Lebensdaten
1882 – 1950
Geburtsort
Riga
Sterbeort
Göttingen
Beruf/Funktion
Philosoph
Konfession
lutherisch
Normdaten
GND: 118546317 | OGND | VIAF: 19759139
Namensvarianten
  • Hartmann, Paul Nicolai
  • Hartmann, Nicolai
  • Hartmann, Paul Nicolai
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Zitierweise

Hartmann, Nicolai, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118546317.html [16.04.2024].

CC0

  • Genealogie

    V Carl Aug. (1849–90), Dipl.-Ing., aus Kaufm.- u. Ratsherrenfam. in R.;
    M Helene (1854–1939), Gründerin u. Leiterin e. privaten dt.sprachigen Mädchenschule in R., T d. Pastors Haukmann;
    1) St. Petersburg 1911 ( 1926) Assy (* 1888), T d. Johs. Stephanitz ( 1902), Prof. f. Architektur a. d. Ak. d. Künste in St. Petersburg, u. d. Sandra Stark, 2) Köln 1929 Frida (* 1902), T d. Archivrats Felix Rosenfeld ( 1917) in Marburg u. Magdeburg u. d. Emma v. Boxberger;
    1 T aus 1), 1 S, 1 T aus 2).

  • Biographie

    H. besuchte das Gymnasium in Sankt Petersburg. Nach dem Abitur 1901 studierte er Medizin, klassische Philologie und Philosophie zunächst in Dorpat und Sankt Petersburg, dann in Marburg/Lahn. Dort promovierte er 1907 bei H. Cohen und P. Natorp. Ein pädagogischer Zug war, wohl als Erbteil der Mutter, früh in H.s Bestreben zutagegetreten, ebensosehr Erzieher der akademischen Jugend wie wissenschaftlicher Lehrer zu sein. 1909 habilitierte er sich für Philosophie, wurde 1920 außerordentlicher Professor und 1922 Nachfolger auf dem Lehrstuhl Natorps in Marburg. 1925 wurde er nach Köln, wo er einige Jahre zusammen mit M. Scheler lehrte, 1931 auf den Lehrstuhl von Troeltsch nach Berlin und 1945 nach Göttingen berufen. Unter dem Einfluß der Phänomenologie E. Husserls, aber ohne dessen Rückgang auf den Erlebnisstrom des reinen Bewußtseins mitzuvollziehen, wandte er sich nach anfänglicher Beschäftigung mit der Alten Philosophie gegen den Marburger Neukantianismus. Seine Abkehr vom transzendentalen Idealismus vollzog sich zunächst in der Erkenntnistheorie. 1921 erschienen die „Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis“, deren Titel bereits die neue seinsphilosophische Blickrichtung aussprach, der sich fast gleichzeitig sehr verschiedene Denker zuwandten, deren hervorragendster Vertreter neben A. N. Whitehead aber H. werden sollte. Ausgangspunkt der Untersuchung wurde wieder die in der Fülle ihrer Gegebenheiten unvoreingenommen aufgefaßte gegenständliche Welt. Daß diese bewußtseinstranszendent ist, wird an ihrer Widerständigkeit erfahren, beispielsweise in den emotional-transzendenten Akten Erleben, Erleiden und so weiter H. philosophiert aus dem Realismus der natürlichen und wissenschaftlichen Weltansicht (intentio recta). Wissenschaftstheoretischer Nominalismus bleibt ihm fremd. Erkenntnis ist das Erfassen des Seienden und seiner Prinzipien durch den Menschen als ein Seiendes unter anderen. Seins- und Erkenntniskategorien gelten als partiell identisch. In Diskrepanz und Konvergenz von Apriori und Aposteriori (Hypothese und Erfahrung) dringt so die Erforschung des Seienden bis an dessen transintelligible Ränder vor. Dort entstehen metaphysische Fragen, das heißt solche, die sich rationaler Beantwortung verschließen (Aporien). Aus dieser Erkenntnisstellung heraus entwickelt H. seine Ontologie, die das lange Zeit vernachlässigte Feld der traditionellen philosophischen Grunddisziplin von Grund auf neu bearbeitet. Das Ergebnis erscheint in 4 Werken zwischen 1935 und 1950. Die Lehre vom „Aufbau der realen Welt“ – das dritte Stück dieser Folge – bleibt im Gegensatz zur Tradition diesseits aller idealistischen, realistischen und auch dualistischen Letztbegründungen der Wirklichkeit. Sie will in engem Kontakt mit den Einzelwissenschaften alle gegebenen Aspekte des Wirklichen berücksichtigen. An die Stelle von Deduktion und vermeintlichem Totalwissen tritt eine induktive, ihrer Vorläufigkeit bewußte Kategorialanalyse. Das reale Sein gliedert sich demnach in 4 Seinsschichten mit jeweils eigenen Gestaltungsprinzipien: die anorganische, organische, psychische und geistige Schicht. Die Welt ist nicht durch Rückführung auf eine von ihnen (materielle Mechanismen, vitale Kräfte, Seele, Geist) erklärbar, auch nicht durch genetische Herleitung aus einer derselben. Die Eigenständigkeit der gleichwohl durch mancherlei Abhängigkeits- und Freiheitsgesetze verbundenen Schichten ist der ontologisch haltbare Befund. Den Schichtenkategorien vorgelagert sind die Fundamentalkatogorien, welche die Form von Gegensatzpaaren (Form-Materie und so weiter) haben. Außer den Seinsschichten behandelt H. die Seinsmomente Dasein und Sosein, die Seinsweisen des idealen und realen Seins sowie die Seinsmodalitäten Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit. Der Erörterung der letzteren widmete er einen eigenen Band; sie galt ihm als Kernstück der Ontologie. Im real Seienden ist das Mögliche auch wirklich und also notwendig. Die beiden niederen Schichten des Wirklichen, zumal deren Seinsprinzipien Raum und Zeit, werden in der „Philosophie der Natur“ erörtert. Als Philosophie eines Denkers, dessen besondere Neigung der Astronomie galt, hebt sie sich ab gegen lebensphilosophische Degradierung des Anorganischen und hebt zugleich die rätselvolle Eigenart des Organischen zwischen anorganischem Mechanismus und geistiger Zwecktätigkeit heraus. Die psychische Schicht erfährt keine gesonderte Behandlung. „Das Problem des geistigen Seins“ (1933) aber wurde schon vor der allgemeinen Ontologie in kritischem Bezug zu Hegel bearbeitet. Hegel galt auch eine vorhergegangene Monographie (1929), die in der zeitgenössischen Hegel-Renaissance eine maßgebende Rolle spielte. Geistiges Sein begegnet in drei Formen, die sich gegenseitig tragen: als personaler, objektiver und objektivierter Geist. Personaler Geist besitzt im frei zwecktätigen menschlichen Individuum zeitliche Realität. Der objektive Geist ist das Gefüge überindividueller Weltansichten und Verhaltensmodelle. Er ist Menschenwerk und ohne eigenes Bewußtsein. Aber als System rechtlicher, politischer und so weiter Ansichten und Normen besitzt er eine Superexistenz, in welche die Einzelnen durch Tradition und Erziehung hineingebildet werden. Objektivierter Geist heißen die von Menschen geschaffenen Werke, in denen sich der subjektive und der objektive Geist vergegenständlichen. H.s Analyse des geistigen Seins hob die philosophische Grundlegung der Geisteswissenschaften über den Psychologismus, dem noch Dilthey teilweise verhaftet blieb, auch über den neukantischen Methodologismus hinaus. H.s 1925 verfaßte „Ethik“ sucht im Anschluß an Scheler, Nietzsche und Aristoteles den Kantischen Formalismus unter Bewahrung seiner Apriorität durch eine inhaltlichere Bestimmung des Gesollten zu überwinden. Zu Grunde liegt die Lehre vom idealen Sein als einer festen Ordnung zeitenthobener Wesenheiten, logisch-mathematischer Sätze und ethischer Werte. Die Werte werden vom personalen und objektiven Geist jeweils in einem historisch beschränkten Ausschnitt erfaßt. Etliche erweisen sich in ihrer Verwirklichung als antinomisch. Das aber bedeutet, daß die Synthese ihrer gemeinsamen Realisierung noch zu erarbeiten bleibt. – Bedeutsam ist vor allem H.s Freiheitslehre, in welcher seine Ontologie Anwendung und Bewährung findet. Der Mensch, als unter anderem subjektiver Geist, ist innerhalb der Schichtenhierarchie positiv frei, die niederen Schichten unter Wahrung ihrer Eigendeterminationen durch Zwecksetzung und Sinngebung zu überbauen und ihre Prozesse von daher umzulenken. Negativ frei ist der Mensch gegenüber den Werten; er kann wählen, diesen oder jenen zu realisieren. So ist er Schnittpunkt der idealen und der realen Welt.

    Entschieden wandte sich H. gegen eine Teleologie des Weltlaufs, wie sie von einer theologischen (Vorsehung) oder geschichtsmetaphysischen Deutung des Geschehens immer wieder angenommen wird. Die Vorherbestimmung des Endes schlösse freie Entscheidung aus. Zwecke setzt allein der Mensch; demgemäß fordert H. einen Atheismus der Verantwortung. H.s Ästhetik analysiert das Erscheinen ästhetischer Gehalte in Realgebilden. Das Kunstwerk ist mehrschichtig: im dinglichen Vordergrund erscheint der in sich mehrschichtige Hintergrund der Sinngehalte. Eine weit gediehene Logik ging 1945 verloren.

    H.s Werk ist der derzeit letzte Versuch einer alle ihre klassischen Sparten umfassenden Philosophie. Desungeachtet war es gerade nicht die Absicht H.s, die Welt in ein vorgefaßtes System zu bringen, schon gar nicht in ein solches, welches hybriden Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern der systematischen Weltverfassung beschreibend und analysierend nachzuspüren: Die Klärungs-Geschichte der fortwährenden Probleme des Philosophierens durchziehe die diversen, immer wieder scheiternden Systembauten. Redliches Philosophieren zeichne sich dadurch aus, daß es die Ratlosigkeiten, auf die es stößt, offen eingesteht. Auf dem Boden dieser weltoffenen Nüchternheit wurde die Philosophie H.s zu einer der bedeutendsten in der bisherigen Geschichte des 20. Jahrhunderts Stilistische Klarheit verbindet sich in ihr mit sachlicher Eindringlichkeit. Sein Werk, vor allem die ins Englische übersetzte Ethik, gewann internationale Bedeutung.

  • Werke

    u. a. Platos Logik d. Seins, 1909, ²1965;
    Grundzüge e. Metaphysik d. Erkenntnis, 1921, ⁵1965;
    Die Philos. d. dt. Idealismus, 2 Bde., I. Fichte, Schelling u. d. Romantik, II. Hegel, 1923/29, ²1960;
    Ethik, 1925, ⁴1962;
    Das Problem d. geistigen Seins, Unterss. z. Grundlegung d. Gesch.-philos. u. d. Geisteswiss., 1933, ³1962;
    Zur Grundlegung d. Ontol., 1935, ⁴1965;
    Möglichkeit u. Wirklichkeit, 1938 (3. Aufl. in Vorher.);
    Der Aufbau d. realen Welt, Grundriß d. allg. Kategorienlehre, 1940, ³1964;
    Die Philos. d. Natur, Abriß d. speziellen Kategorienlehre, 1950;
    Teleolog. Denken, 1952;
    Ästhetik, 1953;
    Kleinere Schrr., 3 Bde., I. Abhh. z. systemat. Philos., II. Abhh. z. Philos.-gesch., III. Vom Neukantianismus z. Ontol., 1955/57/58. - W-Verz. in: N. H., Der Denker u. s. Werk, hrsg. v. H. Heimsoeth u. R. Heiß, 1952 (P).

  • Literatur

    H. G. Gadamer, Metaphysik d. Erkenntnis, in: Logos, 1923;
    J. Cohn, Zu N. H.s Wertethik, ebd., 1926;
    H. Knittermeyer, Zur Metaphysik d. Erkenntnis, in: Kantstud., 1925;
    E. v. Aster, Zur Kritik d. materialen Wertethik, ebd., 1928;
    H. Pleßner, Geistiges Sein, ebd., 1933;
    H. Herrigel, Der phil. Gedanke N. H.s, ebd., 1959/60;
    G. Gurvitch, Les Tendances actuelles de la philos. allemande, 1930;
    W. R. B. Gibson, The Ethics of N. H., in: The Australian Journal of Psychology and Philosophy, 1934/35;
    H. D. N. Oakeley, H.s Concept of objective spirit, in: Mind, Edinburgh 1935;
    J. Geyser, Zur Grundlegung d. Ontol., in: Phil. Jb. 1936;
    S. Vanni-Rovighi, L'ontologia di N. H., in: Rivista filosofia neo-scolastica, Mailand 1939;
    J. Münzhuber, N. H.s Ontol. u. d. phil. Systematik, in: Bll. f. dt. Philos., 1939;
    G. Martin, Aufbau d. Ontol., ebd., 1941;
    A. Guggenberger, Der Menschengeist u. d. Sein, 1941;
    M. Landmann, N. H. and phenomenology, in: Philosophy and Phenomenological Research, Buffalo 1942/43;
    J. Endres, Der Schichtengedanke bei N. H., in: Divus Thomas, 1947;
    J. Klein, Das Sein u. d. Seiende, 1949;
    H. Heimsoeth, in: Jb. d. Ak. d. Wiss. u. d. Lit. in Mainz, 1950 (P);
    H. Hülsmann, Die Methode in d. Philos. N. H.s, 1959. - Autobiogrr.: B. Schwarz, Dt. systemat. Philos. d. Gegenwart nach ihren Gestaltern I, 1931;
    -
    Ziegenfuß;
    W. Wiora, in: MGG V, Sp. 1757–59.

  • Porträts

    im Bes. v. Frau Frida Hartmann, Göttingen.

  • Autor/in

    Werner Schneider
  • Zitierweise

    Schneider, Werner, "Hartmann, Nicolai" in: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), S. 2-4 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118546317.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA