Lebensdaten
1878 – 1949
Geburtsort
Lübeck
Sterbeort
Heidelberg
Beruf/Funktion
Jurist ; Professor für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Rechtsphilosophie
Konfession
evangelisch
Normdaten
GND: 118597582 | OGND | VIAF: 36942970
Namensvarianten
  • Radbruch, Gustav
  • Radbruch, G.
  • Radbruch, Gustav Lambert
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Zitierweise

Radbruch, Gustav, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118597582.html [19.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    Aus niedersächs. Bauern- u. Kaufmannsfam., seit d. 13. Jh. nachweisbar in Radbruch b. Lüneburg; zur Fam. gehören u. a. Lambert(us) Radbrock ( 1510), Ratsapotheker, seit 1497 Bürger in Lüneburg, u. dessen N Hinrich Radbrock (1479–1536), letzter Abt d. Zisterzienserklosters Scharnebeck,|erster Sup. in Lüneburg (s. L; – V Heinrich Georg Bernhard (1841–1922), Kaufm. in L., S d. Gustav Hermann (1811–72), Geschäftsmann in Kiel, u. d. Johanna Catharina Struve;
    M Emma (1842–1916), T d. Wilhelm Prahl, Goldschmied, dann Konditor in L., u. d. Friederike Derlien;
    1) Heidelberg 1907 ( 1913) Lina, spätere Metner (* 1887), T d. Reallehrers N. N. Götz in Heidelberg, 2) Berlin-Charlottenburg 1915 Lydia, gesch. Aderjahn (1888–1974), aus Karkeln (Kr. Heydekrug), T d. Franz Schenk, Gutsbes. im Memelland, u. d. Maria Adspodien, spätere Treichel (1850–1940);
    1 T Renate (1915–39, s. W), 1 S Anselm (1918–42).

  • Biographie

    Künstlerisch, besonders literarisch interessiert, studierte R. nach dem Besuch des Lübecker Gymnasiums Katharineum auf väterlichen Wunsch und ohne innere Neigung seit 1898 Jurisprudenz in München, Leipzig und Berlin (1901 1. Staatsexamen am Kammerger., 1902 Promotion b. Franz v. Liszt, 1851–1919). Nach kurzem Referendardienst in Lübeck und der Habilitation Ende 1903 in Heidelberg bei Karl v. Lilienthal (1853–1927) lehrte R. dort seit 1904 als Privatdozent, seit 1910 als nicht beamteter ao. Professor bis zu seiner Berufung auf ein besoldetes Extraordinariat 1914 an der Univ. Königsberg. Nach Kriegsdienst 1915-18 (zuletzt als Lt.) wurde er 1919 ao., dann o. Professor in Kiel, 1926 in Heidelberg; einen Ruf an die Univ. Hamburg 1928 lehnte er ab. Seit 1918 Mitglied der SPD, wurde er 1920 beim Kapp-Putsch als Unterhändler inhaftiert, war dann 1920-24 Reichstagsabgeordneter und vom 26.10.1921-22.11.1922 sowie vom 13.8. - 3.11.1923 Reichsjustizminister in den Kabinetten Wirth und Stresemann. Aus dessen Kabinett schied er mit den zwei anderen SPD-Ministern aus. weil die Reichsgewalt gegen die wider die Reichsregierung revoltierenden Landesregierungen Sachsens und Bayerns ungleich vorging (Reichsexekution zur Absetzung nur d. sächs. SPD/KPD-Reg.). Ein nochmaliges Angebot zur Übernahme des Reichsjustizministeriums durch Reichskanzler Hermann Müller 1928 lehnte R. ab, da er sich nach seiner Erfahrung als eine mehr kontemplative denn aktive Natur erkannt hatte. 1933 als einer der ersten Rechtslehrer zwangspensioniert, durfte er weder im Aug. 1934 den Ruf auf eine Professur an der litauischen Univ. Kaunas noch im Febr. 1937 einen Lehrauftrag an der Univ. Zürich annehmen, dagegen 1935/36 einer Einladung zu einem einjährigen Studienaufenthalt in Oxford folgen. Nach dem Krieg wurde R. trotz schwerer Krankheit reaktiviert und erster Dekan der Heidelberger Juristenfakultät, wo er bis Sommer 1948 lehrte. Ferner gehörte er 1945 zu den Mitgründern einer „CSU“ in Heidelberg, trat aber später, wohl 1948, wieder in die SPD ein. Er war Mitglied des Staatsgerichtshofs von Württemberg-Baden.

    R., von dessen Bedeutung auch die auf 20 Bde. angelegte Gesamtausgabe seiner Schriften, ein in der Rechtswissenschaft bisher einmaliges Unternehmen, zeugt, war auf verschiedenen Gebieten ein großer Anreger. In seiner in mehrere Sprachen übersetzten „Einführung in die Rechtswissenschaft“ (1910, 121969) wird das Recht und seine philosophischen und politischen Grundlagen als Teil der Gesamtkultur dargestellt und die Eigenart des juristischen Denkens und Berufs bewußt gemacht. Seine „Grundzüge der Rechtsphilosophie“ (1914) gehörten zu den Schriften, die Anfang des 20. Jh. die rechtsphilosophische Arbeit erst wieder in Gang brachten. In ihrer Umgestaltung als „Rechtsphilosophie“, ein neu geschriebenes Buch (1932, ⁹1999), geht R. mit dem Neukantianismus südwestdt. Prägung von der scharfen Scheidung von Sein und Sollen aus, von wertblinder oder naturwissenschaftlicher und bewertender oder philosophischer Blickrichtung; zwischen diesen beiden Betrachtungsweisen stehe als dritte die wertbeziehende oder rechtswissenschaftliche, für die das Recht als Menschenwerk weder zum Reich der Natur noch der Ideale, sondern zu dem der Kultur gehöre („Methodendualismus“ bzw. „-trialismus“). Die obersten Werte wie das Gerechte und Gute sind für R. „nicht der Erkenntnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig“ („Wertrelativismus“). Unter dem Eindruck des NS-Regimes mußte aber auch er anerkennen, daß es ein „übergesetzliches Recht“ gibt, dem „gesetzliches Unrecht“ dann zu weichen hat, wenn der Widerspruch des positiven Rechts zur Gerechtigkeit ein unerträgliches Maß erreicht oder das Gesetz sogar die Gleichheit als Kern der Gerechtigkeit nicht erstrebt und damit überhaupt der Rechtsnatur ermangelt („Radbruchsche Formel“, die noch heute die Rechtsprechung zum DDR-Unrecht beeinflußt). Im „Strafgesetzbuch-Entwurf Radbruch“ von 1922 (veröff. 1952) wurden heutige Gesetzesregelungen vorweggenommen, so die Abschaffung der Todesstrafe, der Zuchthaus- und Ehrenstrafen und der erfolgsqualifizierten Delikte, weiter die Anerkennung der unechten Unterlassungsdelikte und des strafausschließenden Unrechtsirrtums. Das von R. nach Walther Rathenaus Ermordung entworfene und mitunterzeichnete Republikschutzgesetz vom 21.7.1922 drohte dagegen die Todesstrafe sogar für gewisse Gefährdungs- und Vorbereitungshandlungen an, was als Inkonsequenz gerügt wurde. Mit dem Gesetz vom|11.7.1922 setzte R. die Zulassung von Frauen zu Ämtern und Berufen der Rechtspflege gegen ministeriellen Widerstand durch. In der Strafrechtshistorik verband er die Verbrechensgeschichte mit der Kulturgeschichte und vertiefte die Darstellung durch eine sozial-, kunst- und geistesgeschichtliche Betrachtung. In seinen „Elegantiae Juris Criminalis“ (1938, ²1950) behandelte er Wendepunkte oder wichtige Abschnitte dieser Geschichte, in seiner mit Heinrich Gwinner (1906–67) verfaßten „Geschichte des Verbrechens“ (1951, ³1991) wird das Verbrechen als sozialpathologische Erscheinung aufgefaßt und eine „historische Kriminologie“ versucht. Wegweisend wurde R. für die juristische Biographie mit seiner Lebensbeschreibung P. J. A. v. Feuerbachs (1934, ³1969), mit zahlreichen kürzeren biographischen Aufsätzen und einer Autobiographie. Unter R.s Schriften zur Kunst- und Kulturgeschichte, die oft durch die aphoristische Dichte seiner Sprache gekennzeichnet sind und ihn als meisterlichen Stilisten ausweisen, ragt sein Buch „Gestalten und Gedanken“ (1944/45, ²1954) hervor, das er als „eine Bestandsaufnahme seiner geistigen Existenz“ bezeichnet hat. R. suchte nicht nur als Parteipolitiker, der z. B. an den SPD-Parteiprogrammen von Görlitz 1921 und von Heidelberg 1925 mitarbeitete, sondern auch als Staatsbürger politisch zu wirken, so in drei großen Reden jeweils zum Verfassungstag der Weimarer Republik. In der ersten (Republikan. Pflichtenlehre, 1926) bestimmte er die staatsbürgerliche Gesinnung als Staats-, Rechts- und Sozialsinn und forderte, daß die Trias „Einigkeit und Recht und Freiheit“ der dt. Nationalhymne in Deutschland eine „kanonische Formel“ werden solle. R. war Mitglied des Republikanischen Richterbunds und Mitarbeiter an dessen Organ „Die Justiz“.|

  • Auszeichnungen

    Dr. phil. h. c. (Heidelberg u. Göttingen 1948);
    nach 1945 Mitgl. d. Ak. d. Wiss. zu Heidelberg u. Bologna;
    Ehrenmitgl. d. dt. Juristentags.

  • Werke

    Weitere W Die Lehre v. d. adäquaten Verursachung, Diss. Berlin 1902;
    Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung f. d. Strafrechtssystem, 1904, Nachdr. 1967 (Habil.schr.);
    Geburtshülfe u. Strafrecht, 1907;
    Rel.philos. d. Kultur (mit P. Tillich), 1919, ²1921, Nachdr. 1968;
    Kulturlehre d. Sozialismus, 1922, ⁴1970, hg. v. A. Kaufmann;
    Der Mensch im Recht, 1927, erweiterte Ausg. hg. v. F. v. Hippel, 1957;
    Der dt. Bauernstand zw. MA u. Neuzeit, 1941 (mit Renate Maria Radbruch,), ²1961 erg. durch G. R.s nachgelassene Aufzeichnungen besorgt v. A. Stemper, Vorw. u. Nachw. v. H. Keller;
    Theodor Fontane oder Skepsis u. Glaube, 1945, ²1948;
    Der Geist d. engl. Rechts, 1946, ⁵1965;
    Lyr. Lebensgeleite, 1946, ²1958;
    Karikaturen d. Justiz, Lith. v. H. Daumier, 1947, ³1967;
    Vorschule d. Rechtsphilos., 1947, ³1965;
    Der innere Weg, Aufriß meines Lebens, 1951, ²1961 (Autobiogr.);
    Eine Feuerbach-Gedenkrede sowie drei Aufss. aus d. wiss. Nachlaß, 1952, hg. v. Eberhard Schmidt;
    Aphorismen z. Rechtsweisheit, hg. v. A. Kaufmann, 1963;
    zahlr. Abhh. u. Aufss. in Zss., Ztgg. u. Sammelwerken;
    Gustav-Radbruch-Gesamtausgabe (GRGA), hg. v. Arthur Kaufmann, 20 Bde. seit 1987. |

  • Nachlass

    Nachlaß: Univ.bibl. Heidelberg (Nachlaßverz. G. R., bearb. v. M. Stange, 2001); BA Koblenz; Schleswig-Holstein. Landesbibl. (Tönnies-Nachlaß).

  • Literatur

    A. H. Chroust, The Philosophy of Law of G. R., in: The Philosophical Review 53, 1944, S. 23 ff.;
    E. Falkenberg (Hg.), Btrr. z. Kultur- u. Rechtsphilos., 1948;
    A. H. Campbell, G. R.s Rechtsphilos. u. d. engl. Rechtslehre, 1949;
    K. Engisch, in: J.hh. d. Heidelberger Ak. d. Wiss. 1946/55, S. 79-82;
    ders., G. R. als Rechtsphilos., in: Archiv f. Rechts- u. Soz.-philos. 38, 1949/50, S. 305-16;
    ders., in: ZStW 63, 1951, S. 147-49;
    E. Schmidt, G. R. als Kriminalist, ebd., S. 150-65;
    F. v. Hippel, G. R. als rechtsphil. Denker, 1951;
    E. Wolf, Gr. Rechtsdenker d. dt. Geistesgesch., ⁴1963, S. 713-65 (W-Verz.);
    G. Spendel, G. R., Lb. e. Juristen, 1967;
    ders., Jurist in e. Zeitenwende, G. R. z. 100. Geb.tag., 1979;
    ders., Individualität durch Universalität, in: Universitas, 1988, H. 6, S. 691-98;
    ders., in: Killy;
    ders., Briefe an G. R., in: Strafgerechtigkeit, FS z. 70. Geb.tag v. A. Kaufmann, 1993, S. 321-51;
    ders., G. R., Ein musischer Jurist, in: „MUT“, 1996, H. 352, S. 54-63;
    ders., G. R. u. Ricarda Huch, in: FS f. A. Böhm z. 70. Geb.tag, 1999, S. 835-47;
    ders., Kriminalistenporträts, 2001, S. 64-72 (P);
    ders., in: Brockhaus-Infothek 2002, Dok.-Nr. 13225;
    H. d. With, G. R., Reichsmin. d. Justiz, 1978;
    W. Küper, G. R. als Heidelberger Rechtslehrer, in: Jur.Ztg., 1979, S. 1-6;
    H. Otte, G. R.s Kieler J. 1919-1926, 1982 (W-Verz.);
    M. Gottschalk, G. R.s Heidelberger J. 1926-1949, 1982;
    A. Laufs, in: Heidelberger Jb. 1979, S. 59 ff. (P);
    ders., in: Bad. Biogrr. NF I, 1982, S. 223-25;
    S. C. Saar, in: Biogr. Lex. Schleswig-Holstein VII, 1985, S. 171-76;
    B. Schumacher, Rezeption u. Kritik d. R.schen Formel, Diss. Göttingen 1985;
    A. Kaufmann (Hg.), Gedächtnisschr. f. G. R., 1968;
    ders., in: GRGA I, Rechtsphilos. I, 1987, S. 7-88;
    ders., G. R., Rechtsdenker, Philos., Soz.demokrat, 1987;
    ders., in: Staatslex. IV;
    ders., in: DBE;
    ders., Die R.sche Formel vom gesetzl. Unrecht u. vom übergesetzl. Recht in d. Diskussion um d. im Namen d. DDR begangene Unrecht, in: NJW 48, 1995, S. 81-86;
    E. Opitz, Die unser Schatz u. Reichtum sind, 60 Porträts aus Schleswig-Holstein, 1990, S. 290-94;
    F. Saliger, R.sche Formel u. Rechtsstaat, 1995;
    C. Vulpius, G. R. in Oxford, Zur Aufarbeitung e. Kap. länderübergreifender Rechtsphilos., 1995;
    A. Hollerbach, G., R., neu- u. wiedergelesen, in: T. Stammen u. a. (Hg.), Pol. – Bildung – Rel., FS f. H. Maier, 1996, S. 209-19;
    B. Kastner, Goethe in Leben u. Werk G. R.s, 1999;
    R. Dreier u. S. L. Paulson, in: Archiv f. Rechts- u. Soz.philos. 85, 1999, S. 463-68;
    R. Dreier, G. R.s rechtsphil. Parteienlehre, ebd., S. 497-509;
    K. Seidel, Rechtsphil. Aspekte d. „Mauerschützen“-Prozesse, Diss. Saarbrücken 1999;
    W. Benz u. H. Graml (Hg.), Biogr. Lex. z. Weimarer Rep., 1988;
    BBKL;
    HRG IV;
    G. Kleinheyer u. J. Schröder (Hg.), Dt. u. Europ. Juristen aus neun|Jh., ⁴1996, 340-46 (P). – Zu Hinrich Radbrock: ADB 27;
    G. Schulze, H. R., hg. v. Fam.verband Radbruch, o. J. (1988).

  • Porträts

    Gem. v. M. Stein-Rankem, 1914 (Heidelberg, Rektorat d. Univ., Dauerleihgabe d. Kurpfälz. Mus.), u. W. Eimer, 1948 (Univ. Heidelberg, Jur. Fak.);
    versch. Fotos, z. B. in: GRGA Bde. 1, 7, 9, 16, 17 u. 18.

  • Autor/in

    Günter Spendel
  • Zitierweise

    Spendel, Günter, "Radbruch, Gustav" in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 83-86 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118597582.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA