Lebensdaten
1763 – 1810
Geburtsort
Poserna bei Weißenfels (Sachsen)
Sterbeort
Teplitz (Teplice, Böhmen)
Beruf/Funktion
Dichter ; Schriftsteller
Konfession
evangelisch
Normdaten
GND: 118613480 | OGND | VIAF: 17304124
Namensvarianten
  • Seume, Johann Gottfried
  • Seume
  • Seume, G.
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Zitierweise

Seume, Johann Gottfried, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118613480.html [28.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Andreas (1739–76), Land- u. Gastwirt in P. u. Knautkleeberg, S d. Jakob (1705–47) u. d. Susanne Kabisch;
    M Regina Christina Liebing (1738–1807); ledig.

  • Biographie

    Der mittellose Bauernsohn S. fand nach dem Tod seines Vaters in Friedrich Wilhelm Gf. v. Hohenthal einen Förderer, der ihm den Schulbesuch und 1780 die Aufnahme eines Theologiestudiums an der Univ. Leipzig ermöglichte, das er aber Ende Juni 1781 abrupt abbrach, um heimlich nach Frankreich zu gehen. Schon in Vacha bei Eisenach wurde er wider seine Absicht, aber wohl nicht wider seine Neigung von hess. Soldatenwerbern (zwangs-)rekrutiert und als Söldner an England verkauft, das Truppen für den Krieg in Nordamerika benötigte. Von Bremerhaven wurde S. Ende Mai 1782 nach Halifax (Nova Scotia) verfrachtet, wo er sich mit dem Offizier (und späteren Dichter) Karl v. Münchhausen (1759–1836) anfreundete, aber nicht mehr zu kämpfen brauchte. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland im Sept. 1783 desertierte S. in Bremen, geriet nun aber in die Fänge des preuß. Militärs, für das er fortan in Emden Dienst tun mußte. Nach einer gescheiterten Flucht und Haftstrafe wurde ihm im Sommer 1787 Urlaub gewährt, den er zur Rückkehr nach Leipzig nutzte, wo er seit Dez. 1789 Jura und nebenbei Philosophie, Philologie und Geschichte studierte.

    Nach einem Intermezzo als Hofmeister sowie Promotion zum Magister artium (1791) und Habilitation (1792) trat S. als Sekretär des Generals Otto Heinrich v. Igelström in russ. Dienste, wurde 1793 zum Leutnant befördert, geriet dann aber beim Warschauer Aufstand Ostern 1794 in poln. Gefangenschaft. Nach der Rückeroberung Warschaus im Nov. 1794 und der dritten poln. Teilung 1795 kam er wieder nach Leipzig, befolgte aber einen Befehl zur Rückkehr nach Rußland nicht und wurde deshalb im Dez. 1796 aus der Armee ausgeschlossen. Vom Sommer 1797 an arbeitete S. als Korrektor in der Druckerei des befreundeten Verlegers Georg Joachim Göschen (1752–1828) in Grimma, für den er u. a. Werke von Friedrich Gottlieb Klopstock und Christoph Martin Wieland betreute.

    Am 6.12.1801 brach S. von Grimma zu Fuß zu einer Reise nach Sizilien auf, die als „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ (1803, ⁴1817–19) in die dt. Literaturgeschichte ein gegangen ist. Nur anfänglich begleitet von dem Leipziger Maler Veit Hans Schnorr v. Carolsfeld (1764–1841), reiste S. über Prag, Wien, Venedig und Rom nach Neapel, von wo er mit dem Schiff nach Sizilien übersetzte. Auf dem Rückweg durchquerte er die Schweiz und kutschierte nach Paris. Als er Ende Aug. 1802 wieder in Leipzig eintraf, hatte er eine Strecke von ca. 7000 km zurückgelegt – zwar keineswegs ausschließlich, aber doch über weite Strecken zu Fuß.

    In Leipzig fand S. in der Folge als Sprachlehrer und Schriftsteller ein kleines Auskommen, ehe er im April 1805 eine zweite große Reise antrat, die ihn über Warschau und Riga|zunächst nach St. Petersburg führte. Nach einem Abstecher nach Moskau kehrte er über Finnland, Schweden und Dänemark nach Deutschland zurück (Mein Sommer 1805, 1806). 1808 erkrankte S. an einem langwierigen Nieren- und Blasenleiden. Mit geliehenem Geld suchte er im Juni 1810 Heilung im böhm. Bad Teplitz, wo er zehn Tage nach seiner Ankunft starb.

    S. machte sich bei seinen Zeitgenossen zunächst mit seinen „Gedichten“ (1801, ⁵1843) einen Namen, jedoch sind gegenwärtig von seinen mehr um Wahrhaftigkeit als Kunstfertigkeit bemühten Versen nur noch diejenigen geläufig, aus denen Zeilen sprichwörtlich geworden sind, nämlich „Der Wilde“ (1793) und „Die Gesänge“ (1804). S.s heutiger Ruf gründet sich v. a. auf seinen „Spaziergang“, der aus der fast schon pikaresk zu nennenden Perspektive des vorsätzlich zu Fuß Reisenden geschrieben ist, dessen Augenmerk nur beiläufig der Kunst und Kultur Italiens gilt, dafür umso mehr dem eigenen Ergehen, dem alltäglichen Leben und politischen Mißständen. Obwohl S. nicht der erste Schriftsteller der Zeit war, der planvoll längere Fußreisen unternahm, wurde sein betont eigenwilliger „Spaziergang“ ein wegweisendes Werk für Autoren vom frühen 19. bis zum späten 20. Jh., darunter Otto Julius Bierbaum (Eine empfindsame Reise im Automobil, 1903) und Friedrich Christian Delius (Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus, 1995).

    Lange Zeit kaum rezipiert, wurden S.s „Apokryphen“, eine Sammlung von Aphorismen und Glossen zur Geschichte der Jahre 1806/07, die wegen ihrer politischen Freimütigkeit nicht gedruckt werden konnte, postum 1811 im Anhang zur dritten Auflage des „Spazierganges“ versteckt veröffentlicht, allerdings aus Angst vor der Zensur vorsorglich verstümmelt. Diese Notate und Sentenzen verbinden eine schonungslose Analyse der feudalistisch-absolutistischen Strukturen des gerade untergehenden Hl. Röm. Reichs dt. Nation mit scharfer Kritik an der Selbstherrlichkeit Napoleon Bonapartes.

    Die Autobiographie „Mein Leben“, die schon mit der Rückkehr aus Amerika 1783 mitten im Satz abbricht, ist zwar im Detail mitunter irrig, besticht aber durch die Geradlinigkeit und Lakonik, mit der S. hier die widrige Geschichte seiner Jugend und Bildung rekapituliert; sie wurde von Göschen um eine allzu besinnlich geratene Fortsetzung erweitert und 1813 veröffentlicht. „Mein Leben“ hat als Fragment nicht den Rang der Autobiographien von Ulrich Bräker, Carl Friedrich Bahrdt oder Friedrich Christian Laukhard, gehört aber wie diese in die Reihe der vergleichsweise realistischen „Memoires von unten“ aus der „Goethezeit“.

    Während S. postum im Zuge der Befreiungskriege in deutschnationalem Sinne vereinnahmt wurde, erkaltete im Laufe des 19. Jh. das von S. selbst kultivierte Bild des wortkargen und etwas kauzigen, dabei stets aufrechten und wahrheitsliebenden Wandersmannes zu einem biedermeierlich verbrämten Klischee. Erst durch Werner Kraft, der 1962 S.s „Prosaschriften“ neu herausgab, wurde der politische Schriftsteller S. (wieder-)entdeckt, der sowohl aufgrund seiner wechselvollen Schicksale als auch seines bis heute lebendigen Prosawerks einen Sonderplatz in der dt. Literatur der Spätaufklärung einnimmt.

  • Auszeichnungen

    J.-G.-S.-Ges. (seit 1999).

  • Werke

    Weitere W Einige Nachrr. über d. Vorfälle in Polen im J. 1794, 1796;
    Obolen, 2 Bde., 1796/98 (P);
    Rückerinnerungen, 1797 (mit K. v. Münchhausen);
    Ueber d. Leben u. d. Karakter d. Ksn. v. Russland Katharina II., 1797;
    Zwey Briefe über d. neuesten Veränderungen in Rußland seit d. Thronbesteigung Pauls d. Ersten, 1797;
    Miltiades, 1808;
    Briefe, hg. v. J. Drews u. D. Sangmeister, 2002;
    W-Ausgg.:
    Sämmtl. Werke, 12 Bde., 1826/27;
    Prosa. u. Poet. Werke, 10 T. in 4 Bdn., [1879];
    Werke, 2 Bde., hg. v. J. Drews, 1993 (P);
    Bibliogr.:
    Wilpert-Gühring;
    Nachlaß:
    Slg. Planer, Mus. im Schloß Lützen.

  • Literatur

    ADB 34;
    O. Planer u. C. Reißmann, J. G. S., 1898 (P);
    Slg. d. schwed. Konsuls Oskar Planer (Auktionskat.), 1932 (P);
    H. Schweppenhäuser, Citoyen in Dtld., in: J. G. S., Apokryphen, 1966, S. 135–63;
    W. Kraft, Rebellen d. Geistes, 1968;
    I. Stephan, J. G. S., 1973;
    M. Ingenmey, L'illuminismo pessimistico di J. G. S., 1978 (L);
    J. G. S. 1763–1810, hg. v. J. Drews, 1989;
    „Wo man aufgehört hat zu handeln, fängt man gewöhnlich an zu schreiben“, hg. v. dems., 1991 (P);
    S., „Der Mann selbst“ u. seine „Hyperkritiker“, hg. v. dems., 2004 (P);
    In Polen, Palermo u. St. Petersburg, hg. v. dems., 2008;
    B. Budde, Von d. Schreibart des Moralisten, 1990;
    S. Groppe, Das Ich am Ende d. Schreibens, 1990;
    J. G. S., hg. v. H. L. Arnold, 1995 (L, P);
    I. Auerbach, Die Hessen in Amerika 1776–1783, 1996;
    L. M. Pütter, Reisen durchs Mus., 1998;
    U. Meyer, „Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft“, in: Wanderzwang, Wanderlust, hg. v. W. Albrecht u. H.-J. Kertscher, 1999, S. 105–21;
    J. Drews, Ein Mann verwirklicht seine „Lieblingsträumerey“, ebd., S. 200–14;
    U. Meyer, Pol. Rhetorik, 2001;
    W. Griep u. D. Sangmeister, Ausflucht in d. Norden, 2004;
    E. Zänker, J. G. S., 2005;
    W. Griep, Schritte im Unbekannten, in: Aufklärung, hg. v. U. Kronauer u. W. Kühlmann, 2007, S. 105–25;
    Biogr. Lex. Böhmen;
    Schweizer Lex.;
    Stadtlex. Dresden;
    Kosch, Lit.-Lex.³ (W, L);
    Killy;
    KLL;
    Metzler Autorenlex. (P)

  • Porträts

    P Brustbild, Ölgem. v. A. Graff, um 1791/92, Abb. in: Zs. f. bildende Kunst 52, 1917, S. 101;
    Brustbild, Aquarell v. V. H. Schnorr v. Carolsfeld, 1795, Abb.|in: Slg. d. schwed. Konsuls Oskar Planer, 1932, nach S. 122;
    Brustbild, Ölgem. v. dems., 1798, 1939 teilw. übermalt (Halberstadt, Gleimhaus;
    Replik: Schloß Lützen, Mus.), Abb. d. Orig. in: Zs. f. bildende Kunst 52, 1917, S. 99;
    Rückansicht d. Wanderers S., Zeichnung v. J. C. Reinhart, 1802, Abb. in: J. G. S., Spaziergang nach Syrakus, 1803, Titelvignette;
    Bruststück, Ölgem. v. G. v. Kügelgen, 1806/07 (Replik: Weimar, Klassik Stiftung), Abb. in: Slg. d. schwed. Konsuls Oskar Planer, 1932, nach S. 64;
    Brustbild, Aquarell v. V. H. Schnorr v. Carolsfeld, 1809, Abb. ebd., nach S. 122;
    Vollfigur, S. in seinen letzten Tagen, kolorierte Zeichnung v. C. G. H. Geißler, 1810 (Grimma, Göschenhaus), Abb. in: J. G. S., Werke, hg. v. J. Drews, 1993, Bd. 2, vor S. 737.

  • Autor/in

    Dirk Sangmeister
  • Zitierweise

    Sangmeister, Dirk, "Seume, Johann Gottfried" in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 281-283 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118613480.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Seume: Johann Gottfried S. wurde am 29. Januar 1763 als der Sohn eines ziemlich wohlhabenden Landmannes zu Posern, einem Dörfchen bei Rippach geboren. Sein Vater war streng, aber nicht hart und von einem hohen Gerechtigkeitsgefühle beseelt, das sich auf den Sohn vererbte. Seine Mutter Regina, eine geborene Liebich, soll in ihrer Jugend schön gewesen sein und liebte den Sohn mit großer Zärtlichkeit. Bei dem Schulmeister Held, dessen Tochter Seume's Pathe war, lernte der Knabe frühzeitig lesen und schreiben. Infolge von Streitigkeiten, besonders mit dem Amtsrichter in Posern, verkaufte der Vater seine Grundstücke und übernahm die Pachtung eines Wirthshauses mit ziemlicher großer Oekonomie in Knautkleeberg bei Leipzig. Bei dem neuen Lehrer in dem benachbarten Knauthain machte S. durch die verkehrte Methode des ersteren lange Zeit keine Fortschritte, bis endlich der Pfarrer, Mag. Schmidt bei den öffentlichen Kirchenprüfungen durch die oft barocken Ideen des Knaben aufmerksam auf ihn wurde und ihn dem Lehrer aufs angelegentlichste empfahl. Jetzt überflügelte er in kurzer Zeit alle seine Mitschüler und war oft der Stellvertreter des Lehrers in der Schule, wenn dieser der Pflege seiner Bieuen oder des Spargels oblag. Da starb 1775 Seume's Vater in äußerst kümmerlichen Verhältnissen, da Mißwachs nahezu sein ganzes Vermögen verzehrt hatte; der Sohn gedachte Grobschmied, dann Schulmeister zu werden. Aber der Graf Hohenthal-Knauthain nahm sich warm des Verwaisten an und brachte ihn zum Rector Korbinsky nach Borna. Diesem Manne verdankte S. nahezu alle seine Kenntnisse und die Ausbildung seines Charakters. Mit Feuereifer warf er sich jetzt auf das Studium der classischen Sprachen und des Hebräischen und hatte auch hier in kaum zwei Jahren alle Mitstrebenden überholt. Der Rector selbst, dessen liebster Schüler S. war, ersuchte den Grafen, den Schüler aus der Anstalt zu nehmen; bald darauf finden wir ihn auch wirklich an der Nicolaischule zu Leipzig. Hier genoß er den Unterricht Forbiger's, den er besonders wegen seiner trefflichen Methode rühmte; auch die Tüchtigkeit der übrigen Lehrer wußte er zu schätzen. Nun machte er auch Bekanntschaft mit der deutschen Litteratur; Siegwart war der erste Roman, den er zu lesen bekam, bald darauf lernte er Goethe's Werther kennen; aber beide Werke wußten ihn doch nicht so anhaltend zu fesseln wie die Römer und Griechen, deren Studium er sich nun systematisch widmete. Ein kleines Schulstipendium von 10 Thalern erlaubte ihm auch das Theater zu besuchen, an dem er fortan mit leidenschaftlicher Liebe hing, und um dessentwillen er manchesmal hungerte. Ariadne auf Naxos von Benda war das erste Werk, das er auf der Bühne sah, und die Musik desselben riß ihn so hin, daß|es bis in sein Alter sein Lieblingswerk blieb. Nach beendigtem Besuche dieser Anstalt bezog S. die Universität in Leipzig. Wieder war es hier die Lectüre der römischen und griechischen Schriftsteller, die ihn vor allen anderen fesselte, und Morus' Vorlesungen über Tacitus sind ihm noch lange in lieber Erinnerung geblieben. Aber Streitigkeiten mit dem Magister Schmidt, dem Vermittler zwischen ihm und dem Grafen, und besonders Vorwürfe Schmidt's, der ihn für einen Ketzer hielt, weil er zu häufig badete und zu selten in die Kirche ging, und die Drohung, alle seine Klagen auch dem Grafen mitzutheilen, machten Seume's Studien ein plötzliches Ende. Er wollte sich nicht mit dem Grafen über sein Wesen auseinandersetzen und verließ deshalb plötzlich Leipzig, um sich nach dem Westen Deutschlands zu wenden. Ein bestimmtes Ziel hatte er sich nicht gesetzt, er gedachte sich nur vorerst die Welt anzusehen, mit 9 Thalern in der Tasche glaubte er bis nach Paris kommen zu können. Aber in Vach wurde er von hessischen Werbern aufgegriffen und nach Ziegenhain gebracht, wo ein Fluchtversuch mißglückte. Von hier ging's nun nach Kassel und Münden, und die Weser abwärts nach Bremen. Er und seine Mitgefangenen wurden eingeschifft, um nach Amerika transportirt zu werden. 23 Wochen dauerte die Fahrt, bis man endlich in Halifax landete. S. wurde wegen seiner Tüchtigkeit zum Unterofficier ernannt und mußte nun als solcher einen langen, qualvollen Lagerdienst durchmachen, eine Zeit, in der er die einzige Erholung in seinem Cäsar fand, den er bei sich führte. Endlich aber wurde Frieden geschlossen und S. mußte, ohne den Krieg mitgemacht zu haben, sich wieder nach Europa einschiffen. Zwar dauerte die Rückfahrt nur 23 Tage, aber neues Elend erwartete ihn, er sollte an die Preußen verschachert werden. Da aber ergriff er die erste sich ihm darbietende Gelegenheit zur Flucht und entkam glücklich nach Oldenburg, wo er die Aufmerksamkeit des Großherzogs erregte, der sich seiner warm annahm und mit ihm die Pläne über sein künftiges Leben besprach. Kaum aber hatte er Oldenburg verlassen, um seine Lieben in der Heimath aufzusuchen, so wurde er, da er vergessen hatte, seine militärische Kleidung abzulegen, von preußischen Werbern gefangen und nach Emden als Deserteur geschleppt, und zum gemeinen Soldaten degradirt. Bald machte er einen Fluchtversuch, aber im dicken Nebel verlor er die Richtung und lief seinen Peinigern in die Hände. Ein lateinischer Hexameter, den er im Kerker niedergeschrieben hatte, rettete ihn vor entehrender Strafe. Der General Courbière nahm ihn als Erzieher seiner Kinder auf. Aber S. suchte von neuem die Freiheit zu gewinnen, um von neuem nach Emden gebracht zu werden, wo er nur durch die Bitten der Bürger und die Gewogenheit des Generals der Todesstrafe entging. Durch eine List, die ihm ein Bürger angerathen hatte, entkam er endlich seinem Gefängnisse. Er nahm gegen eine Caution von 80 Thalern, die ihm sein Rathgeber vorstreckte, einen Urlaub zum Besuche der Seinen, um nicht wiederzukehren. S. ging nun, nachdem er seine Freiheit wieder gewonnen hatte, mit dem Gedanken um, seine Studien in Leipzig von neuem aufzunehmen. Nachdem er zuvor seinem Emdener Freunde die vorgestreckten 80 Thaler zurückgesendet hatte, die er sich durch Uebersetzung eines englischen Romans für den Buchhändler Göschen erwarb, wandte er sich nach Leipzig, und wurde hier schon 1792 Magister. Nun gedachte er sich für eine akademische Carrière vorzubereiten, nahm aber zuvor durch die Vermittlung seines Freundes, des Kreissteuereinnehmers Weiße, den Posten eines Erziehers im Hause des Grafen Igelström an, und wurde später Secretär eines Bruders des Grafen, des Generals Igelström, mit dem er nach Warschau ging, um hier alle wichtigeren diplomatischen Actenstücke für die Kaiserin Katharina II. auszuarbeiten. Nach der Niederdrückung des polnischen Aufstandes kehrte S. als Begleiter des Majors Muromzow nach Sachsen zurück und legte|nach dem Tode der Kaiserin Katharina auch seine Stellung als russischer Officier nieder, um in Leipzig durch Unterricht in der englischen und französischen Sprache seine Existenz zu finden. Im December 1801 unternahm er, um sich „auszulaufen“, eine Reise, die ihn über Oesterreich und Italien nach Syrakus führte, und kehrte nach 9 Monaten über die Schweiz und Paris wieder zu Fuß nach Sachsen zurück. Eine zweite, gleich bedeutende Reise unternahm er 1805, auf der er einen großen Theil von Rußland, Finnland und Schweden kennen lernte. Im J. 1808 begann er über ein Fußleiden zu klagen, das zwar schon früher, aber weniger fühlbar gewesen war, und bald gesellte sich dem noch ein Blasenleiden zu; doch stellte ihn das Jahr 1809 soweit her, daß er im Frühlinge 1810 eine Reise nach Weimar zu seinem Freunde Wieland unternehmen konnte. Nach seiner Rückkehr schloß er sich Tiedge, der gerade das Bad Teplitz besuchen wollte, an; hier griff seine Krankheit nur allzurasch um sich, am 13. Juni 1810 fand man ihn todt.

    S. ist, wenn auch kein Dichter im vollen Sinne des Wortes, doch ein Schriftsteller von weitgehender Bedeutung, ein Mann von Geist und Charakter. Nicht aus innerem Antriebe griff er zur Feder, sondern durch äußere Umstände bewogen; er selbst war den Schriftstellern nicht sonderlich hold. Das erste, was er schrieb, die Uebersetzung des Romans Honorie Warren, geschah, um sich einer Schuld zu entledigen, und auch mit seinen anderen Schriften verfolgte er zumeist ganz andere Zwecke, als sich selbst den Ruhm eines Dichters und Schriftstellers zu verschaffen. Mit dem Jahre 1796 beginnt seine eigentliche schriftstellerische Thätigkeit, nachdem er bereits drei Jahre zuvor eine Abhandlung „Ueber Prüfung und Bestimmung junger Leute zum Militär“ in Warschau veröffentlicht hatte. Seine Schriften: „Einige Nachrichten über die Vorfälle in Polen im J. 1794“ (1796), zwei Briefe über die neuesten Veränderungen in Rußland seit der Thronbesteigung Pauls I. (1797), über das Leben und den Charakter der Kaiserin Katharina II. (1799) und „Anecdoten zur Charakterschilderung Suworows“ (1799) zeigen ihn als einen von Freiheitsdurst und Vaterlandsliebe beseelten Mann, als einen Tyrannenfeind und Aristokratenhasser, der seiner Zeit einen wahren Spiegel vor Augen hält. Er zeigt dem Volke, wie es in Sklaverei und Knechtschaft versunken sei, nachdem es die Achtung vor sich selbst verloren habe, und predigt gegen die Fürsten, die ihrer Würde und ihrer Pflichten vergessen und sich glücklicher fühlen über Sklaven zu herrschen als über freie, ihr Schicksal selbst bestimmende Völker. Die Gegenwart ist ihm zerfallen, zerrüttet und verderbt, Trost allein findet er in der Vergangenheit. Aus ihr taucht ihm das leuchtende Bild eines Miltiades, des Siegers von Marathon hervor, und krystallisirt sich in einem Drama (1808) voll flammender Vaterlandsliebe. Aus demselben Grunde verweilt er so gern bei Thukydides und Xenophon und übersetzt Theile ihrer Schriften, der Gegenwart ein Vorbild zu geben, und die Einleitung zur Erklärung schwierigerer Stellen bei Plutarch gestaltet sich ihm zu einer Verherrlichung der Vaterlandsliebe, so flammend und begeistert, daß kein Censor den Druck zugeben wollte, und sie erst lange nach seinem Tode veröffentlicht werden konnte. Derselbe Charakter durchweht auch seine Gedichte (1801). S. ist kein Dichter der Gefühle, aber doch voll Gemüth und inniger Liebe für alles Edle und Schöne und Gute. Ein verbitterter melancholischer Zug umschwebt seine Lippen, und was er singt, klingt herb und rauh, aber es ist wahr. Er haßt die Pfaffen und ihre heuchelnde Frömmigkeit und ist doch selbst voll Gottvertrauen; er warnt vor den Weibern, die der Erde größtes Uebel sind und hat doch selbst wahre und tiefe Liebe gefühlt; er eifert gegen den Egoismus und stellt ihn doch als das Grundprincip alles menschlichen Strebens und Handelns hin; denn der Widerspruch ist eben nur ein scheinbarer. Für Klopstock und Gleim ist er begeistert, Lessing schätzt er hoch und seine|Dramaturgie gilt ihm für unübertrefflich; in einem Aufsatze über Schauspieler und ihre Kunst (1807) stellt er sich ganz auf seine Seite. — Die Schriften, die Seume's Namen am bekanntesten gemacht haben, sind die Beschreibungen seiner beiden Reisen, der nach Sicilien, die unter dem Titel: „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ im darauf folgenden Jahre erschien, und der nach dem Norden: „Mein Sommer 1805“ (1806). Sie beide geben ein treffendes Bild der damaligen Verhältnisse in den betreffenden Gegenden, untermengt mit einer Fülle interessanter Bemerkungen, die von dem Geiste und der tiefen Bildung Seume's sprechendes Zeugniß geben.

  • Autor/in

    Wolkan.
  • Zitierweise

    Wolkan, Rudolf, "Seume, Johann Gottfried" in: Allgemeine Deutsche Biographie 34 (1892), S. 64-67 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118613480.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA