K.

  • Biographie

    G., aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend, besuchte wie der nur wenige Jahre ältere Friedrich Naumann die Fürstenschule Sankt Afra zu Meißen. In Leipzig und Berlin|studierte er Theologie und Nationalökonomie. Größtes Aufsehen und rasche Berühmtheit erlangte G., seit 1888 Pfarrgehilfe, als er 1890 unter einem Decknamen, aber mit Wissen des Unternehmers, in einer Fabrik arbeitete und seine Erlebnisse in der Broschüre „Drei Monate Fabrikarbeiter“ (1891, englische, dänische, norwegische Übersetzungen) veröffentlichte. Sein Interesse an sozialen und Arbeiterfragen führte ihn in die christlich-soziale Bewegung, in der er sich im Gegensatz zu der Richtung Stöckers zusammen mit Naumann auf die Seite der „Jungen“ stellte. 1891 wurde er Sekretär des „Evangelischen Sozialen Kongresses“. In dieser Eigenschaft arbeitete er mit Max Weber an der stark beachteten Untersuchung über die Verhältnisse der ostdeutschen Landarbeiter. 1894-97 als Pfarrer in Frankfurt/Oder versuchte er in ständigem Konflikt mit der Kirchenleitung evangelischer Arbeitervereine ins Leben zu rufen, ohne diesen jedoch Dauer geben zu können. 1897 wurde G. 2. Vorsitzender des neugegründeten „Nationalsozialen Vereins“. Er vollzog jetzt rasch in Reaktion auf die Abkehr Kaiser Wilhelms II. von der Sozialpolitik seine Wendung zum Sozialismus, was 1899 zum Bruch mit Naumann und 1900 zum Eintritt G.s in die SPD führte. Sein Parteiwechsel erregte ähnliches Aufsehen wie zuvor das Experiment als Arbeiter. 1901 eröffnete das Berliner Konsistorium gegen G. ein Disziplinarverfahren, worauf dieser auf seine Rechte als Geistlicher verzichtete. 1906 forderte er publizistisch seine Leser zu einem Schritt auf, dem er und seine Frau schon vorangegangen waren: zum Massenaustritt aus der Kirche.

    G.s Interesse an der Arbeiterfrage, das sich in ein Bekenntnis zum Sozialismus gewandelt hatte, wurde nicht nur vom christlichen Liebesgebot gegenüber dem Proletariat geleitet, sondern gleichzeitig von einer starken Ablehnung des wilhelminischen Bürgertums und der bürgerlich nationalen evangelischen Kirche, die er 1903 als „gefährliche Erscheinung des Klassenstaates“ bezeichnete. In theologischer Hinsicht entfernte er sich von der evangelischen Glaubenslehre, indem er den sozialistischen Grundsatz „Religion ist Privatsache“ anerkannte und Christentum weitgehend mit sozialer Gerechtigkeit und menschlicher Harmonie identifizierte. Auch gingen von der Geschlossenheit des sozialdemokratischen Programms, der Disziplin der Massenpartei und vom Vulgärmarxismus stärkste Anziehungen auf G. aus. Politisch bekannte er sich zu einer patriotischen Politik, deren Hauptsache jedoch die innere Reformpolitik und nicht die Außenpolitik sein sollte.

    Für die SPD wurde G. 1903 in den Reichstag gewählt, mußte jedoch wegen Schwierigkeiten mit der Parteiführung sein Mandat niederlegen. Wegen seiner Mitarbeit an Hardens „Zukunft“ kam es auf dem sozialdemokratischen Parteitag 1903 zu heftigsten Auseinandersetzungen zwischen ihm und Bebel. G. zählte in der SPD zum rechten, revisionistischen Flügel, blieb aber in der Arbeiterpartei immer ein Außenseiter. 1910 wurde er wieder in den Reichstag gewählt und konnte nun sein Mandat ausüben. 1914 setzte er sich bei Kriegsausbruch für die Neuorientierungspolitik der Reichsleitung ein. Im Januar 1915 meldete er sich freiwillig zum Heeresdienst. Für ihn, der gleich nach Kriegsausbruch beim preußischen Kriegsminister dafür eingetreten war, daß entgegen der üblichen Praxis Sozialdemokraten auch zu Offiziersstellen sollten aufrücken dürfen, bedeutete es eine besondere Genugtuung, als er an der Ostfront bald zum Offizier befördert wurde.

    Die parteipolitische Tätigkeit spielte im Leben G.s niemals die Hauptrolle. G. zeigte in allen Phasen seines wechselvollen Lebens eine große Selbständigkeit, in seinen Gedanken und menschlichen Beziehungen sogar eine gewisse Sprunghaftigkeit. Treu blieb er immer sich selbst, seiner Schriftstellerei und seinem eigenwilligen Interesse an sozialen und religiösen Fragen. Hierüber schrieb er eine große Zahl von Aufsätzen und Monographien, auch regte er Arbeiter zum Verfassen von Autobiographien an, für deren Druck er sorgte. – Nach dem 9.11.1918 wurde G. zum Unterstaatssekretär im preußischen Kriegsministerium ernannt, und 1919-23 war er als Staatssekretär im preußischen Staatsministerium mit Fragen der Kirchenpolitik beauftragt. Nach 1923 zog er sich vom politischen Leben zurück und trat nur noch gelegentlich mit Schriften, in denen er teilweise von seinen früheren Auffassungen, zum Beispiel vom Primat der Innenpolitik, abrückte, in Erscheinung. Der Tod überraschte ihn bei der Abfassung eines Werkes über religiöse Fragen.

    G. hatte zwischen der Welt des Arbeiters und des Bürgertums Brücken zu schlagen versucht; aber seine Wirkung auf die organisierte Arbeiterschaft blieb gering, während sein Lebensweg und seine Schriften im Bürgertum starke Beachtung fanden.

  • Werke

    Weitere W u. a. Die ev.-soz. Bewegung, ihre Gesch. u. ihre Ziele, 1896 (engl. Übers.);
    Wie e. Pfarrer Soz.demokrat wurde, 1900;
    Schule, Kirche, Arbeiter, 1907;
    Die neueste Kirchenaustrittsbewegung aus d. Landeskirchen in Dtld., 1909;
    Der unbekannte Gott, 1919;
    Dtld.s weltpol. Zukunft, 1927.

  • Literatur

    L K. Vorländer, Soz.demokrat. Pfarrer, in: Archiv f. Soz.wiss. u. Soz.pol. 30, 1910, S. 462-82;
    Th. Heuss, in: Die Hilfe, 1928, S. 281 ff.;
    M. Rade, in: Die Christl. Welt 42, 1928, Sp. 611-14;
    Th. Siegfried, in: Sozialist. Mhh., 1928, S. 714;
    Hans Müller, ebd., S. 799;
    R. Weber, ebd., S. 813;
    H. Dirkes, Die ev.-soz. Bewegung u. d. soz.demokrat. Arbeiter 1896-1914, Diss. Freiburg 1949;
    DBJ X, Tl. 1928 (W, L);
    RGG³ (W).

  • Porträts

    Phot. im Reichstags-Hdb., 13. Legislaturperiode, 1912, S. 510.

  • Autor/in

    Eberhard Pikart
  • Zitierweise

    Pikart, Eberhard, "Göhre, Paul" in: Neue Deutsche Biographie 6 (1964), S. 513-515 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118540114.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA