Lebensdaten
1799 – 1880
Geburtsort
Bayreuth
Sterbeort
Darmstadt
Beruf/Funktion
Politiker ; Staatsmann
Konfession
reformiert
Normdaten
GND: 118689150 | OGND | VIAF: 47140622
Namensvarianten
  • Gagern, Wilhelm Heinrich August Freiherr von
  • Gagern, Heinrich Wilhelm August Freiherr von (in der ADB)
  • Gagern, Heinrich Freiherr von
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Zitierweise

Gagern, Heinrich Freiherr von, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118689150.html [16.04.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Hans (s. 3);
    B Friedrich (s. 1), Max (s. 5);
    1) Darmstadt 1828 Luise (1805–31, ev.), T d. Carl Frdr. Ludw. Frhr. v. Pretlack (1769–1830), auf Echzell, hessen-darmstädt. Oberforstmeister (s. NND VIII), u. d. Carol. Wilh. Luise Freiin Schenk zu Schweinsberg, 2) Freinsheim 1839 Barbara (1818–89, kath.), T d. Gutsbes. Joh. Tillmann u. d. Elisabetha Schlink;
    5 S, 2 T (kath.) aus 2), u. a. Friedrich (1842–1910), auf Neuenbürg, Mitgl. d. bayer. Landtags u. d. Reichstags (Zentrum) (s. BJ XV, Tl. 1910, L), Maximilian (1844–1911), hess. WGR u. Bevollm. beim Bundesrat (ebd. 16, Tl. 1911, L), Ernst (1849–1928), preuß. Gen.-Major, Heinrich (1856–1942), Vizepräs. d. Rechnungshofes, Amalie ( Ludw. Frhr. v. Edelsheim, 1872, bad. Staatsmann, s. NDB IV).

  • Biographie

    Der bedeutendste der „politischen“ Söhne von Hans ist nicht in Weilburg, wie die|5 Brüder, sondern in der Neuen Eremitage zu Bayreuth geboren, als der Vater seine Familie während der Franzosennot in das neutrale Nebenland des preußischen Staates flüchtete. Nach der Rückkehr der Ruhe in Weilburg unterrichtet, wurde er beim Austritt des Vaters aus dem nassauischen Dienst 1812 Kadett in München und kam 1814 nach Weilburg zurück, wo er sich dem nassauischen Kontingent der Verbündeten anschloß. 1815, wie Bruder Fritz, auf den Schlachtfeldern von Waterloo leicht verwundet, war ihm der Einzug in Paris das erste große Erlebnis; er wurde bis 1820 als Unterleutnant zum Studium beurlaubt, dann verabschiedet. In Heidelberg fand er mit dem Beitritt zur Burschenschaft Anschluß an die Einheits- und Reformbewegung, die er in Göttingen vergeblich durchzusetzen suchte, um so erfolgreicher war er in Jena, wo G. in der Urburschenschaft dem „engeren“, politisch aufgeschlossenen Verein angehörte; als Vorsteher hatte er dank einer glänzenden Rednergabe maßgebenden Anteil an der Begründung der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft: nach eigener Angabe der bedeutungsvollste Auftakt für sein Streben nach Einheit und bürgerlicher Freiheit. Daß er sich seiner „aristokratischen“ Herkunft durchaus bewußt blieb, gehört ebenso in die hier gewonnenen Eindrücke wie der Verzicht auf das Adelsprädikat in seiner Unterschrift. Um seine weltmännische Ausbildung abzurunden, schloß sich ein Studienaufenthalt in Genf an. Dank der vom Vater eingeleiteten Beziehungen zum Großherzogtum Hessen folgten 1820 juristische Prüfungen in Gießen und Darmstadt sowie der Eintritt in die hessische Verwaltung, zunächst in Lorsch, dann in der Hauptstadt. Im näheren Verkehr mit vormaligen Burschenschaftern, unter denen ihm Reinhard Eigenbrodt Vertrauensmann fürs Leben wurde, bildete sich eine lebhafte Teilnahme für die in den früheren Rheinbundstaaten vordringlichen Verfassungsfragen aus, wesentlich gefördert durch den Gedankenaustausch mit dem ältesten Bruder. In einem lebhaften Briefwechsel bekennt sich der Sohn des Reichsfreiherrn zum liberalen Gedankengut des Vormärz, 1827 verteidigt eine kleine finanzpolitische Schrift die von der Regierung bedrohten Rechte, die die Verfassungsurkunde den Landständen gab; im folgenden Jahr sah er in einem Aufsatz in der Augsburger Allgemeinen Zeitung in den ersten preußischen Provinzialständen eine Vorstufe künftiger Reichsstände, ohne damit den Beifall des Vaters sowie des von ihm angesprochenen Stein zu gewinnen. Trotzdem schien, seit ihn die erste Heirat sowie die Ernennung zum Regierungsrat und Kammerherrn an Hof und Verwaltung fesselten, eine durchaus staatstreue Laufbahn gesichert. Um so heftiger brach nach dem Tod der Gattin der seit langem vorbereitete Konflikt mit dem neuen leitenden Minister, dem Freiherrn Du Bos du Thil, aus, der sich um eine Verwaltungs- und Rechtsgemeinschaft der 3 völlig verschieden gearteten Provinzen des Großherzogtums bemühte, ohne die für den südwestdeutschen Liberalismus vorbildlichen Sonderrechte des linksrheinischen Rheinhessen zu berücksichtigen. 1832 sandte sein alter Amtsbezirk Lorsch den Regierungsrat in die 2. Kammer des Landtags; eine seit langem erstrebte „ständische“ Laufbahn begann.

    Als Berichterstatter des besonders wichtigen Finanzausschusses trat G. sehr scharf für die konstitutionelle Gewaltenteilung ein und bekämpfte die insbesondere von dem Österreich Metternichs gestützte „Reaktion“. Aussprachen mit Abgeordneten der besonders „fortschrittlichen“ württembergischen und badischen Landtage führten zu einer wechselseitigen Bindung des Liberalismus. In Darmstadt vertieften Auflösung des Landtags und Neuwahl die Spannung und führten 1833 zum Austritt aus dem Staatsdienst; da die Regierung die Oberhand behielt, verzichtete G. 1836 auf eine weitere Kandidatur und ließ sich als Pächter, später als Besitzer auf dem Familiengut Monsheim nieder. Die Vermählung mit der katholischen 2. Gattin, die ihn zur Erziehung aller Kinder in der Konfession der Mutter verpflichtete, sowie der Ausbau seines landwirtschaftlichen Betriebs drängten die politische Teilnahme nur für kurze Zeit zurück. Eifrige Tätigkeit im landwirtschaftlichen Verein sowie der ständige Meinungsaustausch mit den Darmstädter Freunden und mit den Vertretern des pfälzischen und badischen Liberalismus, vor allem mit Bruder Fritz, brachten dem Gedanken an Einheit und Freiheit neue Nahrung; seit dem Thronwechsel in Preußen (1840) wuchs der Wille, aufs neue in den Kampf einzutreten. Während Bruder Fritz eindeutig auf Preußen als den Regulator der Zukunft verwies, forderte G. 1844 eine friedliche Auseinandersetzung mit Österreich, „um dann umso fester das übrige Deutschland zur staatlichen Einheit zusammenzufügen“. Neben den Forderungen der jüngeren, in der Burschenschaft aufgewachsenen Generation behielt der vom Vater überlieferte Reichspatriotismus eine überraschend starke Kraft. Vor diesem Hintergrund führte wiederum eine gegen die Regierung gerichtete Schrift den Gutsbesitzer von Monsheim, den die Standesgenossen in Rheinhessen durch die Wahl zum Präsidenten ihres landwirtschaftlichen Vereins geehrt hatten, in die aktive|Politik zurück. 1847 wurde er im Darmstädter Landtag zum Sprecher des Liberalismus und unterschrieb zusammen mit dem Vater und Bruder Max das Programm der in Heidelberg gegründeten „Deutschen Zeitung“. Im Herbst des gleichen Jahres durfte er in seinem ersten Amts- und Wahlbezirk Heppenheim Preußen und „Deutsche“, das heißt nach dem Sprachgebrauch der Zeit Mitglieder der südwestdeutschen Opposition, zu gemeinsamer Beratung begrüßen. Die Frage, ob man sich mit einem politischen Ausbau des preußisch-deutschen Zollvereins begnügen oder auch Österreich heranziehen sollte, blieb ungelöst. Unter den Schlägen einer europäischen Revolution brachen alle Voraussetzungen der bisherigen Gesellschaftsordnung und Machtverteilung zusammen. In der Südwestecke des Deutschen Bundes erhielt das in der Verfassungsurkunde der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft festgelegte Ziel neue Vorzeichen.

    Wie die Gesinnungsfreunde in Württemberg und Baden, in Kurhessen und Nassau sah sich G. aus dem Gegensatz zur Regierung zur Verantwortung berufen. Am 5.3.1848 nahm er an der Heidelberger Versammlung von 50 liberalen Persönlichkeiten teil, die die große Welle der nationalen Bewegung auslöste; am gleichen Tage betraute ihn der zum Mitregenten erhobene Erbgroßherzog Ludwig (III.) von Hessen mit der Leitung des Staatsministeriums sowie der inneren und auswärtigen Angelegenheiten. In dieser Eigenschaft gab er seinem Bruder Max Vollmacht, durch eine weitgehende Vereinbarung das Verhältnis Preußens zu den übrigen Staaten enger zu gestalten. Der Ausbruch der Märzrevolution in Berlin durchkreuzte den Plan. Friedrich Wilhelm IV. forderte das unbedingte Einverständnis Österreichs und gab damit den Zweifeln, die G. dem Hegemonieanspruch Preußens entgegengestellt hatte, recht. Sie auszutilgen müsse sich, wie er im Darmstädter Landtag ausführte, das übrige Deutschland unverzüglich mit Preußen über eine gemeinsame Verfassung einigen, ohne darüber Österreich aufzugeben. Im Gegensatz zu anderen Plänen, die die bisherige Dreiteilung des Deutschen Bundes beibehalten wollten, zeichnet sich hier das künftige Programm vom engeren und weiteren Bund ab; es durchzuführen war die Aufgabe einer gesamtdeutschen Volksvertretung.

    Im Vorparlament ist G. nur vorübergehend aufgetreten. In der Frankfurter Paulskirche übertrug ihm die mehrfach erneute Wahl zum Präsidenten der konstituierenden deutschen Nationalversammlung Verantwortung und Führung. Den ersten Sieg auf dem Wege zu einem Bundesstaat mit monarchischer Spitze bezeichnete die Erhebung Erzherzog Johanns, des alten Kampfgenossen des Vaters, zum Reichsverweser. Die schnelle Durchführung der Reichsverfassung verhinderte der allzu berechtigte Wunsch, zunächst in Grundrechten des deutschen Volkes eine Wiederkehr der vormärzlichen Reaktion unmöglich zu machen. Erst die blutigen Septemberereignisse in Frankfurt, die der Innenminister der provisorischen Zentralgewalt, A. von Schmerling, in Zusammenarbeit mit G. unterdrückte, erzwangen Stück für Stück die Vorlage des vom wichtigsten Ausschuß ausgearbeiteten Entwurfs einer Reichsverfassung. Da das seit langem umstrittene Verhältnis zu Österreich zum Rücktritt des bisherigen, nach persönlichen und landsmannschaftlichen Rücksichten berufenen Reichsministeriums führte, kam als Nachfolger lediglich der Präsident der Paulskirche als Führer der Mehrheitsparteien in Frage. Mit seinem „Programm vom engeren und weiteren Bund“, das den Einfluß des Vaters und des gefallenen Bruders Fritz zeigt, stellte er den unverzüglichen Zusammenschluß Preußens mit dem übrigen Deutschland voran, ohne Österreich aus den älteren Verpflichtungen zu lösen. Während seine norddeutschen Anhänger bereits auf den habsburgischen Kaiserstaat verzichten wollten, zumal dieser aufs neue der Reaktion verfallen schien, blieb ihm eine wesentliche Voraussetzung, „Österreichs Unionsverhältnis zu Deutschland mittels einer besonderen Unionsakte zu ordnen und damit alle die verwandtschaftlichen, geistigen, politischen und materiellen Bedürfnisse nach Möglichkeit zu befriedigen, welche Deutschland und Österreich von je her verbunden haben und im gesteigerten Maße verbinden können“. Als diese Fassung eine stattliche Stimmenzahl erhielt, trat am 18.12.1848 die erste parlamentarische Regierung Deutschlands, in der dem Vorsitzenden Reichsminister die auswärtigen wie die inneren Angelegenheiten zufielen, ihr Amt an.

    Eine ausreichende, in sich geschlossene Mehrheit hat die Reichszentralgewalt nie erreicht. Unter dem Druck der Einzelregierungen ging die Beratung der Reichsverfassung in erregendem Wechsel weiter. Ein Staatsstreich des vom Fürsten Schwarzenberg geführten Wiener Ministeriums, das mit der Verkündigung einer neuen, selbständigen Verfassung alle Bemühungen des deutschen Liberalismus abschnitt, führte zum dramatischen Ende. Ein Ausgleich mit der Linken, die als Gegengabe für ihre Zustimmung das allgemeine Stimmrecht einsetzte, gewann der Mitte einen knappen Sieg. Am 28.3.1849 vereinigte sich eine verschwindend geringe|Mehrheit zur Wahl Friedrich Wilhelms IV. zum Kaiser der Deutschen. Als dieser ablehnte, kämpfte das Reichsministerium verbissen um einen Ausweg. Hatte sich der begnadete Redner vordem durch den Zuruf einer begeisterten Menge emportragen lassen, – jetzt zeigte er in der Wirrnis der parteipolitischen Gegensätze eine wahrhaft bewundernswerte Größe, ohne in der Nationalversammlung eine feste Mehrheit, beim Reichsverweser Hilfe und Vertrauen zu finden. Am 10.5. entließ Erzherzog Johann das seit langem nur provisorisch amtierende Reichsministerium und gab damit auch der Paulskirche den Todesstoß. Schweren Herzens unterschrieb G. am 21.5. die Austrittserklärung der Mitte, die seiner „Standarte“ gefolgt war. Über die Zusammenkunft in Gotha, die Bruder Max vorbereitete, und über das Erfurter Unionsparlament ging der Weg in die einsame Welt des geschlagenen Kämpfers.

    Ein Zwischenspiel zeigte den tiefen Ernst seines Willens: Als Preußen nach seinem Verzicht im Ringen um die Einheit auch Schleswig-Holstein fremder Willkür preiszugeben drohte, zog es den einstigen Waterloo-Kämpfer als Volontär-Major an die Front, „der Nation den Weg zur Pflicht zu weisen“. Wie in der deutschen Revolution zerbrach der Versuch am Widerstand der großen Mächte. Verbittert nahm sich der einstige Herold der Paulskirche, den mancherlei Ehrungen als den Wegbereiter von Einheit und Freiheit gefeiert hatten, „völlige Enthaltsamkeit von jedem öffentlichen Wirken“ vor. Zunächst im heimatlichen Monsheim, dann in Heidelberg gingen seine Gedanken in die Vergangenheit. Das groß angelegte Werk „Das Leben des Generals Friedrich von Gagern“ ist 1856 ein Ergebnis dieser Überlegungen geworden. Preußen und seinem König gilt der Vorwurf der Untreue. Persönliche Mißachtung, die ihm das Berliner Ministerium entgegenbrachte, vertiefte die Abkehr. Wie einst dem Vater erschien auch ihm jetzt Österreich gleichberechtigt im Wettlauf um die Gunst der Nation.

    1859 eröffneten sich für die deutsche Einheitsbewegung wie für G. persönlich neue Aussichten. Kurz zuvor war Bruder Max nach Wien übergesiedelt; nicht allein 2 Neffen, die Söhne der ebenfalls politisch interessierten Schwester Amalie von Breidbach, folgten und sind bei Solferino gefallen, auch der älteste Sohn G.s, nach dem unvergessenen Mentor (Seefritz) Fritz genannt, fand, zumal Preußen einem katholischen Gagern verschlossen war, in der österreichischen Marine Aufnahme. Die Berliner Regierung dagegen versagte in den Augen vieler Reichspatrioten dem Bruderstaat aus eigennützigen Gründen ihre Hilfe und drohte nach einer kurzen liberalen Aera aufs neue der Reaktion zu verfallen. Im Wettstreit zwischen dem von R. von Bennigsen als einem „zweiten Gagern“ geleiteten Nationalverein und der großdeutschen Reformpartei, die die Wunschträume der alten Burschenschaft auf anderem Wege durchzusetzen hoffte, entschied sich G. 1862 für „eine Einigung der Nation unter der Zentralgewalt von Österreich und Preußen mit paritätischen Bedingungen“, – unter der unerläßlichen Voraussetzung, daß diese Führung von einem Parlament beraten und kontrolliert werde. Damit das eigene Programm vom Spätherbst 1848 durchgeführt werden konnte, war der „weitere Bund für die österreichischen gesamtstaatlichen Verhältnisse so vorteilhaft als möglich zu gestalten“.

    Während er persönlich den Vorwurf des „Abfalls“ schmerzlich empfand, entschieden sich die vordem treuesten Anhänger für die kleindeutsche Lösung. Der Kreis der Freunde wurde enger und enger. Da finanzielle Sorgen hinzutraten, übernahm G. im Herbst 1863 die diplomatische Vertretung des Großherzogtums Hessen in Wien. Bald darauf rief ihn eine Neuwahl in die 2. Kammer des Darmstädter Landtages zurück. Hier wie dort hoffte er, dem Einheitsgedanken und den bürgerlichen Freiheitsbestrebungen zu dienen; hier wie dort sah er sich einer verwandelten Zeit gegenüber. Der Abgeordnete trat erst hervor, als er die Begründung des Reichs durch Bismarck aufs freudigste begrüßte; der Diplomat verfolgte das wechselvolle Verhältnis der deutschen Vormächte zu den Mittel- und Kleinstaaten des Deutschen Bundes, ohne irgendwelchen Einfluß zu erhalten. Mit dem Abschluß eines engeren deutsch-österreichischen Bündnisses, das der neue Kanzler des Deutschen Reichs als eine Verwirklichung „Gagernscher Träume“ und als ein organisches, von den Launen der Regenten unabhängiges Verhältnis auslegte, schien ihm, der 1872 aus dem Staatsdienst ausschied und Darmstadt zum Alterssitz wählte, ein wesentliches Ziel seiner Lebensarbeit erfüllt. Für das nach seiner Meinung ausstehende Mitbestimmungsrecht einer Volksvertretung einzustehen, verbot längere Krankheit. Der Nachruf, daß kein deutscher Mann größere Vaterlandsliebe im Herzen getragen habe, verhallte; die Zeitungen hatten ihn vergessen. In der Geschichte der deutschen Einheitsbewegung dagegen verkörpern sein Leben und sein Wirken die Bestrebungen des im Dritten Deutschland wurzelnden Liberalismus und dürfen damit eine Stellung zwischen den Vertretern der beiden „Vormächte“, zwischen Metternich und Bismarck, beanspruchen.

  • Werke

    Weitere W Das Leben d. Gen. Frdr. v. G., 3 Bde., 1856 f.

  • Literatur

    ADB 49;
    K. Buchner, H. v. G., ein öffentl. Charakter, 1848;
    L. Schücking, H. v. G., e. Lichtbild, 1849;
    M. Duncker, H. v. G., e. biogr. Skizze, 1850;
    P. Wentzcke, Zur Gesch. H. v. G.s, Seine Burschenschafterzeit u. s. dt. Pol., 1910;
    ders., in: Nassau. Lb. IV, 1950, S. 151-71 (P);
    ders., H. v. G., Vorkämpfer f. dt. Einheit u. Volksvertretung, 1957;
    ders., Anfänge u. Aufstieg H. v. G.s (1799 bis 1836), 1957;
    ders., Entscheidende J. d. Vormärz, H. v. G. auf d. Wege z. dt. Pol., 1958;
    ders., Ideale u. Irrtümer d. ersten dt. Parlaments, 1959 (P);
    Dt. Liberalismus im Vormärz, H. V. G., Briefe u. Reden 1815–48, bearb. v. dems. u. W. Klötzer, 1959 (L, P: Zeichnung v. E. Ratti);
    H. Petran, H. v. G.s Denken im Wandel d. Ereignisse v. 1850 b. 1859, Diss. Frankfurt 1953 (ungedr.).|

  • Quellen

    Qu.: Nachlaß als Leihgabe im Bundesarchiv Abt. Frankfurt.

  • Porträts

    Zahlr. Stiche v. 1848 nach Biows Lichtbild im Hist. Mus. Frankfurt u. im Bundesarchiv Abt. Frankfurt sowie Originalzeichnung v. E. Ratti;
    Ölgem., Abb. b. E. Ritter, Radowitz, 1948;
    v. A. Burger (G. u. Bassermann im Reichsmin. 1849) (im Bes. d. Fam. Bassermann-Jordan in Deidesheim);
    Lith. v. H. Hasselhorst, Abb. in: Werckmeiter III.

  • Autor/in

    Paul Wentzcke
  • Zitierweise

    Wentzcke, Paul, "Gagern, Heinrich Freiherr von" in: Neue Deutsche Biographie 6 (1964), S. 32-36 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118689150.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Gagern *)Zu S. 237.: Heinrich Wilhelm August Freiherr von G., Sohn des Frhrn. Hans v. G., der auf dem Wiener Congreß eine große Rührigkeit und bedeutenden Einfluß entwickelte und namentlich durch Treitschke's schöne Charakteristik (Historisch-politische Aufsätze, Bd. I) auch heute noch weiten Kreisen lieb und werth ist, wurde geboren am 20. August 1799 zu Baireuth und starb am 22. Mai 1880 zu Darmstadt. Die Familie stammt aus Rügen, ist mit Karl XII. an den Rhein gekommen, wo dann ein Zweig durch Heirathen mit rheinischen Familien mannichfaltigen Besitz erwarb. Der Großvater von Hans v. G. war ein angesehenes Mitglied der oberrheinischen Reichsritterschaft. Er vertrat sie bei ihren letzten Rechtshandlungen auf dem Congreß in Rastatt. Hans v. G. war mit 21 Jahren höchster Beamter des Hauses Nassau-Weilburg und vermählte sich damals mit der katholischen Freiin v. Gaugreben. Die Söhne folgten nach dem Ehevertrag der evangelischen Confession des Vaters, die Töchter der katholischen der Mutter, aber in der freien Luft jener Tage hinderte dieser Unterschied nicht, daß ein reiches und herzliches Familienleben erblühte, der einfach fromme Sinn des Hauses half über die Gegensätze der Kirchen hinweg. Von den zahlreichen Kindern ist außer Heinrich vor allem der älteste Sohn Friedrich im öffentlichen Leben hervorgetreten, ferner noch ein jüngerer Bruder Max. Er war ebenfalls von nationaler Begeisterung erfüllt wie die älteren Brüder, unterschied sich aber von ihnen durch eine Neigung zum Katholicismus, die namentlich seit 1837 stärker auftrat, und durch eine mehr mittelalterliche Auffassung der politischen Verhältnisse. Heinrich v. G. sagte von ihm, er sei fast ein deutscher Legitimist zu nennen. Das sollte heißen, daß Max die Erneuerung von Kaiser und Reich wie ein geschichtlich begründetes aber auch in gewisser Weise gebundenes Recht der Natur behandelte und weniger Gewicht auf die parlamentarische Entwicklung legte, die den älteren Brüdern „als die Vorbedingung der Zeit, als der Weg zum Ziel und als die Farbe der Familie galt“.

    Heinrich v. G. genoß trotz der schweren Zeiten, die den Vater in häufigen Reisen wegführten und das Haus in Weilburg oft mit französischer Einquartierung erfüllten, eine reiche und glückliche Jugend und eine gute Schulbildung. Die trefflichen Lehrer des Weilburger Gymnasiums, die er uns in seinem „Leben des Generals Friedrich von Gagern“ schildert, und der Einfluß des Vaters, „des sanften Weisen“ — des

    Auge zugewandt dem Lichte Im offnen Buche der Natur Erkennt des ew'gen Lenkers Spur Und in den Büchern der Geschichte —

    haben ihn frühzeitig vorbereitet für die Studien und ihm dabei die bestimmte Richtung auf das Vaterland gegeben. Capessite rempublicam, dienet dem Lande, war die Losung, die der Vater durch Wort und Vorbild seinen Söhnen gab.

    Heinrich trat zu dem Bruder Friedrich — namentlich während eines gemeinsamen Aufenthalts in Darmstadt 1823/24 — in ein besonders nahes Verhältniß. Er sah zu ihm, der in holländischen Diensten zu den höchsten Aemtern aufstieg und in allen Erdtheilen heimisch war, mit Stolz empor, aber Friedrich urtheilte schon 1838, daß Heinrich mehr als alle anderen Brüder „Charakter, Muth und hohe Gesinnung gezeigt“ habe (Leben des Generals Fr. v. G. II, 298). G. hatte trotz seiner Jugend bei Waterloo mitgefochten und wurde leicht verwundet wie der Bruder Fritz schon zwei Tage vorher bei Quatre-Bras, er studirte dann in Göttingen und Jena, diente seit 1821 in der Justiz und in der Verwaltung des Großherzogthums Hessen,|wurde 1829 Regierungsrath und 1832 mit einer einflußreichen Stellung in den Ministerien des Innern und der Justiz betraut. An den politischen Kämpfen betheiligte er sich zuerst 1827 und zwar mit einer Schrift „Ueber die Verlängerung der Finanzperioden und Gesetzgebungslandtage“, welche den Antrag bekämpfte, statt der bisherigen dreijährigen Finanzperioden sechsjährige einzuführen. G. rühmt hier die repräsentative Verfassung als ein Mittel „die Kräfte und Gewalten im Staate, das monarchische, aristokratische und demokratische Element zu begrenzen“. 1832 wurde er für Lorsch in den Landtag gewählt, der trotz der kleinen Verhältnisse des darmstädtischen Landes ein wichtiger Schauplatz für den Kampf der Meinungen um die Grundlagen politischer Freiheit in Deutschland gewesen ist. G. war in kräftiger Weise für die constitutionelle Ordnung eingetreten und wurde nun nach Auflösung des Landtags pensionirt. Er hatte nur geringes Vermögen — denn der Vater hatte einen erheblichen Theil seines Besitzes auf dem Wiener Congreß mit Repräsentationspflichten verbraucht und von seinem Fürsten, dem König der Niederlande, keinen Ersatz dieser Auslagen erhalten. Trotzdem nahm G. seinen Abschied und wurde Landwirth, um in dem folgenden Landtag (1835/36) den Kampf gegen die rücksichtslose Gewaltthätigkeit der Regierung unabhängig weiterführen zu können. Mit dem Kampf um die Tagesfragen des kleinen Landes verband G. die Rechtfertigung der nationalen Bewegung, die damals durch das Hambacher Fest, den Frankfurter Putsch und ähnliche Thorheiten der Radicalen und der Brauseköpfe bei den ruhiger Denkenden in Verruf gebracht zu werden drohte und gewann rasch einen mit Verehrung genannten Namen.

    In diesen wegen der kleinlichen Verhältnisse doppelt ärgerlichen Kämpfen war es ihm Trost und Stütze bei dem Vater und den Brüdern Verständniß und offene Aussprache zu finden, wenn man auch keineswegs immer gleicher Ansicht war. „In Sachen der Meinung“, schrieb Fritz am 3. März 1838, „sind Vater und Sohn nicht solidarisch verpflichtet“. Aber man wußte, daß jeder die rechte Meinung suche. Das politische Interesse war nicht auf Deutschland beschränkt, die Familie hatte nach allen Seiten reiche Beziehungen, aber von besonderem Interesse ist ihr Briefwechsel doch für die Beurtheilung der deutschen Entwicklung und des Eindrucks, den Ereignisse wie der Kölner Kirchenstreit und der hannoversche Verfassungsbruch auf wichtige Kreise des Volkes machten. Der Vater wünschte, sein Heinrich möge etwas vorsichtiger auftreten, aber der Bruder Fritz schrieb: „Heinrich hat seine Unabhängigkeit theuer genug erkauft; durch ein schwankendes Juste-Milieu würde er Niemanden gewinnen“. Er billigte namentlich (1837) auch sein Votum für die Einführung des französischen Code in ganz Hessen, da doch ein Gesetzbuch für ganz Deutschland zur Zeit nicht zu hoffen sei (Leben II, 262), bestärkte ihn in seiner Haltung bei einem Besuch auf Heinrich's Gute Monsheim (Leben II, 263) und feierte ihn in einem Gedichte, das trotz der poetischen Form theilweise mehr einer politischen Betrachtung gleicht, aber deshalb für die Beurtheilung der Ansichten der Brüder in jenen Tagen (1838/39) um so lehrreicher ist. Es enthält namentlich eine zornige Ansprache an die deutschen Fürsten, deren Mund die Freiheit pries, so lange des Schicksals Schalen schwankten, deren Uebermuth sich aber vermessen erhob, sobald die Zeiten der Roth vorbei waren.

    Nur eine deutsche Fahne sollte wehen Vom Ostseestrand bis zu der Alpen Höhen Und unsre Losung war: Ein Deutschland sei, Ein Vaterland — groß, mächtig, einig, frei.

    Aber die Fürsten klagen, das deutsche Volk sei nicht mehr zu lenken, seit es durch die Siege über Napoleon zum Selbstgefühl erwacht sei. Sie wollen die Altäre zerstören, auf denen dem „vaterländischen Götzen“ das Opfer brennt. Deshalb sind ihre Stunden gezählt. „Sie sind gewogen und zu leicht befunden.“

    ... sie knieen, Dem Ruf des Vaterlandes taub, Vor fremden Herrschern in den Staub, Die ihrem Dasein Frist verliehen. Getrost die Fürstenehre zu verlieren Sind sie zufrieden, wenn sie nur regieren. (II, 309.)

    Den Bruder Heinrich aber preist der Dichter als den festen Hort des heiligen Rechts.

    Du, den der Flitter nicht besticht, Du, den der Fürsten Zorn nicht schreckt. Du, den der Schild der Ehre deckt .. O laß nicht ab, zu ringen und zu wagen .. Mag kluge Feigheit nach dem Kampfpreis fragen, Wo Ehre ruft, ist Kampf des Tapfern Lust. Wenn alle auch schon muthlos zagen, Den Besten selbst die Hoffnung schwand, — Du sollst dann noch mit fester Hand Des Rechtes fliegend Banner tragen.

    Die Thätigkeit Gagern's im hessischen Landtage verdiente eine ausführliche Darstellung, sie würde uns nicht nur die Entwicklung seiner politischen Laufbahn zeigen, sondern auch das verbreitete Vorurtheil widerlegen, als sei das konstitutionelle Leben dieses Kleinstaates zu unbedeutend, um Aufmerksamkeit zu verdienen. So kleinlich vielfach die Gegenstände waren, um die gekämpft wurde, Männer wie Rotteck, Welcker und Beck in Baden, Gagern und Glaubrech in Hessen, Stüve in Hannover gaben diesen Kämpfen schon an sich Bedeutung. Und vor allem ist nicht zu vergessen, daß diese parlamentarischen Kämpfe bei dem die beiden Großstaaten beherrschenden Absolutismus eine allgemeine Bedeutung hatten. Sie zeigten den Weg der nothwendigen Entwicklung und sie erhielten den Glauben an die Zukunft Deutschlands und an die Möglichkeit monarchischer Ordnung lebendig, ohne den der Radicalismus alle anderen Elemente fortgerissen hätte. Solche Schilderung könnte aber nur in einer ausführlichen Biographie gegeben werden. Hier mag es genügen, daß Gagern's Aeußerung: „die Partei, welche gegenwärtig die Geschäfte im Großherzogthum führe“, als eine Beleidigung der Regierung gedeutet wurde und den Vorwand zu einer Auflösung des Landtags gab, die G. dann im folgenden Landtag am 9. Mai 1834 in einer viel bewunderten Rede als ein schweres Unrecht charakterisirte. Er behandelte hier die Grundsätze des constitutionellen Staatsprincips und widerlegte zugleich die Ansicht, daß die Deutschland erfüllende politische Bewegung eine Nachahmung der französischen Julirevolution sei. Die Elemente jener Bewegung waren früher gegeben. Die Bundesverfassung erfüllte die Hoffnungen nicht, die das deutsche Volk seit den Befreiungskriegen gehegt hat. Der gebildetere und größere Theil der Nation verlangt eine andere Form der Einigung.

    Vielleicht die größte Wirkung erzielte er aber (1836) mit einer Rede für das rheinische Recht der Provinz Rheinhessen. „Die Provinz Rheinhessen“, sagte er, „ist keine von dem Großherzogthum Hessen eroberte Provinz, der man gegen ihren Willen, ohne die öffentliche Meinung zu fragen, mit Gerechtigkeit das Gesetz des ehemaligen Mutterlandes auferlegen könnte“. In dieser scheinbar nur spöttischen Wendung lag ein in echter Staatsgesinnung wurzelnder Protest gegen das Ungehörige, daß eins dieser in den Katastrophen der napoleonischen Zeit durch den Zufall der Aufhebung entgangenen Territorien, denen zum wahrhaften Staate die elementarsten Vorbedingungen fehlten, mit dem schweren Grundsatz der Staatsraison das Rechtsgefühl eines erheblichen Theiles seiner ihm kürzlich zugeschlagenen Bevölkerung vergewaltigen zu dürfen glaubte.

    Und zur Rechtfertigung seiner Forderung, das Justizwesen im Sinne der Oeffentlichkeit und Mündlichkeit zu reformiren, scheute er nicht zurück vor der folgenden scharfen Anklage: „Die Justiz und ihre Organe stehen nicht so isolirt, unabhängig wie ein sich selbst regierender und erneuernder Staat im Staate dar, sie ist ein vielfach eingreifendes und durch verschiedene Kräfte und Einflüsse in Bewegung gesetztes Glied der gesammten Staatsmaschine. Das Bild der Themis, versteinert auf hohem Throne, die Waage und das Schwert in den Händen, mit verbundenem Auge sitzend, unzugänglich von den Seiten, allein mit den Rechtsuchenden beschäftigt, — dies ist eine Allegorie, welcher die Wirklichkeit nicht entspricht. Das Richterpersonal ist abhängig von dem Einfluß der höheren Staatsgewalt und nur zu häufig geneigt dem vermeintlichen Bedürfnisse dieser Staatsgewalt entgegenzukommen“. Mag man heute über manche Mängel der Geschworenengerichte klagen, was G. damals forderte, war in dringenden Bedürfnissen der Zeit begründet, und der Freimuth, den er dem gewaltthätigen Absolutismus gegenüber bewährte, war begleitet und beschirmt von einer vornehmen Form, die auch dem scharfen Vorwurf Gingang verschaffte. Mit diesem Landtag war die erste Periode von Gagern's politischer Thätigkeit beendet, bis 1844 lebte er auf seinem Gute Monsheim, der Politik gegenüber in starker Isolirung (Leben II, 561), aber er begründete nun auch als Landwirth sein Ansehen, sodaß er 1837 zum Präsidenten des Landwirthschaftlichen Vereins in Rheinhessen gewählt wurde. Seit 1844 ließ er sich von dem stärker werdenden Strome der politischen Bewegung, zumal sie auch den maßgebenden Staat Preußen ergriff, von neuem in die Oeffentlichkeit ziehen. 1846 trat er wieder in die hessische Kammer ein und 1847 betheiligte er sich zusammen mit seinem Vater an der Gründung der „Deutschen Zeitung“ (am 8. Mai 1847). Die Haltung Friedrich Wilhelm's IV. dem Vereinigten Landtag gegenüber erfüllte ihn mit der Sorge, daß „der Monarchie nicht bloß sondern auch der auf den preußischen Landtagen überwiegend vertretenen erblichen und Vermögens-Aristokratie tiefe Wunden geschlagen“ seien (Leben II, 678). Das große Vertrauen, das seit den Befreiungskriegen die Vaterlandsfreunde auf Preußen setzten, und das namentlich nach 1830 in Schriften von Paul Pfizer und Dahlmann einen bedeutenden Ausdruck gefunden hatte, war nach Gagern's Ueberzeugung durch die Behandlung, die der König dem Vereinigten Landtag angedeihen ließ, auf das schwerste erschüttert.

    „Die wohlbegründetste und wohlmeinendste Opposition, die je bestanden haben mag, war in schulmeisterhaftem Tone zurückgewiesen, gescholten und den Theilnehmern königliche Ungnade und Feindseligkeit der Regierung zu erkennen gegeben worden ... Mächtig war die Gährung gestiegen, und während Männer von gemäßigten Meinungen, die nach keiner Seite hin mehr Gehör fanden, sich zurückzogen, hatte die öffentliche Meinung der Führung der Radicalen immermehr anheimfallen müssen (Leben II, 692).

    Der Kampf gegen den Radicalismus war denn auch 1848 die erste und schwerste Aufgabe Gagern's und seiner Freunde, und in diesem Kampfe hat G. einen dauernden Sieg errungen. Die Regierungen wichen in den kleinen Staaten überall vor dem ersten Ansturm der ungeregelten Volksmassen, ebenso|in Oesterreich nach der Wiener Erhebung am 13. März und in Preußen nach den Kämpfen des 18. März. Daß sich die tumultuarischen Haufen wieder zur Ordnung zwingen ließen und daß die Bewegung in geordnete Bahnen geleitet wurde, das ist vorzugsweise der Kraft und dem Ansehen der Männer zu danken, die wie G. in Hessen, Welcker, Bassermann, Mathy in Baden, Stüve in Hannover von den Regierungen bisher verfehmt und verfolgt worden waren. „An die Fürsten trat zunächst die Erkenntniß heran — — wie grob sie getäuscht worden waren durch diejenigen, die sie in dem Glauben erhalten hatten, daß es nur eine Handvoll Factioser sei, welche gegen die bestehenden Zustände ankämpften“ (II, 681/82).

    Zunächst galt es den schwachen Keim einer Ordnungspartei, der 1847 mit der Gründung der „Deutschen Zeitung“ durch Gervinus, Häusser, Mathy, Bassermann und ihre Freunde gepflanzt war, zu pflegen. Das geschah bereits vor der Märzbewegung mit großem Erfolg durch die Versammlung der Gemäßigten Reformer in Heppenheim (10. Oct. 1847), an der auch G. theilnahm und durch den Antrag, den Bassermann am 5. Februar 1848 im Badischen Landtag auf Berufung eines deutschen Parlaments einbrachte. G. war mit diesem Antrag, der durch die Berathungen in Heppenheim vorbereitet war, völlig einverstanden. „Bei der schon vor den Pariser Februarereignissen dumpf gährenden Bewegung im Volke“, sagt er (Leben II, 687), „war mit dem Verlangen nach einem deutschen Parlamente ein großes Losungswort gegeben; die monarchisch-parlamentarische Bundesstaatspartei machte es zu ihrem Ausgangspunkte“. G. bereitete einen ähnlichen Antrag in der hessischen Kammer vor, wurde aber von den Pariser Ereignissen überholt und stellte nun am 28. Februar 1848 den Antrag, den Großherzog zu ersuchen in der Bundesversammlung dahin wirken zu wollen „daß unter so dringenden und von Außen Gefahr drohenden Umständen und für die Dauer derselben: 1. die Sorge für den Schutz der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands — insbesondere die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten, des Heerwesens und der Volksbewaffnung — in die Hand eines Cabinets gelegt werde, dessen Minister dem interimistischen Haupt Deutschlands und der Nation verantwortlich seien. 2. Daß das interimistische Haupt Deutschlands Gesetzgebung und Besteuerung in Uebereinstimmung mit einem Rath der Fürsten und einem Rath des Volkes nach den wesentlichen Formen des repräsentativen Systems ausübe und daß die Berufung der Nationalrepräsentation gleichzeitig mit der Ernennung des Bundeshauptes erfolge.

    Damit trat G. in die Bewegung des Jahres 1848 ein, die ihn dann bald an die Spitze trug, und zwar enthielt dieser Antrag bereits den Grundgedanken der Politik, die G. in der Reichsverfassung vom 28. März 1849 zum freilich zunächst nur theoretischen Siege führte. Die Bewegung machte alsbald ungeheuer rasche Fortschritte. „Unter der einverstandenen, wenn auch nicht verabredeten Leitung der monarchisch-parlamentarischen Bundesstaatspartei setzten die vier Forderungen: Preßfreiheit, Schwurgericht, Volksbewaffnung und deutsches Parlament — in welchem sich die Volkswünsche mit nie dagewesener Einmüthigkeit concentrirt hatten, ihren Siegeszug durch ein Volk von 40 Millionen mit unerhörter Schnelligkeit fort“ (Leben II, 690). Vor dieser Bewegung wichen die Regierungen aller Orten in erschreckender Hülflosigkeit, die meisten ohne Kampf, Oesterreich nach dem an sich unbedeutenden Tumulte in Wien am 13. März. „Freiheiten wurden mit vollen Händen gespendet“ (Leben II, 691) und es steigerte sich täglich die Gefahr, daß der Radicalismus die Herrschaft gewinne, aber G. erlebte nun, daß Preußen seine früheren ganz in der Luft schwebenden Verhandlungen mit Oesterreich über eine Bundesreform in dem Patent vom 18. März mit den Grundgedanken der Bassermann-Gagern’schen Anträge vertauschte; G. sah in diesem Patent die Verheißung seiner kühnsten Hoffnungen. Er war jedoch überzeugt, daß es nothwendig sei, die hier verheißenen Reformen so schnell wie möglich durchzuführen, „um gegen die von Außen und von Innen drohende Gefahr in Rüstung zu sein; und weil, was in der Gefahr sich voranstellt und erprobt, Aussicht und Anspruch auf Dauer hat“. Durch Verhandlungen, die sein Bruder Max mit dem preußischen Minister v. Canitz führte (Leben II, 706 f. steht Canitz' Antwort vom 12. März) und durch eine von Nassau ausgehende Circulargesandtschaft süddeutscher Staaten bei den übrigen Regierungen (II, 698 u. 704 ff.) hatte G. schon vorher in diesem Sinne gewirkt, nun aber mußte er seine ganze Kraft aufbieten, um der sich in weiten Kreisen ausbreitenden Stimmung entgegenzutreten, daß der König von Preußen durch den blutigen Kampf gegen sein Volk am 18. März und durch seine Haltung an den folgenden Tagen des Vertrauens unwürdig geworden sei, das ihm das Patent vom 18. März in allen Theilen Deutschlands erworben hatte (Deutsche Zeitung vom 27. März 1848, theilweise abgedruckt Leben II, 719 f.). G. fürchtete, daß diese Stimmung zu einer Spaltung von Nord- und Süddeutschland führe; er sagte im hessischen Landtag am 24. März (Leben II, 718 f.): „Es handelt sich nicht um Sympathien für Personen, sondern ich rede von den Forderungen einer gesunden Politik. Ich frage, ob die Ereignisse der letzten Tage uns bestimmen können, der Krone Preußen die Rolle jetzt nicht mehr zuzugestehen, die eine gesunde Politik ohne persönliche Sympathie bisher ihr zugestanden hat, und diese Frage glaubte ich verneinen zu müssen. Man bietet in Preußen die Hände zum Frieden und zur Versöhnung denen, mit denen man eben in heißer Schlacht gekämpft hat. Wenn dies auf dem Schlachtfeld möglich war — — haben wir nicht erhöheten Beruf die Aufregung zu beschwichtigen, Versöhnung zu vermitteln und eingedenk zu sein, daß wir alle zusammenstehen müssen, um den Bau aufzuführen des einigen Deutschen Reichs, auf der Grundlage der Freiheit und der Liebe zum Vaterlande“.

    Die Stelle ist bezeichnend für die Art von Gagern's Beredsamkeit, für das echte, von der Liebe zur Sache getragene Pathos, mit dem er die Hörer zwang ihm zu folgen. Hier freilich konnte er nicht einfach siegen. Die widerspruchsvolle Haltung Friedrich Wilhelm's IV. wurde namentlich im Westen und Süden allgemein verurtheilt und dadurch gewann das herkömmliche Mißtrauen gegen Preußen zu große Verstärkung. „Die Menge abstrahirt nicht von den Personen auf die Sache. Preußen an die Spitze der deutschen Dinge stellen heißt ihr nichts anderes, als den König von Preußen an diese Spitze stellen“ schrieb in jenen Tagen die Deutsche Zeitung (Leben II, 720). G. sah in solchen Aeußerungen eine Schädigung der guten Sache und empfand es deshalb um so schmerzlicher, daß Preußen nun nichts that, um die Zusage des Königs vom 21. März wahrzumachen: „Ich übernehme heute diese Leitung (der deutschen Fürsten und Völler) für die Tage der Gefahr“.

    G. wurde damals (6. März) als Minister an die Spitze der Regierung Hessen-Darmstadts berufen, aber was er auch hier leistete, bedeutender war doch die Thätigkeit, die er als freier Politiker in den allgemeinen Angelegenheiten Deutschlands entfaltete. Von der Heidelberger Versammlung, die am 5. März zusammentrat, um die Bewegung in geordnete Bahnen zu leiten, wurde G. in den Siebener-Ausschuß gewählt, der eine vollständige Versammlung von Männern des Vertrauens aller deutschen Volksstämme veranstalten sollte, die eine „in allen deutschen Landen nach der Volkszahl gewählte Nationalvertretung“ vorbereite. Der Ausschuß lud die Mitglieder der deutschen Landtage, sowie die Bürgermeister und die Mitglieder der gesetzgebenden Körper der freien Städte, die Stadtverordneten der preußischen Städte — als Ersatz für die durch ihre gleichzeitige Tagung verhinderten Mitglieder des Vereinigten Landtages — und endlich mehrere sonst politisch hervortretende Männer auf den 30. März nach Frankfurt ein. In diesem „Vorparlament“ gewann Heinrich v. G. alsbald bedeutenden Einfluß. Peter Reichensperger, der keineswegs zu seiner Partei zählte, schrieb später (Erlebnisse eines alten Parlamentariers im Revolutionsjahre 1848, Berlin 1882): „Die hervorragendste Persönlichkeit der Versammlung war unbestreitbar H. v. Gagern, — ein Mann von hoher, kräftiger Gestalt und edler Haltung mit einem Jupiterkopf, dem auch die mächtigen Augenbrauen nicht fehlten. Sein innerer Werth entsprach dieser imponirenden äußeren Erscheinung. Er war mit festem praktischem Blicke, sowie mit einfacher, männlicher Beredsamkeit und einer Vaterlandsliebe ausgestattet, die in ihrer Vereinigung vielleicht um so zündender wirkten, weil sie einen gewissen jugendlichen Enthusiasmus nicht ganz verleugneten“. Die Versammlung hatte keine rechtlich begründete Befugniß, aber sie genoß ein ungemeines Ansehen, die einzelnen Regierungen und namentlich der Bundestag beeilten sich den Beschlüssen des Vorparlaments entsprechende Erlasse zu verkünden, und so wurden denn alsbald die Wahlen zur deutschen Nationalversammlung nach Wahlgesetzen vollzogen, die den von dem Vorparlament beschlossenen Grundzügen entsprachen. Auf dem Vorparlament wurde auch die erste Schlacht zwischen der monarchischen Partei und den Radicalen geschlagen, als der verhärtete Fanatiker Struve den Antrag stellte, die Monarchie nebst dem Soldaten- und Beamtenheere abzuschaffen und weiter, daß die Versammlung vereinigt bleiben solle, „bis ein freigewähltes Parlament die Geschicke Deutschlands leiten kann“. Da die Radicalen mit diesem Antrage unterlagen, entfesselten Struve und Hecker am 12. April im badischen Seekreis einen Aufstand, der von badischen und hessischen Truppen am 20. April durch ein Gefecht bei Kandern mit leichter Mühe zerstreut wurde. Aber bei diesem Kampfe fiel der General Friedrich v. Gagern, der gerade auf Urlaub in Deutschland weilte und auf Bitten der badischen Regierung für einige Zeit das Commando übernommen hatte. Baden war in Verlegenheit, man bedurfte eines Mannes von Ruf, und Friedrich v. Gagern hielt es für Unrecht, in solcher Stunde sich dem Vaterlande zu versagen, obschon er nicht einmal Zeit hatte, die Zustimmung seines Königs zu erhalten. Heinrich v. G. empfand den Verlust des welterfahrenen und allezeit getreuen Bruders gerade in diesen schweren Zeiten sehr tief, und der Schmerz wurde vermehrt durch die nicht ohne einen gewissen Anschein der Wahrheit verbreitete Auffassung, daß der General verrätherischer Weise erschossen sei.

    Am 18. Mai wurde die deutsche Nationalversammlung eröffnet. Diese Sitzung verlief unter der Leitung eines Alterspräsidenten so unruhig, daß manche an der Möglichkeit eines gedeihlichen Arbeitens verzweifelten; am folgenden Tage (19. Mai) wurde Heinrich v. G. zum provisorischen Präsidenten erwählt und er gab der Versammlung sofort die Ordnung und die Zuversicht zurück. Zwei so ganz verschiedenartige Menschen wie der jugendliche Rudolf Haym und der scharfe Spötter Detmold hatten darüber den gleichen Eindruck. Haym, der in jenen Sitzungen einer der Secretäre der Nationalversammlung war, schrieb: „Die durch die Stürme des ersten Tages Niedergeschlagenen schöpften frische Hoffnung, als Heinrich von Gagern den Präsidentenstuhl einnahm. Würde und Anstand breiteten sich auf einmal über die Versammlung aus, die Leidenschaften schienen plötzlich niedergehalten und aus Verwirrung und Ungestüm tauchte ein fester Punkt hervor, als eine Leitung, umgeben von|dem Glanze sittlicher Würde gewonnen war“ (Die deutsche Nationalversammlung, S. 9 ff.). Detmold aber schrieb (am 20. Mai) an Stüve: „Mit dem Augenblick, daß Gagern den Vorsitz übernahm, kam ein anderer Geist über die ganze Versammlung. Gagern's Erwählung war ein entscheidender Schlag“. Es war ein Sieg über die nicht sehr zahlreiche aber entschlossene und durch die Schreier der Galerie unterstützte Partei der Republikaner, der aus der Masse der Unsichern und Halben leicht Stimmen zufielen. G. gewann diesen Sieg, indem er in der Ansprache bei Annahme der Wahl die die Versammlung leidenschaftlich erregende Frage beseitigte, ob die Versammlung befugt sei, die Verfassung des deutschen Reichs selbständig zu schaffen oder ob sie sie mit den Regierungen vereinbaren müsse. „Wir haben“, sagte er, „die größte Aufgabe zu erfüllen: wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland, für das gesammte Reich. Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung, sie liegen in der Souveränität der Nation. Den Beruf und die Vollmacht dieses Verfassungswerk zu schaffen, hat die Schwierigkeit in unsere Hände gelegt, um nicht zu sagen die Unmöglichkeit, daß es auf anderem Wege zu Stande kommen könnte. Die Schwierigkeit, eine Verständigung unter den Regierungen zu Stande zu bringen, hat das Vorparlament richtig vorgefühlt und uns den Charakter einer constituirenden Versammlung vindicirt. Deutschland will eins sein, ein Reich, regiert vom Willen des Volkes, unter der Mitwirkung aller seiner Gliederungen. Diese Mitwirkung auch den Staatenregierungen zu erwirken, liegt mit in dem Beruf dieser Versammlung“.

    G. erkannte hier den Grundsatz der Volkssouveränität an — dessen offene Verwerfung damals ebenso tobende wie nutzlose Stürme veranlaßt haben würde. Aber er bezeichnete diesen Grundsatz zugleich als ein Nothrecht und stellte es als selbstverständlich hin, daß die Nationalversammlung sich verpflichtet fühle die Mitwirkung der Regierungen herbeizuführen. Er traf die mittlere Linie, auf der sich die streitenden Ansichten soweit beruhigten, daß die Versammlung in die Arbeit eintreten konnte. Am 30. Mai wurde G. denn auch mit einer überwältigenden Majorität, 499 von 518 Stimmen, für den Juni und dann alle Monat wieder zum Präsidenten gewählt, bis er am 17. December das Amt niederlegte und das Präsidium des Reichsministeriums übernahm. Sein Ansehen behauptete sich auch in den schwierigsten Lagen und es gelang ihm, den Ruhm der unparteiischen Geschäftsführung mit einer führenden Stellung in der Erbkaiserpartei zu vereinen, wenn es gelegentlich auch an Beschwerden und Angriffen nicht fehlte. Namentlich von Karl Vogt, Wesendonck und Grävell sind solche Klagen erhoben (Stenogr. Berichte S. 1922, 1926, 2290 und 2362), aber G. wußte sie mit Ruhe zu erledigen, theils sofort, theils durch Ueberweisung an die zuständige Commission. Wo es Noth that, entwickelte er auch rücksichtslosen Ernst. Einen Antrag, der eine Verhöhnung der Versammlung einschloß, nannte er eine Frechheit. Er sagte dies zwar nicht als Präsident, sondern unter dem Vorsitz des Vicepräsidenten Simson, aber er führte diesen Schlag zur Vertheidigung der Ordnung und setzte dabei unmittelbar seine Stellung als Präsident aufs Spiel. Er führte den Kampf auch glücklich zu Ende. Das Präsidium ging gestärkt daraus hervor (Sten. Berichte S. 2435 ff. u. 2634 ff.). G. hatte eine bedeutende Gabe für das Amt, er hatte den Blick für das Wesentliche, kannte die Geschäftsordnung und wandte sie mit Ruhe an: aber darin lag doch nicht das eigentliche Geheimniß seines Erfolgs als Präsident. Darin waren ihm Andere eher überlegen, namentlich sein Nachfolger Eduard Simson. Dies Geheimniß lag vielmehr in der ganzen Persönlichkeit. „Selten ist“, schreibt Georg Beseler (Erlebtes und Erstrebtes, S. 60), der in ganz besonderer Weise zum Urtheil über diesen Punkt berufen|war, „eine Persönlichkeit von der Natur so reich ausgestattet worden, um die Herzen der Menschen zu gewinnen wie dieser Mann, der mit einer ritterlichen imposanten Erscheinung der Sitten Freundlichkeit verband. Er besaß echte Vaterlandsliebe, Adel der Gesinnung, ein tapferes Gemüth, eine seltene Macht der Rede ... Durch so große Gaben beherrschte er als Präsident die Versammlung, während seine formale Geschäftsführung manches zu wünschen übrig ließ“. Mehr in das Einzelne gehend begründet Rob. v. Mohl in seinen Lebenserinnerungen II, 62 f. ein ganz ähnliches Urtheil. Gagern's „Vorschläge zur Abstimmung ließen manchem Einwande Raum und gaben häufig. Veranlassung zu langem und unerquicklichem Streit“, auch war er nicht selten zu heftig, „er war endlich nicht die verkörperte Unparteilichkeit, denn auch als Vorsitzender ließ er solche, welche er dem Vaterlande für verderblich und für unehrlich erachtete, Abneigung und Verachtung lebhaft fühlen. Gagern's Verdienste und Einwirkungsmittel lagen anders. In ihm traten überwältigend hervor die Großartigkeit der ganzen Erscheinung nach Körper und Seele; der hohe sittliche Ernst, die Gewalt des tönenden Wortes und des strengen Ordnungsrufs, der kühne Entschluß im schwierigen Augenblicke. Die würdige Haltung, das vornehme Wesen, die Festigkeit des Vorsitzenden zierten nicht nur die Versammlung,... sondern diese Tugenden zogen die Versammlung selbst anfänglich in dieselbe Bahn, auf dieselbe Höhe. Nur sehr wenige ganz gemeine Naturen entwanden sich in den schöneren Tagen der Paulskirche diesem Einflusse und es war nicht nur eine Geschäftsmaßregel, sondern eine sittliche Schande, wen ein Ordnungsruf Heinrich Gagern's traf“.

    Größere Reden hielt G. selten, schon um der Leitung der Versammlung seine Kraft widmen zu können, aber auch bei Verhandlungen, in denen er sich so zurückhielt, hatte er auf die Entscheidung großen Einfluß, er lenkte die Versammlung an „unsichtbaren Fäden“, wie ein Beobachter sagte. Bei wichtigen Fragen schauten Viele auf ihn, wünschten durch ihn geleitet und gedeckt zu sein. In dem verzweifelten Kampfe um den Malmöer Waffenstillstand glaubte der ihm damals schon keineswegs mehr besonders freundliche Detmold doch, daß nur G. die verfahrene Sache retten könne (Brief vom 13. Septbr.). G. hat denn auch wirklich durch seine Rede einige Male ganz ungemeine Erfolge davongetragen. Als er am 24. Juni in den Kampf um die Wahl eines Reichsverwesers eingriff, da folgte seiner Rede nach dem stenographischen Bericht: „stürmischer, lang andauernder Beifall von allen Seiten der Versammlung und von den Galerien“. G. befriedigte hier die gegnerische Linke, indem er sagte: „Ich thue einen kühnen Griff und ich sage Ihnen: wir müssen die provisorische Centralgewalt selbst schaffen“. Aber er beruhigte zugleich die rechte Seite, indem er dies nur als eine Sache der Zweckmäßigkeit erklärte. „Ich würde es bedauern, wenn es als ein Princip gälte, daß die Regierungen in dieser Sache gar nichts sollten zu sagen haben.“ Er empfahl dann die Wahl des Erzherzogs Johann von Oesterreich, ohne seinen Namen zu nennen und meinte, auch die Linke werde dieser Persönlichkeit ihre Stimme geben können „nicht weil es, sondern obgleich es ein Fürst ist“. Der Kampf um die Centralgewalt war damit nicht zu Ende, noch vier Sitzungen hindurch tobte er, aber der Sieg blieb dem Vorschlag Gagern's. Sein Vorgehen fand nicht durchaus die Billigung seiner Freunde, und mancher, der ihm sonst nahestand, war der Ansicht, daß seine Rede ein starker Ruck nach links sei (Haym's Brief an Hansemann), aber unzweideutig erschien G. damals als der Führer der Versammlung und nicht bloß der ihm näher stehenden Partei. Als sich dann in Preußen eine nicht ungefährliche Verstimmung über die Wahl zeigte, da sprach G. (in der Dankrede bei seiner vierten Wiederwahl zum Präsidenten|am 31. Juli 1848, Sten. Ber. S. 1277) getrost das stolze Wort: „Der Genius der Nation verläßt uns nimmer. Der Steuermann auf dieser Stelle kann mit schlafferer Hand das Ruder führen und doch wird das Schiff dem großen Ziele glücklich entgegensegeln, das uns gesteckt, dem großen Ziele, zu dem wir zwar noch Strecken vor uns zu durchfahren haben, ehe wir es erreichen; aber das wir erreichen werden trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse, die ihm entgegen sich stemmen, das Ziel der Befestigung der Freiheit, der Gründung der Einheit des Vaterlandes. Alle Theile des Vaterlandes werden diejenigen Opfer ihrer Selbständigkeit bringen, die nothwendig sind, damit diese Einheit möglich werde“. Dieser starke Glaube an Deutschland war seine Kraft, und der Muth, mit dem er trotz aller Schwächen und der Irrungen Preußens an diesem Staate und seinem Berufe festhielt.

    G. hatte ursprünglich beabsichtigt, am Schluß seiner Rede die Wahl des Erzherzogs Johann durch Acclamation vorzuschlagen, hatte es aber dann doch nicht gewagt und er hat deshalb von einigen Freunden viel Vorwürfe hören müssen, allein nach solchen Kämpfen sind die Urtheile selten zuverlässig, und auch das entscheidet nicht, daß G. selbst zugab darin gefehlt zu haben. (Detmold's Briefe an Stüve vom 24. und 26. Juni 1848. Detmold war von G. bei seinem Plane zugezogen. Er war ursprünglich gegen den Plan der Acclamation, klagte aber nachher, daß G. durch sein Zurückweichen alles verdorben habe. Offenbar hatte er einen so starken Eindruck von der Gewalt, mit der Gagern's Rede die Versammlung fortriß, daß er die Zustimmung für sicher hielt.) Wer will aber sagen, ob die Stürme, die ein Antrag auf Acclamationswahl entfesselt hätte, geringer gewesen wären, als das Gezänk der folgenden Sitzung, aus dem doch schließlich Gagern's Meinung siegreich hervorging. G. hat mit seiner Rede unzweifelhaft die Entscheidung der Frage auf das stärkste gefördert und — man darf wol sagen — beherrscht.

    G. dankte die großen Erfolge (am 19. Mai und am 24. Juni) kluger Rücksichtnahme auf die Empfindungen der Linken, und ähnliche Klugheit ließ er auch sonst walten. So bei den leidenschaftlichen Scenen im August, welche der Antrag entfesselte, die Wahl des wegen Landfriedensbruchs flüchtigen Hecker anzuerkennen, und unter den Septembertumulten in Anlaß des Malmöer Waffenstillstands. Während der Verhandlungen über den Waffenstillstand (5. bis 16. Septbr.) hat er nur zur Leitung der Debatte gesprochen und um zu bitten Maß zu halten. „Wir sprechen so oft von der Ehre Deutschlands", sagte er, „hier liegt die Ehre zunächst darin, daß wir diese Verhandlungen mit Würde vornehmen“ (Sten. Ber. S. 2065). Am 16. September stimmte er mit der Majorität für die Erklärung: daß die Nationalversammlung die Ausführung des Waffenstillstands zu Malmö nicht länger hindern wolle, leitete am 18. September während des Aufstandes die Versammlung so ruhig, als ob draußen nichts sich rege, ließ die in der Form einer Petition eingesandte Erklärung der wüthenden Volksversammlung, welche ihn selbst mit der gesammten Majorität vom 16. September für „Verräther des deutschen Volkes“ erklärte, verlesen und überwies sie ohne weitere Bemerkung der Petitionscommission. Am 19. September erhob er sich dann zu einer kurzen aber inhaltreichen Rede. Er gab zunächst der Entrüstung der Versammlung Ausdruck über den Aufruhr und den ruchlosen Mord der beiden Mitglieder der Nationalversammlung, General v. Auerswald und Fürst Lichnowsky, und charakterisirte dann den Aufruhr als den Ungehorsam verblendeter und irregeleiteter Menschen gegen die Nationalversammlung und als ein Verbrechen gegen die Einheit des Vaterlandes. Kein Wort berührte dabei die heikle Frage, wie weit Mitglieder der Nationalversammlung selbst an den Unruhen Schuld|trügen, vielmehr ließ G. in die Worte des Zornes die Milde eines überlegenen Geistes hineinklingen, der da weiß, daß der Friede nur aus dem Streit geboren wird.

    „Ich ehre alle redlichen Ueberzeugungen und so kenne ich gern die redliche Ueberzeugung derer an, die geglaubt haben, es werde besser, dem empfindlichen Gefühl für Nationalehre entsprechender sein, wenn wir den Krieg fortsetzten und den Frieden nicht anstrebten.“ G. hatte wieder den rechten Ton getroffen und sein Einfluß wuchs, obschon er damals bereits von der Linken und von der großdeutschen Partei sehr heftig angefeindet wurde.

    In dieser Zeit kam der Rheinländer Hansemann aus Berlin nach Frankfurt und „der Verkehr mit den geistigen Häuptern der deutschen Nation, die er hier vereinigt sah, war ihm eine wahre Erholung. Er fühlte es lebhaft, wie viel höher das geistige Niveau dieser Versammlung als das der preußischen stand“ (Bergengrün, Hansemann, S. 572). Doch glaubte er, daß Gagern's und seiner Freunde Ziel eines preußisch-deutschen Kaiserthums eine Träumerei sei, er glaubte, daß sich nur eine Verfassung mit einem Directorium, bestehend aus dem Kaiser von Oesterreich, dem Könige von Preußen und einem dritten von den anderen gewählten Fürsten durchsetzen lasse. Indessen wäre dieser Vorschlag nur durchführbar gewesen, wenn die Fürsten und insbesondere Oesterreich eine Hingabe und Selbstlosigkeit entwickelt hätten, die es nie gezeigt hat und auch nicht haben kann. Der verspottete Idealismus Gagern's hat deshalb doch den rechten Weg gewiesen, wenn das Ziel auch nicht im ersten Anlauf erreicht wurde.

    Ausführlich entwickelte G. sein Programm zuerst am 26. October 1848 in der Debatte über die drei ersten Paragraphen der Reichsverfassung, indem er das Verhältniß Oesterreichs zu Deutschland mit rückhaltloser Deutlichkeit besprach und vor allem forderte, daß man sich über die Folgen der Beschlüsse keinen Täuschungen hingebe. „Ist es mehr im Interesse Deutschlands“, fragte er, „daß das gesammte Deutschland sich nur so gestalte, eine so laxe Einheit eingehe, daß Oesterreich ohne zur Trennung der Staatseinheit seiner deutschen mit den nichtdeutschen Provinzen genöthigt zu werden unter gleichen Verhältnissen wie die übrigen deutschen Staaten dem Reich angehören kann? Oder ist es nicht im Gesammtinteresse der Nation sowohl Oesterreichs als des übrigen Deutschlands, daß wenigstens das übrige Deutschland sich fester aneinander schließe ... aber nichts destoweniger ein enges Bundesverhältniß zwischen Oesterreich und dem übrigen Deutschland aufrecht erhalten werde?“ So scharf aber auch G. diese Gedanken klarlegte, so suchten doch die meisten Redner dem Zwange der Thatsachen auszuweichen. Die Oesterreicher namentlich sprachen von der Unmöglichkeit, nach Hause zu kommen mit der Nachricht, daß Oesterreich aus dem deutschen Reiche ausgeschlossen sei, und von der Gefahr, daß das deutsche Element in Oesterreich nach solcher Trennung von den zahlreichen Slaven überwuchert werde. Andere wollten es Oesterreich überlassen, „seine Rolle zu finden“. (Sten. Ber. S. 2896 ff.)

    Inmitten dieser leidenschaftlichen aber doch vorwiegend vom Gefühl und von kraftlosen Wünschen beherrschten Debatten forderte G. die schlichte Anerkennung der Thatsache, daß Oesterreich nicht in gleichem Verhältniß mit den übrigen deutschen Staaten dem deutschen Reiche angehören könne, ohne sich vorher aufzulösen und daß eine solche Auflösung weder wünschenswerth noch auch zu erwarten sei. Aber er sah, daß die Mehrheit zur Zeit sich zu diesem Schritt noch nicht entschließen konnte und er zog deshalb seinen entsprechenden Antrag zurück, um die Zeit der Versammlung nicht durch eine namentliche Abstimmung nutzlos zu belasten. „Die Lösung der Frage, wie ich sie von der Zukunft erwarte, habe ich nach meiner Ueberzeugung darstellen zu müssen geglaubt. Bis zur zweiten Abstimmung über die Verfassung wird die Nationalversammlung Gelegenheit haben, aus den Ereignissen und den entwickelten Ansichten ein Resultat zu ziehen“ (Sten. Ber. S. 2916). Die Entwicklung der Dinge in Oesterreich bildete denn auch seine beste Unterstützung, vorher freilich wurde das Vertrauen auf Preußen durch die schwankende Haltung der Regierung und dann durch die mit der Vertagung der Berliner Nationalversammlung und ihre Verlegung nach Brandenburg (9. Nov. 1848) beginnenden Conflicte auf das schwerste erschüttert. Die Reichsregierung sandte zunächst den Unterstaatssecretär Bassermann nach Berlin, um zwischen König und Volk zu vermitteln, und als Bassermann mit einem Bericht zurückkehrte, der die Regierungsmaßregeln im wesentlichen als berechtigt und nothwendig erscheinen ließ, sandte sie zwei hervorragende Mitglieder des Parlaments, Simson und Hergenhahn (vgl. die Verhandlungen der 119. Sitzung d. deutschen Nationalvers. 20. Nov. Stenogr. Ber. S. 3429 ff.). Diese Commissare überzeugten sich in Berlin alsbald von der Schwierigkeit der Aufgabe und waren der Ueberzeugung, daß wenn überhaupt jemand nur G. vermitteln könne. Simson fuhr deshalb nach Frankfurt zurück und erwirkte die Sendung Gagern's, der dann am 26. und 27. November mit dem Könige unterhandelte und zwar nicht nur über die preußischen Verhältnisse sondern auch über die deutsche Verfassung. Am 30. November war er dann noch zur Tafel geladen. Er suchte den König zu überzeugen, daß er die Kaiserkrone nicht ausschlagen dürfe, aber der König beharrte auf seinem ablehnenden Standpunkt. Persönlich hatte er G. lieb gewonnen, nannte ihn einen „deliziösen“ Menschen. „Es ist nur schade, daß ich ihn nicht verstehe, denn er redet fortwährend in Begeisterung und deren habe ich ohnehin genug. Ich verstehe ihn nicht und er versteht mich nicht.“ (Simson S. 152. Wichtig sind die Mittheilungen von Jürgens, Verfassungswerk I, 316 ff., besonders 318 und 325, über diese Unterhandlungen, zum Theil nach Gagern's eigenem Bericht.) Die Kreuzzeitungspartei, welche jede Verbindung Preußens mit dem Frankfurter Parlament verwarf, gerieth in große Sorge. Leopold v. Gerlach nennt G. freilich in seinem Tagebuche einen „sentimentalen, philanthropischen Schwätzer“ und berichtet mit Behagen eine angebliche Aeußerung der Königin von Württemberg, G. habe in der Zeit seines Hierseins die hochgetragene Nase um mehrere Zoll gesenkt: aber solche Bemerkungen können die Thatsache nicht beseitigen, daß G. damals in Berlin als eine Macht betrachtet und empfangen wurde. Andererseits war es für G. von großer Bedeutung, die Berliner Verhältnisse aus eigener Anschauung kennen zu lernen, auf die er den großen Plan einer deutschen Verfassung gründen wollte: denn bis dahin war G. noch niemals in Berlin gewesen. Diese Thatsache ist typisch für den damaligen Verkehr zwischen den verschiedenen Gebieten Deutschlands, und in diesem Fremdsein lag eine Summe von Schwierigkeiten, die wir uns heute kaum noch recht vorstellen können.

    Während G. in Berlin verhandelte, hatte Oesterreich durch das in Kremsier verkündete Programm vom 27. November 1848 erklärt, „alle Lande und Stämme der Monarchie sollten zu Einem großen Staatskörper“ vereinigt werden. „Erst wenn das verjüngte Oesterreich und das verjüngte Deutschland zu neuen und festen Formen gelangt sind, wird es möglich sein, ihre gegenseitigen Beziehungen staatlich zu bestimmen.“ G. sah darin mit Recht einen Beweis, daß Oesterreich bei der deutschen Verfassung nicht weiter berücksichtigt werden könne (Brief an Hergenhahn und Simson, Eduard v. Simson, Erinnerungen aus seinem Leben, S. 146 f.) und zugleich empfing er bald nach seiner Rückkehr nach Frankfurt die Nachricht von dem Erlaß der preußischen Verfassung vom|5. December 1848, die den Beweis bildete, daß die Kreuzzeitungspartei fern davon war, die preußische Politik zu beherrschen, daß aber die Monarchie wieder gefestigt sei. Und einige Tage später erhielt G. zuverlässige Mittheilungen über unzweideutige Erklärungen des preußischen Ministerpräsidenten, die ihn zu der Erwartung berechtigten, Preußen werde doch den Weg der deutschen Reform betreten, den G. mit der Majorität des Frankfurter Parlaments zu bahnen sich bemühte (Bericht e. Mitgliedes der deutschen Nationalvers. über eine Unterredung mit dem preuß. Ministerpräsidenten bei Simson, S. 153—160). Diese Thatsachen widerlegen die Beschuldigung der Großdeutschen und der ihnen verbundenen Demokraten, daß G. für die preußische Spitze eingetreten sei, obwol er gewußt habe, daß Preußen sich versagen werde. G. rechnete auf das Gewicht der Thatsachen, die ihn schon vor 1848 mit Hoffnung erfüllt hatten und nun kamen ihm in den entscheidenden Decembertagen jene Nachrichten, dazu gewiß noch manche ähnliche Ermunterungen, denn es umgaben ihn ja Männer wie Max Duncker, Dahlmann, Rümelin. So ergriff er denn mit dem ganzen Feuer seines begeisterten Wesens den Gedanken, daß die Stunde gekommen sei, die große Frage zu lösen und aus den theoretischen Erörterungen über Trias und Monas, über Bundesstaat und weiteren Bund hinauszukommen auf den festen Boden klarer Verfassungsbestimmungen. Am 14. December wurde der Oesterreicher Schmerling von der ihn bis dahin mit Eifer unterstützenden und persönlich verehrenden Majorität veranlaßt, der ablehnenden Haltung Oesterreichs Rechnung zu tragen und das Ministerium niederzulegen, das nun G. übernahm (über Schmerling's Stellung Jürgens 2, 120 f.). Mancherlei Leute haben das damals und später als einen Fehler getadelt. Dadurch sei Schmerling erst recht auf die Seite der Gegner gedrängt worden. Allein Schmerling konnte keine Politik leiten, die dem Willen Oesterreichs und seines Ministeriums Schwarzenberg entgegen war, und Oesterreich konnte und wollte keine Entwicklung der deutschen Verhältnisse dulden, die über die losen Formen des alten Bundes wesentlich hinausführte. Wollte die Nationalversammlung ihre Arbeit nicht selbst aufgeben, so mußte sie fordern, daß die Reichsregierung jenen Tendenzen Schwarzenberg's entgegentrete. Man täusche sich auch nicht mit der Hoffnung, daß Schwarzenberg auf ein Reichsministerium mit dem Oesterreicher Schmerling größere Rücksicht genommen hätte — das hat Schwarzenberg auch nicht gethan, so lange Schmerling Minister war. Ueberdies blieb ja der österreichische Erzherzog Johann auch in der Gagern’schen Periode Reichsverweser und damit Träger der Reichsgewalt. Wenn überhaupt, so mußte Schwarzenberg auf diese Persönlichkeit Rücksicht nehmen. Gewiß können auch in schweren Krisen durch persönliche Beziehungen manche Schritte erleichtert werden, aber die Klarheit und Bestimmtheit in den großen Verhältnissen darf nicht darunter leiden. Schmerling's Rücktritt war eine Nothwendigkeit, es gehört zu den wichtigsten Verdiensten Gagern's und seiner Freunde, daß sie sich dieser Erkenntniß nicht verschlossen und ohne Rücksicht auf Klagen und Anklagen danach gehandelt haben.

    G. erklärte vor dem Eintritt in das Amt dem Reichsverweser: „daß seine Wirksamkeit als Minister sich darauf richten werde, die Würde des Reichsoberhauptes der Krone Preußens erblich zu übertragen“ (Duncker, Zur Geschichte, S. 73, dazu die Erklärung Gagern's in der 137. Sitzung, 16. Dec. 1848, Sten. Ber. S. 4223) und am 18. December entwickelte er dann in der Nationalversammlung sein Programm, zugleich als das Programm des gesammten Reichsministeriums. Er begann (Sten. Ber. S. 4233) mit dem Satz: „Ein Gefühl der Nothwendigkeit, ein heißes Verlangen durchdringt das Volk: daß das Verfassungswerk schnell vollendet sein möge“. Aus dem Gange der|Dinge in Oesterreich stellte er dann fest, daß „Oesterreich ... als in den zu errichtenden deutschen Bundesstaat nicht eintretend zu betrachten“ sei, und daß „Oesterreichs Unionsverhältniß zu Deutschland mittelst einer besonderen Unionsacte zu ordnen (sei) und darin alle die verwandtschaftlichen, geistigen, politischen und materiellen Bedürfnisse nach Möglichkeit zu befriedigen, welche Deutschland und Oesterreich von jeher verbunden haben und in gesteigertem Maaße verbinden können“. Damit hatte G. die schwebenden Fragen in ihrem Kern angefaßt und zur Entscheidung gestellt. Um dies Programm erhob sich deshalb ein leidenschaftlicher Sturm, namentlich von Seite der Oesterreicher, der Ultramontanen und der Particularisten; der alte Gegensatz der Linken und der Conservativen wurde vielfach verschoben und durchbrochen, es fanden sich alte Gegner zusammen und bisherige Freunde wurden getrennt. Schmerling, jetzt Bevollmächtigter Oesterreichs bei der Reichsregierung, suchte die österreichische Regierung zu bewegen, ihre Erklärung so zu mildern, daß ihre Abneigung gegen eine den Wünschen der Majorität entsprechende Reform der Bundesverfassung weniger bestimmt hervortrete; er hatte aber wenig Erfolg, wurde von seiner Regierung sogar nur schlecht unterrichtet und lud dabei den Verdacht der Zweideutigkeit in steigendem Maaße auf sich, der dann im März 1849 in heftigen Scenen zum Ausdruck kam (Sten. Ber. 5945 und 6003).

    G. suchte mit Schmerling ein gutes Verhältniß zu wahren und hielt auch mit anderen abweichend denkenden Mitgliedern des Parlaments die Verbindung aufrecht, aber er konnte nicht hindern, daß er von vielen auf das heftigste geschmäht und verlästert wurde. Detmold, der noch am 19. November 1848 schrieb (Stüve-Detmold, S. 132), daß er mit G. sehr befreundet sei, erging sich bald in immer gröberen Angriffen gegen ihn. Detmold war geneigt, die Haltung Gagern's auf Beseler's, Bunsen's und Anderer Einfluß zu schieben (Stüve-Detmold, 15. Dec. 1848, S. 147, 150, 154, 161, 167 und sonst). Jürgens klagte über Gagern's Schwanken. Aber was so schien, kann doch mehr nur in der liebenswürdigen Form gelegen haben, mit der G. den Ansichten der früheren Freunde entgegenzukommen suchte: in der Hauptsache hielt G. seinen Weg ganz fest und erwies sich gerade in diesen Krisen als der Führer, auf den alle sahen. Das bewies er der Erklärung des österreichischen Ministeriums vom 28. December 1848 gegenüber, in der die Gegner eine Abschwächung des Programms von Kremsier zu erkennen sich bemühten, in den Reden vom 11. Januar und vom 13. Januar (Sten. Ber. 4562 ff. u. 4646 ff.). Namentlich in dieser zweiten Rede trat er den unklaren Vorschlägen der Particularisten und der Gefühlspolitiker mit dem größten Erfolge entgegen. „Wenn der offene und ehrliche Wille Oesterreichs dargethan wird“, sagte er, „mit seinen deutschen Provinzen in den Verfassungsstaat einzutreten, den wir mit den Eigenschaften des Bundesstaates zu bilden im Begriff stehen ... ich würde es für die beste That meines Lebens betrachten, wenn ich auch nur ein Geringes dazu hätte beitragen können“.

    Eine entscheidende Wendung kam dann durch die Verkündigung der österreichischen Verfassung vom 4. März 1849, welche alle Habsburgischen Lande, auch Ungarn, in dem Einheitsstaate Kaiserthum Oesterreich so zusammenfaßte, daß den deutsch-österreichischen Ländern dadurch ein Theilnehmen an einem deutschen Bundesstaate unmöglich gemacht wurde. Mit dieser Thatsache mußte sich die Frankfurter Nationalversammlung auseinandersetzen. Sie zerfiel damals in drei Hauptgruppen, die sich dann selbst wieder aus mannichfaltig verschiedenen Elementen zusammensetzten. 1. Die Erbkaiserlichen. Sie wollten das Programm Gagern's durchführen. 2. Die Großdeutschen. Sie wollten keine Verfassung gutheißen, an der Oesterreich nicht theilnehme. Die meisten|Oesterreicher und Baiern, dann Particularisten aus den verschiedensten Staaten und Ultramontane fanden sich hier zusammen. 3. Die Linke. Sie sah in der Oberhauptsfrage eine Verirrung, und benutzte den Streit der beiden anderen, mehr conservativen Gruppen, um die Verfassung möglichst demokratisch zu gestalten. Unter den Großdeutschen hatte Welcker einen bedeutenden Einfluß. Noch am Abend des 11. März hatte er in der Parteiversammlung den verhängnißvollen Eindruck jener österreichischen Verfassung zu mildern und die Folgerungen der Erbkaiserlichen aus dieser Verfassung zu bekämpfen gesucht. Aber er kannte damals diese Verfassung noch nicht in ihrem Wortlaute. Als sie ihm dann nach Schluß jener Versammlung, vielleicht erst am Morgen des 12. März, zu Händen kam, überzeugte er sich, daß G. doch Recht hatte, daß Oesterreich in einen deutschen Bundesstaat mit einer den bisherigen Beschlüssen der Nationalversammlung auch nur irgendwie entsprechenden Verfassung nicht eintreten wolle: und nun zauderte er auch nicht, alle seine früheren Wünsche fallen zu lassen. „Die Zeit drängt“, sagte er, „das übrige Deutschland desto fester, desto stärker, desto inniger zu vereinigen". In diesem Sinne stellte er am 12. März den Antrag: „Die gesammte deutsche Reichsverfassung, so wie sie jetzt nach der ersten Lesung mit Berücksichtigung der Wünsche der Regierungen von dem Verfassungsausschuß redigirt vorliegt, wird durch einen einzigen Gesammtbeschluß der Nationalversammlung angenommen, und jede etwa heilsame Verbesserung den nächsten verfassungsmäßigen Reichstagen vorbehalten“. Der Antrag wurde nach einer leidenschaftlichen Debatte am 21. März abgelehnt. Die Kaiserpartei faßte diese Niederlage zunächst als ein Vorzeichen auf, daß sie überhaupt die Majorität in der Versammlung verloren habe und G. nahm deshalb mit dem gesammten Ministerium seine Entlassung (am 21. März). Der Reichsverweser bat nur, daß die Minister die Geschäfte bis zur Bildung eines neuen Ministeriums weiterführen möchten, und in dieser Stellung, als interimistischer Geschäftsträger, hat G. dann bis zum 10. Mai verharrt. Der Reichsverweser fand bis dahin keine anderen Minister. Diese größere Freiheit gestattete G. an den Arbeiten eifrig theilzunehmen, durch welche die Kaiserpartei sich aus ihrer Betäubung sammelte und in den folgenden acht Tagen die zweite Lesung der Verfassung beendete und sie, wenn auch mit einigen Abänderungen, zur Annahme brachte. Am 28. März wurde dann Friedrich Wilhelm IV. als König von Preußen auf den Grund dieser Verfassung zum Kaiser gewählt — und damit das Ziel erreicht, das sich G. und seine Freunde gesteckt hatten. Die Majorität wurde hierbei nur gesichert durch einen am 26. März 1849 geschlossenen Vertrag Gagern's mit der von Heinrich Simon geführten Gruppe der demokratischen Partei, durch den sich G. mit einer großen Zahl seiner Freunde verpflichtete, für das suspensive Veto und für das radicale Wahlgesetz zu stimmen, wogegen Simon und seine Freunde ihre Stimmen für den Erbkaiser und die Wahl des Königs von Preußen zusicherten. Auch hier opferte G. das Kleinere, um die Hauptsache zu sichern, und er blieb fest, obgleich er deshalb in der maßlosesten Weise verdächtigt, verhöhnt und verleumdet wurde.

    Es war etwas Großes, es war ein unvergeßlicher Markstein in der Entwicklung unseres Volkes, daß die Reichsverfassung vollendet und Preußens König zum erblichen Kaiser des deutschen Reiches erwählt wurde. Auch die Gegner standen unter diesem Eindruck. G. aber und seine Freunde bewahrten diese stolze Ueberzeugung zuversichtlich auch dann noch, als der zur Zeit in Preußen regierende König die Krone des Reiches nicht annahm. Die Gegner jubelten und höhnten, die einen mit legitimistischen, die anderen mit radicalen Argumenten, aber in der Stille konnten sie sich doch des Gedankens nicht|erwehren, daß mit dieser Ablehnung Werth und Wesen der Reichsverfassung und des Erbkaiserthums nicht beseitigt sei, daß Gagern's Politik einen ungeheueren Erfolg, einen unverlierbaren Ausdruck gewonnen, daß G. dem politischen Denken seines Volkes reicheren und besser geklärten Inhalt und eine fortwirkende Kraft verliehen habe. Zunächst freilich kam für die Kaiserpartei eine schwere Zeit. Sie verlor fast täglich an Anhängern, da die gemäßigten Leute anfingen aus der Versammlung auszuscheiden, und viele so erschöpft waren, daß sie sich ganz oder fast ganz von den Kämpfen zurückzogen. Die Linke benutzte nun ihre steigende Macht zu den wildesten Angriffen gegen die Kaiserpartei. Die Ablehnung der Krone durch Friedrich Wilhelm IV. schien ihre schlimmsten Anklagen gegen die Fürsten zu rechtfertigen. Zugleich stieg im Volke die Aufregung gegen die Fürsten, welche mit der Anerkennung der Reichsverfassung zögerten, und die Linke des Parlaments hoffte, diese Aufregung zu einer allgemeinen Bewegung gegen die bestehenden Regierungen benutzen zu können. Die kleinen Fürsten unterwarfen sich schnell, die Könige dagegen sträubten sich, aber schon am 25. April sah sich der König von Württemberg gezwungen, die Anerkennung der Reichsverfassung mitsammt dem Erbkaiserthum auszusprechen und sein Minister Römer scheute sich nicht, öffentlich zu erklären (22. April): „Wenn sich die Könige von Baiern, Sachsen und Hannover nicht unterwerfen, so werden sie ihre Völker dazu zwingen“.

    G. durfte hoffen, daß Preußen selbst seine Bedenken fallen lassen werde, nachdem alle Einzelstaaten ihre Zustimmung erklärt haben würden, wenn es nur gelinge, bis dahin die gesetzliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Um die ungeheuere Bewegung des Volkes auf ein gesetzliches Ziel zu richten, empfahl G. deshalb am 4. Mai den Antrag: „Als den Tag der Eröffnung des ersten deutschen Reichstages den 22. August zu bezeichnen und die Wahlen dazu auf den 15. Juli anzusetzen“. Ferner den weiteren Antrag: Sobald Preußen die Reichsverfassung anerkannt hat, „geht damit von selbst die Würde des Reichsoberhauptes gemäß § 68 ff. auf den zur Zeit der Anerkennung regierenden König von Preußen über". Bis dahin sollte der Herrscher des jeweils größten der die Reichsverfassung anerkennenden Staaten als Reichsstatthalter die dem Kaiser zustehenden Functionen ausüben. Zugleich suchte er die Linke zu beruhigen und sie zu hindern, der provisorischen Centralgewalt Unmögliches zuzumuthen und ihren Bestand in Frage zu stellen, „denn sie sei zur Zeit der einzige noch unbestrittene Ausdruck der Einheit“. Aus diesem Gefühl heraus hatte er auch die Bemühungen der Mohl und Simson unterstützt, welche den Reichsverweser bewogen, in seiner Stellung auszuharren, als er sie nach der Kaiserwahl niederlegen wollte. Man hat das getadelt, weil der Reichsverweser später thatsächlich zu einem Werkzeuge Oesterreichs wurde, um die Unionspolitik Preußens zu hindern, aber das geschah doch nur, weil Preußen schwankend war. Jedenfalls wurde so noch Raum gewonnen für die Verhandlungen und Maßregeln, welche die Aussicht auf eine Durchführung der Reichsverfassung offen hielten. Man ist heute geneigt, diese Hoffnung zu unterschätzen. Aber Mitte April äußerte selbst ein so leidenschaftlicher Gegner Preußens wie der spätere Reichsminister Detmold, daß auch Baiern nicht fest sei im Widerstande und daß man sich in Berlin doch vielleicht zur Annahme entschließe. Und der österreichische Gesandte Graf Prokesch-Osten schrieb gar noch im Mai ähnlich aus Berlin.

    Aber durch alle diese Hoffnungen machte bald die Revolution einen Strich, welche sich namentlich in der Pfalz, in Baden und in Dresden, aber auch in einer Reihe von preußischen Städten erhob, um die Durchführung der Reichsverfassung zu erzwingen. Die Linke des Parlaments wollte diese Erhebungen|für legitim und die Fürsten für Rebellen erklären. Die Revolution sollte im Schutz des Parlaments und unter seiner Leitung die Reichsverfassung durchführen. G. und seine Freunde setzten sich dem entgegen, aber sie konnten doch nicht umhin die Volksbewegung zu Gunsten der Reichsverfassung gutzuheißen, sie forderten nur, daß diese Bewegung in gesetzlichen Bahnen bleibe. Sie scheuten sich sogar nicht, das Einrücken preußischer Truppen in Sachsen und ihre Unterwerfung der Stadt Dresden, welche sich im Namen der Reichsverfassung erhoben hatte, zu tadeln, freilich nur oder mehr nur als einen Eingriff in das Gebiet der Centralgewalt: aber sie widerstanden tapfer dem maßlosen Wüthen und Toben der Karl Vogt und Genossen und Anträgen wie dem von Wirth aus Sigmaringen: „Das deutsche Volk sei zu den Waffen zu rufen und aufzufordern, die rebellischen Fürsten zu vertilgen“. In diesen Kämpfen stand G. in der vordersten Reihe, und als die Radicalen am 7. Mai 1849 seine feierliche Mahnung, nicht zu vergessen, daß Preußen ein deutscher Bruderstamm sei, verlachten, da rief er: „Buben lachen darüber“. Den Ordnungsruf des Präsidenten nahm er bescheiden hin und so, daß die Gegner des Triumphes vergaßen und sich selbst schämen mußten (Sten. Ber. S. 6458).

    Gerade damals zeigte Preußen wieder (durch eine Denkschrift vom 9. Mai), daß es den Grundgedanken von Gagern's Programm gern durchzuführen wünschte: aber die Stellung Gagern's in Frankfurt wurde rasch unhaltbar. Er führte die Geschäfte seit dem 21. März nur „interimistisch“, aber doch als wirklicher Leiter der Politik, in seinem eigenen Geiste, und der Reichsverweser fügte sich, so unbequem es ihm als Oesterreicher etwa auch sein mochte, den Fürsten, welche ihr Land der Reichsverfassung unterwarfen, seinen Dank auszusprechen. Aber wie die Majorität der Erbkaiserpartei zusammenschwand, da erhoben sich auch die großdeutschen Tendenzen des Reichsverwesers zu erneuter Stärke. G. brachte die Sache zur Entscheidung, indem er am 8. Mai 1849 dem Reichsverweser ein Programm des Ministeriums zur Durchführung der Reichs-Verfassung auf gesetzlichem Wege vorlegte. Da der Reichsverweser es ablehnte, so gaben die Minister am 10. Mai von neuem ihre Aemter in die Hand des Reichsverwesers zurück (Sten. Ber. S. 6496). Es schien, als ob es dem Reichsverweser nicht gelingen werde, ein Ministerium zu bilden, aber am 16. Mai fand er in Grävell und Detmold den Kern eines neuen Ministeriums, das zwar fast von dem ganzen Parlament mit Hohn und Spott aufgenommen wurde, das aber doch dem Reichsverweser die hinreichende Stütze gewährte, um sich bis in den Herbst zu behaupten und nach mancherlei Seiten hin Einfluß zu üben. In diesen Tagen steigerte sich der Einfluß der radicalsten Elemente in der Versammlung so, daß G. und seine Freunde keine Möglichkeit mehr hatten, einen nützlichen Einfluß zu üben und bei den Verhandlungen über das Programm des Ministeriums Graevell-Detmold sowie aus Anlaß der preußischen Verordnung vom 14. Mai, welche das Mandat der im preußischen Staate für die deutsche Nationalversammlung gewählten Abgeordneten für erloschen erklärte und ihnen jede weitere Theilnahme an den Verhandlungen verbot, kam es namentlich am 16. und 18. Mai zu bedeutenden und theilweise sehr heftigen Debatten. Auch sehr ruhige und keineswegs radical gesinnte Abgeordnete aus Preußen wie Arndt, Dahlmann, Droysen, Stenzel bestritten der preußischen Regierung das Recht, einen derartigen Befehl zu erlassen, und dieser Umstand schien einen Augenblick wieder eine Brücke der gemeinsamen Auffassung zwischen ihnen und der Linken herzustellen, aber in den nächsten Tagen gestaltete sich die Versammlung unter der Herrschaft der Linken — in den Beschlüssen vom 19. Mai über die Wahl eines Reichsstatthalters — mehr und mehr zu einem auch die Regierung an sich reißenden Convent und deshalb|erklärten am 21. Mai 1849 81 Abgeordnete ihren Austritt. Darunter 65 mit einer gemeinsamen Begründung, unter ihnen G., Simson, Dahlmann und die anderen Führer der Erbkaiserpartei, von der nur noch 30 zurückblieben. Sie führten aus, „daß die Reichsverfassung vom 28. März der einzige unter den gegebenen Verhältnissen zu erreichende Ausdruck einer friedlichen Lösung und einer Versöhnung der Interessen und Rechte der verschiedenen deutschen Stämme, Staaten und Dynastien war, daß in Ermangelung eines von den Regierungen vorgelegten Verfassungsentwurfes und bei der Schwierigkeit, die vielen unter sich widerstreitenden Interessen zu einer Vereinbarung zu bewegen, die constituirende Nationalversammlung eine schiedsrichterliche Stellung zwischen Regierungen und Völkern einzunehmen berufen war, und daß keine andere Macht ersetzen kann, was in dem Bewußtsein der Nation als der freie Ausdruck ihrer Selbstbestimmung bereits gewurzelt hat. Nach der Berufung der mächtigsten deutschen Krone an die Spitze des neuen Bundesstaates, nach der darauf folgenden Anerkennung von 29 Regierungen und der wachsenden Zustimmung der großen Mehrzahl der gesetzlichen Organe in den übrigen deutschen Staaten war nur das Eintreten des erwählten Reichsoberhauptes zu erwarten, um die Durchführung der Reichsverfassung auf einem glücklichen und friedlichen Wege zu sichern. Von dieser Ueberzeugung geleitet, haben die Unterzeichneten bisher zu allen Beschlüssen mitgewirkt, welche die Anerkennung der Reichsverfassung in jedem Einzelstaate durch die landesverfassungsmäßigen Mittel und durch die Macht der öffentlichen Meinung herbeiführen konnten, zuletzt noch zu dem Beschlusse vom 4. Mai, welcher das Ausschreiben der Wahlen zum ersten ordentlichen Reichstage einleitet. Zu ihrem tiefen Schmerze haben sich die Ereignisse anders gestaltet und die Hoffnungen des deutschen Volkes drohen so nahe der Erfüllung zu scheitern". Denn auf der einen Seite hätten sich vier Regierungen, darunter die preußische, vereinigt zur Ablehnung der Reichsverfassung, auf der anderen aber suche eine revolutionäre Bewegung aus der Reichsverfassung die Bestimmung über die Oberhauptsfrage zu beseitigen. Zwischen diesen Parteien drohe der Bürgerkrieg. In dieser Lage „haben die Unterzeichneten die Ueberzeugung gewonnen, daß die Reichsversammlung in ihrer gegenwärtigen Lage und Zusammensetzung, wobei ganze Landschaften nicht mehr vertreten sind, dem deutschen Volke keine ersprießlichen Dienste mehr zu leisten vermag“. In dieser Erwägung hätten sie sich zu dem Entschlusse vereinigt aus der Versammlung auszuscheiden.

    Mit diesem Acte endete Gagern's Frankfurter Zeit, aber noch nicht der Kampf für das Reich; in Gotha (Juni 1849) und auf dem Unionsparlament in Erfurt (März, April 1850) hat er weiter dafür gestritten. Dann trat er als Major in die schleswig-holsteinische Armee ein, um von dem Vaterlande wenigstens die Schmach abwenden zu helfen, die hier drohte. Aber Preußen und Oesterreich machten dem Kampfe bald ein Ende (Anfang 1851). In diesen Jahren 1848—50 hatte G. eine ungemeine Stellung eingenommen und sein Name wurde in allen Theilen Deutschlands mit Verehrung genannt. Wir sahen, daß er im November 1848 in Berlin wie eine Macht empfangen wurde, seine Reise zur Jubelfeier der Grundsteinlegung des Kölner Domes (August 1848) war ein Triumphzug, und als sich die Genossen der Kaiserpartei am 26. Juni 1849 in Gotha versammelten und nach lebhaften Berathungen den Beschluß faßten, für die von Preußen auf Grund des Dreikönigsbündnisses vom 26. Mai 1849 veröffentlichte Verfassung einzutreten, weil in ihr doch das Wesentliche der Reichsverfassung erhalten sei, da wurde G. wiederum auch von so selbstbewußten Männern wie Simson (Ed. v. Simson, S. 220) und Mathy (G. Freytag, Karl Mathy, S. 323) als der allgemeine Führer und der|eigentliche Repräsentant der deutschen Einheitsbewegung gefeiert. Die größten Huldigungen wurden G. aber bereitet, als er im October 1849 nach Bremen fuhr, um bei der Taufe eines großen Handelsschiffes auf den Namen Heinrich v. Gagern zugegen zu sein. Auf der Fahrt, dann in Bremen, Hamburg und Kiel, überall wurde G. mit der größten Begeisterung gefeiert, die Schiffe im Hafen hatten geflaggt, und als er eine amerikanische Fregatte besichtigte, die vor Bremerhaven lag, da ließ der Kapitän ihm zu Ehren 21 Salutschüsse abfeuern und erwies ihm und seinen Begleitern auch sonst Ehren wie dem Fürsten des Landes.

    In der folgenden Zeit der Reaction lebte G. als Privatmann in Heidelberg und bewahrte treu seinen Glauben an die Zukunft seines Volkes, so daß er in dem Leben seines bei Kandern gefallenen Bruders Friedrich die politische Bewegung Deutschlands in demselben Geiste schildern konnte, in dem er einst daran theilgenommen hatte (vgl. besonders Leben des Generals II, S. 691—776). Es fehlte ihm auch in dieser Zeit nicht an gelegentlichen Anerkennungen. So überreichten ihm 1852 am 31. August seine Verehrer in Heidelberg eine Gedenktafel und bei dem folgenden Festmahl sprach G. in würdiger Weise von der Grundlosigkeit der Angriffe, welche die Republikaner gegen die Politik der Erbkaiserpartei richteten, das deutsche Volk sei in seiner großen Mehrheit monarchisch gesinnt. Er warnte auch vor Verzweiflung an der Zukunft und zeigte, daß er seine alte Hoffnung auf das Kommen des Reiches lebendig zu erhalten wußte (Augsburger Allgemeine Zeitung, 31. August 1852, Nr. 244, S. 3890). Aber freilich erfuhr G. doch auch damals schon, wie unbeständig die Gunst der Menge ist, und zwar in hohem Maaße. In der Vorrede zu dem ersten Bande des Lebens seines Bruders Friedrich, die vom 15. Februar 1856 datirt ist, hat sich G. darüber ausgesprochen. Er habe mit der Herausgabe des Lebens zum Theil deshalb gezögert, weil sich auf die von ihm in den Kämpfen vertretene Mittelpartei nach dem Scheitern des Werkes der Haß der Extremen von rechts und links gestürzt habe. Zu ihnen hätten sich die Schwankenden gesellt, die es dann „für ihre gegebene Rolle“ halten: „die wirklichen oder vermeintlichen Fehler und Schwächen der früheren Parteigenossen um so lauter zu verkünden, je mehr ihnen daran liegen wird, bei der neuen Partei den bezeigten Eifer für die frühere vergessen zu machen. Unter solchem vae victis verfiel der Name G. für längere Zeit einer um so verbreiteteren und erbitterteren Ungunst, je betäubender für die Menge der Rausch der vorausgegangenen Gunstbezeugungen gewesen war, bei denen jedoch der, dem sie hauptsächlich galten, sich bewußt ist, so nüchtern und unbeirrt als später unverbittert geblieben zu sein. Das Andenken des Bruders unter dieser verbreiteten Ungunst gegen den Namen nicht mitleiden zu lassen — das war die Ursache der bisherigen Zögerung, meine Schuld gegen ihn abzutragen“. Beispiele solchen Umschwungs im Urtheile über G. bietet A. Reichensperger's Schilderung über Gagern's Auftreten in Erfurt, Unionsparlament April 1850 (Pastor, Aug. Reichensperger I, 324): „Herr v. G. tragirte, gesticulirte klassisch wie immer; die hohen Brauen und die Löwenstimme thaten ihre Schuldigkeit nach wie vor — der Mann war einmal zu groß; jetzt nachdem die Stelzen unter ihm abgeschnitten sind, erscheint er vielleicht zu klein“. Im September 1848 hatte aber Reichensperger von Gagern's Rede geschrieben: „Unser herrlicher Präsident hat eben in einer wahrhaft erschütternden Rede den Eindruck der letzten Stunde geschildert“, ib. I, 264. So ändert sich für Reichensperger das Urtheil, sobald sich der Standpunkt ändert. 1848 war ihm G. der Führer im Kampf gegen die Anarchie, 1850 der unbequeme Kämpfer für die den Ultramontanen unbequeme Hegemonie Preußens in Deutschland. Gagern's|Begeisterung für sein Ideal erschien dem Gegner als Phrase, als sinnlose Aufregung. Aus jenen Tagen stammt auch die ähnliche, nur noch weniger gerechte Schilderung Bismarck's (Gedanken und Erinnerungen I, 67).

    Als im J. 1855 Max v. Gagern, der jüngere Bruder Heinrich's, in österreichische Dienste trat, und zwar in das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, schien dieser Vorgang dem preußischen Minister v. Manteuffel wichtig genug, darüber eine Denkschrift entgegenzunehmen (bei Poschinger, Unter Friedrich Wilhelm IV. Die Denkwürdigkeiten des Ministers v. Manteuffel III, 43). Darin wurde ausgeführt, daß Max v. G. die ihm schon aus wirthschaftlichen Gründen sehr erwünschte Stellung nicht ohne weiteres angenommen habe, sondern erst, nachdem er mit Hülfe des Bruders Heinrich eine Erklärung abgegeben hatte: daß er den ihm mit dem Bruder gemeinsamen politischen Ueberzeugungen und dem „mit dem Familiennamen verwebten Streben für Deutschlands Geschicke, wenn auch unter anderer Form“, unwandelbar treu sein werde. Er könne das Amt nur annehmen, wenn ihm dies nicht unmöglich sein würde. Der Minister Buol habe die Erklärung ruhig hingenommen. Wenn dem so war, so hatte der Minister richtig gerechnet. Eine solche Erklärung konnte den Bruder Max v. G. nicht davor schützen, von den Interessen der österreichischen Politik beherrscht zu werden, und diese Thatsache wird auch nicht ohne Einfluß auf die spätere Wendung Heinrich's v. G. gewesen sein. Ob aber die Erzählung genau ist und wie sich Heinrich v. G. im einzelnen dabei verhielt, das kann man erst untersuchen, wenn die Familie aus dem litterarischen Nachlaß Gagern's genügendes Material zur Geschichte seines Lebens in diesen späteren Jahren mittheilen wird.

    In die laute Oeffentlichkeit trat G. noch einmal wieder, und zwar, als sich nach etwa zehnjähriger Reaction um 1860 die nationale Bewegung von neuem in Deutschland erhob. G. fand sich Ende September auf dem Abgeordnetentage von Weimar ein, der nach dem Muster des Vorparlaments von 1848 Mitglieder der Volksvertretungen der verschiedenen deutschen Staaten vereinigte und mit Nachdruck aussprach, daß das deutsche Volk sich nicht begnügen könne mit dem Bundestag. Auf der Versammlung in Weimar überwog die einst von G. in Frankfurt zum Siege geführte Partei, welche die Reform des Bundes im Geiste der Reichsverfassung von 1849 anstrebte, und in dem 1859 gegründeten Nationalverein eine zeitgemäße Vertretung gefunden hatte. Aber auch die großdeutsche Richtung war vertreten, und einer ihrer Hauptredner war nun Heinrich v. G. Er erklärte: nach den dermaligen Verhältnissen könne die Centralgewalt nur eine von Preußen und Oesterreich gemeinsam geführte sein. Er hat dann diese Ansicht vier Wochen später auf der ähnlichen, aber aus Süddeutschland und Oesterreich stärker besuchten Versammlung zu Frankfurt a. M., auf der der großdeutsche Reformverein geschaffen wurde, noch näher ausgeführt. G. wurde mit großem Jubel empfangen als er die Tribüne betrat, und er rechtfertigte hier am 28. October und dann noch ausführlicher am 29. October den Wechsel seiner Ansichten. Im Jahre 1848/49 habe Oesterreich dem deutschen Bundesstaate nicht anders als mit allen seinen Provinzen beitreten wollen. „Nicht einmal eine ideale Scheidungslinie zwischen Deutsch -Oesterreich und den übrigen österreichischen Provinzen habe man damals ziehen wollen.“ Jetzt habe Oesterreich durch seinen Minister Rechberg für seine deutschen Provinzen die Vertretung am Bunde verlangt, und „wie damals 1848/49 der kleindeutsche Gedanke, einem Lückenbüßer gleich, entstand, so wird er jetzt wieder weichen müssen. Damit rechtfertigt sich auch meine Rückkehr zum Gesammtdeutschthum“ (Augsb. Allg. Ztg., 29. Ott. 1862, S. 5030).

    G. unterstützte den Gedanken einer Delegirtenversammlung an Stelle des von der Reichsverfassung vom 28. März 1849 geforderten Reichstags, aber er wünschte diese Delegirtenversammlung in zwei Kammern, mit einem aus aristokratischen Elementen zusammengesetzten Oberhause. Zu beachten ist, was er weiter hinzufügte. „Nicht ich werde dort vertreten sein, der dort vertretbaren Aristokratie gehöre ich nicht an. Ich spreche hier als Demokrat. Eine vaterlandsliebende Aristokratie muß herbeigezogen werden. Die Delegirtenversammlung darf das aristokratische Oberhaus nicht abschneiden. Der Aristokratie darf ihre Betheiligung nicht systematisch vorenthalten bleiben. Ich führe Osterreichs Beispiel an, Osterreichs, welches wir fest an uns fesseln wollen. Es hat noch eine Aristokratie, welche das mächtigste Band bilden wird zwischen Oesterreich und Deutschland.“ Wie weit hier die Worte Gagern's genau wiedergegeben sind, wage ich nicht zu sagen, aber der Sinn ist unzweideutig. Nicht ganz so bei dem folgenden Schluß des Berichts, der deshalb auch wegbleiben mag (Allgem. Zeitung 1862, III, 5014). Dieser Antrag fand nur wenig Beifall, aber G. erschien doch als einer der Führer dieser großdeutschen Bewegung. Er wurde auch in die Statutencommission des Reformvereins gewählt. Ueber seine Thätigkeit für den Verein und weiter in der Zeit des Fürstencongresses 1863, während des dänischen Kriegs und dann während der Krisen von 1866 und 1870 ist erst zu urtheilen, wenn die Familie das Material veröffentlicht. Hier ist nur festzustellen, daß die Art, wie G. seinen Uebertritt in das großdeutsche Lager rechtfertigte, einen würdigen Eindruck machte und eine gewisse persönliche Berechtigung hat, daß sie aber eine nähere Prüfung nicht verträgt. G. hatte 1848 nur schwer auf Oesterreichs Theilnahme an dem Bundesstaate verzichtet, nur in der durch seine Auffassung der geschichtlichen Entwicklung und begründeten Ueberzeugung, daß Oesterreich in einen Bundesstaat, wie ihn das deutsche Volk ersehne, nicht eintreten könne. Dabei half ihm die Thatsache, daß Oesterreich in den Jahren 1848/49 vor allem durch die Verfassung vom 4. März 1849 kundgab, daß es seinen deutschen Provinzen nicht gestatten wolle, sich an einem solchen deutschen Bundesstaate zu betheiligen. Noch 1856 hatte G. diese Ansicht in dem Leben des Bruders I, 422 ff., besonders S. 440 näher ausgeführt und begründet. Wenn er 1862 diese Gedanken deshalb fallen ließ, weil die österreichische Regierung erklärte, ihre deutschen Lande sollten an einer Delegirtenversammlung am Bunde und damit an einer Reform des deutschen Bundes im Sinne der patriotischen Wünsche des Volkes theilnehmen, so erscheint es auffallend, daß G. auf die Erklärung eines Ministers so großes Gewicht legte, während doch Oesterreich kurz vorher (Febr. 1861) eine Verfassung erhalten hatte, die alle Provinzen der Monarchie, auch Ungarn, in einem für die großen Fragen der Politik einheitlichen Gesammtstaat zusammenfaßte. Diese Verfassung hätte G. von dem Gedanken eines Versuchs, wie ihn 1862 der großdeutsche Reformverein plante, ebenso fern halten müssen, wie einst die Verfassung vom 4. März 1849. Diese Erwägungen legen es nahe, anzunehmen, daß allerlei persönliche Erfahrungen und Einflüsse bei dieser Entscheidung mitwirkten. Der Einfluß des Bruders Max, confessionelle Verhältnisse, denn G. war mit einer Katholikin verheirathet und ließ seine Kinder katholisch erziehen, vor allem aber wol die Enttäuschungen, die Preußen seit 1849 seinen Anhängern bereitet hatte und damals (1862) bereitete. G. stand dem Conflict des Abgeordnetenhauses mit dem Ministerium ruhiger gegenüber als die meisten seiner Freunde, er warnte auf der Versammlung in Weimar vor einseitiger Parteinahme für die preußische Fortschrittspartei (28. Sept. 1862), aber er betonte damals doch den Gegensatz der Süddeutschen gegen das „specifische Preußenthum“ stärker als einst (Leben I, 448). Doch genug, es ist nicht möglich diese Wandlung|näher zu prüfen, ehe nicht reicheres Material zu Gebote steht. Jedenfalls aber handelte G. damals wie einst nach seiner Ueberzeugung.

    Die Jahre 1864, 1866 und 1870 zeigten, wie sehr er sich 1862 geirrt hatte: es wurde das Deutsche Reich errichtet auf den von G. einst mit dem größten Erfolg geklärten und vertheidigten, dann aber seit 1862 bekämpften Grundlagen, und durch den Parteiwechsel wurde es G. nun unmöglich gemacht an den großen Aufgaben der Zeit in einer maßgebenden Stellung theilzunehmen, die ihm sonst ebensowenig gefehlt haben würde wie seinem Freunde Simson. Aber auch in der gegnerischen Gruppe gelangte G. nicht zu größerer Bedeutung. Nach einer Mittheilung R. v. Mohl's machten es ihm seine finanziellen Verhältnisse wünschenswerth wieder ein Amt zu erhalten, und da übernahm er den Posten eines hessischen Gesandten in Wien (1864—72, nach G. Mollat, Reden und Redner des ersten deutschen Parlaments). Damit trat er in den Dienst des Ministeriums Dalwigk, das der Verwirklichung des einstigen Gagern’schen Programms mit besonderer Hartnäckigkeit widerstrebte, auch durch Nachgiebigkeit gegen die Ultramontanen in den Kreisen der ehemaligen Freunde Gagern's in schlechtem Ansehn stand. Robert v. Mohl, der den Freund in dieser Zeit öfter sah, konnte sich einer schmerzlichen Theilnahme nicht erwehren, daß Heinrich v. G. „ein Vertreter und Ausführer der Politik Dalwigk's" werden mußte. „In dieser Stellung hatte er es denn wohl nicht ablehnen können“, fügt Mohl hinzu, „eine von der Regierung gewünschte Wahl in die Zweite Kammer anzunehmen, wo er nun als Hauptredner für die Regierung auftrat. Der hierin liegende Contrast mit seinem früheren langjährigen Wirken in dieser Kammer selbst und im Jahre 1848 an der Spitze des Staats war allzugroß, als daß es nicht viele peinlich berührt hätte, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn Gagern es nicht gefühlt hätte“ (Mohl II, 305 f.). Im ganzen wird dies Urtheil zutreffen, aber im einzelnen wird man sich doch hüten, jede Unterstützung der Regierung Dalwigk's als solchen Knechtsdienst zu behandeln. Als G. (Anfang Juni 1867) den Antrag Goldmann-Hallwach's auf Eintritt von ganz Hessen in den norddeutschen Bund mit einem andern bekämpfte, der sich mehr der Ansicht der Regierung näherte, hatte er die Logik der Thatsachen auf seiner Seite. Was er vertrat, war auch nach Bismarck's Ansicht von der Lage der Dinge geboten.

    Unter diesen Verhältnissen sank G. rasch in Vergessenheit und zwar so vollständig, daß selbst sein Tod (22. Mai 1880) von den meisten Zeitungen nicht gemeldet wurde, die sonst selbst untergeordneten Größen einen Nekrolog weihten. Sogar die Augsburger Allgemeine Zeitung schwieg zunächst, erst am 26. Mai brachte sie einige Zeilen, aber diese Zeilen waren ganz nichtssagend und beweisen vollends, wie Heinrich v. G. seinen Ruhm überlebt hatte. Die Nachwelt darf sich dadurch nicht irren lassen. Heinrich v. G. gehört trotzdem zu den einflußreichsten und zu den edelsten unter den Männern, welche Deutschland aus der politischen Zersplitterung des Bundestags erlöst und in die Bahnen einer freieren und gesunderen Entwicklung geführt haben. Sein Schicksal war tragisch, aber das ist das Schicksal der Helden in der Regel.

    Heinrich von Gagern, Das Leben des Generals Friedrich von Gagern. Leipzig und Heidelberg 1856/57, 3 Bde. — Die Litteratur über die Jahre 1848 u. 1849. — Die Biographien und Aufzeichnungen seiner Mitarbeiter u. Freunde wie Haym, Max Duncker, — R. v. Mohl, Lebenserinnerungen, — Georg Beseler, Erlebtes u. Erstrebtes, — Eduard v. Simson, Erinnerungen aus s. Leben. Sodann G. Stüve, J. C. B. Stüve, — G. Stüve, Briefwechsel zw. Stüve u. Detmold in d. J. 1848—1850. Hannover 1903 (Quellen u. Darstellungen z. Gesch. Niedersachsens XIII). — Mollat, Reden u. Redner d. ersten|deutschen Parlaments, 1895, ein vortreffliches Hülfsbuch. — Bibliothek polit. Reden aus d. 18. u. 19. Jahrh. Berlin 1843 ff. Der dritte Band enthält biogr. Notizen über Gagern und seine Rede über die Grundsätze des constitutionellen Staatsprincips vom 9. Mai 1834; der vierte die Rede über die Geschwornengerichte 1836. — Dazu die kurzen Artikel d. Conversationslexica, Biedermann's Artikel: Die Freiherren von Gagern (in Rotteck u. Welcker, Das Staatslexikon, 3. Aufl., 6. Bd. [1862], S. 73; Häusser's Artikel: Deutsche Nationalversammlung (in Bluntschli u. Brater, Deutsches Staatswörterbuch. Stuttg. u. Lpz. 1862, Bd. 7, S. 161 ff., bes. S. 174 f.). — Dazu Zeitungen u. der Europäische Geschichtskalender von Schultheß f. 1862 und 1867. — Den Rahmen der politischen Geschichte dieser Periode gibt meine Politische Geschichte Deutschlands im 19. Jahrh. Berlin 1900.

  • Autor/in

    G. Kaufmann.
  • Zitierweise

    Kaufmann, G., "Gagern, Heinrich Freiherr von" in: Allgemeine Deutsche Biographie 49 (1904), S. 654-676 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118689150.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA