Lebensdaten
1466 oder 1469 – 1536
Geburtsort
Rotterdam
Sterbeort
Basel
Beruf/Funktion
Humanist
Konfession
katholisch
Normdaten
GND: 118530666 | OGND | VIAF: 87673996
Namensvarianten
  • Erasmus von Rotterdam
  • Erasmus, Desiderius
  • Erasmus von Rotterdam, Desiderius
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Zitierweise

Erasmus von Rotterdam, Desiderius, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118530666.html [28.03.2024].

CC0

  • Genealogie

    Unehelich;
    V Rotger Gerard (?) aus Gouda (Holland), S des Elias u. der Katharina;
    M Margaretha, T des Peter, Arzt aus Zevenbergen.

  • Biographie

    Obwohl E. seiner geistigen Herkunft nach außerhalb der deutschen Entwicklung steht, ist er doch zur Zentralfigur des deutschen Humanismus und darum auch für die Reformation von Bedeutung geworden. Als der bald 50jährige 1514 zum ersten Male mit Deutschland in Berührung kam, war seine geistige Entwicklung bereits abgeschlossen. Mag man in der Verbindung von Mystik und Rationalismus, die bei E. zutage tritt, Züge niederländischer Geistesart überhaupt erblicken, sicher ist, daß auf den Schulen zu Deventer und Herzogenbusch der Einfluß der Brüder vom Gemeinsamen Leben („Devotio moderna“) sowie erste humanistische Anregungen auf ihn wirkten. Die Brüder, deren Ideal der Laienfrömmigkeit für ihn wegweisend wurde, hatten das Verhältnis des christlichen Vollkommenheitsstrebens zur Welt neu bestimmt, indem sie es in der Form freiwilliger, durch keine Mönchsgelübde gebundener Gesinnungsgemeinschaften verwirklichten, in denen sie der Beschaulichkeit und der Arbeit, vor allem der Jugenderziehung, lebten; ohne von sich aus ein grundsätzliches Programm zur Unterrichtsreform zu entwickeln, drängten sie doch die Scholastik zugunsten pädagogisch brauchbarer Stoffe zurück. Wenn auch die „Imitatio Christi“ des Thomas von|Kempen dem mönchischen Zweig dieser Frömmigkeit angehört, so darf doch die „Philosophia Christi“ des E. als humanistische Umformung devoter Bestrebungen gedeutet werden. Seine stark ausgeprägte pädagogische Ader hat ihn vor bloßer Vielwisserei bewahrt und ihn zeit seines Lebens nach dem praktischen Wert des Wissens fragen lassen. Seine eigene humanistische Entwicklung knüpfte autodidaktisch an R. Agricola, A. Hegius und darüber hinaus an den italienischen Humanismus, vor allem an L. Valla, an. Im Anschluß an dessen Elegantien hob er die Antike als ein ästhetisches Kulturprinzip vom Sprachgebrauch des Mittelalters ab. Weil jedoch die Antike für ihn nicht auch eine ethische Norm darzustellen vermochte, befand er sich in steigendem Maße auf der Suche nach einer solchen, als ihn seine eigene Entwicklung in Konflikte mit seiner Umgebung brachte. Wenn auch seine Lebensrückblicke in vielem vereinfachend stilisiert sind, so ist doch kaum zu bezweifeln, daß er imAugustinerchorherrenstift Steyn bei Gouda, in das der früh Verwaiste ohne besondere Neigung auf Drängen seiner Vormünder eintrat, den ersten Grund zu seiner Abneigung gegen das Mönchtum legte und daß er während seines Pariser Universitätsaufenthalts, den ihm der Bischof von Cambrai, Heinrich von Bergen, ab 1495 ermöglichte, in Gegensatz zur Scholastik geraten ist. Schon damals spielte er nicht nur ästhetische Normen, sondern auch sein wohl devotes Erbe, ein sich an der Heiligen Schrift und an der alten Theologie orientierendes Frömmigkeitsideal gegen die Scholastik, besonders gegen ihre nachthomistische Gestalt aus. Er brachte seine Studien zu keinem Abschluß. Den Doktortitel hat er erst 1506 in Turin erworben. Doch reichen fast alle seine Werke, die seinen humanistischen Ruhm begründeten (Adagia, Paris 1500, Venedig 1508, Basel 1515 und öfters, Colloquia, Löwen 1519, Basel 1522 ff, und andere) in seine Pariser Zeit zurück. Die Zusammenfügung der beiden Elemente seiner Opposition zu einem einheitlichen Wertmaßstab gelang ihm erst in England (1499), wo ihn J. Colet auf Paulus und Platon hinwies und ihm damit den Leitgedanken gab, mit dessen Hilfe er seine bisherigen literarischen Ideale des poeta, orator und philosophus überwand und auf höherer Ebene dem philosophus christianus zuordnete. Im „Enchiridion militis christiani“ (1501/03, in: Lucubratiunculae, Antwerpen 1503) suchte er, den kürzesten Weg der Mystik umformend, im Gegensatz zur Scholastik und zur Veräußerlichung des spätmittelalterlichen religiösen Wesens die ursprüngliche Einfachheit des christlichen Spiritualismus von der Bildung her und in der Gesinnung zu erneuern. Von da war nur ein Schritt zum humanistischen Programm einer Wiederherstellung der Texte selbst, auf denen diese Bildung ruhen sollte. Auch in der Anwendung der humanistischen Textkritik auf die Heilige Schrift führte ihn L. Valla weiter, dessen Annotationen zum Neuen Testament er 1504 entdeckte und in Druck gab (Paris 1505). In Italien (1506–09) erschloß sich ihm in den Kreisen der dort lebenden Griechen, Lascaris in Venedig, Musurus in Padua, eine vollere Anschauung des hellenistischen Altertums, aber auch mit der offenen Aufnahme in die römischen Kardinalskreise die neue humanitas als eine gesellschaftliche Lebensform. Im „Encomion Morias“ (Paris 1511), das er auf der Rückreise nach England konzipierte, haben sich die italienische Eindrücke zu einem literarischen Kunstwerk verdichtet, das dem Autor Weltgeltung verschafft hat. Die über den Humanismus hinausführende Erkenntnis bricht auf, daß der „Weise“ in den Büchern nur tote Formeln finde, während der „Tor“ im Leben die wahre Klugheit der Erfahrung lerne. Die irrationale Fülle des Daseins, die sich seinem Blick erschlossen hat, lobt als Torheit sich selbst. Die naturhafte Grundlage des menschlichen Lebens wird, von der ratio vorgeformt, spiritualisiert und mit dem ganzen Menschen von der Gnade vollendet. E., der das Lob der Torheit als Mittelstück zwischen einem Lob der Natur und einem Lob der Gnade gesehen wissen wollte, darf jedoch nicht als Thomist im eigentlichen Sinn bezeichnet werden. Das auf den Menschen bezogene und spiritualisierte thomistische Weltbild bildet nur die Grundlage seiner humanistischen Persönlichkeitskultur. Indem E. das mittelalterliche System zwar in den Grundlagen nicht negierte, aber überall die Idee gegen die Erscheinung wendete, konnte er unversehens vom Lächeln über den Menschen und die menschliche Gesellschaft zu einer Zeitsatire von schonungsloser Schärfe vorstoßen. Da er aber entschieden an der mittelalterlichen Idee der res publica christiana festhielt, wurde ihm dieser Zwiespalt zum Antrieb, sie zur Bildungsgemeinschaft fortzubilden, um sie so von innen her zu erneuern. Indem er die Kirche mit dem „christlichen Volk“ gleichsetzte, wurde aus der sakramentalen Heilsanstalt ein christlicher Gesellschaftsverband, aus der Hierarchie eine Erziehungsanstalt auf Christus, aus dem scholastischen System ein consensus omnium|über das in der „philosophia Christi“ enthaltene christliche Gesellschaftideal, aus der Universalmonarchie, ganz westlich gedacht, ein Bund gemäßigt regierter christlicher Wohlfahrtsstaaten. Diese Umbildung sollte erreicht werden durch die Erneuerung der „philosophia Christi“, auf die nun auch die humanistische Wiederbelebung der Antike bezogen wurde. Diese „philosophia Christi“ ist nicht als ein Rückgang von Paulus zu Christus (P. Wernle) zu deuten, E. verband sie vielmehr mit einer besonderen Paulusverehrung; sie darf auch nicht als bloßer Moralismus auf dem Hintergrund der neu gesehenen Antike verstanden werden; sie ist vielmehr ein mit stoischen und neuplatonischen Mitteln ausgebauter universaler Spiritualismus, an dem auch die Antike – jedoch innerhalb der Grenzen der erbsündlich verderbten Natur – teilhaben konnte; sie ist mehr als Bildung: theologisch gefaßt als die Wiederherstellung der gut geschaffenen Natur durch die Gnade, wird sie erlebt als innere Verwandlung, die in der Erneuerung des ganzen Lebens sichtbar werden muß.

    Dieses Programm erhielt seine humanistische Grundlage in der ersten kritischen Ausgabe des von allen Zusätzen gereinigten Neuen Testaments, die nicht zufällig dem Papst (Leo X.) als dem geistlichen Oberhaupt der res publica christiana gewidmet war. Mit der nach modernen Gesichtspunkten freilich unzureichenden Ausgabe beginnt dennoch die wissenschaftliche Bibelkritik. Zwar blieb die handschriftliche Grundlage ungenügend, völlig zufällig und ohne jede Klassifikation. Lesarten von Kirchenvätern ersetzten den Aufweis von Textvarianten. Historisch wichtiger aber war der Zeitpunkt (Basel 1517), in dem die Ausgabe als gültiger Ausdruck und als Vollendung der humanistischen Bewegung erschien. Neben dem griechischen stand der lateinische Text, in der 2. Auflage (1519) an Stelle der verbesserten Vulgata die eigene Übersetzung des E. Bedeutende Einleitungen, die „Paraclesis ad lectorem pium“ und die „Methodus“, 1519 zur „Ratio seu methodus compendio perveniendi ad veram theologiam“ erweitert, begleiteten das Werk, das noch dreimal (1522, 1527, 1535) aufgelegt wurde. Wie hoch es eingeschätzt wurde und welche Bedeutung es für die Reformation gewann, geht daraus hervor, daß der griechische Text in der Ausgabe von 1519 Luthers Übersetzung zugrunde lag und im wesentlichen zum protestantischen textus receptus wurde. Dem Neuen Testament folgten Paraphrasen zu den Evangelien und Apostelbriefen, ebenfalls mit programmatischen Widmungen an Karl V., dessen Rat er 1516 geworden war (Institutio principis christiani, Basel 1516), an Ferdinand, Franz I. und Heinrich VIII. Um 1517 schien sich das goldene Zeitalter des Friedens, das im Gefolge der Erneuerung von Religion und Bildung heraufsteigen sollte, auch politisch zu verwirklichen (Querela pacis, ebenda 1517). Damals stand E., der durch päpstliches Privileg nun auch äußerlich von den Fesseln des mönchischen Lebens freigesprochen wurde, auf dem Höhepunkt seines Lebens. Seine Gedanken fanden ein europäisches Echo. Er war der „erste große Autor der Opposition in modernem Sinne“ geworden (Ranke). Der Buchdruck gab seinen Schriften eine noch von keinem Autor bis dahin erreichte Verbreitung, so wie er selbst der erste war, der seine Existenz ganz auf den Buchdruck gestellt hatte. Ein umfangreicher Briefwechsel verband ihn mit den Spitzen der Gesellschaft und der literarischen Welt. Die Nationen begannen sich um ihn zu streiten. Seit E. 1514 in einem wahren Triumphzug rheinaufwärts nach Basel gezogen war, schien keine so eng mit ihm verbunden zu sein wie die deutsche. Mit seinem Editionsprogramm, das neben dem Neuen Testament die Werke des Hieronymus (zuerst Briefe, Basel 1516), des mit Origenes wichtigsten Patrons seines christlichen Humanismus, sowie die übrigen lateinischen und griechischen Kirchenlehrer in sich schloß, nahm er Pläne auf, die der Druckherr J. Frohen freilich weniger umfassend schon in Verbindung mit den konservativeren Humanisten des Oberrheins ins Auge gefaßt hatte. Gerade aber der Umstand, daß sein wissenschaftliches Programm ein dennoch alle Elemente der neuen Bildung in sich schließendes Programm zur Reform des öffentlichen Lebens beinhaltete, das die seit dem Scheitern der Konzilien von Konstanz und Basel verinnerlichten und besonders in Deutschland lebendig gebliebenen Reformbemühungen wieder aufnahm, erklärt die besondere Anziehung, die er auf die deutschen Humanisten ausübte. Die Vertreter aller Richtungen orientierten sich an ihm. Die Elsässer um S. Brant und J. Wimpfeling fanden ihre eigenen pädagogischen Bestrebungen auf einer unvergleichlich höheren Stufe wieder, und erst recht scharte sich die jüngere Generation um ihn, aus der Beatus Rhenanus und B. Amerbach seine besonderen Vertrauten wurden. Die meisten Theologen und Juristen, die später auf der Seite der Reformation standen, Ökolampad und Capito, beide als Hebraisten an der Ausgabe des|Neuen Testaments beteiligt, Zwingli, Bucer, Melanchthon, Jonas, Spalatin, Camerarius und viele andere haben sich anfänglich als Erasmianer empfunden. Zasius in Freiburg, die Kreise um Mutian in Gotha, Pirckheimer und Peutinger in Nürnberg und Augsburg nahmen die Verbindung zu ihm auf. Der nationale deutsche Humanismus, der im Gegensatz zu den Italienern an der neuentdeckten germanischen Vergangenheit die eigenen nationalen Vorstellungen normierte, schien sich der religiösen Aufklärung des E. eingliedern und die Wiederherstellung des wahren Christentums als das eigentliche Ziel der deutschen Einfalt sehen zu wollen. Bebel in Tübingen suchte dem E. ein Bekenntnis zu Deutschland zu entreißen. Hutten erblickte in den Entgegensetzungen der E.schen Theologie eine Fortsetzung seines Kampfes gegen die Dunkelmänner. Obwohl E. sein Bedauern ausdrückte, Deutschland erst so spät kennen gelernt zu haben, erwiderte er die Zuneigung seiner deutschen Freunde, deren Wildheit (ferocia) ihn erschreckte, doch mit Vorbehalten. Er fürchtete für sein Programm der ruhigen Umbildung nichts mehr als den „Tumult“. Schon der Reuchlinstreit erweckte sein Mißbehagen. Die Streitfrage, ob die jüdischen Bücher verbrannt werden sollten, wie der getaufte Jude Pfefferkorn wollte, oder nicht, wurde erst durch das Eingreifen der Kölner Dominikaner zugunsten Pfefferkorns gegen Reuchlin zum Kampf des Humanismus gegen die reaktionäre Theologie, in dem sich sämtliche Richtungen des Humanismus zusammenschlossen. Die Dunkelmännerbriefe, das satirische Gegenstück zu den an Reuchlin gerichteten und von ihm veröffentlichten „Epistolae clarorum virorum“, stammen im ersten Teil von Mutian, im zweiten von Hutten, der in Reuchlin und E. die Führer der Zukunft sah. E. aber hätte die Bücher der Juden lieber verbrannt als die Einheit der res publica christiana erschüttert gesehen. Schon die Dunkelmännerbriefe haben eine in ihrer barbarischen Prägnanz sprichwörtlich gewordene Charakteristik des E. gegeben: Erasmus est homo pro se, ein Mann für sich. E. hat auch nach dem Auftreten Luthers weder Parteihaupt der „Erasmianer“ noch Parteigänger irgendeiner „Sekte“, sondern „Christ“ sein wollen. Im Ablaßstreit sah er ein neues Mönchsgezänk, an dem ihn freilich bald zwei Dinge aufs engste berühren mußten: der Angriff rief seine alten Gegner auf den Plan, die ihn selbst und die neue Bildung für die „Häresie“ Luthers verantwortlich machten, und er richtete sich gegen Mißstände und Auswüchse des Systems, die auch er nicht zu verteidigen gewillt war. Ein neuer Reuchlinstreit schien sich zu erheben, als Luther von der öffentlichen Meinung, die nicht zuletzt der Humanismus geschaffen hatte, emporgetragen wurde. E. nahm Luther anfänglich in Schutz und suchte zu vermitteln, obwohl er erkannte, daß Luther trotz mancher Berührungspunkte mit dem genuin humanistischen Anliegen nichts zu tun hatte. Die Vernichtung Luthers bedeutete den Triumph der konservativen Partei, die nicht zögern würde, mit Luther auch ihn und die humanistische Bildung zu unterdrücken, um die eigene „Tyrannei“ zu verewigen. Auch er konnte im verweltlichten Papsttum die „Pestilenz der Christenheit“ sehen und noch im November 1520 in Köln durch Spalatin dem Kurfürsten von Sachsen erklären lassen, Luthers Verbrechen bestehe darin, daß er dem Papst an die Krone und den Mönchen an den Bauch gegriffen habe. Damals entwarf er für den Kurfürsten stichwortartig in 22 Punkten seine vermittelnden Axiomata, darauf abgestellt, den neuen Impuls, soweit er wertvoll war, der christlichen Gemeinschaft zu erhalten. Die Welt dürste schicksalhaft nach der evangelischen Wahrheit und man solle ihr darin nicht hartnäckig widerstehen. Er verurteilte das unduldsame, rechtlich anfechtbare Vorgehen der Kurie, durch das Luther erst vorwärtsgetrieben worden sei, und suchte den Papst von den ausführenden Organen zu trennen. Die humanistische Überzeugung, daß im Kampf um die Wahrheit Feuer und Schwert die ungeeignetsten Waffen seien, kam nun Luther zugute. Es gebe nur den einen Weg, den Streitfall unparteiisch zu untersuchen. Auch der Papst war hier Partei genauso wie Luther. Es liege im wahren Interesse des Papstes ebenso wie des Friedens der res publica christiana, daß die Schlichtung des Streits in die Hände unparteiischer Schiedsrichter gelegt werde, die vom Kaiser und den vornehmlichsten Königen zu benennen wären, in deren Vereinigung sich nun für E. die weltliche Einheit der res publica christiana repräsentierte.

    Schon 1516 hatte Luther bei der Lektüre der Hieronymus-Ausgabe des E. die Gegensätzlichkeit ihrer theologischen Standpunkte erkannt und 1517 geurteilt, daß es E. mehr um das Menschliche als um das Göttliche zu tun sei. Für E. stellte die an Augustin und Paulus orientierte Lehre von der Rechtfertigung durch die Gnade allein nicht nur die von ihm im Gewissen und gerade vor Gott erlebte Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen, sondern auch die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes selbst in Frage. Sie hob durch den Kampf, in den sie mit den universalen Gewalten der res publica christiana geriet, diese selbst aus den Angeln, die E. noch entschiedener als das Mittelalter zum irdischen Abbild der himmlischen Gemeinschaft hatte gestalten wollen. E. hatte im tiefsten Grund das Christentum („christianismus“) in der Gesinnung zu erneuern getrachtet und erst von da aus die Kirche; dennoch lag auch für ihn das äußere Kriterium der Kirche in ihrer Einheit. Sein Weg aber war dadurch vorgezeichnet, daß sich nach seiner Idee das wahre Christentum nicht im Streit, sondern in der Liebe und in der tolerantia bewähre. Auch das war eine Wahrheit, und so sollte er nicht charakterlos gescholten werden, weil er sich in Übereinstimmung mit seiner Idee und seiner eigenen Natur zu keiner der beiden streitenden Parteien bekennen wollte. Mit dem endgültigen Bruch, den der Wormser Reichstag bedeutete, war auch sein Schicksal besiegelt. Vor die unausweichliche Entscheidung gestellt, hat er die „katholische“ Kirche, die er suchte, unter Vorbehalten mit der römischen identifiziert und nicht mit dem in sich selbst uneinigen „dissensus“ der Neuerer. Versagten die „Sekten“ schon vor dem Kriterium der Kirche, so boten sie infolge der Negierung jeder menschlichen Verantwortung in Heilsdingen erst recht keinen Raum für seine Konzeption einer spiritualen Bildung, durch die er die universale Kirche hatte erneuern wollen. Aber auch diese geriet im Kampf gegen Luther immer mehr in die Arme der Reaktion, unter der E. seine grimmigsten Feinde wußte, wie denn auch das Tridentinum sich gegen E. erklärt hat. Seine Unabhängigkeit zu wahren, verließ er 1521 Löwen, einen der Mittelpunkte des Kampfes gegen Luther, wo er seit 1517 seinen Wohnsitz genommen hatte, und zog nach Basel. Aber der Notwendigkeit, sich auch öffentlich mit der Sache des „neuen Evangeliums“ auseinanderzusetzen, konnte er sich auf die Dauer um so weniger entziehen, als er von beiden Seiten in verschiedener Absicht mit Luther in Verbindung gebracht wurde. In „De libero arbitrio diatribe sive collatio“ (Basel 1524) verteidigte er, die wichtigsten Schriftstellen diskutierend, die (Wahl-)Freiheit des Menschen, die ihm von Gott dargebotene universale Gnade anzunehmen oder abzulehnen. Er behauptete darin seine humanistische Position, in der er sich im tiefsten von Luther geschieden wußte und zugleich im Prinzip mit der Lehre der alten Kirche übereinstimmte, ohne zu den äußeren strittigen Fragen Stellung nehmen zu müssen, in denen auch seine Haltung weithin eine kritische war. Luthers Antwort „De servo arbitrio“ (Wittenberg 1525) legte unerbittlich den verschiedenen Ausgangspunkt von Humanismus und Reformation dar. Wenn E. im „Dialogus Ciceronianus“ (Basel 1528) seine geschichtliche Stellung so verstand, daß er die bonae literae, die bei den Italienern vorwiegend heidnisch geredet hätten, auf Christus bezogen habe, so sah Luther gerade darin den Grund, daß E. in den Dingen des „Geistes“ versagte.

    Die Humanisten standen getrennt. Viele der alten Freunde, Mutian, Zasius, Pirckheimer, waren ihm, teilweise nach kurzem Schwanken, gefolgt. Andere, voran Melanchthon, fanden sich auf der Seite Luthers. Aber gerade Melanchthon nahm bald den Gedanken auf, der Rechtfertigungslehre Luthers die zunächst auf den Bereich der ratio beschränkte Bildung zu verbinden, wobei er dann freilich mehr und mehr auch den Glauben aus den prädestinatorischen Gedankengängen herauslöste und nach dem Vorgang des E. in das Gewissen verlegte. Der Bruch im humanistischen Lager selbst war schon durch Huttens „Expostulatio cum Erasmo“ (Straßburg 1523) deutlich geworden. Hutten, der weder von E. noch von Luther eine zureichende Vorstellung besaß, hatte seit 1520 Feder und Schwert mit der Sache Luthers zum Kampf gegen Rom verbunden, sich auf die Seite Sickingens geschlagen und seinen eigenmächtigen Pfaffenkrieg unternommen. Von E. zurückgewiesen, entwarf er auf die Kunde von dessen Absicht, gegen Luther zu schreiben, ein Zerrbild des furchtsamen und ängstlichen Humanisten, der aus Feigheit Luther verraten und sich dem Kampf gegen Rom versagt habe. Obwohl sich E. in seiner „Spongia“ (Basel 1523) reinigte und Luther wie Melanchthon von Hutten abrückten, ist diese erste literarische Ausformung des E.bildes, im Unterschied zur westeuropäischen Auffassung, vor allem im protestantischen Deutschland für Jahrhunderte maßgebend geblieben.

    Der Fehde mit Hutten folgte der Bruch mit Zwingli, von dem Hutten nach seiner Flucht aus Basel Hilfe erhalten hatte. E. wurde auch hier durch das sachliche Moment bestimmt, daß sich die Oberdeutschen für ihre symbolische Abendmahlsauffassung auf ihn beriefen. Wenn es auch in der Tendenz der platonisch gebildeten E.schen Geistigkeit gelegen hatte, den Schwerpunkt des Sakraments in die Bedeutung zu verlegen und er dessen Empfang ausdrücklich als Symbol der christlichen Gemeinschaft verstand, so verwahrte er sich doch mit Recht dagegen, für ein Verständnis verantwortlich gemacht zu werden, das den Sakramentscharakter im eigentlichen Sinn aufhob und nie in seinem Sinne gelegen hatte. Einen tieferen Zusammenhang freilich hat nicht nur Zwingli selbst, dessen universaler Prädestinationsglaube ohne den universalen Spiritualismus humanistischer Prägung kaum denkbar ist und der mit E. lieber auf den Geist der Urkirche als auf das Schriftwort zurückging, bezeugt, sondern auch Melanchthon. Er machte für die Spaltung zwischen lutherischer und zwinglischer Reformation nicht zuletzt das E.sche Philosophieren verantwortlich, das Zwingli für ihn in die Nähe der Schwärmer rückte. In der Tat hat der Umstand, daß E. primär eine restitutio christianismi und keine reformatio ecclesiae im mittelalterlichen Sinn anzustreben und das wichtigste Kennzeichen dieses wahren christianismus in Geist und Leben und nicht in äußeren Zeichen zu erblicken schien, auch auf Spiritualisten wie S. Franck gewirkt, der hier die letzten Hemmnisse abbaute und seine Stellung außerhalb der Kirchen ganz im inneren Wort nahm.

    Als unter der Führung Ökolampads in Basel die Reformation eingeführt und die Messe aufgehoben wurde, wich E. (1529–35) nach Freiburg (Breisgau) aus und zog sich ganz auf seine literarische Arbeit zurück. Da ihm die wichtigste Voraussetzung für die Wiederherstellung der kirchlichen Einheit („Liber de sarcienda ecclesiae concordia“, Basel 1533) die Reform der alten Kirche zu sein schien, suchte er durch die Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem, die sich am Rückgang auf Schrift und apostolisches Symbolum („Explanatio Symboli“, Basel 1533) orientierte, und durch die Fortführung seiner Kirchenlehrer-Ausgaben für die kirchliche Bildung zu wirken („Ecclesiastes“, Basel 1536), um auf diesem Wege die Erscheinung der Kirche auf ihre spirituale Idee zurückzuführen („De puritate ecclesiae christianae“, Basel 1536). In der Durchführung dieses Programms im Geiste der tolerantia sah er die einzige Chance für die Wiederherstellung des kirchlichen Friedens. Bei den bis 1541 fortgeführten Einigungsverhandlungen war der E.sche Einfluß auf beiden Seiten, bei Bucer und Melanchthon wie bei Pflug, Witzel und Gropper, wirksam. Da E. selbst jedoch auf ein Konzil alten Stils kaum eine Hoffnung mehr setzte, erhielt seine tolerantia ein weiterreichendes Gewicht.

    Obwohl Reformation und Gegenreformation das Werk des E. verschüttet haben und ihm keine einheitliche Nachwirkung möglich gewesen ist, blieb es im Untergrund des europäischen Denkens eine lebendige Kraft. Noch unmittelbar hat es auf die spiritualen Bewegungen in Deutschland, Italien und Spanien eingewirkt, mannigfaltig gebrochen auf den westeuropäischen Moralismus und theologischen Rationalismus der Aufklärung, aber auch auf den Pietismus und den zweiten Humanismus. Der theologische Liberalismus (Dilthey, Troeltsch) hat E. für Deutschland wiederentdeckt, nicht ohne freilich die aufgeklärten Züge einseitig nachzuziehen. Schon zu Lebzeiten ist E. hinter sein Werk zurückgetreten. Da dieses als ganzes kaum noch verstanden wird, fehlt dem Betrachter leicht der geistige Schlüssel für das Verständnis seiner Persönlichkeit, die ohne diesen nur allzu leicht an fremden Maßstäben gemessen und mißdeutet wird.

  • Werke

    u. a. Opera omnia, ed. B. Rhenanus, 9 Bde., Basel 1540; dass., ed. J. Clericus, 11 Bde., Leiden 1703-06;
    Opus epistolarum, ed. P. St. Allen, 12 Bde., Oxford 1906-58;
    De libero arbitrio diatribe sive collatio, hrsg. v. J. v. Walter, 1910, ²1935;
    Encomium Moriae, Basler Ausg. v. 1515 mit d. Randzeichnungen v. H. Holbein d. J., hrsg. v. H. A. Schmid, 1931;
    Opuscula, A Supplement to the opera omnia, ed. W. K. Ferguson, Haag 1933;
    Ausgew. Werke, hrsg. v. H. Holborn, 1933;
    Inquisitio de fide, A Colloquy 1524, ed. C. R. Thompson, New Haven, Conn., 1950;
    The Poems, ed. C. Reedijk, Leiden 1956. – Bibliogr.: F. v. d. Haeghen, Bibliotheca Erasmiana, Listes sommaires. Cent 1893;
    ders., Bibliotheca Erasmiana, 7 Bde., ebd. 1897-1911 (unvollendet). – Überss.: A.: Hartmann, Das Lob d. Torheit, 1929, 1950;
    W. Köhler, Briefe (Auswahl), 1938, ³1956;
    O. Schumacher, Vom freien Willen, 1940, ²1956;
    A. v. Arx, Klage d. Friedens, 1945;
    H. Schiel, Vertraute Gespräche, 1947;
    ders., Handbüchlein d. christl. Streiters, 1952;
    A. Gail, Auswahl aus s. Schrr., 1948;
    K. v. Raumer, Klage d. Friedens, in: Ewiger Friede, 1953.

  • Literatur

    ADB VI;
    Schottenloher 5492-845, 46065-187, dazu ergänzend: W. Dilthey, Auffassung u. Analyse d. Menschen im 15. u. 16. Jh., Ges. Schrr. II, ²1929;
    P. Wernle, Die Renaissance d. Christentums im 16. Jh., 1904;
    G. Ritter, Die geschichtl. Bedeutung d. dt. Humanismus, in: HZ 127, 1923, S. 393-453;
    J. Huizinga, E., 1924, dt. v. W. Kaegi, 1928, ⁴1951;
    ders., E. and the age of the reformation, New York 1957;
    P. Joachimsen, Der Humanismus u. d. Entwicklung d. dt. Geistes, in: DtVjschr. 8, 1930, S. 419-80;
    R. Stupperich, Der Humanismus u. d. Wiedervereinigung d. Konfessionen, 1936;
    M. Bataillon, E. et l'Espagne, Paris 1937;
    A. Renaudet, Etudes Erasmiennes, Paris 1939;
    ders., E. et l'Italie, Genf 1954;
    K. A. Meissinger, E. v. R., 1942, ²1948;
    W. Rüegg, Cicero u. d. Humanismus,|Formale Unterss. üb. Petrarca u. E., 1946;
    K. Schlechta, E., 1946;
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    K. Büchner, Die Freundschaft zw. Hutten u. E., 1948;
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    A. Flitner, E. im Urteil s. Nachwelt, 1952;
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    RGG.

  • Porträts

    Bildnis v. Quinten Massys, 1517 (Rom);
    Medaille v. dems., 1519;
    Kohlezeichnung v. A. Dürer, 1520 (Paris);
    Holzschn. v. dems., 1526;
    die bedeutendsten Bildnisse v. H. Holbein d. J., 1523 (Basel, Paris, Longford Castle), 1530 (Parma), 1531 (New York), 1532 (Basel).

  • Autor/in

    Otto Schottenloher
  • Zitierweise

    Schottenloher, Otto, "Erasmus von Rotterdam, Desiderius" in: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 554-560 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118530666.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Biographie

    Erasmus: Desiderius E., der größte Humanist im Uebergange vom Mittelalter zur neueren Zeit, geboren zu Rotterdam den 28. October 1467 (1469 nach Nurlens), gestorben zu Basel den 12. Juli 1536, — innerhalb des Geschlechts, das ihn bewunderte, durch Klarheit und Schärfe des Verstandes, durch Kenntniß der alten Litteratur und feinen Geschmack den Meisten überlegen, aber auch wieder durch Schwäche des Charakters, durch Schwankungen in theologischen Fragen, durch Unzuverlässigkeit in Stunden ernster Entscheidung Vielen verdächtig; haschend nach der Gunst der Großen, doch niemals ein gemeiner Schmeichler, aber allezeit dem Volke fern, wie er denn in keinem Lande die Sprache, welche er um sich sprechen hörte, verstand; ein überaus witziger, oft|schonungsloser Tadler der kirchlichen Mißbräuche und rastlos auf Reformen bedacht, dennoch ein Gegner der Reformation, die mehr verlangte, als er gewähren konnte, und weiter ging, als er vertrug; bei außerordentlichen Verdiensten mehr und mehr von zwei entgegengesetzten Seiten verkannt und angefochten; ein weitherziger Kosmopolit und nirgends zu voller Befriedigung sich einlebend, doch aber unserem Volke auch innerlich näher, als irgend einem anderen und jedenfalls für Deutschland von höchster Bedeutung, das ihn zu seinen ausgezeichnetsten Söhnen zählen darf.

    Das Elternpaar, dem er das Leben zu danken hatte, Gerhard de Praet aus Gouda in Holland und Margaretha, Tochter eines Arztes in Sevenbergen, war durch widerwärtige Einwirkungen getrennt, als er geboren wurde, und nachdem eine äußerliche Annäherung wieder möglich geworden, doch durch ein übereiltes Gelübde des Vaters für immer geschieden. Das Kind entbehrte nun zwar der elterlichen Fürsorge nicht; aber das Glück innigen Familienlebens blieb ihm fern, und der erste Unterricht, den der kleine Gerhard (Desiderius wie Erasmus davon Uebersetzung) in der Schule zu Gouda erhielt, scheint ihm keinerlei Ersatz für das Fehlende geboten zu haben. Er hatte noch wenig Fortschritte gemacht, als er, etwa neun Jahre alt, der Schule in Deventer zugeführt wurde, welche damals (seit 1475) unter Alexander Hegius eine freiere Entwicklung begann; die Mutter begleitete ihn dorthin als Pflegerin seines zarten Alters. Die Anstalt, welche von den Brüdern des gemeinsamen Lebens gegründet war, litt noch sehr durch den Druck der alten Formen, und auch Hegius vermochte nur allmählich die wunderlichen Lehrbücher zu verdrängen, aus denen die Jugend so lange ihre ersten Kenntnisse zu schöpfen gehabt hatte. Daß nun auch E. mit diesem Plunder noch sich plagen mußte, dürfen wir schon deshalb annehmen, weil er später diese Bücher bei jeder Gelegenheit mit Witz und Spott verfolgt hat. Ueberhaupt ist es ihm wol nie sonderliches Bedürfniß gewesen, die Pädagogik der Brüder dankbar zu rühmen. Wir wissen obendrein, daß, da es ihm nicht vergönnt war, in Deventer seine Schulstudien zum Abschluß zu bringen, der unmittelbare Einfluß des großen Lehrmeisters ihm nur selten zu Theil wurde, welcher meist auf den Unterricht in der obersten Classe sich beschränkte und nur an festlichen Tagen, den ganzen Schülercötus um sich versammelnd, auch den jüngeren Zöglingen mit erwecklichen Ansprachen näher trat. Hauptlehrer des E. war wol Johannes Sontheim, der des Griechischen wie des Lateinischen kundig war und mit Hegius eine langsame Reform des Unterrichts erstrebt zu haben scheint; aber wir finden in den Schriften und Briefen des Schülers kein besonderes Zeugniß von der Einwirkung, welche er auf diesen ausgeübt. Im Ganzen sind wir über sein Leben und Arbeiten an dieser Schule schlecht unterrichtet; nur darüber können wir nicht in Zweifel sein, daß er schon damals in lateinischer Poesie sich versuchte, in deren Betreibung auch Hegius ausgezeichnet war. Ob die Nachricht als zuverlässig gelten darf, daß einst der gefeierte Rudolf Agricola bei einem Besuche der Schule den kleinen E. besonders ins Auge gefaßt und ihm eine glänzende Zukunft geweissagt habe, das lassen wir unentschieden. Leider mußte E. in Deventer vor der Zeit abbrechen. Er hatte, etwa dreizehn Jahre alt, die dritte Classe erreicht, als eine Seuche in der Stadt ausbrach. Da riß der Tod ihm auch die Mutter von der Seite. Er floh nach Gouda, dem Wohnsitze seiner Familie, zurück, wo er den Vater wiederfand; dieser jedoch erlag bald nachher dem Schmerze über den Tod der Gattin, die ihm durch die lange Trennung nur um so theurer geworden war, und so stand der Knabe, neben einem älteren, wenig genannten Bruder, als hilflose Waise in der Welt.

    Eine traurige Uebergangszeit begann. Die Vormünder, welche der Vater sterbend für ihn bestellt hatte, wünschten der Sorge um ihn dadurch sich zu entledigen, daß sie ihn zum Eintritt in eine ascetische Genossenschaft zu bewegen suchten. Aber mit stiller Beharrlichkeit lehnte er lange solche Zumuthungen ab, während doch sein kleines Erbtheil unter den Händen der Vormünder verschwand. Im Brüderhause zu Herzogenbusch, wo er drei Jahre ohne Freude seine Studien fortsetzte, erfüllte er sich mit Abneigung gegen alle zunftmäßige Frömmigkeit, und die dann folgenden Versuche, ihn für eigentliches Klosterleben zu gewinnen, steigerten diese Abneigung. Als man ihm vergebens den Eintritt unter die Augustiner-Chorherren des Klosters Sion bei Delft empfohlen hatte, lenkte man seine Aufmerksamkeit auf das demselben Orden angehörende Kloster Stein (Emmaus) bei Gouda, zunächst mit gleich geringem Erfolge. Er hatte das zwanzigste Lebensjahr erreicht und brannte vor Verlangen, eine Universität besuchen zu können; noch war ein langwieriges Wechselfieber nicht im Stande gewesen, die Spannkraft seines Geistes zu schwächen. Aber die Vormünder ließen ihm nur die eine Perspective, das Kloster, und suchten dann durch Andere ihn von den Reizen des Klosterlebens zu überzeugen. Eines Tages nun auf einsamer Wanderung nach Emmaus gekommen, traf er mit einem Jünglinge zusammen, der mit ihm in Deventer gewesen war, dann aber Italien besucht und zuletzt in Emmaus ein Asyl gefunden hatte. Der wiedergefundene Freund (Cornelius Werdenus sein Name) schien ganz bezaubert von dem Glücke klösterlicher Stille, und E., der langen Quälereien müde, entschloß sich zum Eintritte. Der ältere Bruder hatte sich schon vorher für die Kutte entschieden und verschwand dann in unrühmlicher Dunkelheit.

    Der Anfang war befriedigend. Man dispensirte ihn von manchen Pflichten, welche die Klosterregel vorschrieb, und gestattete ihm eine fast unbeschränkte Beschäftigung mit den Büchern. Cornelius war dabei stets an seiner Seite; Andere schlossen sich an. Aus diesem geistigen Verkehre stammen die ersten Briefe, welche von E. erhalten sind. Er zeigt sich darin schon als entschiedenen Humanisten, innig vertraut mit den lateinischen Classikern und voll Eifer für Laurentius Valla, den Verfasser der „Elegantiae latini sermonis“. Vielleicht hat er eben damals seinen Dialog „Conflictus Thaliae et Barbarici“ geschrieben, aus welchem zu erkennen ist, wie er fast mit Leidenschaft von den alten Bildungsformen sich losmacht, ja wie er bereits, obwol erst Mönch geworden, allem mönchischen Wesen feindlich gegenübersteht. Und um dieselbe Zeit begann er ein Werk, das zwar viel später erst in die Oeffentlichkeit gekommen und nie vollendet worden ist, aber als Document für seine damalige Stimmung besondere Wichtigkeit hat: es ist „Antibarbarorum liber I“, 1518 gedruckt und dem Rector der Schule zu Schlettstadt Johann Sapidus zugeeignet, dem er schmerzvoll seine trübe Jugend schildert. Anderes, was er in jenen Tagen schrieb, war unverfänglich. Es entstand die „Oratio de pace et discordia contra factiosos“. eine rhetorische Schulübung in eleganter Form; es folgte die Abhandlung „De contemtu mundi“, worin er auf Bitten eines Mannes, der seinen Neffen zum Eintritt in ein Kloster bestimmen wollte, die Gründe darlegt, welche dazu bestimmen können, wol auch nur ein stilistischer Versuch, zu welchem die eigenen Erlebnisse den Stoff gegeben; ferner schrieb er damals eine Trauerrede zu Ehren einer frommen Wittwe, die ihm Freundlichkeiten erwiesen hatte und nun in seltsam aufgeputzter Form gefeiert wurde.

    Am liebsten gab er sich poetischen Arbeiten hin; seine Anschauungen und Gedanken erhielten oft wie von selbst metrische Form. Freilich ist auch unter diesen Jugendgedichten gar manches Schulmäßige, wie sein Lobgesang auf die Jungfrau Maria, das „Carmen de monstrosis signis Christo moriente factis“,|ein Gedicht zum Preise des Erzengels Michael. In anderen Gedichten spricht sich auch wieder der Schmerz aus über das verfehlte Leben, die verlorene Zukunft. Erst in neuester Zeit hat man eine Sammlung solcher Jugendgedichte wieder aufgefunden, welche unter dem Titel „Silva carminum“ zu Gouda 1513 erschienen und (mit einer Einleitung von Nuelens) in treuestem Facsimile zu Brüssel 1864 wieder herausgegeben worden ist.

    Für das mönchische Leben war E. nicht bestimmt. Er erfüllte die Klosterpflichten, so gut er konnte, und war von aufrichtiger Frömmigkeit; aber das Bedürfniß freier Bewegung und das Gefühl geistiger Ueberlegenheit war so stark in ihm, daß der Mechanismus des Klosterlebens ihm beschwerlicher wurde als tausend Anderen. Und wie hätte dieser bewegliche Geist, der durch die classischen Studien für sein Denken und Streben einen immer weiteren Horizont gewann, auf die Dauer die Enge und Oede einer Zelle ertragen können, in welcher Raum für einige Heiligenbilder, aber nicht für die farbenreichen Gestalten aus Hellas und Rom sich darbot! Er bewegte sich in heilloser Zwiespältigkeit. Sein Prior freilich, Nicolaus Werners, bewies ihm vielfache Nachsicht; aber von dem Drucke der klösterlichen Disciplin konnte er ihn nicht freisprechen. Die übrigen Mönche, mit wenigen Ausnahmen ohne Sinn für das, was diesen eigenartigen Geist beschäftigte, konnten mit ihm in keine lebendige Wechselwirkung treten.

    Da erhielt er eine Aufforderung, welche seinem Leben eine ganz neue Wendung gab. Der Bischof von Cambrai, Heinrich von Berghes, nach dem Cardinalshute lüstern und deshalb zu einer Romfahrt entschlossen, bedurfte eines Begleiters, der mit gewandter Feder in Italien und am päpstlichen Hofe ihm dienen konnte. Jetzt that sich für E. die Klosterpforte wie von selbst auf. Der Bischof von Utrecht, zu dessen Sprengel Emmaus gehörte, und die Ordensobern entließen ihn, nicht aus dem Orden, aber aus der Clausur. Er eilte nach Cambrai 1491. Obwol es nun zur Reise über die Alpen nicht kam, weil dem ehrgeizigen Prälaten dazu die Mittel fehlten, so behielt er doch den jungen Gelehrten bei sich, der dann auch die priesterliche Weihe empfing und mit dem Bruder des Bischofs, Anton von Berghes (er war Abt von St. Bertin), und mit dem Stadtschreiber von Berghes, Jakob Battus, in jene freundschaftliche Verbindung trat, die uns durch die später an sie gerichteten Briefe so bekannt ist. Auf die Dauer freilich ließ er sich in Cambrai nicht halten. Vor der Hand außer Stande, Italien zu erreichen, strebte er um so lebhafter nach Paris zu kommen, um an der ersten Hochschule der christlichen Welt endlich seinen Wissensdurst zu stillen. Da nun der Bischof für ihn zu sorgen versprach, machte er sich 1496 nach Paris auf, wo er im Collegium Montaigu eine Freistelle erhielt.

    Aber neue Enttäuschungen folgten. Die versprochene Pension wurde sehr unregelmäßig bezahlt; im Collegium regierte eine grausame Zucht und die widerlichste Unreinlichkeit; E., ohnehin eine schwächliche Natur, hatte schwer zu leiden. Uebrigens befriedigte ihn die Theologie, welche man lehrte, wenig, und statt in freier Muße arbeiten zu können, sah er sich durch, die Noth gedrängt, in seiner öden Kammer Privatunterricht zu geben. Was der lange schon in Paris thätige Grieche Georgios Hermonymos ihn lehren konnte, scheint ihn auch nicht gefördert zu haben.

    Indeß verbesserte sich seine Lage, als er in der Wohnung des jungen Lords William Mountjoy, der in Paris seine Studien machte, Aufnahme gefunden hatte. Nach einem kurzen Aufenthalte in Cambrai ging er 1497 nach England als Begleiter des Lords. Er fand zumal in Oxford, wo St. Mary's College ihn aufnahm, rasche Anerkennung und trat jetzt, wie kurz auch dieser erste Aufenthalt war, den Männern nahe, welche bei den folgenden Besuchen seine|Freunde wurden. Die humanistischen Studien der Engländer waren damals über die Anfänge noch nicht hinaus, wenn auch Grocyn, Linacre und Latimer bereits die Kenntniß des Griechischen, Pace den feineren Gebrauch des Lateinischen auszubreiten strebten. E. lernte auch von ihnen, während er zugleich mit dem rasch emporsteigenden Wolsey, mit Morus und Colet Verbindung suchte und gelegentlich auch in der Gesellschaft des bei Heinrich VII. viel geltenden Mountjoy heiter das Leben genoß.

    Aber noch in demselben Jahre kehrte er nach Paris zurück und übernahm dort zunächst die Unterweisung eines jungen Lübeckers; weil indeß eine Seuche in der Stadt ausbrach, ging er für einige Monate nach Orleans, wo er bei dem Canonisten Jakob Tutor die wohlwollendste Aufnahme fand. Schon zu Anfang des J. 1498 wieder in Paris eingetroffen, setzte er die abgebrochenen Arbeiten fort. Er sammelte „Adagia“, schrieb Noten zu Cicero's Werke von den Pflichten, verfaßte für den Sohn der Marquise von Vere eine Paränese „De amplectenda virtute"; daneben beschäftigte ihn auch das Studium des Griechischen, dessen Bedeutung für das volle Verständniß der lateinischen Litteratur ihm täglich klarer wurde, während er zugleich in die Geheimnisse der scholastischen Weisheit tiefer einzudringen suchte, um Doctor der Theologie werden zu können. Dabei war er, weil auch die Marquise von Vere ihre Versprechungen nicht hielt, oft in bitterster Geldnoth. Wir finden ihn dann auch wieder in den Niederlanden; 1498 und 99 war er zum zweiten Male in England, und damals gewann er wol erst in vollem Maße die Freundschaft von Thomas Morus und John Colet, denen er dann so viele Förderungen zu danken hatte. Bei der Abreise durch die Zollbeamten in Dover des baaren Geldes beraubt, das ihm auf dem Continente eine freundlichere Existenz sichern sollte, sah er bei wechselndem Aufenthalte in den Niederlanden und in Frankreich sich wieder hart bedrängt. Zerfallen mit dem Bischof von Cambrai, der übrigens um jene Zeit starb, nur zuweilen unterstützt durch die Marquise von Vere, die er nach Umständen mit fast ungestümen Bitten anging, auf einer Reise zwischen Amiens und Paris ausgeplündert, dann wieder in Orleans gastlich aufgenommen, schien er zu gedeihlichen Studien kaum noch kommen zu können, während er doch bereits an dem Gedanken sich erquickte, die Werke des Hieronymus herauszugeben. Im J. 1501 muß er an eine Reise nach Italien gedacht haben; zu Anfang des J. 1502 war er in Löwen; die beiden nächsten Jahre brachte er großentheils wieder in Paris zu, wo er die Freundschaft des Poeta regius Faustus Andrelinus gewann; um dieselbe Zeit trat er mit dem trefflichen Franciscaner Johannes Vitriarius zu St. Omer in engste Verbindung. Dazwischen hatte er am Tage der drei Könige 1504 im Auftrage der Stände von Brabant zur Begrüßung des aus Spanien zurückgekehrten Erzherzogs Philipp einen Panegyricus zu halten, in welchem er doch auch viel Wahres gesagt zu haben glaubte; auch wurde ihm reiche Anerkennung zu Theil, und von der Gunst dieses Fürsten durfte er größere Förderungen erwarten, als ihn (26. September 1506) ein jäher Tod hinwegriß.

    Mittlerweile war er 1505 zum dritten Male nach England gegangen. Er wurde von seinen Freunden herzlich begrüßt und dann von Grocyn bei Wareham, dem Erzbischof von Canterbury und Lordkanzler, eingeführt. Von London aus besuchte er die Universität Cambridge, die damals unter dem Patronat des nachher von ihm vielgepriesenen Bischofs von Rochester John Fisher stand; er hat dort wol auch Vorlesungen über die griechische Sprache gehalten. Nach einer sehr beschwerlichen Rückfahrt erreichte er Paris im traurigsten Zustande, erquickte sich aber an dem liebevollen Empfange, den man ihm bereitete.

    Noch 1505 gab er zu Paris „Laurentii Vallensis in lat. N. T. adnotationes, die er in einem Kloster bei Brüssel aufgefunden hatte, mit einer sehr bedeutsamen Vorrede heraus. Er hatte aber gerade in jenen Jahren das Studium des Griechischen mit größtem Eifer getrieben und sich schon an eine umfassende Auslegung des Römerbriefes gewagt, an deren Vollendung jedoch das Gefühl von der Unzulänglichkeit seiner Kenntnisse ihn hinderte. Auch mit dem Hebräischen beschäftigte er sich damals; doch schreckte ihn das Fremdartige dieser Sprache ab, und er meinte auch, daß es ihm nicht gelingen würde, nach so verschiedenen Richtungen mit Erfolg thätig zu sein. Dafür wandte er zu derselben Zeit seine Aufmerksamkeit den Werken des Origenes zu. Aber gern kehrte er doch immer wieder zu den großen Alten zurück. Eben damals gab er Uebersetzungen der „Hecuba“ und „Iphigenia in Aulis“ von Euripides heraus; Uebersetzungen von Schriften des Lucian, dem er sich innerlich sehr verwandt fühlen konnte, hatte er schon seit 1503 veröffentlicht. Die Dedication solcher Arbeiten an einflußreiche Männer verschaffte ihm in den Geschenken, welche er hielt, die erforderlichen Subsistenzmittel.

    Er fühlte sich jetzt auch in den Stand gesetzt, nach Italien zu gehen, wohin ihn schon lange tiefe Sehnsucht zog. Noch 1506, nachdem er noch einmal Orleans besucht hatte, wo der Humanist und Mathematiker Nic. Beraldus ihm freundlich entgegengekommen war, machte er sich auf; in seiner Begleitung waren zwei junge Engländer und deren Hofmeister, von denen er sich jedoch bald trennte. Ueber Turin, dessen Universität ihm die theologische Doctorwürde verlieh, eilte er nach Bologna, das gerade damals, nach harter Bedrängniß durch Julius II., diesem kriegerischen Papste sich unterwerfen mußte. E. sah diesen unter großem Gepränge seinen Einzug halten; ob er indeß durch seinen Unmuth über den Papst zu dem witzigen Dialoge „Julius exclusus“ angeregt worden, muß dahingestellt bleiben. Uebrigens hatte er in Bologna mancherlei Fährlichkeiten zu bestehen, und auch der Privatunterricht, den er dort ertheilte, machte ihm mehr Verdruß als Freude; aber die Verbindung mit Paul Bombasius und Scipio Forteguerra, die er dort als gründliche Kenner des Griechischen kennen lernte, und die Förderung seiner schriftstellerischen Arbeiten entschädigten ihn. Er siedelte dann nach Venedig über, um bei Aldus Manutius seine „Adagia“ drucken zu lassen, diese Frucht der vielseitigsten Studien, und was er schon 1500 als „Adagiorum collectaneae“ mit einer nachher bereuten Eilfertigkeit herausgegeben hatte, das boten jetzt (1506) „Adagiorum chiliades“ in erfreulichster Vollendung. In keinem anderen Werke hat E. eine solche Fülle sprachlicher und historischer Gelehrsamkeit ausgebreitet, als in dieser Sammlung sinnreicher Sprüche mit seinen Erläuterungen; aber er hat doch unermüdlich nachgebessert und auch die Genugthuung gehabt, daß die „Adagia“, immer wieder aufgelegt, ein Lieblingsbuch seiner Zeitgenossen wurden, die übrigens auch die ältere Sammlung zu schätzen wußten (vgl. Suringar, Erasmus, over nederlandsche Spreekwoorden en spreekwoordelijke uitdrukkingen van zijnen tijd, uit 's mans Adagia opgezameld etc., Utrecht 1873). Nebenbei besorgte er in Venedig eine neue Ausgabe seiner Euripidesübersetzungen, während er zugleich mit Plautus und Terenz sich beschäftigte. Die Verbindung mit dem gelehrten Aldus, der ihm auch im Hause seines Schwiegervaters Andr. Asulanus gastfreundliche Aufnahme verschafft hatte, gestaltete sich zu einer wahrhaft innigen und vermittelte ihm zugleich die Bekanntschaft mit Baptista Egnatius, Hieronymus Aleander, Marcus Musurus, Ambrosius Leo u. A.; aber sie vermochte ihn doch nicht auf die Dauer in Venedig festzuhalten. Er begab sich noch 1508 nach Padua, um dort während des Winters mit Alexander, einem natürlichen Sohne des Königs Jakob IV. von Schottland, den dieser bereits zum Erzbischofe von St. Andrews ernannt und dann zu weiterer Ausbildung nach Italien geschickt hatte, den Studien zu leben. Dann aber eilte er, zu Wiederherstellung seiner durch die angestrengten Studien leidenden Gesundheit, mit seinem Zöglinge nach Siena. Er ging hierauf, den jungen Prälaten zurücklassend, für kurze Zeit nach Rom, wo er die angesehensten Cardinäle kennen lernte und selbst mit dem Papste in persönliche Berührung kam; aber halten ließ er sich nicht, obwol er auch Forteguerra wiederfand und von anderen Gelehrten vielfach ausgezeichnet wurde.

    Wenn er dann selbst durch glänzende Anerbietungen für Rom nicht zu gewinnen war, so haben wir den Grund davon wol in den lockenden Aussichten zu suchen, welche England ihm eröffnete. Eben war Heinrich VIII. zum Throne gelangt, dessen Bildung und Liberalität für die edleren Studien Großes hoffen ließen. Daher suchte E., nachdem er seinen Zögling zu kurzem Besuche nach Rom geholt und dann mit ihm einen Ausflug nach Campanien gemacht hatte, sobald als möglich nach England zurückzukehren. Schon hatte der schottische Prälat, einem traurigen Geschick entgegengehend, Italien verlassen, als er selbst zur Reise über die rhätischen Alpen sich aufmachte. Er kam dann über Chur, Costnitz und Straßburg in seine Heimath, von wo er nach England übersetzte. Nachdem er in Canterbury das Grab des hl. Thomas Becket aufgesucht hatte, erreichte er schnell die Hauptstadt, und hier nahm ihn Thomas Morus in sein Haus auf.

    Aber die Hoffnungen, welche ihn nach England zurückgeführt hatten, erfüllten sich nicht. Bald reute es ihn, daß er Rom verlassen hatte, und nachdem Johann von Medici als Leo X. Papst geworden war, verrieth er durch ein an diesen gerichtetes Schreiben, wie lebhaft er bedauerte, unter dem für Kunst und Wissenschaft so erfreulichen Regimente dieses Papstes nicht in Rom leben zu können. Aber die Hoffnung, in Begleitung des Bischofs Fisher, der zum Lateran-Concil gehen wollte, wieder dorthin zu kommen, ging nicht in Erfüllung. Uebrigens fehlte es ihm doch an Beweisen des Wohlwollens nicht. Neben dem Könige war auch dessen Gemahlin Katharina dem großen Gelehrten hold; der Erzbischof Wareham, jetzt freilich durch Wolsey aus seiner Stellung am Hofe verdrängt, bewies ihm große Gunst; sein Verhältniß zu Morus wurde ein wahrhaft inniges, und für Colet war er, als dieser seine dem Jesuskinde geweihte Schule bei St. Paul in London begründete (1510), einsichtiger Berather und Helfer. Aber 1513 hatte er seinem alten Freunde Anton von Berghes zu klagen, daß der bevorstehende Krieg die Gesinnungen verwandelt habe; die Theuerung aller Gegenstände wachse von Tage zu Tage, während die Freigebigkeit abnehme. Die von Fisher ihm übertragene Professur in Cambridge war nicht einträglich und ermuthigte ihn wenig zum Ausharren; auch ritt er oft von dort hinweg nach London, wo die Freunde jedes Mal ihn herzlich begrüßten und für die Entbehrungen in der stillen Universitätsstadt entschädigten.

    Bald nach seiner Rückkehr aus Italien (noch 1509) war zu Paris das populärste seiner Werke, das auf der Reise selbst geschriebene „Encomium Moriae“ erschienen, welches seitdem so viele Auflagen erlebt, bald auch durch den ihm befreundeten Gerhard Listrius einen Commentar erhalten hat. Wie stellte es doch in wirksamster Satire die menschliche Narrheit, die ihr eigenes Lob verkündet, als eine Macht dar, die in allen Kreisen bis zu den hohen Prälaten, ja bis zum Papste hinauf, die Geister vom Rechten ablenke und auch die evangelische Wahrheit unter Formenkram und Aberglauben verschwinden lasse! Freilich mißfiel es auch, und E. hatte gelegentlich selbst vor Freunden wegen der Keckheit seiner Schilderungen und Urtheile sich zu rechtfertigen, namentlich als Haloin die Schrift ins Französische übersetzt hatte; aber wie diese gewiß bei Morus, dem sie zugeeignet war, die beste Aufnahme fand, so wurde sie bald ein Lieblingsbuch für Tausende (eine 1515 bei Froben in Basel erschienene Auflage von|1800 Exemplaren war nach wenigen Wochen bis auf 60 vergriffen), und die auf eine Reformation hinstrebenden Gemüther hat sie gewaltig erregt. Der genialen Randbilder, mit denen Holbein ein Exemplar illustrirt hat, können wir an dieser Stelle nur gedenken.

    Von ganz anderem Charakter war das in demselben Jahre zum ersten Male als Hauptstück der „Lucubratiunculae“ zu Antwerpen erschienene „Enchiridion militis christiani“, ein Erbauungsbuch, welches für den Kampf des Lebens in rechter Weise rüsten und zu vollem Siege über die schlimmsten Feinde helfen sollte, wobei freilich die äußere Kirchenpraxis als irrig und unwirksam bezeichnet werden konnte. Das Buch ist dann auch selbständig in vielen Auflagen erschienen und durch Uebersetzungen den Deutschen, den Franzosen (durch Berquin), den Spaniern, den Italienern zugeführt worden, obwol es zugleich von den Mönchen heftig getadelt, ja als ketzerisch verurtheilt wurde. Später haben es Jesuiten und Jansenisten in gleicher Weise verworfen.

    Mit der zweiten Pariser Ausgabe des „Encomium Moriae“ (1512) erschienen zum ersten Male zwei Lehrschriften von großer Bedeutung: „De duplici rerum ac verborum copia“ und „De ratione studii et instituendi pueros commentarii“. Die erstere, zunächst für Colet's Schule bestimmt, gab in schlichter Form eine so treffliche Anregung zu stilistischen und oratorischen Uebungen, daß sie überall dankbar aufgenommen und noch von Melanchthon als Thesaurus eloquentiae non vulgaris empfohlen wurde. Die andere Schrift ist von noch höherem Werthe; sie gibt Anleitung zum Studium der lateinischen und der griechischen Grammatik, die beide in enge Verbindung zu setzen, aber auf möglichst wenige Regeln zu beschränken sind, so daß bald zur Lectüre der Classiker übergegangen werden kann, durch welche dann auch Sachkenntniß, vor allem aber Bildung des Stils und des Gedächtnisses zu gewinnen ist. Zunächst war wol auch diese Schrift der Schule von St. Paul zugedacht, weshalb in zahlreichen Ausgaben die von E. verfaßte „Concio de puero Jesu pronunciata a puero in Schola Coletana nuper instituta“ beigegeben ist. Seit 1513 folgten Uebersetzungen moralischer Schriften Plutarchs und die „Disticha moralia Catonis“, sowie Ausgaben des Enchiridion Epiktets, der Rede des Isokrates an Demonicus etc.; 1514 erschien zum ersten Male in Straßburg „Parabolarum s. Similium liber“, eine ebenfalls viel gebrauchte und oft wieder aufgelegte Sammlung, die man als eine Ergänzung der „Adagia“ ansehen kann.

    Das Zueignungsschreiben ist vom 15. October 1514 und während einer der ersten Reisen nach Basel abgefaßt. Wir haben damit eine Periode seines Lebens erreicht, in welcher seine Interessen mit zunehmender Stetigkeit an die Stadt Basel sich knüpfen, seine Verbindung mit Deutschland eine sehr vielseitige wird.

    Nach den jetzt gesicherten Annahmen kam E. im Spätherbst 1513 zum ersten Male nach Basel, um mit dem trefflichen Buchdrucker Joh. Froben in Verbindung zu treten. Es handelte sich um einen ersten Druck des griechischen Neuen Testaments und eine Ausgabe der Werke des Hieronymus. Wahrscheinlich war es gleich bei dieser ersten Reise nach Basel, daß er in allen bedeutenderen Städten der Rheinlande, welche er besuchte, mit beinahe fürstlichen Ehren empfangen wurde; auch Straßburg hatte in würdigster Weise ihn begrüßt und namentlich durch die dort unter Wimpheling's Leitung stehende litterarische Gesellschaft ihn ausgezeichnet. Wie er dann in Basel bei Froben sich einführte, hat er in einem Briefe an Wimpheling launig genug erzählt. Er machte damals auch schon Bekanntschaft mit dem Hause der Amerbache, wie mit dem Bischof Christoph von Utenheim, der schon durch das „Enchiridion“ für ihn gewonnen war und ihn gern in seine Wohnung aufgenommen hätte. Schon im|Winter 1514/15 war er wieder in Basel; er kam jetzt auch mit Zwingli in Verbindung, auf welchen sein Gedicht „Expostulatio Jesu ad hominem suapte culpa peccantem“ einen tiefen Eindruck gemacht hatte. Niemals hatte E. so mit Freuden als Deutscher sich gefühlt. Im Sommer 1515 besuchte er Basel für kurze Zeit zum dritten Male; ein längerer Aufenthalt fällt in den Sommer 1518, wurde ihm aber durch Krankheit getrübt. Schon hatte er einen ganzen Kreis aufstrebender junger Männer gewonnen; Heinrich Loriti Glareanus, Beatus Rhenanus, Joh. Oecolampadius, Wilhelm Nesen. Oswald Myconius, Wolfgang Fabricius Capito, Nicolaus Gerbellius sammelten sich um ihn, wie dies Joh. Sapidus in einem aus jener Zeit stammenden Gedichte darstellt. In Froben's Hause zum Sessel am Fischmarkte lernte er damals auch den großen Maler Hans Holbein kennen, von dem wir so bewundernswürdige Bilder des großen Gelehrten besitzen.

    E. war noch mehr als einmal nach England zurückgekehrt. Als aber 1516 Karl von Oesterreich, durch den Tod des Großvaters Ferdinand Beherrscher Spaniens geworden, an seinem Hofe in Brüssel bedeutende Männer um sich zu sammeln strebte und nun nach den Rathschlägen des Kanzlers Silvagius auch E. eingeladen wurde, folgte dieser dem Rufe gern, zumal da er, obwol zum königlichen Rathe mit einem Gehalte von 400 Gulden ernannt, in seinen gelehrten Arbeiten nicht gehindert werden sollte. Selbst die Wahl des Wohnsitzes war ihm freigestellt. Nach England ist er nur noch einmal, im Frühjahre 1517. zurückgekehrt; aber die glänzenden Anerbietungen, welche ihm der König und Wolsey jetzt machten, gewannen ihn nicht. Indeß entsprach doch auch in Brüssel nicht Alles seinen Hoffnungen. Freilich hatte ihm König Karl gleich anfangs ein Bisthum in Sicilien verliehen; aber es war dabei übersehen worden, daß die Verleihung dem Papste zustehe, worüber dann E. einen scherzhaften Bericht gegeben hat. Bald nahm der Tod den Kanzler Silvagius hinweg, und Karls Abreise nach Spanien änderte wol auch sonst manches zu Ungunsten des Gelehrten, obwol auch der neue Kanzler Gattinara ihn schätzte. Er schlug seinen Sitz in Löwen auf, mit dessen Universität gerade damals das neugestiftete Collegium Buslidianum (für das Studium des Hebräischen, Griechischen und Lateinischen) in Verbindung trat. Auch fehlte es dort nicht an Männern, die ihm innerlich näher standen, wie Jacob Ceratinus, Konrad Goclenius, Adrian Barlandus, Joh. Ludw. Vives, der vielleicht, obwol er noch als sein Schüler gelten konnte, in manchen Beziehungen ihn überragte. Auch zum Bischof Erhard von Lüttich stand er im freundlichsten Verhältniß; dagegen gab es nur wenig Berührungspunkte zwischen ihm und dem Vicekanzler der Universität Adrian von Utrecht, der ja auch, 1517 Cardinal geworden, bald auf einen viel weiteren Schauplatz des Wirkens versetzt wurde. Zu fester Thätigkeit an der Universität kam E. nicht. Schon durch seine Kränklichkeit, die auch in dem gesunden Klima der anmuthig gelegenen Stadt nie ganz zu heben war, auf das stille Arbeiten im Zimmer angewiesen, fühlte er auch wieder in voller Lebendigkeit, daß sein Auditorium die ganze gelehrte Welt sei, in welche er durch Schriften und Briefe ohne Aufhören hineinwirkte. Uebrigens mißfiel ihm bald der an der Universität herrschende Geist: im Vergleich zu dem frischen Leben der deutschen Universitäten, unter denen damals nur noch Köln eine dem Humanismus feindliche Haltung einzunehmen schien, kam die Löwener Hochschule ihm dunkel vor. Doch nahm er für einige Zeit seine Wohnung in einem ihrer Collegia. Zuweilen aber begab er sich nach Antwerpen, das damals in höchster Blüthe stand, und kehrte dann bei dem durch große Reisen im Morgenlande berühmten Petrus Aegidius ein. Gelegentlich suchte er auch das freundliche Landgut Andrelac bei Brüssel auf oder er weilte in Brüssel selbst. Aber ihn an den Hof zu fesseln, hatte man|bald aufgegeben; ihn als Lehrer für den Erzherzog Ferdinand zu gewinnen, ist wol nur in flüchtige Erwägung gekommen.

    Von den Niederlanden aus blieb er fortwährend noch mit England in lebhaftem Verkehr, wo jetzt auch der Cardinal Wolsey zu Hulderweisungen geneigt war; aber einen der trefflichsten Freunde, den er früher dort besessen hatte, entriß ihm 1518 der Tod. Nach Frankreich war er schon 1516 durch den ehrwürdigen Bischof von Paris Stephan Poncher eingeladen worden; Franz I., voll Eifer für die liberalen Studien und entschlossen, in Paris ein Collegium Trilingue, wie das Buslidische in Löwen, zu gründen, hätte ihn gern für Leitung desselben gewonnen und würde ihn dem gefeierten Wilhelm Budé vorgezogen haben, mit welchem doch E. einen freundschaftlichen Briefwechsel unterhielt, wenn dieser nur die eben übernommenen Verpflichtungen hätte lösen können. Er empfahl zum Ersatze seinen Freund Glareanus. Im Lustlager von Ardres sah er später die Könige von England und Frankreich zu glänzenden Festen vereinigt; er war dazu von England aus eingeladen worden.

    Zu Deutschland kam er während jener bedeutungsvollen Uebergangsjahre in ein immer engeres Verhältniß. Von dem Gedanken geleitet, daß eine Stadt oder Landschaft, welche einen ausgezeichneten Mann geboren habe, dessen nicht besonders sich rühmen dürfe, erklärt er gelegentlich sehr kühl, daß er seiner Geburt nach ein Holländer sei, wisse er wol, daß aber Holland auf der Grenzscheide von Frankreich und Deutschland liege und nach den Landkarten mehr jenem als diesem zuneige. Er schreibt dies einem Dominicaner, der ihn gebeten hat, nicht zuzulassen, daß Frankreich ihn für sich in Anspruch nehme, sondern offen zu erklären, daß Niederland ein Theil Deutschlands sei, damit dieses nicht eines so großen Ruhmes verlustig gehe. Ebenso hatte ihn auch Heinrich Bebel schon 1515 von Tübingen aus aufgefordert, in seinen Schriften sich für einen Deutschen zu erklären, damit weder Engländer noch Franzosen seiner sich als eines Landsmannes rühmen könnten. Papst Paul III. hat in einem Briefe an ihn es ausgesprochen, daß die deutsche Nation in ihm ein besonderes Kleinod besitze. Wir dürfen nun sagen, daß diese bis zu dem Jahre, in welchem der heftige Kampf zwischen ihm und Luther entbrannte, eine fast rührende Verehrung für ihn an den Tag gelegt und seinem ungewöhnlichen Talent und Wissen nach allen Seiten Einfluß möglich gemacht hat. Durch sein Verhältniß zu Kaiser Karl V. und dessen Bruder Ferdinand schien er entschiedener als vorher auf Deutschland hingewiesen zu sein, das er dann doch auch nostram Germaniam nannte; die ersten Fürsten des Reichs zeichneten ihn aus; die Jugend unserer Universitäten wallfahrtete zu ihm nach Löwen und Basel; seine Schriften wurden nirgends so begierig gelesen als in Deutschland, wo er weiten Kreisen als der Heerführer im Kampfe gegen Barbarei und Aberglauben erschien. Die nationalen Bestrebungen des deutschen Humanismus hat er freilich nie getheilt.

    Es ist bedeutsam, daß Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen, der schon früher mit E. in Verbindung zu treten gesucht, aber auf seine Briefe keine Antwort erhalten hatte, gerade im November 1517, unmittelbar nach dem Anfange der großen kirchlichen Bewegung, durch Spalatin abermals anzuknüpfen suchte, wobei mit gutem Grunde versichert werden konnte, daß der Kurfürst alle Schriften des von ihm bewunderten Gelehrten in seiner Bibliothek habe. Später hat dann E. in Köln dem Kurfürsten seine Ansicht über Luther in vertraulicher Unterredung eröffnen können. Zu derselben Zeit war er auch mit Herzog Georg von Sachsen in engere Verbindung getreten. Es hatte dem Niederländer nahe gelegen, dem Herzoge Anerkennendes über seinen Vater Albrecht den Beherzten zu sagen und mit Bezug auf Petrus Mosellanus, Heinrich Stromer u. A. das|Aufblühen der Universität Leipzig zu rühmen, welcher Georg in der That große Theilnahme zuwandte. Er erhielt gelegentlich als Zeichen der Gunst eine Silberstufe aus den meißnischen Bergwerken. Auch von dem Kurfürsten Albrecht von Mainz, dem Gönner Hutten's, sah er sich ausgezeichnet; er wurde nach Mainz eingeladen und bekam als Geschenk einen zierlich gearbeiteten Becher, wofür er durch Zusendung seines Bildes dankte, mit der Bemerkung jedoch, daß ein besseres Bild von ihm in seinen Büchern sich darbiete. Gern hätte ihn Herzog Ernst von Baiern für die Universität Ingolstadt gewonnen, die er mit großem Eifer zu heben suchte; selbst der schlagfertige Scholastiker Joh. Eck schien bei ihm Belehrung zu suchen, obwol die Art, wie er es that, den vorsichtigen Humanisten warnen konnte.

    Wir wissen, daß Reuchlin einem Rufe nach Ingolstadt gefolgt ist. Wie wunderbar, wenn E. dort mit ihm zusammengetroffen wäre! Aber wie viele Berührungspunkte es auch zwischen ihnen gab und wie sehr sie auf einander angewiesen zu sein schienen, der in kabbalistischen Grübeleien sich verlierende Reuchlin, obgleich er im Kampfe gegen die Dunkelmänner an der Spitze der Humanisten der Bahnbrecher in eine neue Zeit geworden zu sein schien, gehörte doch im ganzen mehr der alten Zeit an, während E., der jenem Kampfe mit gemischten Gefühlen zusah, viel mehr ein Neuerer war, der allein mit den Mitteln humanistischer Bildung die größte Umwandlung herbeizuführen gedachte. Nur einmal waren sie (zu Frankfurt) in persönliche Berührung gekommen, und auch durch Briefwechsel war ihr Verhältniß kein innigeres geworden: es blieb civilis amicitia, qualis fere inter studiosos omnes solet. Anders schien E. zu Hutten sich stellen zu können, wie verschieden sie auch nach Temperament und Sitte waren. Sie begegneten sich zum ersten Male im Sommer 1514 zu Mainz, sahen sich dann zu Frankfurt wieder im Frühlinge 1515 und blieben während der zweiten italienischen Reise Hutten's und nachher in freundlichem Verkehre; wie mittheilsam E. dem jüngeren Manne gegenüber sein konnte, zeigt sein anziehender Brief an diesen über Thomas Morus. Wieder anders stand E. zu Wilibald Pirkheimer, welchen Stand und Reichthum, vielseitige Bildung und klare Besonnenheit nach allen Seiten bestimmenden Einfluß gewinnen ließen.

    Sehr bedeutsam wurde die Stellung des E. zur Universität Erfurt, die gerade damals vom Geiste des Humanismus völlig ergriffen war. Hatte früher der Canonicus Konrad Mutianus Rufus von seiner stillen Wohnung in Gotha aus einen mächtig anregenden Einfluß auf die jungen Humanisten des nahen Erfurt ausgeübt, der zuletzt in der leidenschaftlichen Theilnahme an der Reuchlinistenfehde besonders wirksam wurde, so gewann jetzt, wo Eoban Hesse der „König“ in diesem Kreise war, E. das höchste Ansehen. Eine fast überschwängliche Verehrung wandte sich ihm zu: man pries ihn als die Sonne, die das Dunkel erhelle, man drängte sich an ihn und war entzückt, wenn man auch nur ein Billet aus seiner Hand erhielt, Eoban selbst, Justus Jonas, Schalbus u. A. suchten ihn in den Niederlanden auf, und die Briefe, welche er zumal an Jonas gerichtet hat, beweisen, welches Wohlgefallen er bald an diesen Erfurtern hatte.

    Und daß er ihrer Bewunderung werth sei, das zeigten doch gerade auch die litterarischen Leistungen jener Jahre. Es erschien die Ausgabe des Seneca (Basel 1515), das Büchlein „De octo partium orationis constructione“ (Straßburg 1515 und oft), die Bearbeitung der ersten Bücher von des Theodorus Gaza griechischer Grammatik (Löwen 1516), die dann Konrad von Heresbach zum Abschluß brachte, die „Institutio principis christiani“ (Löwen 1516), die erst durch Heresbach's Werk „De educandis erudiendisque principum liberis“ (1570) übertroffen worden ist. Aber die allgemeinste Aufmerksamkeit erregte|seine Ausgabe des griechischen Neuen Testaments, die erste, welche im Drucke erschien, im Einzelnen wol nicht überall zuverlässig, nicht ohne mancherlei Versehen, auch nicht frei von willkürlichen Aenderungen, aber doch ein Werk, dessen er sich mit seinen sprachkundigen Gehilfen, unter denen vor Anderen Oecolampadius zu nennen ist, von Herzen freuen durfte, ein Werk, das, zur Ehre Gottes unternommen und in seinem Erscheinen mit dem Anfange der Reformation fast zusammentreffend, einen viel gewaltigeren Einfluß üben sollte, als er zunächst denken konnte. Es kam zu Basel in Froben's Druckerei zum ersten Male 1516 heraus und war mit merkwürdigem Vertrauen dem Papste Leo X. dedicirt. Im Anschlusse standen eine sorgfältige lateinische Uebersetzung und belehrende, späterhin sehr vermehrte Anmerkungen. Als Einleitungen konnten gelten „Paraclesis s. exhortatio ad christ. philosophiae studium“ und „Ratio s. compendium verae theologiae“. Die etwas später in der Polyglottenbibel des Cardinals Ximenes erschienene Ausgabe des N. T. hat E. erst für seine drei letzten Ausgaben (1522, 1527, 1535) benutzen können, und man sagt ihm nach, daß er es mit mehr Wahrheitsliebe und Selbstverleugnung hätte thun sollen. Es ist hierbei jedoch im Auge zu behalten, daß er seinen Fleiß vor allem auf die neue Uebersetzung richtete und den griechischen Text eigentlich nur der Beglaubigung halber hinzufügte. In keinem Falle konnte er besorgen, daß er bald die heftigsten Angriffe erfahren werde. Aber weit umher erhoben die Mönche ein wahres Zelotengeschrei gegen ihn und er hatte dem wackeren Mosellanus gar wunderliche Geschichten aus diesen Kreisen zu erzählen. Doch auch mit sehr urtheilsfähigen Männern gerieth er in Kampf: mit Jacob Faber von Etaples, der so lange sein Freund gewesen war, mit Johann Eck in Ingolstadt, der gegen seine Art ziemlich schonend auftrat, mit Eduard Lee, der um so leidenschaftlicher ihn anfiel und die ganze Universität Löwen gegen ihn erregte, mit Jacob Lopez Stunica, dem gelehrten Mitarbeiter an der Polyglotte. Freilich ist man erstaunt zu sehen, daß der Mann, welcher 1516 auch noch die Briefe des Hieronymus herauszugeben vermochte, soviel Unfreundliches erfuhr; aber selbst die Gesammtausgabe des Hieronymus, die er, von Andern unterstützt, 1524 zu Ende brachte, hat bei seinen Zeitgenossen nur beschränkte Anerkennung gefunden. Es ist bezeichnend, daß gerade in jenen Jahren seine allerdings früher geschriebene „Querela pacis undique gentium ejectae profligataeque“ in mehreren Ausgaben erschien.

    Er hatte als Humanist und Theolog den Höhepunkt erreicht und konnte auf das bis dahin Geleistete immerhin mit einem Selbstgefühle, wie es wenigen möglich gewesen ist, zurückblicken. Trotz aller Anfeindungen war er doch das Orakel der Zeit. Noch Keiner hatte das heidnische und das kirchliche Alterthum in solchem Umfange erforscht, mit solcher Freiheit aufgefaßt, mit solchem Scharfsinn erklärt, mit so viel Geist reproducirt. Man darf freilich nicht sagen, daß dieses Alterthum ihn innerlich umgewandelt und über die Schranken, innerhalb deren er seine Entwicklung durchzuführen gehabt hatte, völlig hinausgehoben, vielmehr hat man anzuerkennen, daß er zum Theil noch in den Anschauungen und Ueberzeugungen des Mittelalters gefangen geblieben ist und, als die große kirchliche Bewegung alles erschütterte, unwahr und schwächlich manches längst Verworfene wieder hervorgesucht und vertheidigt hat. Aber verlangen wir nicht von ihm, was er nach Anlage und Bildungsgang nicht sein konnte, freuen wir uns lieber der außerordentlichen Leistungen, die er, der Unstete und Kränkliche, doch zu Stande brachte. In solcher Würdigung begleiten wir ihn noch durch die letzten zwanzig Jahre seines Lebens.

    Ueber seine Stellung zur Reformation ist oft gesprochen worden, und er selbst, der von beiden mit einander ringenden Parteien mit gleicher Leidenschaftlichkeit sich verurtheilt sah, hat ja schon alle Kraft aufwenden müssen, diese|Stellung als eine berechtigte zu erweisen. Als Humanist frei und kühn in seinem Urtheil fühlte er als Theolog fort und fort durch die Autorität der Kirche sich gebunden und wol auch zu Retractationen verpflichtet, wo es auf Kosten der Wahrhaftigkeit geschehen mußte. Dabei war das, was um ihn her die Welt verwandelte, für ihn nicht Sache des Herzens, der lebendigen Erfahrung, der tiefen und starken Ueberzeugung, sondern des Verstandes, der vorsichtigen Kritik, der klugen Vermittlung, und weil er es so zu keinem abschließenden Resultate brachte, griff er zuletzt doch, um einen sicheren Halt zu haben, nach den Stützen, welche die alte Kirche darbot. Wie hätte dann der rastlos arbeitende Gelehrte, der niemals im Volksleben gestanden hatte und keines Volkes Sprache redete, den gewaltigen Volksmann Luther verstehen und begleiten können, der die besten Gaben der Gelehrsamkeit zu bloßen Mitteln für die Sache des Evangeliums herabsetzte und durch Ungestüm alles in Verwirung zu stürzen schien, wie ja wirklich neben ihm wilde Mächte in Bewegung kamen? Er hatte zunächst ja Wohlgefallen an Luther, wie dieser eine Zeit lang noch mit Anerkennung von ihm sprach; sie traten mit einander in brieflichen Verkehr und schienen, wenn sie Hand in Hand vorwärts gehen könnten, durchschlagender Erfolge sicher zu sein. Auch hofften Luther's Freunde solches Zusammengehen, und die Vertreter des Alten fürchteten es. Daß nun aber der Humanismus in E. die Sache der Reformation nicht ebenso ergreifen und unterstützen konnte, wie in Melanchthon, daß jener vielmehr bald unsicher wurde, dann scheu sich zurückzog, endlich als Gegner der Reformation in die Schranken trat, das erklärt sich aus dem oben Gesagten. Ueber Melanchthon bewahrte E. übrigens eine günstige Ansicht, und wenn schon im März 1517 Oecolampadius vor ihm es aussprechen durfte, daß in jenem ein zweiter E. erstanden sei, so kann es nicht auffallen, daß er auch später, als er den frühgereiften Humanisten an der Seite des Reformators sah, sich ihm freundlich zeigte; die etwas unsanfte Art, in welcher sein erster Hyperaspistes mit Melanchthon verfuhr, trübte ihr Verhältniß zunächst noch nicht.

    Während aber die Anhänger Luther's längere Zeit seines Eingreifens zu Gunsten ihrer Sache harrten, erhob sich auf Seiten der Altkirchlichen rasch gewaltiger Lärm gegen den verkappten Lutheraner. In Löwen schimpften Dominicaner und Minoriten um die Wette auf ihn; besonders heftig aber waren die Angriffe des Karmeliters Nicolaus von Egmond. Umsonst beklagte sich E. bei dem Rector der Universität. Und so in anderen Kreisen. Für Luther's ganzes Unternehmen, für alles Unerfreuliche, was damit in Verbindung trat, machte man ihn verantwortlich, und die lebhaftesten Proteste, bei denen er ein Mal über das andere versicherte, daß er Luther's Schriften kaum angesehen habe, fruchteten nichts. Alle Entrüstung über sein N. T. und die dazu gehörigen Arbeiten zog sich in diesen Tumult mit hinein. Zuweilen ließ er sich doch nicht abhalten, die Maßlosigkeit, mit der man gegen Luther verfuhr, zu tadeln und schlimme Folgen davon vorauszusagen; aber freilich gab er seinen Unwillen meist nur in Briefen an vertraute Freunde kund. Am stärksten mißfiel ihm Aleander's Auftreten in Löwen, Lüttich und Köln.

    Es ist kein Wunder, daß er die Niederlande völlig verließ und seit 1521 in Basel sich heimisch machte, wo er ja durch wiederholte Besuche halb und halb schon sich eingelebt hatte und unter Freunden Ruhe und Hilfe zu seinen Arbeiten finden konnte. Die Regierung in Brüssel hatte sein Vorhaben erleichtert und mit reichen Mitteln versehen kam er nach Basel. Beatus Rhenanus war ihm entgegengeeilt, der Bischof, der Magistrat, die Geistlichkeit, die Universität hatten ihn in ehrenvoller Weise begrüßt. Der wackere Froben, die Amerbache, Rhenanus, Glareanus traten mit ihm in lebhaftesten Verkehr, Andere schlossen sich|an. Freilich drückte ihn auch hier von vornherein manches Ungemach: er konnte die Ofenwärme nicht vertragen und litt öfter an Steinschmerzen; aber dem Bereiche feindlicher Machinationen schien er entzogen zu sein.

    Da geschah es, daß die Erhebung des Papstes Adrian VI. (Anfang 1522) seine volle Aufmerksamkeit wieder auf Rom lenkte. Sein an Adrian gerichtetes Schreiben erwiderte dieser mit einer huldvollen Einladung. Und auch Andere luden ihn ein. Wirklich war er auch bereits, zur Reise entschlossen, bis Costnitz gekommen, als ein heftiger Krankheitsanfall ihn entmuthigte und zur Umkehr nach Basel bestimmte. Hier aber erhielt er eine Einladung nach Frankreich, was wieder für die Regentin Margaretha Veranlassung wurde, ihn in die Niederlande zurückzurufen. Inzwischen war Adrian VI. gestorben und Clemens VII. ihm gefolgt. Das Wohlwollen aber, welches auch er für E. an den Tag legte, erweckte in diesem noch einmal die Lust zur Reise nach Rom, und der Kaiser war geneigt, ihn der Gesandtschaft zuzutheilen, welche dem neuen Papste seine Glückwünsche darbringen sollte, allein auch diesmal hielt den Gelehrten Erkrankung ab. Uebrigens hatte er auf die Pension, welche er aus den Niederlanden erhalten sollte, nicht selten lange zu warten; der Kaiser war in Spanien, und der Krieg nahm alles verfügbare Geld in Anspruch.

    Zu Deutschland stand E. eine Zeit lang noch in ganz erfreulichem Verhältniß. In einem Briefe an Babirius (August 1521) klagt er wol, daß Luther's Anhänger sich von ihm zurückziehen; aber am Schlüsse bemerkt er doch: equidem faveo Germaniae; dici non potest, quam in dies efflorescat ingeniis felicissimis, in me propensioribus studiis, quam vel promerebar vel postulabam. Noch immer verehrten die deutschen Humanisten in ihm ihr Oberhaupt: in Freiburg waren Ulrich Zasius und Konrad von Heresbach ihm treu ergeben, die Erfurter schwärmten für ihn, in Leipzig sprach Petrus Mosellanus zu seinem Ruhme. Freilich brachte ihn dann die Art, wie der ungestüme Hutten die Verbindung mit ihm zu erhalten suchte und, als er von ihm sich verleugnet glaubte, in seiner „Expostulatio cum Erasmo“ zu schonungslosem Angriff überging, in die peinlichste Lage; aber die Bitterkeit, womit er nun gegen den hilflosen Flüchtling sich erklärte, und der völlige Mangel an Edelmuth, den zumal seine „Spongia adversus Hutteni aspergines“ verrieth, vernichteten die ihm zugewandten Sympathien so wenig, daß selbst Luther noch freundlich an ihn schrieb. Als aber um dieselbe Zeit (April 1524) der junge Joachim Camerarius nach Basel gekommen war, um ihm seine Verehrung zu bezeigen, hatte er, durch Körperleiden tief verstimmt, die Neigung zu freundlicher Aufnahme des tüchtigen Mannes nicht, und so schrieb er nun auch an Luther in sehr herbem Tone (5. Mai), wie zur Vorbereitung auf seine endlich doch zu Stande gebrachte Streitschrift „De libero arbitrio“. Der damit entbrennende Kampf hat dann freilich viel dazu beigetragen, daß sein Einfluß auf Deutschland schwächer und schwächer wurde.

    Wir betrachten indeß zunächst noch weiter, wie bedeutend dieser Einfluß vor der Scheidung war. E. entwickelte in jenen Jahren eine ganz außerordentliche Thätigkeit. Mit 1518 begannen, im Anschluß an die Ausgabe und Uebersetzung des griechischen N. T., die Paraphrasen zum N. T., welche, wie flüchtig auch im Einzelnen Vieles sein mag, für gesundes Schriftverständniß sehr wichtig geworden sind. Gleich darauf eröffnete sich die lange Reihe von Ausgaben der Kirchenväter mit der Ausgabe Cyprians, für welche er zwei sehr alte Handschriften aus der Abtei Gemblours benutzt hatte; es folgten Arnobius, Hilarius, Irenäus, Chrysostomus, Ambrosius. Aber zugleich war er als Herausgeber von Classikern thätig, und noch 1518 konnte er eine Ausgabe des Suetonius Friedrich dem Weisen, eine Ausgabe des Curtius dem Herzog Ernst von Baiern|widmen; 1520 gab er Cicero's „Officia“, 1523 die „Tusculanen“ heraus. Nebenbei fand er noch Zeit zur Abfassung von mancherlei Lehrschriften; so erschien 1522 in abgerundeter Bearbeitung das Büchlein „De conscribendis epistolis“ und vielleicht noch in demselben Jahre ein anderes „De studio bonarum litterarum“, worauf (1524) „Familiarium colloquiorum opus multis nominibus utilissimum“ an das Licht trat, ein Werk, das viele Auflagen erlebt, aber auch heftigen Tadel erfahren hat, da es, obwol im Grunde ganz allein dazu bestimmt, die Jugend zu guter lateinischer Umgangssprache anzuleiten und ihr dabei die Hauptlehren der Poetik, der Rhetorik, der Physik, der Moral nahe zu bringen, doch die Doctrinen und Institute der Kirche arg bloszustellen, ja Ketzereien zu enthalten schien. Und schon 1525 erschien in einem stattlichen Folianten „Plinii Secundi divinum opus, cui titulus Historia mundi“, dem Bischof Stanislaus Thurzo von Olmütz zugeeignet, mit dem er, wie mit dessen Bruder Johann Thurzo von Breslau, bereits seit 1519 in brieflichem Verkehre stand. Gleich daneben aber stellte der Unermüdliche die Schrift „Lingua“ (de linguae usu et abusu), welche, dem Woiwoden von Krakau gewidmet, in weiten Kreisen Beifall fand und eine Reihe von Auflagen erlebte. Er fand überhaupt damals bei den Polen die lebhafteste Theilnahme; selbst der König lud ihn an seinen Hof.

    Wir dürfen ohne Weiteres annehmen, daß so zahlreiche und so verschiedenartige Leistungen dem stets kränklichen Manne nur mit Unterstützung der ihn umgebenden jüngeren Freunde möglich wurden. Unbillig aber wäre es, wenn wir die von ihm besorgten Ausgaben classischer und patristischer Werke mit dem Maßstabe moderner Kritik messen wollten, da es ihm zunächst doch darauf ankam, diese Werke recht Vielen zugänglich und für die Bildung der Zeit verwendbar zu machen. Daß er zuweilen doch auch in auffallende Irrthümer gerathen ist, darf man ihm nicht zu hoch anrechnen.

    Den Kampf mit Luther hatte er lange vermieden, und als er endlich seine „Diatribe de libero arbitrio“ schrieb, dachte er nicht daran, die überall schon einstürzenden Außenwerke des kirchlichen Systems zu stützen. Aber wenn er nicht immer wieder von seinen Feinden den Vorwurf hören wollte, daß er Luther's Sache begünstige, so mußte er wenigstens durch eine unzweideutige Streitschrift von dem Verhaßten sich lossagen, und nur so konnte er auch die steigenden Besorgnisse seiner Freunde zerstreuen. Erst jetzt schien Luther einen ebenbürtigen Gegner gefunden zu haben. Auch fand die Schrift unter den Altgläubigen außerordentlichen Beifall; sie billigten nur das Eine nicht, daß am Schlusse derselben noch ein freundliches Wort für Luther angebracht war. Und dieser selbst, obwol ihm das Lesen der Schrift Ekel erregte, äußerte sich zunächst vor seinen Freunden glimpflich genug. Als dieselbe aber in einer deutschen Uebersetzung Emser's rasch verbreitet wurde, brach er um so heftiger heraus; seine Schrift „De servo arbitrio“ riß eine tiefe Kluft auf zwischen ihm und E. Und nach kurzem Schwanken warf dieser seine in 10—12 Tagen niedergeschriebene Entgegnung ("Hyperaspistes") in die Welt; sie war noch leidenschaftlicher als das von Luther Geschriebene, der jetzt beinahe gerechtfertigt schien. Wenn nun auch selbst Heinrich VIII. und Wolsey, Karl V. und Gattinara ihn belobten, so konnte doch er selbst nicht glauben, daß er durch solche Streitschriften die gewaltige Bewegung hemme.

    Nicht ohne Grund hatte Herzog Georg von Sachsen noch vor dem Erscheinen der Hauptschrift ihm gesagt, daß er mit seinem Eingreifen fast schon zu spät komme. Indeß blieb der Herzog ihm freundlich zugewandt; er sandte ihm den jungen Christoph v. Carlowitz zu, um unter seiner Anleitung die durch Mosellan's Unterricht gewonnene Bildung zu vollenden, und wiederum berief er|auf seine Empfehlung den tüchtigen Jakob Ceratinus als Ersatz für Mosellanus nach Leipzig. Die seltsamen Verlegenheiten, in welche sich E. durch seine Händel mit dem jungen Heinrich Eppendorf verwickelte, einem Schützlinge des Herzogs, machten diesen nicht irre; aber er konnte es doch auch nicht hindern, daß der freche Gesell den arglosen Mann erst täuschte, dann einen nur halb verleugneten Brief desselben, den der Zufall in seine Hände gebracht hatte, zu grausamen Quälereien mißbrauchte.

    Mit Melanchthon und Camerarius wußte E. in dieser Zeit keine regere Verbindung mehr zu erhalten. Die beiden innig verbundenen Freunde wechselten zwar noch Briefe mit ihm und schickten einander die von ihm erhaltenen zu; aber die Angriffe, welche er ohne Noth gegen die Schule zu Nürnberg richtete, waren eben so ärgerlich für Melanchthon, der zu ihrer Begründung geholfen hatte, als für Camerarius, der an ihr wirkte. Im Sommer 1529 hatte dieser dem Freunde den Wunsch ausgedrückt, daß er nicht mehr an E. schreiben möge, und Melanchthon konnte in seiner Antwort kühl genug bemerken, daß er nie sonderlich um des Mannes Freundschaft sich beworben habe.

    Indem E. so seinen Einfluß auf Deutschland immer geringer werden sah, mochte es ihm zu besonderer Genugthuung gereichen, daß am Hofe des Herzogs von Cleve seine vermittelnden Grundsätze in kirchlichen Dingen Geltung zu gewinnen schienen, daß durch Konrad von Heresbach eine „erasmische Reformation“ in Gang kam. Und ähnliches durfte er vom Erzstifte Köln erwarten. Es ist hier nicht zu schildern, wie in beiden Gebieten zuletzt Alles haltlos zusammensank.

    Während aber E. in Deutschland die Freunde reformatorischer Bestrebungen entweder gegen sich erbitterte oder doch nur zu halber Anerkennung seiner Intentionen brachte, erfuhr er fort und fort die heftigsten Angriffe aus den Reihen der Altkirchlichen, da selbst sein Auftreten gegen Luther das wider ihn erregte Mißtrauen nicht beschwichtigt hatte. Zuerst erschien der Spanier Stunica wieder auf dem Plan und schleuderte von Rom aus, wohin er sich begeben hatte, maßlose Schmähungen auf den schüchternen Gelehrten: er gab ihm Schuld, in seinen Schriften an unzähligen Stellen dieselben Irrthümer, welche Luther lehre, verkündigt, selbst den Primat des hl. Petrus und des apostolischen Stuhles in Frage gestellt zu haben. Etwas später erhob sich mit ähnlichen Verdächtigungen der mönchisch-fromme Fürst Albert Pius von Carpi, während der streitbare Syndicus der Sorbonne Natalis Beda, der am 17. April 1529 den Uebersetzer und Verbreiter erasmischer Schriften, Ludwig Broquin, auf den Scheiterhaufen brachte, noch ärgerlichere Streitigkeiten erregte. Aber der wüthende Anfall eines andern Doctors der Sorbonne, des in den Orden der Carthäuser eingetretenen Petrus Sutor, fand selbst bei Beda keine Billigung, wurde indeß, weil die Sorbonne damit einverstanden gewesen war, von E. einer Entgegnung werth geachtet. Ungleich weniger schlimm waren die Verketzerungen, welche in jenen Jahren spanische Bettelmönche gegen ihn richteten, da der hohe Clerus des Königreichs für ihn eintrat und auch der Kaiser, der damals in Spanien sich befand, wie der Kanzler Gattinara, ihm günstig blieb; aber zu mancherlei Abwehr fühlte der so vielfach angefeindete E. sich doch gezwungen.

    Und jetzt regte sich auch in seiner unmittelbaren Nähe, in Basel, ein ihm widerwärtiger Geist: der Protestantismus strebte zur Herrschaft auf in der Stadt und riß die ihm theuersten Männer von ihm los. Je mehr aber das Neue ringsum durchdrang, desto stärker fühlte er den Altkirchlichen gegenüber sich compromittirt, und die Nothwendigkeit, Basel zu verlassen, trat ihm täglich näher. Einzelne freilich, wie Beatus Rhenanus, hielten noch treu zu ihm; andere dagegen, wie Oecolampadius und Pellicanus, erklärten sich entschieden|für die Neuerungen. Unter solchen Umständen waren die schwachen Rathschläge, welche E. dem Rathe der Stadt auf dessen Verlangen gab, wenig geeignet, die Aufregung der Gemüther zu dämpfen, und als dann die bisherigen Freunde bei den Verhandlungen über die Abendmahlslehre nicht ohne Grund sich darauf bezogen, daß er selbst in früheren Schriften die Gegenwart des Herrn im Abendmahle zweifelhaft gemacht habe, brach er alle Verbindung mit ihnen ab. In dieser kritischen Zeit starb ihm der wackere Froben, der seine mit hohem Sinne geleitete Buchdruckerei vorzugsweise ihm zur Verfügung gestellt, auch für seine äußeren Bedürfnisse nicht selten in liebenswürdigster Art gesorgt hatte. Die schmerzliche Entscheidung konnte nicht mehr lange ausbleiben.

    Aber seine Arbeitskraft schien sich in demselben Maße zu steigern, als die Anfechtungen größer wurden. Im J. 1526 erschien seine der Königin Katharina von England zugeeignete Schrift „Christiani matrimonii institutio"; ein Seitenstück dazu war das 1529 der verwittweten Schwester des Kaisers, Maria von Ungarn, gewidmete Büchlein „Vidua christiana"; eine dritte Arbeit erbaulicher Art, „Modus orandi Deum“, gehört wol in dieselbe Zeit. Von größerer Wichtigkeit aber waren zwei Lehrschriften, welche er damals herausgab: „De recta Latini Graecique sermonis pronunciatione dialogus“ und „Ciceronianus s. de optimo genere dicendi“ (1528). Ob er bei jener in Bezug auf die Aussprache des Griechischen durch einen Scherz Glarean's, und nur für einige Zeit, irre geleitet worden, ist hier nicht zu untersuchen; über die andere, die aus verschiedenen Gründen in Frankreich und Italien so großen Unwillen hervorrief und von dem älteren Scaliger wie von Stephan Dolet eine so schonungslose Kritik erfuhr, hat das Urtheil längst in einer für E. günstigen Weise sich festgestellt. Indem er aber die pedantischen Ciceronianer, welche in Petrus Bembus und Christoph Longolius die höchsten Meister verehrten, auf das Unhaltbare ihrer Manier aufmerksam machte, war er fortwährend voll von Bewunderung für Cicero selbst, den er wegen seiner Sittenlehre schon in der Vorrede zur Ausgabe der Tusculanen wie einen Heiligen gepriesen hatte. Eben damals hatte er den Schriften Seneca's aufs neue seinen Fleiß zugewandt, und die zu Anfange des J. 1529 erschienene Ausgabe derselben übertraf die 1515 veranstaltete (von ihm eigentlich nur unterstützte) um vieles; Sigmund Gelenius hatte dabei treulich geholfen. Die Bemerkungen der vorausgeschickten Zueignungsschrift über Stil und Charakter des Philosophen, sowie über dessen Verhältniß zum Apostel Paulus zeichnen sich durch merkwürdige Unbefangenheit aus. Allein er fand in jenen Jahren zu einer noch viel großartigeren Leistung Kraft und Muth, zu einer kritisch zuverlässigen Ausgabe der Werke Augustin's, von welcher der erste Band 1529 erschien, nachdem bereits 1522 Vives, seinem Drängen nachgebend, den heillos verunstalteten Text der Bücher „De civitate Dei“ mit einem sorgfältigen Commentar herausgegeben hatte. In der dem ersten Bande vorgesetzten Dedication an den Erzbischof Fonseca von Toledo hat E. Gelegenheit genommen, mancherlei rasche Urtheile, die er in früheren Schriften über den großen Kirchenvater ausgesprochen hatte, in eine fast überschwängliche Anerkennung umzusetzen.

    Da kam es in Basel (Februar 1529) zu einer gewaltsamen Entscheidung; die Reformation siegte. E. mußte einen längeren Aufenthalt in dieser Stadt, die doch gern ihn zurückgehalten hätte, als unzulässig ansehen, wie schwer es ihm auch wurde zu scheiden und bei zunehmendem Alter und oft wiederkehrender Kränklichkeit in einem neuen Wohnsitze von vorn anzufangen. Er entschied sich endlich für Freiburg im Breisgau, wo auch der Clerus von Basel mit seinem Anhange Aufnahme gesucht hatte und ihm selbst Ulrich Zasius, der berühmte Jurist, sichern Anhalt zu bieten schien; übrigens war er dort unter dem Schutze|des Erzherzogs Ferdinand, der ihn noch 1528 in der ehrenvollsten Weise nach Wien eingeladen hatte. Nachdem er noch mit Oecolampadius sich ausgesöhnt, verließ er Basel am Ende des April; mit ihm gingen, von gleicher Gesinnung erfüllt, Bernus und Glareanus.

    Er trat damit in den letzten Abschnitt seines unruhvollen Lebens ein, gewiß mit trüben Ahnungen. Sie sollten in Erfüllung gehen. Freilich hatte Freiburg mit großen Ehren ihn empfangen, und ihm selbst fehlte es nicht an der Neigung, in die neuen Umgebungen sich einzuleben, wie er denn sogar mit den dortigen Franciscanern sich in ein freundliches Verhältniß setzte; aber die Reparaturen, welche in dem um 1000 Ducaten erkauften Hause vorzunehmen waren, die üble Witterung, welche seine körperlichen Leiden vermehrte, auch die Lage und Beschaffenheit der Stadt bereiteten ihm vielfachen Verdruß; jede Unterhaltung mit dem schwerhörigen Zasius verursachte ihm mehr Mühe als Erquickung; am liebsten war er doch immer noch mit Glarean zusammen. Dazu sah er sich in neue Streitigkeiten verwickelt, die zur Mehrung seines Ruhmes nichts beigetragen haben.

    Sehr unerfreulich war sein Handel mit Gerhard Geldenhauer von Nimwegen (Noviomagus), welcher nach seinem Uebertritte zum Lutherthum in Noth gerathen war und dann von Straßburg aus an den früher ihm befreundeten E. eine Bitte um Unterstützung gerichtet hatte. Dieser jedoch, gereizt durch Schriften Geldenhauer's, worin derselbe, mit Berufung auf ähnliche Erklärungen des berühmten Freundes, die Fürsten zu schonendem Verfahren gegen vermeintliche Ketzer vermahnt hatte, schleuderte gegen den bedrängten Mann und dessen Glaubensgenossen eine kleinliche und gehässige Invective ("Epistola contra quosdam, qui se falso jactant evangelicos"), in elender Menschenfurcht die sonst von ihm bekannten freisinnigeren Grundsätze verleugnend. Als nun bald nachher (1530) durch evangelische Prediger in Straßburg dieser Epistel eine ebenso würdige als eingehende Erwiderung ("Epistola apologetica") zu Theil geworden war, erhob er sich wieder zu einer „Responsio“, welche nach einem scheinbar milden Anfange die früher ausgeschütteten Vorwürfe fast noch leidenschaftlicher erneuerte.

    Es mußte ihn überraschen, daß er nun doch zur Zeit des Augsburger Reichstages von 1530 ein Schreiben Melanchthon's erhielt, worin ihn dieser um freundliche Verwendung beim Kaiser ersuchte. Und zu derselben Zeit forderten ihn die Freunde des Friedens auf katholischer Seite auf, persönlich nach Augsburg zu gehen und mit zu vermitteln, während der edle Sadolet ihm Maßhalten in Bestreitung kirchlicher Uebelstände empfahl. Wenn er dann, den Wünschen Melanchthon's entsprechend, durch den Cardinal Campegius an den Kaiser sich wandte, so erwartete er selbst wol keinen Erfolg, und die Ansichten, welche er eben damals in der „Consultatio de bello Turcis inferendo“ aussprach, richteten sich wenigstens mittelbar gegen Luther. Die auf das Andringen des wackeren Julius v. Pflug herausgegebene Schrift „De amabili ecclesiae concordia“ (1533) trug freilich auch versöhnlichen Charakter, bewies aber zugleich, wie wenig er die Tiefe der Gegensätze ermessen hatte, und erfuhr (1534) durch Anton Corvinus eine von Luther eingeführte Widerlegung, die mit Ruhe und Würde das Unzulängliche jener Auffassungen zeigte. Die Verbindung, welche E. damals mit dem zur katholischen Kirche zurückgekehrten Georg Wicelius anknüpfte, brachte ihn mit Luther zum letzten Male in Conflict. Denn als Wicelius in Freiburg seine „Apologia wider seine Afterredner“ hatte drucken lassen (1532), erschien sie nach ihrem Inhalte, wie nach dem bitteren Tone, in dem sie gehalten war, so auffallend dem verwandt, was E. vorher gegen die Lutheraner geschrieben hatte,|daß eben er dafür verantwortlich gemacht wurde und sein schwacher, nach Menschengunst lüsterner Sinn scharfe Beurtheilung erfuhr. Die zwischen Amsdorf und Luther in dieser Sache gewechselten Briefe, die wider ihren Willen in die Oeffentlichkeit kamen, reizten ihn dann zu einer Rechtfertigungsschrift ("Purgatio"), die manche ihm gemachte Vorwürfe eher als begründet erscheinen ließ und darum auch von Luther nicht weiter beachtet wurde. Seine Kämpfe nach dieser Seite waren zu Ende.

    Aber nicht nach der andern Seite. Schon 1531 hatte der damals noch junge Augustinus Steuchus (Eugubinus) in einer Schrift „Veteris Testamenti ad veritatem Hebraicam recognitio“ gegen ihn, doch im ganzen schonend, die kirchliche Autorität der Vulgata in Schutz genommen und dabei namentlich an Stellen des Pentateuch zu zeigen gesucht, daß dieselbe gerade aus dem hebräischen Texte in ursprünglicher Richtigkeit erkannt werden könne. E. jedoch, durch jeden Tadel verletzt und hier noch besonders an seine beschränkte Kenntniß des Hebräischen unsanft erinnert, richtete an Steuchus sofort ein ausführliches Schreiben, worin er auf eine ganz freundliche Einleitung die bittersten Gegenbemerkungen folgen ließ. Was dann jener wieder gegen ihn schrieb, war so kränkend, daß er auf Fortsetzung des Kampfes verzichtete. Allein wieder von Rom her kam 1533 ein gewichtiger Angriff. Der als Humanist und Historiker berühmte Juan Gomez Sepulveda schrieb ihm, daß er in seiner Ausgabe des N. T. einem mehrfach verderbten Texte gefolgt sei, während ein in der vaticanischen Bibliothek aufbewahrter uralter Majuskel-Codex beider Testamente mit der gewiß aus einer ausgezeichneten Handschrift geflossenen Uebersetzung des Hieronymus vielfach übereinstimme und diese rechtfertige. Die von E. vorgebrachten Entscheidungen beruhten in der That auf willkürlichen Annahmen und machten seine Ueberlegenheit sehr zweifelhaft. Unbedeutend war ein dritter von Rom ausgehender Angriff. Er kam von einem Lehrer der Rhetorik, Petrus Cursius, der 1535 eine Defensio pro Italia für nöthig hielt, um ihm vorwerfen zu können, daß er im eigenen Hochmuthe den Ruhm Italiens herabsetze. Diesmal aber fand E. den der Sache entsprechenden Ton: seine „Responsio ad P. Cursii defensionem“ mußte Unbefangenen als eine schlagende und durchaus würdige Rechtfertigung erscheinen.

    Uebrigens war er in diesen Jahren mit fast ängstlichem Eifer darauf bedacht, als gläubiger und gehorsamer Sohn der Kirche zu erscheinen. Er erklärte sich dem Cardinal Cajetan gegenüber zu Retractationen, wie sie Augustin als nöthig erkannt habe, bereit, sobald man ihm nur angebe, was in seinen Schriften irrig und ärgerlich sei; er veröffentlichte zum Erweise seiner Rechtgläubigkeit in Bezug auf die Abendmahlslehre die bis dahin noch nicht gedruckte Schrift des Algerus „De veritate corporis et sanguinis dominici in Eucharistia“ (1530); er schickte der Ausgabe des ebenfalls bis dahin noch nicht bekannten Psalmen-Commentars von Bischof Haymo von Halberstadt eine glänzende Lobrede auf das früher oft verhöhnte Mönchthum voraus (1533); er schrieb um dieselbe Zeit ein Buch „De praeparatione ad mortem“ voll Salbung und Frömmigkeit. Kein Wunder also, wenn er endlich in katholischen Kreisen allgemeine Anerkennung fand. Papst Paul III., dem er zur Thronbesteigung seine Glückwünsche dargebracht hatte, wies ihm die reiche Propstei von Deventer zu und schien sogar geneigt, ihn unter die Cardinäle aufzunehmen, mit denen er zu ernster Erneuerung der Kirche sich umgab.

    Wir wenden uns seinen theils praktischen, theils wissenschaftlichen Arbeiten zu, welche die ferner Stehenden das allmähliche Schwinden seiner Kräfte kaum ahnen ließen. Da ist zuerst des „Libellus de pueris statim ac liberaliter instituendis“ (1529) und der Schrift „De civilitate morum“ zu gedenken; wie einflußreich beide, in immer neuen Auflagen erschienen, für Erziehung und Unterricht geworden sind, läßt sich hier nicht näher bezeichnen. Mit hoher Freude vollendete er dann (1531), unterstützt von Simon Grynäus, die Ausgabe des Aristoteles und des Livius. Eben damals waren die „Apophthegmata“ in sechs Büchern ans Licht getreten, eine Sammlung sinnreicher Aussprüche und Anekdoten, meist aus Plutarch, welche, bald noch um zwei Bücher vermehrt, überall Beifall fand und oft wieder aufgelegt werden mußte. Schon im nächsten Jahre (1532) folgten die Ausgaben des Demosthenes und des Terenz; unter den Augen des unermüdlichen Mannes traten endlich „Ptolemaei de geographia libri VIII“ (1530), sowie die Werke des Josephus (1534) und des Origenes (1536) ans Licht; das treffliche Werk „Ecclesiastae s. de ratione concionandi libri IV“ fügte sich diesen Arbeiten 1535 ein, in der That die erste, nach festem Plane ausgeführte Homiletik voll gesunder Gedanken.

    Er hatte dieses Werk nach dem Wunsche des Bischofs Fisher von Rochester, seines ehrwürdigen Freundes, geschrieben; aber als es, nach mancherlei Störungen vollendet, in die Oeffentlichkeit gelangte, war der Bischof ein Opfer der Grausamkeit seines Königs geworden, der bald nachher auch den mit E. besonders eng befreundeten Kanzler Thomas Morus unter dem Henkerbeile sterben ließ. Er hat dann beider Standhaftigkeit in einem „Carmen heroicum“ gefeiert, das im Jahre seines eigenen Todes von Hieronymus Gebwiler herausgegeben worden ist. Und noch andere Sorge war damals über ihn gekommen. Die Gräuelherrschaft der Wiedertäufer ließ ihn fürchten. daß man den Humanismus dafür verantwortlich machen werde, seine Bemühungen aber, genaueres für diese Dinge zu erfahren, blieben lange vergeblich, da auch zwei von Heresbach an ihn abgesandte Berichte unterwegs verloren gingen und erst der dritte zu Anfange des J. 1536 ihn erreichte. Aus diesem konnte er nun freilich auch erkennen, daß dieser am Hofe von Cleve so einflußreiche Mann dem Lutherthum näher als vorher getreten sei.

    Der Aufenthalt in Freiburg konnte ihm, soweit er seine Kränklichkeit nicht in Betracht zog oder das durch litterarische Fehden ihm bereitete Ungemach vergaß, im ganzen als ein befriedigender erscheinen. Von seiner Umgebung erhielt er fort und fort neue Beweise der Verehrung; Fürsten und Prälaten zeichneten ihn durch Zuschriften und Geschenke aus; er konnte gelegentlich berichten, daß er mit den von allen Seiten erhaltenen Briefen ein ganzes Zimmer, mit den ihm geschenkten Pocalen, Uhren, Ringen, Löffeln einen ganzen Schrank angefüllt habe und von den ungesuchten Gaben, auch ohne die vom Papste, vom Kaiser, vom englischen Könige eingehenden Pensionen, sorgenfrei und bequemlich leben könne. Aber auf die Dauer gefiel es ihm in Freiburg doch nicht. Und im Sommer 1535 erhielt er von der Regentin der Niederlande die Einladung, nach Brabant zurückzukehren, was sie ihm durch Zusendung eines ansehnlichen Geschenks und durch die Zusicherung einer höheren Pension zu erleichtern suchte. Allein er wollte vorher noch einmal Basel sehen, wo eben sein „Ecclesiastes“ gedruckt wurde, und als er die inzwischen völlig beruhigte Stadt betrat, nahm ihn Hieronymus Froben mit Freuden in sein Haus auf. Er würde nun freilich nur kurze Zeit geblieben sein, wenn ihn nicht Gichtschmerzen ergriffen und während des ganzen Winters an das Bett gefesselt hätten. Als er im Frühjahr 1536 sich etwas freier fühlte, konnte er doch nicht mehr hoffen, Brabant zu erreichen, und auch das nähere Besançon, wo er immerhin unter der unmittelbaren Herrschaft des Kaisers gelebt hätte, sollte er nicht mehr sehen. Die körperlichen Leiden steigerten sich wieder; aber er trug sie mit Geduld, und in der Nacht vom 11. zum 12. Juli schlossen sich seine Augen im Tode. Der Glaube an den Erlöser war sein bester Trost gewesen: nach einem Priester und den Sterbesacramenten seiner Kirche hatte er nicht verlangt. Seine irdischen Ueberreste wurden unter Theilnahme der Stadt und der Universität in der Kathedralkirche beigesetzt.

    Die Welt fühlte doch, daß ein Mann von außerordentlicher Begabung und Bedeutung geschieden sei. Auch die mit ihm Unzufriedenen erkannten dies an. Es berührt uns wohlthuend, wenn wir sehen, wie noch im Mai jenes Jahres Melanchthon von Leipzig aus in theilnehmendster Weise an ihn schreibt und er selbst noch am 6. Juni in mildem Geiste antwortet; Camerarius aber, tief bewegt durch die Kunde von des E. Tode, hat seinen Gefühlen in einem Briefe an Eoban Hesse einen wahrhaft rührenden Ausdruck gegeben. — An seiner Ruhestätte ließ Bonifacius Amerbach, sein Haupterbe, ein stattliches Epitaphium mit der Büste anbringen. Seine Vaterstadt Rotterdam ehrte ihn durch Aufstellung seiner Bildsäule, die seltsame Schicksale gehabt hat. Zahlreiche Elogien in Prosa und in Versen verkündigten seinen Ruhm.

    In voller Treue, in den lebendigsten Zügen erscheint uns sein Bild beim Lesen seiner Briefe. Sie sind seit dem J. 1516 in mehreren Sammlungen ererschienen: die beiden ersten von Petrus Aegidius (Löwen 1516 u. 1518), eine dritte von Beatus Rhenanus (Basel 1518) besorgt, eine vollständigere Basel 1529, mehrmals wiederholt, eine noch reichhaltigere London 1642; die beste aber ist diejenige, welche Le Clerc im dritten Bande der Opera Erasmi nach chronologischer Ordnung veranstaltet hat. Kleinere Nebensammlungen sind zu verschiedenen Zeiten herausgegeben worden. Eine Sammlung der Werke hatte E. selbst schon in Aussicht genommen; aber erst 1540 gab eine solche Beatus Rhenanus heraus. Die umfassendste unternahm Le Clerc (Leyden 1703—6, 10 Bde. Fol.). Was E. selbst als Abriß seines Lebens niedergeschrieben hat, ist unbedeutend; ungleich besser sind die biographischen Nachrichten, welche Rhenanus seiner Ausgabe der Werke vorausgeschickt hat. Aber eingehendere Biographien hat erst das vorige Jahrhundert gebracht: in England von Samuel Knieght (1726, deutsch von Th. Arnold, 1736) und von John Jortin (1758, 2 Bde. 4), in Frankreich von Marsollier (1713) und von Burigny (1752, in deutscher Bearbeitung von Henke 1782, 2 Bde.), in der Schweiz von Sal. Heß (1789 f.). Neuere Biographien sind die von Ad. Müller (1828), von Erhard (in der Encyklopädie von Ersch und Gruber), von Stichart (1870), von Durand de Laur (1872), von Drummond (1873), von Feugère (1874). Erschöpfend für die Beziehungen des E. zu England ist das Werk von Seebohm, The Oxford Reformers of 1498 being a history of the fellow-work of John Colet, Erasmus and Thomas Morus, Lond. 1867.

    • Literatur

      Vgl. F. C. Hoffmann, Essai d'une liste d'ouvrages et disserations concernant la vie et les écrits d'Erasme (1518 — 1866), Brux. 1866.

  • Autor/in

    Kämmel.
  • Zitierweise

    Kämmel, Heinrich, "Erasmus von Rotterdam, Desiderius" in: Allgemeine Deutsche Biographie 6 (1877), S. 160-180 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118530666.html#adbcontent

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