Lebensdaten
1827 – 1891
Geburtsort
Berlin
Sterbeort
Göttingen
Beruf/Funktion
Kulturphilosoph ; Orientalist ; Dichter ; Publizist
Konfession
evangelisch?
Normdaten
GND: 118725971 | OGND | VIAF: 71399627
Namensvarianten
  • Bötticher, Paul (eigentlich bis 1854)
  • Bötticher, Paul Anton (eigentlich bis 1854)
  • Lagarde, Paul Anton de
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Zitierweise

Lagarde, Paul de, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118725971.html [19.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Wilhelm Bötticher (1798–1850), Dr. phil., Oberlehrer am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in B., S d. Pfarrers Christian Friedrich Gotthelf in Wormsdorf (Altmark) u. d. Joh. Friederike Naumann aus B.;
    M Luise (1808–27), T d. Ökonomie-Kommissars Karl Wilhelm Heinrich Klebe in B. u. d. Fanny de Lagarde;
    Stief-M (seit 1831) Pauline Seegert ( 1854), Arzt- T aus B.;
    Adoptiv-M (seit 1854) Ernestine de Lagarde (Groß-Tante-m);
    - Halle/Saale 1854 Anna ( 1918), T d. preuß. Hauptm. Christian Berger u. d. Betty Schollinus; kinderlos.

  • Biographie

    L. entstammte einem von der neo-pietistischen Erweckungs-Bewegung geprägten Elternhaus. Nachdem seine Mutter kurz nach seiner Geburt gestorben war, durchlebte er eine von dem gefühlsstreng-kargen Vater bestimmte freudlose Kindheit, auf die spätere Biographen seine schwierige Persönlichkeit zurückführen: sein mißtrauisches Einzelgängertum, die Neigung zu Depressionen, Selbstmitleid und Lebensangst sowie überschäumende Aggressivität und rechthaberischen Eigensinn. Nach der Schulzeit am Berliner Friedrich-Wilhelm-Gymnasium begann er 1844 das Studium der ev. Theologie. Während die ersten Studienjahre in Berlin (bei Ernst Wilh. Hengstenberg und Aug. Neander) und Halle (bei Aug. Tholuck) zunächst die religiöse Erfahrungs- und Traditionswelt des Vaterhauses ungebrochen fortsetzten, wurde ihm die Begegnung mit dem Dichter und Orientalisten Friedrich Rückert zum entscheidenden Bildungserlebnis. Mit überragender Begabung arbeitete er sich in die orientalischen Sprachen sowie die Grundsätze und Methoden der historisch-philologischen Textkritik ein. Zugleich ließ das Rückertsche Vorbild den Entschluß zu einer späteren akademischen Laufbahn reifen.

    Durch das Beispiel der Germanisten Karl Lachmann und Jakob Grimm sowie die Lektüre rationalistischer Theologen der Spätaufklärung (Joh. Salomo Semler und Joh. David Michaelis) angeregt, erkannte L. immer mehr als Desiderat, die historisch-kritische Methode auf die Erstellung eines philologisch zuverlässigen Bibeltextes anzuwenden. Zeichnete sich damit einerseits das dominante Leitmotiv seiner ganzen späteren wissenschaftlichen Arbeit ab, so zog andererseits diese intellektuelle Umorientierung seine zunehmende Distanzierung von der luth. Kirche, aus der er später austrat, wie von der Orthodoxie seines Elternhauses und seiner theologischen Lehrmeister nach sich. Eine ähnliche Entwicklung hin zu der später für ihn charakteristischen rigorosen Unabhängigkeit des persönlichen Urteils vollzog L. in politischer Hinsicht: War er durch Elternhaus und Jugendlektüre (insbesondere A. v. Arnims „Kronenwächter“ und J. Grimms „Deutsche Mythologie“) dem Reichsgedanken der nationalen Einigungsbewegung und dem altständisch-konservativen und gegenaufklärerischen Denken der Politischen Romantik eng verbunden, entfremdeten ihn gleichwohl die Rechtsbeugungen im Zuge der restaurativen Phase nach 1848 – nicht die gegenrevolutionäre Reaktion als solche – den politisch dominierenden Zirkeln des preuß. Konservatismus und Neo-Pietismus.

    Nach der Promotion 1849 in Berlin (Initia Chromatologiae Arabicae, 1849) und der Habilitation für Orientalistik 1851 in Halle (Arica, 1851) brachten L. seine lexikologischgrammatischen und textkritischen Arbeiten (Hymns of the Old Catholic Church of England, 1850; Wurzelforschungen, 1852; Frühe Schriften. Neudr. d. Ausg. 1847–54, 1967) ersten Ruhm unter den Fachkollegen als „schwarzer Husar unter den jungen Orientalisten“ (Benfey) ein. Nach erfolgloser Bewerbung um einen Lehrstuhl in Jena erhielt er dank der Vermittlung und Förderung des orientalistisch und kirchenpolitisch interessierten preuß. Botschafters Christian v. Bunsen die Möglichkeit eines längeren Forschungsaufenthalts in London (1852/53). Die Handschriftenabteilungen des Brit. Museum und, Anfang 1853, der Nationalbibliothek in Paris, wo er sich mit Ernest Renan anfreundete, erlaubten ihm ausgedehnte Quellenstudien. Daneben konnte er als Mitarbeiter Bunsens und Attaché an der preuß. Gesandtschaft Einblick in die engl.-preuß. Politik und Diplomatie sowie in die engl. Sozialstruktur und politische Ideenwelt gewinnen. Als Resultat dieses Aufenthalts klärte sich in den ersten politischen Essays (Konservativ?, 1853; Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik, 1853) L.s eigene, um strikte Wahrung seiner persönlichen Unabhängigkeit und Authentizität zwischen den verschiedenen Flügeln des preuß. Konservatismus bemühte Position als „Radikal-Konservativer“. Nach einer abermals erfolglosen Lehrstuhl-Bewerbung in Halle trat L. 1854 in den Höheren Schuldienst ein. Im selben Jahr ließ er sich von seiner Großtante Ernestine de Lagarde adoptieren, um sich damit auch symbolisch von einer freudlos-düsteren Kindheit und Jugend im Haus seines Vaters loszusagen.

    Trotz umfangreicher Unterrichtsverpflichtungen arbeitete er auch während seiner zwölfjährigen Lehrtätigkeit an verschiedenen Berliner Gymnasien an der Fortführung kritischer Ausgaben altchristlicher syrischer und griechischer Texte, für die er die Grundlagen während seines Forschungsaufenthalts in London und Paris zusammengetragen hatte und die er auf eigene Kosten veröffentlichte (Didascalia apostolorum syriace, 1854; Gesammelte Abhandlungen [1854-66], 1866, ²1896). Zugleich ermunterten ihn engl. Vorarbeiten zur Wiederaufnahme seines alten Plans einer historisch-kritischen Edition der griech. Übersetzung des Alten Testaments (Anmerkungen zur griech. Übersetzung der Proverbien, 1863). In einer Bittschrift an Kg. Wilhelm I. suchte L. im April 1865 um eine Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen zur kontinuierlichen Ausführung dieses wissenschaftlichen Vorhabens nach. Daraufhin 1866 unter Gewährung eines großzügigen Stipendiums für drei Jahre vom Schuldienst beurlaubt, zog er sich zu einem Studienaufenthalt nach Schleusingen (Thüringen) zurück. Für die Herausgabe eines ersten kritischen Textes der griech. Übersetzung der Genesis (Genesis graece, 1868) verlieh ihm die Univ. Halle den theologischen Ehrendoktorgrad.

    Im März 1869 wurde L. als Nachfolger Heinr. Ewalds auf den Lehrstuhl für orientalische Sprachen an der Univ. Göttingen berufen. Nach anfänglichen persönlichen Anfeindungen im noch preußenfeindlich gesinnten Göttingen wurde er 1876 auch o. Mitglied in der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften, in deren Abhandlungen und Nachrichten er zahlreiche Studien veröffentlichte. Von dieser gesicherten Position aus entfaltete L. seine zeit- und kulturkritische sowie allgemein, kirchen- und bildungspolitische Publizistik, die ihm bei seinen Zeitgenossen, erst recht aber im ersten Drittel des 20. Jh. breite Resonanz verschaffte (Politische Aufsätze, 1874; Deutsche Schriften I-II, 1878–81; vermehrte Gesamtausgabe letzter Hand 1886, ²1891, ⁵1920; Schriften für das deutsche Volk, hrsg. v. K. A. u. P. Fischer, 2 Bde., 1924, ⁴1941). Dabei pflegte er jedoch nur lockere Kontakte zu gleichgesinnten kulturkritischnationalreformerisch ausgerichteten Gruppen oder Personen, wie etwa zum Bayreuther Kreis um Rich. Wagner, zu Julius Langbehn, Ferd. Tönnies, Moritz v. Egidy, oder zu antisemitischen Gruppierungen wie Ad. Stöckers „Berliner Bewegung“, Bernh. Försters und Max Liebermanns v. Sonnenberg „Deutschem Volksverein“, Theod. Fritschs „Deutsch-sozialer Partei“ u. a., und scheute, auf strikte Wahrung seiner intellektuellen und persönlichen Unabhängigkeit und Integrität bedacht, vor jeder parteimäßigen Bindung zurück. – Er widmete sich der Fortführung seiner kirchengeschichtlichen und biblischen Texteditionen, insbesondere der – unvollendet gebliebenen – Erstellung der historisch-kritischen Ausgabe der griech. Übersetzung des Alten Testaments (Symmicta I-II, 1877–80; Semitica I-II, 1878/79; Orientalia I-II, 1879/80; Ankündigung einer neuen Ausgabe der griech. Übersetzung des Alten Testaments, 1882; Librorum V. T. canonicorum pars prior graece, 1883). Auf die Septuaginta-Studien (I-IV, 1891/92) L.s geht die 1908 begründete Kritische Septuaginta-Ausgabe der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen zurück. Als Nebenprodukte seiner wissenschaftlichen wie politischen Auseinandersetzungen entstanden biographischautobiographische Skizzen sowie aggressivpolemische Auseinandersetzungen mit Fachkollegen (gesammelt in Mitteilungen I-IV, 1884–91). Eine Gesamtausgabe der zu Lebzeiten publizierten und nachgelassenen Gedichte, in denen sich u. a. seine gefühlsstarke religiöse Vorstellungswelt bezeugt, besorgte seine Frau (1897). L.s Nachlaß befindet sich in der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen; seine in über 40 Jahren zusammengetragene wertvolle Bibliothek wurde geschlossen an die neugegründete Universität der Stadt New York verkauft.

    Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorf zählte L. in seiner Grabrede zu den „prophetischen Naturen“, bei denen „der Augpunkt, aus dem sie das All betrachten, in Wahrheit religiös ist“. Für L. gilt dies in doppelter Hinsicht: Zunächst war sein ganzes wissenschaftliches Lebenswerk theologisch motiviert. Auch als Orientalist verstand sich L. letztlich im Dienst an einer – in Verbindung aufklärerisch-rationalistischer Bibelkritik mit philologischer und historisch-kritischer Methodik zu betreibenden – Verwissenschaftlichung der Theologie. Er intendierte damit die Überführung der von ihm mit sarkastischem Spott bedachten kirchlich-konfessionsgebundenen Theologie in eine undogmatische historisch-kritisch und -vergleichend verfahrende Religionswissenschaft, die letztlich „eine Unter-Abteilung der Geschichtswissenschaft“ zu sein hätte. Voraussetzung dafür war die Erstellung historisch zuverlässiger Textgrundlagen, um das Evangelium von allen als Verfälschungen aufgefaßten späteren, insbesondere paulinisch-jüdischen, griechischen und kirchlich-dogmatischen Überlagerungen zu reinigen und in seiner authentischen Originalität freizulegen. Zu dieser Grundlagenarbeit an einer zukünftigen wissenschaftlichen Theologie seinen ganz persönlichen Beitrag zu leisten, sah er als Motiv und Aufgabe seiner wissenschaftlichen Arbeit an. So bestand sein Verdienst in wissenschaftlich-theologischer Perspektive darin, entgegen den dominierenden Strömungen des deutschen Protestantismus des 19. Jh. der historisch-philologischen Methode Bahn gebrochen zu haben, ein Programm, das dann nach seinem Tode partiell in der Religionsgeschichtlichen Schule um E. Troeltsch, A. Eichhorn und W. Wrede aufgenommen und realisiert wurde. Zugleich hatte L. jedoch auch die aus individuell-intuitiver Glaubenserfahrung genährte Hoffnung verfolgt, eine undogmatisch-verwissenschaftlichte Theologie könne als Klärangsinstanz und „Pfadfinderin“ für die Erneuerung der Religion in Gestalt einer aus dem Geist des Evangeliums erwachsenden „Geist-“ oder „Zukunfts-Religion“ außerhalb aller institutionalisierten Kirchen wirksam werden: „Das Evangelium ist eine durch religiöse Genialität gefundene Darstellung der Gesetze des geistigen Lebens.“ Aus diesem emphatischreligiösen Motivationshintergrund erwuchsen dann sowohl seine heftige Kritik an den historischen Erscheinungsformen der christlichen Kirchen und seine Plädoyers für strikte Tennung von Staat und Kirchen und Auflösung der Theologischen Fakultäten wie auch seine gesamte kulturkritische und politische Publizistik: „… mein Interesse für alle Dinge hat seinen Mittelpunkt in meiner Theologie.“

    Zu Recht tragen insofern seine in den „Deutschen Schriften“ zusammengefaßten unsystematisch-polemischen Essays die Bezeichnung „theologisch-politische Traktate“. Getragen von einem tiefen Unbehagen an der politischen, religiösen und geistig-moralischen Situation Deutschlands – vor allem im Gefolge der Bismarckschen Reichsgründung – mündet ihre Kritik in eine generelle Ablehnung der im 19. Jh. immer deutlicher werdenden Folgelasten und -probleme der als „funktionale Differenzierung“ (Luhmann) beschreibbaren Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesse moderner Gesellschaften. Das Unbehagen am Auseinandertreten gesellschaftlicher Funktionsbereiche mit ihren teilsystemspezifischen Steigerungstendenzen schlägt sich bei ihm nieder als Kritik an der zunehmenden staatlichen Penetration und bürokratischen Reglementation aller Lebensbereiche, an der Entfesselung des ökonomisch-kapitalistischen Besitz- und Gewinnstrebens, an den Persönlichkeits- und sittenzerstörenden Implikationen der hocharbeitsteiligen modernen Industrie, an der Abtötung lebendigen Glaubenslebens in den dogmatisch-legalistisch organisierten christlichen Kirchen, an der mit liberalen Prinzipien und parlamentarischen Strukturen gekoppelten Durchsetzung egoistischer Interessenpolitik, am Umsichgreifen des modernen Pressewesens und am allgemeinen weltanschaulichen und Werte-Pluralismus, schließlich an der Perversion des Bildungsdenkens in Berechtigungswesen und enzyklopädisches „Vielerlei“ von sinnentleertem historischem Bildungsgut, in einen „zähen, widerlichen Schleim von Bildungsbarbarei“. – L.s eigene Vorstellungen, mit denen er noch hinter die restaurativen Ordnungskonzepte der zeitgenössischen Staatsphilosophie zurückgeht, laufen demgegenüber darauf hinaus, die Systemdifferenzierungen von Politik, Wirtschaft, Religion, Erziehung etc. durch die Erneuerung einer als integrativer Bezugs- und ethischer Mittelpunkt aller Lebensbereiche fungierenden Zukunftsreligion zu überspringen. Insofern bezeichnet er seinen Konservatismus als „so reaktionär, daß er bis in die Tage der salischen und sächs. Kaiser zurückgreift und alles zwischen diesen und uns Liegende gestrichen wissen will“. Da er Nationen als „ethische Mächte“ und als je besondere Emanationen des Göttlichen ansah, die einem vom Schöpfer gesetzten „Lebensprinzip“ zu folgen hätten, sollte eine je „nationale“ – d. h. dann auch „evangelische“ „deutsche“ – Religion Basis und Garant der inneren Einheit einer Nation, ihrer verbindlichen gesellschaftlichen Werte und der darauf aufbauenden Erziehung der Jugend sein: „Das Heiligtum ist der Mittelpunkt der Stämme und Nationen.“ Hier lag zugleich der Ansatzpunkt für den bei ihm noch religiös-politisch, nicht rassisch begründeten Antisemitismus: Er lehnte das Judentum ab als eine durch ihre Religion verbundene Nation innerhalb der deutschen Nation, die damit deren Einswerdung verhindere.

    Mit seiner alle gesellschaftlichen Lebensbereiche einbeziehenden zeitkritisch-polemischen Publizistik wurde L. neben Nietzsche und Langbehn, dessen „Rembrandt als Erzieher“ (1889) stark von ihm beeinflußt war, zu einem der Hauptprotagonisten der Kulturkritik des ausgehenden 19. Jh. und ihrer Rezeption in der Jugend- und der Reformpädagogischen Bewegung des beginnenden 20. Jh. Ihren Höhepunkt erreichte die Wirksamkeit seiner „Deutschen Schriften“ während des 1. Weltkriegs und in der Zwischenkriegszeit, vor allem in den verschiedenen nationalistischen Gruppierungen (Alldeutsche Bewegung, Vertreter des Mitteleuropa-Gedankens, Jungkonservative Bewegung u. a.). Von den Ideologen des Nationalsozialismus (insbes. A. Rosenberg) wurde L in selektiver Uminterpretation seines nationalistischen Denkansatzes und unter besonderer Akzentuierung einzelner politischer Ideen (wie etwa einer Umsiedlung der Juden nach Madagaskar oder der Kolonisierung Ost-Mitteleuropas), „als der mächtigste Wegbereiter der Gedanken, auf denen das nationalsozialistische Dritte Reich der Deutschen ruht, als der große Verkünder auch des volksdeutschen Gedankens“, in Anspruch genommen (K. A. Fischer im Vorwort zur Neuausgabe 1934 der Schriften für das Deutsche Volk). Mit dem Ende des 2. Weltkriegs brach die Rezeption von L. schlagartig ab.

  • Literatur

    ADB 51;
    R. J. H. Gottheil, Bibliography of the Works of P. A. de L., in: Proceedings of the American Oriental Society, Nr. 95, 1892, S. CCXI-CCXXIX;
    Anna de Lagarde (Ehefrau), P. de L., Erinnerungen aus s. Leben, 1894, ²1918;
    E. Nestle, in: PRE XI;
    A. Rahlfs, P. de L.s wiss. Lebenswerk, im Rahmen e. Gesch. s. Lebens dargest., = Mut. d. Septuaginta Unternehmens d. Ges. d. Wiss. z. Göttingen, Bd. 4, H. 1, 1928;
    R. W. Lougee, P. de L., 1827-91, A Study of Radical Conservatism in Germany, 1962 (P);
    J. Favrat, La pensée de P. de L. (1827-91), Contribution à l'étude des rapports de la religion et de la politique dans le nationalisme et le conservatisme allemands au XIXème siècle, 1979 (W, L). - P. v. Gebhardt, in: Fam.geschichtl. Bll. 25, 1927, Sp. 449-56;
    ders., in: Ahnentafeln berühmter Deutscher, Lfg. 1, 1929, S. 9-12.

  • Porträts

    Phot. in: Bildnisse Göttinger Professoren aus 2 Jhn., hrsg. v. M. Voit, 1927.

  • Autor/in

    Jürgen Schriewer
  • Zitierweise

    Schriewer, Jürgen, "Lagarde, Paul de" in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 409-412 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118725971.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Lagarde: Paul Anton de L. (Bötticher), geboren zu Berlin am 2. November 1827 als Sohn des Dr. Wilhelm Bötticher, Oberlehrers am Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, ward unter den ungünstigen Verhältnissen des Elternhauses ein einsames, der rechten Leitung entbehrendes Kind, da nach dem Tode der Mutter Luise geb. Klebe (14. November 1827) der Sinn des Vaters sich verdüsterte und jeden Frohsinn, jede freie Regung erstickte. Auch als Student der Theologie (seit 1844) blieb er unter dem Drucke des väterlichen Hauses, das er nur ein Jahr verließ, um in Halle bei Jul. Müller und Tholuck zu hören. Von seinen Lehrern ist neben Hengstenberg, dessen eifriger Zuhörer er eine Zeitlang war, und Twesten vor allem Rückert anzuführen, bei dem er Persisch und Arabisch lernte. Zu diesem trat er in ein freundschaftliches Verhältniß, so daß er sich später Rückert's Lieblingsschüler, ja eigentlich wol einzigen Schüler nennen durfte. Die strenge philologische Methode verdankte er Lachmann; Görres' Heldenbuch und Jak. Grimm's Mythologie hatten schon auf den Knaben mächtig gewirkt. Das Jahr 1848 fand ihn auf Seiten der Regierung, aber als ihm 1849 am Processe wider Waldeck — er bezeichnete später diesen Proceß als entscheidend für seine ganze Lebensanschauung — der Grundsatz klar ward, Unrecht dürfe auch vom Staate weder gethan noch geduldet werden, so löste ihn dieser Grundsatz von jeder Parteizugehörigkeit, ebenso wie die „Odyssee durch die Kirchen und Kirchlein“ in Verbindung mit der wissenschaftlichen Forschung ihn von jeder bestimmten Religionsgemeinschaft trennte. Ein Stipendium und der 1850 erfolgte erlösende Tod des Vaters ermöglichte ihm sich in Halle als Privatdocent zu habilitiren (1850). Dort verlebte er zwei fleißige, glückliche Jahre, um so glücklicher als er auch die Gefährtin seines Lebens, Anna Berger, fand (1854 vermählt). Als seine Mittel 1852 zu Ende gingen, erhielt er durch Bunsen vom Könige ein Reisestipendium nach England und Frankreich. Der längere Aufenthalt in England, zuletzt im Hause Bunsen's, eröffnete ihm in regem Verkehr den Blick in die großen und wichtigen Verhältnisse des Lebens. Jetzt ging in ihm der Keim auf zu allen Anschauungen, die er später entwickelt und dargelegt hat. Eine glänzende Zukunft schien dem Ende 1853 Zurückkehrenden sicher, der aufs fleißigste gearbeitet hatte und mit den besten Empfehlungen bedeutender englischer und französischer Gelehrten versehen war. Es kam anders. Ungünstige Recensionen über seine „Arica“ 1851, „Epistulae novi testamenti coptice“ 1852, „Zur Urgeschichte der Armenier“ 1854 (um nur diese von seinen Jugendschriften zu nennen) wirkten an maßgebender Stelle so, daß ihm die Universitätslaufbahn verschlossen ward, zumal er auch in ausgesprochenem Gegensatze zu dem damals herrschenden Hegelianismus stand. Auch Rückert's Bemühungen für ihn in Jena hatten keinen Erfolg. De Lagarde — so hieß er seit 1854 infolge von Adoption durch Ernestine de Lagarde, eine Schwester seiner Großmutter — suchte und fand ein Unterkommen an Berliner Schulen. Es war für ihn eine harte, schwere Zeit in Berlin von 1854—66. Das Gehalt so klein, daß Privatstunden im Uebermaß gegeben werden mußten (bis 1860), daneben die Drucklegung der umfangreichen Londoner und Pariser Abschriften auf eigene Kosten (Didascalia apostolorum syriace 1854, Reliquiae iuris ecclesiastici antiq. graece 1856, — syriace 1856, Analecta Syriaca 1858, Appendix arabica 1858, Hippolyti Romani quae feruntur omnia graece 1858, Titi Bostreni contra Manichaeos lidri IV syriace 1859,... graece 1859, Geoponicon .. 1860, Clementis Romani recognitiones syriace 1861, Libri vet. test. apocryphi syriace 1861, Constitutiones apostolorum graece 1862, Clementina 1865). Indeß ohne diese schwere Zeit wäre er kaum der innerlich freie, unabhängige Mann geworden. Und doch war er gebrochen. Denn wenn Jakob Grimm (s. Lagarde, Uebersicht S. 239) von sich sagte, die Theilnahme der Fachgenossen mache ihn ganz glücklich, so ward L. dies Glück seit 1854 dauernd vorenthalten und hinderte hauptsächlich die Entwicklung der reichen Gaben eines Mannes, der „eine ganze Atmosphäre von Liebe um sich“ zum Gedeihen gebraucht hätte, und dem statt dessen eine Kränkung und Zurücksetzung nach der andern zu Theil ward. Es sei hier an die Art erinnert, in der die Berufungen nach Halle, Gießen, Kiel vereitelt worden sind, über die hauptsächlich Anna de Lagarde in den Erinnerungen S. 69 ff. Auskunft gibt. Später hat er versucht die Theilnahme der Fachgenossen für sich, man kann wol sagen, zu erzwingen, indem er in den Armenischen Studien 1877, im zweiten Bande der Summikta 1880, in dem Heft aus dem Deutschen Gelehrtenleben 1880 darlegte, wie früher mit ihm verfahren war. Wie sein warmes Herz ihn trieb jedem Bedrängten beizuspringen, seine peinliche Gewissenhaftigkeit ihn nöthigte auch das kleinste, selbst das unfreiwillig begangene Unrecht zu sühnen, so dachte er wol würden auch ihm, dem aus vielen Wunden blutenden, hart kämpfenden Manne die Herzen Aller zufliegen, wenn sie nur wüßten, wie es um ihn stände. Er hat sich darin gänzlich geirrt; nur schärfer wurden die Worte, die hin- und herflogen, nur bitterer die Polemik. Eitelkeit, Ueberhebung, Anmaßung, Dünkel, Streitsucht u. ähnl., das waren fortan die Eigenschaften, die ihn zierten. Nur Wenige waren es, die durch die rauhe Außenseite das weiche, nach Liebe sich sehnende Gemüth sahen, das ganz erst seine Wittwe in den|Erinnerungen auch fremden Augen dargelegt hat. Der peinvolle Zustand, daß seine Hand gegen Jedermann und Jedermanns Hand gegen ihn war, ist in fast allen seinen Schriften zu erkennen, und wie er ihn gehindert hat, so hindert er auch Andere, ihm gerecht zu werden. Doch zurück zu seinem Lebensgange. 1866 als ihm auch an der Schule eine Zurücksetzung bevorstand, überbrachte der ihm befreundete General v. Brandt dem Könige ein Immediatgesuch, woraufhin er zum Professor ernannt und mit Anwartschaft auf die nächste, freiwerdende Professur auf Wartegeld gestellt wurde. Nachdem er die Zwischenzeit in Schleusingen gelebt und gearbeitet hatte, erhielt er 1869 den Lehrauftrag Ewald's an der Georgia Augusta zu Göttingen, der er dann bis zu seinem Tode angehört hat. Es war ein einsames, an Arbeit, Mühe und Entbehrungen reiches Gelehrtenleben, das er führte, nur unterbrochen durch nothwendige Badecuren und wissenschaftliche Reisen nach London und Italien. Außerdem führte ihn das Jahr 1875 als Deputirten der Georgia Augusta nach Czernowitz zur Gründungsfeier der dortigen Universität, 1888 im Auftrag der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften nach Bologna, deren Mitglied er seit 1876 war, um die Glückwünsche zu überbringen. Die Zahl der Zuhörer war bei den eigenthümlichen Verhältnissen in Göttingen gering, was man Schule nennt, hat er nicht gebildet, aber wer ihm irgend näher trat, hing in treuester Zuneigung an dem hochverehrten Lehrer. Mitten aus voller Arbeit riß ihn der Tod. Am 22. December 1891 schloß er die Augen infolge einer durch Darmkrebs nothwendig gewordenen Operation. Auf seinem Grabsteine liest man: Via crucis est via salutis.

    Ueber seine wissenschaftlichen Arbeilen eine kurze Uebersicht zu geben ist schwer wegen der Größe des Gebietes, das sie umspannen, der Menge der Schriften und der edirten Texte. Fast allen schriftlichen Aeußerungen haftet infolge der Lebensschicksale etwas Herbes, Strenges an. Die Erinnerungen an Friedrich Rückert sind, abgesehen von den Gedichten und Strandliedern (Gesammtausgabe 1897), das liebenswürdigste, das er geschrieben, und wecken das Bedauern, daß die glückliche Stimmung, aus der diese Zeilen flossen, nicht öfter dem Verfasser gegönnt war: sie brechen denn auch jäh ab. Besonders ist eine Eigenthümlichkeit hervorzuheben. Bei allen Untersuchungen, bei den entlegensten Forschungen finden wir stets den lebhaften, vorwärtsdrängenden, unermüdlichen, kurz den ganzen L., der was er schreibt, mit dem Herzen schreibt, der ein persönliches Verhältniß in Liebe und Haß (erlaubten Haß definirte er als angewandte Liebe) zu allen hat, mit denen er umgeht, besonders auch zu den Büchern, die ihm nicht Werke der Gelehrsamkeit sind, sondern Offenbarungen der innersten Eigenart ihrer Verfasser. Er hat überall sein ganzes Wissen präsent, ihm sprudeln die Gedanken lebhaft, fast hastig hervor, hastig auch arbeitet er, denn er weiß, er hat einen langen Weg vor sich, ohne Helfer, er fürchtet nicht zum Ziele zu kommen. Etwas mehr Ruhe, mehr Geduld hätte man ihm wünschen mögen.

    Als Lebensarbeit hatte er sich die Ausgabe des Vetus Testamentum mit vollem kritischem Apparat vorgenommen. Er hatte sich die Sprachkenntnisse erworben, die hierzu erforderlich sind, er handhabte, wie die Anmerkungen zur griechischen Uebersetzung der Proverbien 1863 zeigen, mit vollendeter Sicherheit die kritische Methode, seine Arbeitskraft und Arbeitslust war ungeheuer. Doch hat er sein Ziel nicht erreicht und konnte es auch nicht erreichen. Denn dieser gigantische Plan erfordert nicht Eines Mannes Arbeit, sondern die Mitwirkung Vieler, um so mehr als es damals, als er die Hand ans Werk legte, fast noch an allen Vorarbeiten gebrach. Der Minister v. Mühler hat ihm Pfingsten 1870 die Mittel für einen Hülfsarbeiter zur Verfügung gestellt. Er meinte|damals keinen brauchbaren Gehülfen finden zu können und lehnte ab. Ein stärkeres Selbstbewußtsein, ein frischerer Wagemuth hätte zugegriffen, hätte aus kleinem Anfang ein mehr entwickelt: er machte sich lieber allein an die Arbeit, um oft wie ein „Lastträger“ zunächst die mühsamen Vorarbeiten zum Theil zu erledigen. Der Pentateuch koptisch 1867; Materialien zur Geschichte und Kritik des Pentateuch, arabisch 1867; Genesis graece 1868; Hieronymi quaestiones hebraicae in libro Geneseos 1868; Onomastica sacra 1870 (2. Aufl. 1887); Prophetae chaldaice 1872; Hagiographa chaldaice 1873; Psalterium iuxta Hebraeos Hieronymi 1875; Psalterii versio memphitica. 1875; Psalterium Job Proverbia arabice 1876; Praetermissorum libri duo syriace 1879; Bruchstücke der koptischen Uebersetzung des A. T. in: Orientalia I, 1879; Die Pariser Blätter des codex sarravianus in: Semitica II, 1879; V. T. ad Origene recensiti fragmenta apud Syros servata quinque 1880; Die Lateinischen Uebersetzungen des Ignatius 1882; Aegyptiaca 1883; Librorum V. T. canonicorum pars prior graece 1883 (der zweite Theil dieser „Lucian-Recension“ ist nicht erschienen; übrigens ist die Combination, mittels derer er die Handschriften der Lucian-Recension aus den übrigen herausfand, ebenso einfach wie scharfsinnig, eine philologische Leistung ersten Ranges); Bibliotheca Syriaca Bd. I, 1889—91 gedruckt, enthält quae ad philologiam sacram pertinent. Den Weg zu zeigen, den er zu gehn vorhatte, auf dem seine Nachfolger weiter gehn sollten, dienten die Ankündigung einer neuen Ausgabe der Gr. Uebersetzung des alten Testaments 1882; Probe einer neuen Ausgabe der Lat. Uebersetzungen des A. T. 1885; Novae psalterii graeci editionis specimen 1887; Psalterii graeci quinquagena prima (1887 gedruckt); Septuagintastudien 1891. 92 (von A. Rahlfs herausgegeben). So stattlich die vorgelegte Reihe ist, so wenig befriedigte sie ihren Autor. Denn die Unmöglichkeit nach Bedürfniß zu reisen, die des öfteren eintretenden Schwierigkeiten nöthige Handschriften zur rechten Zeit zu erhalten, störten wiederholt den Arbeitsplan und veranlaßten Zeit und Mühe Dingen zuzuwenden, die abseits vom Wege lagen. Für die Bedürfnisse derjenigen z. B., die Hebräisch lernen wollten, gab er 1883 die Makamen des Hariri heraus. Bitter empfand und bellagte er diese Nöthe. Nenn Karl Justi urtheilt, das Leben Reiske's und Winckelmann's sei kein Denkmal der Ehre für das achtzehnte Jahrhundert, so gilt dies Urtheil unbedingt auch für das neunzehnte Jahrhundert inbezug auf L. — Hatte L. schon in der Jugend mit Vorliebe Sprachstudien getrieben, zwang ihn die Septuaginta sich umfassende Sprachkenntnisse zu erwerben, so blieb er den Sprachen, die er beherrschte wie außer ihm wol nur Rückert, nicht fremd gegenüberstehen, sondern er suchte in ihnen die Seele der Menschen zu erkennen, die sich ihrer bedienen, sie gaben ihm Aufschluß auch über die Geschichte der Religion. Denn er trieb sie als ein Theologe, dem die Theologie eine Unterabtheilung der Geschichte ist zum Zwecke, die Geschichte des Reiches Gottes auf Erden zu erforschen. Neben den gesammelten Abhandlungen 1866, die einen Theil der Jugendarbeiten wiederholen, und den Armenischen Studien 1877, gehören hierher die Beiträge zur Baktrischen Lexikographie 1868, die Erklärung chaldäischer Worte in den Semitica I, 1878, Hebräischer Worte in den Orientalia II, 1880, Petri Hispani de lingua arabica libri duo 1883. Dann 1889 die Uebersicht über die im Aramäischen, Arabischen und Hebräischen übliche Bildung der Nomina, ein Werk, das alles weit hinter sich läßt, was auf diesem Gebiete bisher geleistet war. Reiche Schätze bergen die beiden Bände der Symmikta 1877—80, die vier der Mittheilungen 1884. 87. 90. 91. Hier finden sich die Forschungen über die classification of Semitic roots, zur Geschichte des Alphabets, über die semitischen Namen des Feigenbaums und der Feige, über Kastanie und Oelbaum, über das x der Mathematiker u. s. w., u. s. w. In diesen Bänden sind, um nur einiges hervorzuheben, die gedankenvollen Erörterungen über den Kanon des alten Testaments enthalten, über die Chronologie, über die Entstehungszeit der einzelnen Bücher. Er wirft die Frage auf und sucht sie zu beantworten, welche Absicht hatten die Männer, die gerade diese Bücher zum Kanon zusammenfügten und andere ausschlossen, die Schriftsteller, die gerade dieses System der Chronologie annahmen. Als werthvoll gilt ihm der von Usener geführte Nachweis, daß das Weihnachtsfest 354 in Rom vom Papste Liberius officiell anerkannt ist, werthvoller dünkt ihm die Erkenntniß (in seiner Abhandlung: Altes und Neues über das Weihnachtsfest, in den Mittheilungen IV), daß dann das Weihnachtsfest gegen den Arianismus gerichtet gewesen ist, ein Protest der orthodoxen Kirche gegen die Arianer, mit dem anerkannt wurde, daß der σωτηρ nicht einer der Lukas 20, 9—18 erwähnten Knechte, sondern der Sohn des Vaters ist, der Erlöser weder Gott allein, noch Mensch allein, sondern Gott und Mensch zugleich. Denn was dem Menschengeschlechte frommen soll, kann nicht aus dem Menschengeschlechts stammen. Nicht immer führte die Forschung gleich zum Ziele. Wiederholt hat er über das Wort Messias, über Jahwe gehandelt. In dem Kampfe um die Bedeutung des Wortes „El“ lehrte ein Tag den andern. Hatte er das Purimfest (1887 in der Abhandlung: Purim, ein Beitrag zur Geschichte der Religion) aus dem Persischen herleiten wollen, so erkannte er ohne Widerstreben H. Zimmern's Gründe an, die für eine Herleitung aus dem Babylonischen sprachen (ZATW XI, 157, Mittheilungen IV, 347). Das Assyrisch-Babylonische war ihm fremd geblieben, dagegen trieb er das Persische um der Sprache selbst willen, die es ihm angethan hatte (Persische Studien 1884). Schon Rückert drückte 1851 sein Erstaunen aus, was all für Sprachgeister in Paul Bötticher's Kopfe rumorten, ohne ihn taumeln zu machen, aber auch Paul de Lagarde wandte sich gelegentlich ganz anderen Gebieten zu, wenn er z. B. den Johannes von Euchaita des Paters Bollig zum Druck beförderte 1882, oder wenn er die Italienischen Werke Giordano Bruno's neu herausgab 1888, oder Neu-Griechisches aus Kleinasien ans Licht ziehen half 1886. Nicht am wenigsten galten seine Sorgen auch dem Neuen Testamente. Schon 1857 schrieb er das Programm de Novo Testamento ad versionum orientalium fidem edendo, 1864 gab er die Evangelien arabisch aus einer Wiener Handschrift heraus, 1886 die Catenae in Evangelia aegyptiacae quae supersunt, endlich fast als letztes Werk seines Lebens das Evangeliarium Hierosolymitanum in der Bibliotheca Syriaca. Dies Evangeliarium hat ihn andauernd beschäftigt, vielfache Reisen nach Rom unternahm er deswegen und ganz besondere Aufschlüsse über die Urgestalt der Evangelien bot ihm dieses Buch, das nach ihm in dem Dialekte geschrieben war, den Jesus selbst gesprochen hatte. Nach den Andeutungen, die Anna de Lagarde in den Erinnerungen aus Briefauszügen hierüber gibt, ist es ein unermeßlicher Verlust, daß der Tod ihn packte, als er Klarheit darüber gewonnen hatte und sich anschickte sein Wissen davon mitzutheilen: nun ruht es mit ihm im Grabe.

    Lebendig dagegen sind und wirken die Gedanken, die er in den Deutschen Schriften (Gesammtausgabe 1886) in den Gedichten (Gesammtausgabe 1897) und in einigen Aufsätzen der „Mittheilungen“ ausgesprochen hat: Konservativ 1853, Ueber die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik 1853 (beide 1874 zuerst gedruckt), Ueber das Verhältniß des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion 1873, Drei Vorreden 1874. 78. 81, Diagnose 1874, Ueber die gegenwärtige Lage des Deutschen Reiches 1875, Zum Unterrichtsgesetze 1878, Die Religion der Zukunft 1878, Die Stellung der Religionsgesellschaften im Staate 1881, Noch einmal zum Unterrichtsgesetze 1883, Die Reorganisation des Adels 1881, Die Finanzpolitik Deutschlands 1881, Die graue Internationale 1881, Programm für die konservative Partei Preußens 1884, Ueber die Klage, daß der deutschen Jugend der Idealismus fehle 1885, Die nächsten Pflichten deutscher Politik 1886, Die revidirte Lutherbibel des Halleschen Waisenhauses 1885, Lipmann Zunz und seine Verehrer. Juden und Indogermanen, Ueber die von Herrn Paul Güßfeldt vorgeschlagene Reorganisation unserer Gymnasien, Ueber einige Berliner Theologen und was von ihnen zu lernen ist (Mittheilungen II, III, IV). Fast kann man sagen, seine ganze Gelehrsamkeit dient nur als Unterbau für diese Schriften. Hier sehen wir ihn als den großen Lehrer seines Volkes. Als Theologe war er zu der Erkenntniß gekommen, daß die gegenwärtigen Formen der christlichen Religion verbraucht seien, daß es gälte, den Boden für eine neue Religion vorzubereiten, die, auf den großen Wahrheiten des Christenthums beruhend, doch darüber hinausgehe, die bei den verschiedenen Völkern je eine besondere, dem Wesen des Volkes entsprechende Form annehme. Seine Vorschläge gehn darauf aus, das Leben des deutschen Volkes so gesund zu machen, daß es für die Aufnahme einer neuen Religion empfänglich werde. Darum schlug er vor: Loslösung der bestehenden Kirchen vom Staate, damit sie lebendiger und kräftiger wirken können, jedoch auch als nicht mehr genügend gekennzeichnet werden; Regelung des Unterrichtswesens, damit geistig und körperlich gesunde Menschen erzogen werden; Regelung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens im Sinne der Wahrheit; gemeinsame Arbeit des ganzen — großdeutschen — Volkes an der Colonisation im Osten. Auf das Einzelne einzugehn ist hier nicht der Ort. So sehr seine Aufsätze die Zeitereignisse begleiten und besprechen, so wenig sind sie veraltet oder in Gefahr, zu veralten.

    • Literatur

      Vgl. Paul de Lagarde. Erinnerungen aus seinem Leben für die Freunde zusammengestellt von Anna de Lagarde. Göttingen 1894. 2. Aufl. — Ludwig Schemann, Paul de Lagarde. Ein Gedenkwort zu seinem 70. Geburtstage, i. d. Comenius-Blättern, Jahrg. V, Nr. 9 u. 10. — Otto Veeck, Paul de Lagardes Anschauungen über Religion u. Kirchenwesen, i. d. Prot. Monatsheften, 3. Jahrg., Heft 6 u. 7. — E. Nestle i. d. Realencyklopädie f. prot. Theol. u. Kirche, 3. Aufl.

  • Autor/in

    L. Techen.
  • Zitierweise

    Techen, L., "Lagarde, Paul de" in: Allgemeine Deutsche Biographie 51 (1906), S. 531-536 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118725971.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA